Online-Ausgabe 12, ET 04.07.2020
Testen vor der Kanzlerschaft: Ministerpräsident Markus Söder marschiert mal wieder ganz früh weit vorneweg, in Sachen Massentests auf Corona für alle Deutschter Meister FCB und Freude am Fahren bei BMW. Viel Sinn hat das nicht, aber egal. Von Michael Zäh
Testen vor der Kanzlerschaft: Ministerpräsident Markus Söder marschiert mal wieder ganz früh weit vorneweg, in Sachen Massentests auf Corona für alle Deutschter Meister FCB und Freude am Fahren bei BMW. Viel Sinn hat das nicht, aber egal. Von Michael Zäh
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Samstag, 20. Juni 2020
Samstag, 20. Juni 2020
Samstag, 20. Juni 2020
Online-Ausgabe 290 am am 20. 04. Juni Juli 2020 2020
Maske als Sinnbild
Samstag, 20. Juni 2020
Samstag, 20. Juni 2020
Unrunde Corona-Kreise
Nationalfeiertag USA
Ausgerechnet zum Nationalfeiertag am 4. Juli steht in den USA
die politische Frage im Vordergrund, was der Nation mehr
nutzt: Trumps Ignoranz oder Bidens Zurückhaltung. Es gibt
womöglich bald 100.00 Neuinfektionen mit dem Corona-
Virus – pro Tag! Und schon jetzt über 128.000 Tote. Seite 2
Lockdown in Gütersloh
Es zeigt sich, dass es eine zweischneidige Sache
ist, wenn Corona nun in den Landkreisen
bekämpft werden soll. Denn aus Sicht der Betroffenen
ist dies eine grobe Benachteiligung und aus Sicht aller
anderen kommt der Lockdown zu spät. Seite 3
Testen vor der Kanzlerschaft
Ministerpräsident Markus Söder marschiert mal wieder ganz früh weit vorneweg, in Sachen Massentests auf Corona für alle
Bayern, sprich Deutschter Meister FCB und Freude am Fahren bei BMW. Viel Sinn hat das nicht, aber egal. Von Michael Zäh
Nach dem Spiel ist vor dem
Spiel, heißt es im Fußball ja
schon lange. Und nun, da
der Profi-Fußball mit seinem sehr
speziellen Hygiene-Konzept gezeigt
hat, was alles möglich ist, wenn
Geld keine Rolle spielt, der politische
Wille vorhanden ist und die Geduld
der Gesellschaft es hergibt – nun
hat auch Bayerns Ministerpräsident
Markus Söder erkannt, quasi weil
die Bayern ja Meister sind: Wir sind
immer vorne weg.
Söder und Bayern wollen nun
also die große Testoffensive bei
Corona einleiten. Jeder der rund 13
Millionen in Bayern lebenden Leute
soll sich schnell und kostenlos auf
eine Corona-Infektion testen lassen
können. Das ist mal ein Wort. Und
genau so ist es von Söder auch
gemeint: Er inszeniert sich damit
weiterhin als großer Macher, im
Fernduell zu Armin Laschet, der ja
im Kreis Gütersloh gerade andere
Probleme hat. Dort geht es derzeit
bekanntlich um die Wurst.
Es ist in der Corona-Krise zum
Markenzeichen des Markus Söder
geworden, vorneweg zu gehen. Das
war bei Kontaktbeschränkungen
und bei der Maskenpflicht so. Sein
Credo lautet, dass er sich um seine
Bayern ein bisschen früher kümmert
als andere Ministerpräsidenten dies
sonstwo tun, wie etwa in NRW. Und
dies war teilweise richtig, also nicht
nur politisches Kalkül, sondern dem
Umstand geschuldet, dass Bayern
schon früh mehr Corona-Fälle hatte
als anderswo, wegen „Webasto“,
Patient Null in Deutschland und in
Bayern, eine Firma in der Nähe von
München. Aber auch wegen der
Nähe zu Österreich (und somit auch
zu Italien), wo früh Corona wütete.
Sprich: Markus Söder hat sich
profiliert, weil er die Gefahr früh
erkannte und dagegen anmachte.
Das war richtig und gut. Er hat dabei
allerdings auch keine Gelegenheit
ausgelassen, politisches Kapital aus
der Corona-Krise zu schlagen.
Beispielsweise war sein früher
Vorstoß zur Maskenpflicht auch
von Ignoranz gekennzeichnet. Denn
diese „Pflicht“ hat er zu einem Zeitpunkt
thematisiert, als es in ganz
Deutschland aufgrund gravierender
Fehler in der Vorsorge viel zu wenig
Masken für die Menschen gab, die
sie dringend brauchten, nämlich
Ärzte, Pfleger und Krankenhäuser.
Und wie ist das nun mit der
Testoffensive in Bayern? Ja, es ist
erstmal so, dass es ein politisches
Statement sein soll. Frei nach dem
Motto: Wir haben die Kraft, dies zu
machen, sprich BMW und der FC
Bayern gegen den Rest der Nation.
Während es in vielen Bundesländern
nicht einmal Tests für jene
gibt, die Symptome einer Corona-
Infektion haben, sollen sich nun in
Bayern alle völlig anlasslos testen
lassen können, nur einfach, weil
jemand als Bayer das eben will. Das
hat schon etwas von Kraftmeierei
(sprich: „Freude am Fahren“). Aber
viel Sinn hat es nicht.
Denn nach dem Test ist vor dem
Test. Wer sich im Freudentaumel
über ein negatives Testergebnis
gleich mal auf eine Party begibt, um
seine neue Freiheit zu feiern, kann
ja schon am nächsten Tag infiziert
sein. Dann ist sein Testpapier von
gestern nix mehr wert. Und so ist
es auch umgekehrt: Ein positiver
Corona-Test bedeutet keine sichere
Immunität.
Hilfreicher als solche politisch
motivierte Massentests wäre eine
systematische, wissenschaftliche
Strategie. Dazu würde gehören,
dass in etlichen sensiblen Bereichen,
wie etwa in Krankenhäusern, Plegeeinrichtungen,
Schulen und in der
Fleischindustrie alle vierzehn Tage
aufs Neue getestet würde, also wie
das die Fußball-Bundesliga vorgelebt
hat. Denn ein Test ist kein Test
ist kein Test, undsoweiter.
Und noch schwieriger ist die
Frage, wie denn die Gesundheitsämter
es stemmen sollen, all jenen
Fällen nachzugehen, die sich durch
die Massentests unvermutet auftun
könnten. Sprich: Kampf gegen die
Dunkelziffer, na toll, wo doch schon
für die bestätigten Fälle zu wenig an
Personal vorhanden ist.
Nun ja, der Weg ist noch
weit. Wer wie Söder ganz
früh ganz vorne marschiert,
den umgibt das Licht des
Visionären. Aber das ist nur
ein Test. Vor der Kanzlerschaft.
HALLO ZUSAMMEN
Jeden Samstag
die ZaS Online
Liebe Leserinnen und Leser,
wir haben die Zeit während der
„Corona-Pause“ genutzt, um
Ihnen ein zusätzliches Angebot
machen zu können. Wer Lust
und Zeit hat, findet (und fand
bereits in den letzten Wochen)
auf unserer Homepage unter
www.zas-freiburg.de
JEDEN SAMSTAG unsere
Online-Ausgabe der ZaS, also
ein paar aktuelle Essays und
News, was insgesamt ein ganz
spezielles Corona-Tagebuch
der ZaS ergibt. Diese Texte sind
für Sie immer am Samstag nur
einen Klick weit entfernt, und
zwar ebenso frisch geschrieben
und meinungsstark wie sonst
auch immer, selbstverständlich
ohne Bezahlschranke und so,
also gratis. Sagen Sie das auch
gerne weiter, denn wir freuen
uns über jeden Besucher, der
uns online liest. Natürlich gibt
es weiterhin wie gewohnt auch
die gedruckte ZaS, aber an all
den Samstagen dazwischen
jetzt eben unser neues Angebot,
sozusagen immer am ZaS-
Ball zu bleiben, wenn sie es
mögen. Ein aktueller Blick
in die USA zeigt, wie
schlimm es ein
könnte, auch bei
uns. Ignoranz
bringt da gar nix.
Michael Zäh
2
Corona-Tagebuch | 4. Juli 2020
Die Maske als
Sinn/Sittenbild
Wer im Supermarkt in den USA keine Maske trägt, kann dies lauthals als politisches
Statement verkaufen, quasi: Ich harter Republikaner, du Weichei der Demokraten. Blöd
nur, dass die Maske die Mitmenschen schützen soll. Von Michael Zäh
Diesen Samstag ist der 4. Juli, der Nationalfeiertag in
den USA. Es wird ein zerissener Tag sein. Einerseits soll
doch wohl ein kleines Ding wie das Corona-Virus nicht
dem großen Ding der USA-Feierlichkeiten echt im Wege stehen
können. Andererseits sterben an dem kleinen Ding schon jetzt
mehr Amerikaner als im Vietnam-Krieg. Mehr als 2,6 Millionen
bestätigte Infektionen gibt es in den USA bereits, über 128.000
Menschen sind an den Folgen des Virus gestorben, stündlich
werden es mehr. Und die Dynamik nimmt immer noch weiter
zu. Amerikas Topimmunologe Anthony Fauci sagte jüngst bei
einer Anhörung im Senat, die Zahl der Neuinfektionen könne
auf 100.000 pro Tag ansteigen, falls der Anstieg in den betroffenen
Bundesstaaten nicht unter Kontrolle gebracht werden
könne. „Ich wäre nicht überrascht, wenn wir 100.000 pro Tag
erreichen. Deswegen bin ich sehr besorgt“, sagte der Leiter des
Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten.
„Wir bewegen uns in die falsche Richtung.“ Die Pandemie
könne derzeit nur eingedämmt werden, wenn die Menschen
in der Öffentlichkeit konsequent Masken trügen und auf ihren
Sicherheitsabstand achteten. Wenn sich die Menschen nicht
daran halten würden, „werden wir weiter große Probleme
haben“, warnte Fauci.
Doch genau hier wird die Zerissenheit und die Spaltung
in den USA besonders anschaulich. Denn selbst das Tragen
von Masken ist inzwischen politisch mit Streit um die Macht
aufgeladen. Donald Trump trägt keine, aus Instinkt heraus,
weil er damit seine Größe und die Nichtigkeit seines politischen
Kontrahenten Joe Biden demonstrieren möchte. Dabei ist es
natürlich nicht das Problem, dass ein stes mit mächtig Abstand
abgeschirmter US-Präsident ein Mordsübertrager des Virus
sein könnte. Aber er gibt damit ein Vorbild für seine Wähler
ab (oder jene, die er damit erst noch gewinnen will). Sprich:
Wer im Supermarkt keine Maske trägt, kann dies lauthals als
ein politisches Statement verkaufen. Quasi ein waschechter
Repuplikaner kennt keinen Schmerz. Oder waren das nicht die
Indianer, früher? Na gut, jedenfalls hat Trump es per Vorbild
geschafft, dass die Maske als Sinnbild der demokratischen
Weicheier gilt, während wahre
Männer sowas nicht brauchen. Und das sagt unendlich
viel mehr aus als alle sonstigen Reden.
Denn wie jeder weiß, ist es bei den Masken ja so,
dass sie nicht denjenigen schützen, der sie trägt, sondern
dazu gedacht sind, die Menschen zu schützen, die
sich im Umfeld befinden. Also geht es nicht darum, dass
einer ein Weichei ist, wenn er eine Maske trägt (sozusagen als
Angsthase, sich anstecken zu können), sondern es geht darum,
Verantwortung für die Nächsten zu zeigen. Ein Gedanke, der
Trump völlig fremd sein dürfte. In seiner typischen Widersprüchlichkeit
sagte er nun, dass er „für Masken“ sei, die er ja
demonstrativ nicht trägt.
Mag sein, dass dies auch dem Umstand geschuldet ist, dass
sich viele seiner Wähler altersbedingt selbst im Bereich der
Risikogruppe sehen und den laxen bis lässig-verleumderischen
Umgang des Präsidenten mit der Pandemie daher als Gefahr
für sich selbst einschätzen. Nun ja, das versteht sogar Trump.
Die Corona-Pandemie ist noch dazu im republikanischen Teil
Amerikas angekommen. Nachdem das Virus im Frühjahr vor
allem in den Städten und dichtbesiedelten Küstengebieten im
Nordosten und Westen des Landes wütete, in denen ja meist
die Demokraten regieren, steigen derzeit die Fallzahlen ganz
besonders in den republikanischen Hochburgen Florida, Texas
und Arizona an. Auch in den ländlichen Gebieten von Mississippi,
South Carolina, Louisiana, Missouri, Georgia und
Arkansas steigen die Zahlen rasant, alles Staaten, die
Trump 2016 gewonnen hatte. Krankenhäuser warnen,
dem Ansturm der Patienten bald nicht mehr gewachsen
zu sein. Und überall werden Lockerungen zurückgenommen,
Bars, Fitnessclubs, Kinos und Strände wieder geschlossen – und
das ausgerechnet vor dem Feiertagswochenende rund um den
4. Juli.
Kann sein, dass es für Trump eng wird mit der Wiederwahl
im November. Kann auch sein, dass er Dollarscheine hochhält:
„In God we trust.“ Quasi: viel Kleingeld,
viel Kleingeist.
Corona-Tagebuch | 27. Juni 2020 3
Corona-Kreise
sind unrund!
Es zeigt sich, dass es eine zweischneidige Sache ist, wenn Corona in den Landkreisen
bekämpft werden soll. Denn aus Sicht der Betroffenen ist es eine grobe Benachteiligung.
Aus Sicht anderer kommt dort der Lockdown zu spät. Von Michael Zäh
Mit dem Kreis ist es eine unrunde Sache. Als der allgemeine
Lockdown nach fast acht Wochen vom Bund
und den Ländern runter gefahren wurde, schien es
eine plausible Idee, künftige Corona-Ausbrüche gezielt dort zu
bekämpfen, wo sie auftreten. Dafür wurde sogar eine Formel
gefunden: Wenn in einem Landkreis mehr als 50 Neuinfektionen
pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen gemeldet werden,
dann soll auf Kreisebene ein Lockdown verhängt werden – und
nicht gleich für ein ganzes Bundesland oder gar erneut für ganz
Deutschland.
Das fühlte sich nach Aufatmen an. So ungefähr wie nach
einem Großbrand, der unter Kontrolle gebracht wurde und wo in
der Folge die Feuerwehr nur noch ein paar Glutnester rechtzeitig
entdecken und löschen muss. Da es zuvor ja im ganzen Land eine
verheerende wirtschaftliche, soziale, kulturelle Verwüstung gab,
schien die neue Formel den Weg frei zu machen, dass fast überall
mit den Aufräumarbeiten begonnen werden kann.
Außer in den Kreisen, wo ein Corona-Glutnest aufflammt.
Aber was ist schon so ein Kreis, im Verhältnis zu ganz Deutschland?
Nun ja, das war alles nur Theorie. Bis nun in Nordrhein-Westfalen
erstmals der Ernstfall eintrat. Dort verhängte
Ministerpräsident Armin Laschet für den Kreis Gütersloh und
sein Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann für den Nachbarskreis
Warendorf den erneuten Lockdown, zunächst bis
Ende Juni.
Rund 650.000 Menschen, die in diesen beiden Kreisen leben,
werden zurück geworfen auf die Zustände, die im März, April
bis in den Mai in ganz Deutschland herrschten, quasi: nix geht
mehr. Die restlichen 79,4 Millionen Deutschen aber nicht. Und
wer das Pech hat, in diesen Kreisen ein Kino, ein Museum oder
ein Fitness-Studio zu betreiben, kann schon wieder zumachen,
wo er doch gerade mit der Aufholjagd beginnen wollte.
Ab sofort ist Deutschland so zu einer Art Pokerspiel geworden.
Dabei hat schlechte Karten, wer in einem Kreis lebt,
in dem es eine Großschlachterei gibt. Können aber wahlweise
auch andere Risiken sein. Klar ist aber, dass die Betroffenen sich
vorkommen, als würden sie nur Kreisliga spielen und nicht mehr
Teil der Bundesliga sein.
Wo in den Schockwochen des allgemeinen Lockdows in
Deutschland, Europa und der Welt immerhin die Solidarität
herrschte, dass es ja alle trifft, ist es nun so, dass nur die Pechvögel
der Nation nix dürfen, während alle anderen wieder in die
Hände spucken, also sprichwörtlich gemeint, weil hygienisch
natürlich nicht angesagt.
Hhinzu kommt, dass die Bewohner der beiden Kreise wissen,
dass der massive Ausbruch beim Fleischereibetrieb Tönnies auftrat,
wo allein 1553 Mitarbeiter mit dem Corona-Virus infiziert
sind. Das scheint zwar einerseits eine beruhigende Nachricht,
weil sich das Geschehen eingrenzen lässt. Doch nur im Kopf und
nicht in der Wirklichkeit. Denn gleichzeitig ist es das größte Infektionsgeschehen
in ganz Deutschland. Und kein Mensch kann
heute sagen, wieviele Leute sich ihrerseits von den Infizierten
angesteckt haben.
So ist es also ein Blick von zwei Seiten auf das Modell
„Landkreise“. Aus Sicht derer, die sich überall in Deutschland
aufmachen, um sich die Wunden zu lecken, darf es nicht wahr
sein, wie zögerlich Laschet und Co. den Lockdown für die betroffenen
Kreise verhängten. Denn aus diesem Blickwinkel steht
im Vordergrund, dass dann alle überall in Deutschland für ein
solches Versäumnis haften müsen.
Aus Sicht der Kreisbewohner ist es umgekehrt so, dass sie
sich gleich mehrfach benachteiligt fühlen. Da wäre zum Beispiel
der Urlaub, da die Sommerferien beginnen. Und prompt haben
mehrere Bundesländer den Urlaubern aus dem Kreis Gütersloh
die Anreise verboten. Batsch!
Laschet hat betont, dass es kein Ausreiseverbot für die Kreise
gebe. Also: Wem der Lockdown zu blöd ist, der geht dorthin, wo
Kreise noch rund sind, mit Kino und Kneipe.
Samstag, 13. Juni 2020
4
POLITIK
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 13
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 4. April 2020
Das Brennglas für
Benachteiligte
Corona-Ausbruch bei Tönnies. Armin Laschet, der Ministerpräsident von NRW will sich den
Corona-Feind zum Freund machen, um ganz plötzlich jahrelang von ihm geduldete Zustände
in der Fleischindustrie anzuprangern. Er nennt das „eine riesige Chance“. Von Michael Zäh
Armin Laschet sprach jüngst im
Düsseldorfer Landtag: „Jetzt
haben wir die riesige Chance.
Wenn die Pandemie einen positiven
Effekt hat, dann doch den, dass sie ein
Brennglas auf die Probleme unserer
Gesellschaft gerichtet hat.“
Also, da muss man erstmal drauf
kommen, im bislang größten Corona-
Ausbruch in ganz Deutschland die
„riesige Chance“ zu sehen. Weil wenn
du da nicht drauf kommst, kannst du
natürlich nicht CDU-Chef und alsbald
Bundeskanzler auch nicht werden.
So hat der NRW-Ministerpräsident
Armin Laschet also seine Logik vorgeführt,
die ihn später zu noch höheren
Aufgaben weihen soll. Da kommt
nämlich kein Merz und kein Söder
mehr mit, wie der Laschet um die Ecke
denken kann.
Denn seine Logik geht ja so: „Ich
mache mir meinen Feind zum
Freund.“ Im konkreten Fall ist
der Corona-Ausbruch im
Kreis Gütersloh, speziell
rund um die Tönnies-
Fleischfabriken
zuerst der Feind, der aber dann zum
Freund wird. Weil Brennglas auf die
lange Jahre bekannten Arbeitsverhältnisse
in den Tönnies-Betrieben.
Nun endlich hat man die „riesige
Chance“, dank Corona, das zu ändern,
was man über Jahrzehnte nicht ändern
mochte. Ist doch klar!
Ja, man konnte machen nix, bis
jetzt Corona zu Hilfe eilte und mehr als
1500 Neuinfektionen binnen weniger
Tage, wie soll man sagen: beisteuerte?
Und zwar fast alle zunächst einmal bei
Tönnies, brennglastechnisch natürlich
voll brillant, danke mein Freund!
Ach übrigens, als die ersten Fälle
von Infektionen bei Tönnies bekannt
wurden, hat Armin Laschet noch
andere Töne angeschlagen. Reporter
fragten quasi auflauernd im Gang
vor dem Kanzleramt nach, was denn
der bedrohliche Corona-Ausbruch bei
Tönnies über die bisherigen Lockerungen
in Nordrhein-Westfalen aussagt.
Schnelle Antwort Laschet: „Das sagt
darüber überhaupt nichts aus, weil
Rumänen und Bulgaren da eingereist
sind, und da der Virus herkommt.“
Weil das passte damals, vor ein
paar Tagen erst, einfach nicht in den
Plan, den Laschet in seiner Eigenschaft
als oberster Lockerer der Nation hatte.
Er war übrigens nicht vor dem Kanzleramt,
weil er jetzt schon mal schauen
wollte, wie es da so aussieht, sondern
Samstag, 13. Juni 2020
| 27. Juni 2020
. Juni 2020
DEUTSCHLAND POLITIK 5
April 2020
Samstag, 4. April 2020
kam aus einem Gespräch mit seinen
Ministerpräsidenten-Kollegen, und
er hatte es eilig. Doch gerade deshalb
lässt seine Reflex-Antwort, in aller
Eile, quasi im Vorübergehen tief blicken.
Da hatte der Mann noch keine
Zeit gehabt, darüber nachzudenken,
wie er seinen liebsten Feind Corona
zum Freund machen könnte. Der war
ihm als Virus einfach nur lästig. Deshalb
Auslands-Import, der mit dem
Geschehen in seinem Land gar nichts
zu tun hat. Oder vielmehr: Mit seinen
Lockerungs-Ideen sollte das alles
nichts zu tun haben. Aber klar, das
Video seiner Bulgaren/Rumänen-Aussage
ging schnell selbst viral. Denn
darin lag eine Extraportion Wurstigkeit.
Ausgerechnet.
Armin Laschet hat sich dafür
dann schon auch entschuldigt. Und
eine Woche später, als er den erneuten
Lockdown für die Kreise Gütersloh
und Warendorf verkündet hat, war
dann aus den Auslands-Einschleppern
das geworden, was sie ja in
Wirklichkeit sind: Die Opfer in einer
Wegschau-Politik.
Und diese lag in den letzten
Jahren hauptsächlich in der
Verantwortung der Union, im
Bund wie im Land NRW. Nun
ja, wenn einer wie Laschet
in seiner gütlichen Art bald
Kanzler werden will, kann
er natürlich nicht nur den
Feind zum Freund machen
(Corona hilf!), sondern muss
auch Feinde benennen können,
die er schlagen will. Also
sagte er im Landtag, dass ja erst
nach den Arbeitsmarktreformen
der rot-grünen Schröder-Regierung
das System der Ausbeutung
osteuropäischer Arbeitsmigranten so
richtig Fahrt aufnahm. Also ehrlich,
wer heute in die Falten von Schröder
oder Fischer schaut, der kann
erahnen, wieviel Wasser seither
auch in Düsseldorf den Rhein
runter floss. Und in all der Zeit
haben Leute wie Laschet (und
alle anderen Politiker, etwa im
Kreis Gütersloh) dem riesigen
Konzern von Tönnies nur das
Beste gewünscht. Schon wegen
der Gewerbesteuer und so.
Aber okay, jetzt ist dank Corona
ja die „riesige Chance“ da, endlich in
Europas größter Fleischfabrik mal die
Struktur der unendlich verschachtelten
Sub-Sub-Sub-Unternehmer und
die daraus resultierenden Zustände
offensichtlicher Ausbeutung anzuprangern.
Denn mehr ist es ja nicht. Wenn
heute Tönnies zum „Feind“ gemacht
wird, ist er ja morgen wieder der
Freund. Alles andere sind nur maue
Worte, um die aufgebrachten Bürger
der Kreise aus Gütersloh und Warendorf
ein bisschen zu beruhigen,
die sich in Geiselhaft sehen und nun
stundenlang vor den Testzentren anstehen,
um dann mit einem negativen
Corona-Test noch in Urlaub fahren zu
können.
Dazu gehört übrigens auch der
fast schon lächerliche Versuch von
Laschet, vor einer „Stigmatisierung“
der Bürger aus Gütersloh zu warnen.
Was soll so ein Quatsch denn bringen?
Wird sich ein Markus Söder in
Bayern die warmen Worte seines Lieblingsgegners
Laschet so dermaßen zu
Herzen nehmen, dass die Gütersloher
ungeprüft in Bayern ihren Urlaub
verbringen dürfen?
Wohl nicht. Dafür hat Söder knapp
verkündet, dass man in Bayern nicht
so sehr der Lockerungs-Strategie aus
NRW huldigt. „Wir in Bayern bleiben
vorsichtig“, lautete ein Söder-Tweet
in diesen Tagen. Das ist ihm natürlich
ein Hochgenuss, weil Corona auch
Söder ein guter Freund wurde, indem
es nach den Laschet-Lockerungen nun
in NRW erneut wütet. Ätschbätsch!
Mal von Profilierungsversuchen
im Vorfeld der Kanzlerkandidatssuche
der Union abgesehen, hat Laschet
sogar recht damit, dass durch Corona
viele Probleme unserer Gesellschaft(en)
grell ausgeleuchtet werden.
Das reicht weit über
deutsche Politik hinaus
und lässt sich schon gar nicht in
einem innerparteilichen Wettkampf
der Union zum Freund machen.
Wenn es am Anfang der Pandemie
noch das (damals schon idealisierte)
Bild gab, dass alle Menschen vor
dem Corona-Virus gleich seien, egal
ob reich oder arm, ob Macher oder
Looser, dann zeigen etliche neuere
Studien und fast alle Zahlen, dass es
eben nicht so ist. Das reicht von den
katastrophalen Zuständen in den USA
oder auch Brasilien, über Südafrika
bis nach Europa. Immer sind es die
sowieso soziel erheblich Benachteiligten,
die besonders unter Corona leiden
müssen. Unter ihnen finden sich auch
die meisten Todesopfer.
Corona als „riesige Chance“? Wer
es glaubt, soll seelig sein mit Laschet
und Co. Wahr ist wohl eher, dass
das „Brennglas“ die Benachteiligten
verbrennt.
IMPRESSUM
Herausgeber:
Michael Zäh und Christopher Kunz
Verlag: Zeitung am Samstag Verlags
GmbH, Benzstraße 22, 79232 March.
Tel. 07665/93458-0, Fax -286,
e-mail: info@zas-freiburg.de
Geschäftsführer:
Christopher Kunz, Rüdiger van der Vliet
Chefredakteur: Michael Zäh (visdp),
Tel.: 0170 / 739 17 87,
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6
Corona-Tagebuch | 20. Juni 2020
Jetzt gehts
aber mal App
An der deutschen Corona-App wird selbst von kritischen Geistern wie dem „Chaos
Computer Club“ wenig rumgemeckert. Die Probleme könnten mehr im gefühlten Bereich
liegen, etwa beim mühsamen Weg, eine Infektion zu melden. Von Michael Zäh
Die deutsche Corona-App ist nun also da. Sie gilt bereits
jetzt als Vorzeige-Dings für deutsche Technik in Verbindung
mit vorbildlichem Datenschutz. Na ja, dass
der amerikansiche Konzern Apple zunächst einmal Druck auf
Gesundheitsminister Spahn und Co. ausüben musste, damit die
App nicht über einen zentralen Server, sondern dezentral und
anonym nur auf den Handys selbst relevante Daten speichert,
entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ausgerechnet der Gigant
des Datenabgreifens hat so verhindert, dass Daten an deutsche
Behörden gehen. Aber geschenkt!
Die Corona-App wird auch von kritischen Geistern wie
dem „Chaos Computer Club“ wenig bemeckert. Heißt also:
Diese App kann man sich runterladen, ohne größere Sorgen
haben zu müssen, dass man damit überwacht würde. Und
das ist ja tatsächlich des Lobes wert. Denn diese Corona-App
kann erheblich dazu beitragen, dass das Virus mehr und mehr
eingedämmt werden könnte. Es ist ein kleiner Schritt für einen
Nutzer, die App zu aktivieren, kann aber für die Gesellschaft
insgesamt einen großen Nutzen bringen.
Die eher kuriosen „Probleme“ der App könnten mehr im gefühlten
als im technischen Bereich liegen. Da wäre gleich zum
Zeitpunkt des Starts das Präventionsparadox, das im Falle der
Corona-App darin liegt, dass es derzeit in Deutschland ja nur
geringe Infektionszahlen gibt und somit die Wahrscheinlichkeit
sehr gering ist, dass die herunter geladene App sich demnächst
bei ihren Nutzern mit einem Klingeling Warnhinweis meldet.
Dies könnte psychologisch dafür sorgen, dass die App-Nutzer
sich gar keine Sorgen mehr machen. Womöglich finden die
Leute die App dann sogar überflüssig, weil was nie piept, nun
ja, danach kräht auch kein Hahn.
Aber okay, da sollte man die Nutzer aller möglichen Apps
jetzt auch nicht unterschätzen. Wer hat nicht viele stumme Apps
auf seinem Handy, von Yoga bis Sonstwas, die man dann doch
nie benutzt. Und für die Corona-App gilt ja immerhin: Wenn
die sich nicht meldet ist das selbst schon die gute Nachricht!
Aber klar, man muss hier die Voraussicht der Leute annehmen,
dass diese App erst dann wertvolle Dienste erbringen
kann, wenn es mit Corona wieder ernst wird, zweite Welle und
so, und man dann bei aller Angst und Sorge durch die App dazu
beitragen kann, dass es nicht wieder zum absoluten Lockdown
kommen muss. Das müsste machbar sein, da die Corona-App
keine ist, die man wieder löscht, weil sie derzeit nicht ständig
Alarm schlägt.
Ein anderes „gefühltes“ Problem könnte da schon eher
gewünschte Effekte der App torpedieren. Man kann das Ding
nämlich von zwei Seiten betrachten, fast schon ein bisschen
Janus und so. Denn der zweigesichtige Gott Janus (aus der
römischen Mythologie) gilt als Herrscher von Tür und Tor.
Und bei der Corona-App ist es ja so, dass man aus Sicht des
Jedermanns und Jederfrau (der/die nicht infiziert ist) nur den
Vorteil, sieht, dass man informiert würde, wenn man in der
Nähe eines Infizierten war.
Aus Sicht dessen allerdings, der schon positiv auf das
Corona-Virus getestet wurde, sieht die Sache etwas anders
aus. Er kann zwar zum Nutzen seiner Mitmenschen als Infizierter
selbst in der App eintragen, dass es eben so ist und
damit verschlüsselt alle Handys und deren Besitzer warnen,
die zuletzt in seiner Nähe waren. Um einen Missbrauch zu
verhindern (also Leute, die hypochondrisch gepolt sind), muss
dieser Status aber offiziell bestätigt werden. Das geschieht
zum einen über einen QR-Code, den man vom Testlabor
erhält. Da jedoch nicht alle Labors in der Lage sind, QR-
Codes zu generieren, muss der Betroffene eine TAN - also
eine Transaktionsnummer - eingeben, die man von einer
Telefon-Hotline bekommt. Dort wird man aber erstmal
„psychologisch geschult“ ausgefragt, quasi Lügendetektor.
Macht das jemand? Eine Hotline anrufen, sich ausfragen
lassen, nur um dann per App Mitmenschen zu warnen?
Da könnte es menscheln, weil mühsam. Die App ist nur so
gut wie sie genutzt wird.
Corona-Tagebuch | 20. Juni 2020 7
Den Schlüssel
behalten
Die Bundesrepublik Deutschland steigt mit 23 Prozent für 300 Millionen Euro beim
Impfstoff-Entwickler Curevac ein. Das ist ein Signal von Stärke und Entschlossenheit.
Von Michael Zäh
Mensch, es gibt Zufälle, das glaubst du gar nicht. Da
steigt also an einem Tag die Bundesrepublik Deutschland
beim Tübinger Impfstoffentwickler Curevac ein,
lässig mit 300 Millionen Euro für 23 Prozent der Firmenanteile,
und dann am nächsten Tag wird bekannt, dass deren Antrag
auf eine klinische Studie ihres Covid-19-Impfstoffs vom
Paul-Ehrlich-Institut genehmigt wurde. Klaus Cichutek, Chef
des Paul-Ehrlich-Instituts, des deutschen Bundesinstituts für
Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel: „Es wurde sehr
schnell entschieden.“
Quasi: Nach dem Einstieg des Bundes hat der Bund gleich
mal grünes Licht für sein eigenes Investment gegeben. Und
ab geht die tolle Fahrt. Böse Zungen behaupten, dass es einen
Wettlauf gäbe, nicht nur gegen die Zeit wegen des bösen Corona
und dessen zweiter Welle, sondern auch weltweit zwischen
hunderten von Firmen, die an einem Impfstoff gegen Corona
forschen. Und jeder weiß: Wer dieses Rennen gewinnt, wird so
richtig reich.
Der Bundesregierung nun aber zu unterstellen, dass
sie mit ihrer Beteiligung an Curevac auf Reichtum aus
ist, wäre zu kurz gegriffen. Es ist mehr als das. Es ist
eine strategische Beteiligung mit Botschaft: „Germany
is not for sale“, hatte Wirtschaftsminister Peter Altmaier
ja gleich gesagt, nachdem im März bekannt wurde,
dass Donald Trump sich und seinem Amerika die
Firma Curevac sichern wollte, praktisch per
Übernahme. Das hatten die Tübinger aber
abgelehnt, wohl nach ein paar Gesprächen
des Mehrheitseigners Dietmar Hopp mit
Merkel, Altmaier und Co.
Der Einstieg des Bundes beim Impfstoffentwickler
ist schon außergewöhnlich.
Denn es handelt sich bei Curevac ja
um ein finanziell flottes Unternehmen,
das keineswegs in Nöten steckt. Es
ist ja die eine Sache, wenn der Bund
vorrübergehend bei in Schieflage geratenen
Firmen wie etwa zuletzt bei
der Lufthansa einspringt, um diese
zu stützen und vor Übernahmen zu
schützen. Eine ganz andere Sache
aber ist es, den weiteren Ausbau
eines florierenden Unternehmens
wie jetzt Curevac mit zu finanzieren.
Die Kernbotschaft lautet denn
auch: Man arbeite „an der industriellen
Souveränität Deutschlands“, wie Wirtschaftsminister Altmaier
sagt. Es gehe darum, „Erfolg versprechende Schlüsseltechnologien
am Standort Deutschland zu erhalten und zu stärken“, so
Altmaier weiter.
Diese Beteiligung ist also ein Signal. Und dieses Signal hat
mit den Lehren in Corona-Zeiten zu tun. Es soll nicht mehr alles
dem freien Spiel der weltweiten Märkte überlassen werden. Es
sollen Technologien und die Produktion wichtiger Güter in
Deutschland gehalten werden. Da die Bundesregierung dafür ja
das Geld der Steuerzahler einsetzt, kann ein solches Vorgehen
bei den Bürgern hierzulande das Gefühl von Stolz, Zustimmung
und Patriotismus auslösen. Frei nach dem Motto: Trump mal die
Grenzen aufgezeigt, die er selbst ja immer zieht. Und China den
Weg versperrt, sich durch die Hintertür ein deutsches Topunternehmen
zu schnappen.
Bei der Entscheidung, sich an Curevac zu beteiligen dürfte
auch die Person des Mehrheitseigners Dietmar Hopp eine Rolle
gespielt haben. Schließlich zähle der von Hopp mit gegründete
Softwarekonzern SAP zu den wertvollsten Unternehmen
Deutschlands, führte Peter Altmaier aus. Sprich: Dem
Unternehmer Hopp kann man durchaus vertrauen.
Der hat schon etwas vorzuweisen. So sieht das der
Wirtschaftsminister. So sehen das wohl alle, die nicht
Verschwörungstheorien nachhängen, die Hopp in
Verbindung zu Bill Gates bringen, der mit seiner
Stiftung ebenfalls an Curevac beteiligt ist.
Curevac darf seinen Impfstoffkandidaten
jetzt also an Menschen testen,
nachdem sich seine hohe Wirksamkeit in
Tierversuchen zeigen ließ. Erste Ergebnisse
werden im Herbst erwartet. Doch
bereits jetzt läuft bei Curevac die Produktion
einiger Millionen Impfdosen
an, heißt es aus dem Unternehmen. Es
seien Anlagen im Bau, nun mitfinanziert
vom Bund, die sogar Milliarden
Impfdosen liefern könnten. Heißt auch:
Curevac hat offensichtlich gar keinen
Zweifel an der Zulassung seines Impfstoffes.
Und Gesundheitsminister Jens Spahn führte
aus, dass die deutsche Beteiligung an Curevac
auch bedeute, sich heute schon auf künftige
Pandemien vorzubereiten.
Und ja, sieh an: Corona, auf das man ja überhaupt
nicht vorbereitet war, hat hier zu einem
Umdenken geführt. Das wenigstens ist gut.
Samstag, 20. Juni 2020
8
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 20
Ausgabe 290 am 20
Samstag, 20. Juni 2020
Mit dem Wumms
aus der Krise
Konjunkturpaket. Mit 130 Milliarden Euro, die in Deutschland quasi wie ein warmer
Geldregen vom Regierungshimmel fallen sollen, wollen Merkel, Scholz, Söder und Co. „ein
Stück weit Optimismus“ vermitteln. Kretschmann übte Kritik. Von Michael Zäh
Es regnet Geld. Die Regenmacher
der GroKo haben jedenfalls
nicht das kleine Gießkännchen,
sondern mindestens den Sprenkler
heraus geholt. Manch einer hat verbal
sogar den Gartenschlauch dabei: „Mit
Wumms aus der Krise“, sagte Finanzminister
Olaf Scholz (SPD) zu dem
verabschiedeten Paket. Ja, man kann
sich den Mann als einen vorstellen,
der volle Pulle das Wasser aus dem
Gartenschlauch (war zuvor ja schon
die Bazooka) auf die allzu trockene
Vegetation richtet. Wenn
das so weiter geht,
werden uns Scholz,
Merkel und gar die
GroKo ja noch richtig
sympathisch.
Weitere 130
Milliarden Euro
will also die Große
Koalition als „Konjunkturpaket“
über Land und Leute
regnen lassen. Es ist zweifellos
ein geradezu historischer Geldregen.
Kein Mensch weiß, ob das reicht, um
die tiefen Risse in der Wirtschaft
zu schließen, die durch Corona,
den Lockdown, sowie durch den
Zusammenbruch international
eng verwebter Produktionsund
Lieferstrukturen erzeugt
wurden. Aber es ist ein Signal
wie es eindeutiger nicht sein
könnte. Deutschland zeigt seine
Muskeln.
Nach einem 21-stündigen Verhandlungsmarathon
hat sich dabei
nicht die eine oder andere Partei mehr
durchgesetzt, sondern eher eine neue
strategische Vernunft. Es ist kaum
ein fauler Kompromiss
dabei. Viele vereinbarte Maßnahmen
überraschen durch Ausgewogenheit.
Man könnte sagen: GroKo überzeugt
und handelt. Und dann auch noch in
diesem Tempo! Wer hätte das vor der
Corona-Krise gedacht?
Im Vorfeld gab es ja besonders
symbolträchtige Punkte. Da war die
SPD-Idee, eine Vermögensabgabe
für Reiche zu fordern.
Bei der Union wurde die
Autokaufprämie hoch
gehandelt. Von
beiden Vorschlägen
war am Ende keine
Rede mehr. Vielmehr besteht
die Schnittmenge des Kompromisses
aus 57 Einzelpunkten,
die womöglich
die drohende Rezession
tatsächlich ein bisschen abfedern
könnte. Aber klar, der Wumms
muss von der Wirtschaft und von
den Konsumenten kommen. Der
130-Milliarden-Euro Reigen
soll nur ein Anreiz dafür
sein. Es gehe um Psycholgie in
den Zeiten der größten Krise der
deutschen Nachkriegsgeschichte.
Das sagen zumindest Merkel, Scholz,
Söder und Co. Es gehe halt um eine
positive Stimmung – quasi Pfeifen
im tiefsten Tal, aber mit Vehemenz.
Und tatsächlich werden
teure Maßnahmen des
Pakets nur greifen, wenn
die „Stimmung“ dazu führt,
dass konsumiert wird. Dafür
kann man zwei Beispiele nennen:
Wenn etwa erstens 300 Euro
pro Kind in Deutschland ausgezahlt
werden sollen, dann soll das dazu
führen, dass die Eltern für ihre Kinder
auch etwas davon einkaufen. Tun sie
das aber nicht, sondern legen
das Geld in kriselnden Zeiten
einfach auf die hohe
Kante, dann verfehlt dieser
Anreiz sein Ziel. Wenn
zweitens der Mehrwertsteuersatz
von Juli bis zum Jahresende von
19 auf 16 Prozent reduziert wird,
dann bringt das konjunkturell
nur dann etwas, wenn
die Waren in dieser Zeit für
die Konsumenten auch entsprechend
günstiger werden. Denn
nur dann führt der Verzicht des
Staates zu einem Kaufanreiz
und damit zur Belebung des
Binnenmarktes. Wenn aber
die Händler durch Anhebung
der Preise diesen Vorteil
wieder zunichte machen,
dann verpufft die Aktion,
die den Staat aber dennoch Milliarden
kostet. Es ist also alles
eine Frage der Stimmung. Die
Optimisten nutzen die Gelegenheit,
kurbeln mit ihrem Konsum wie
gewünscht die Wirtschaft im Binnenmarkt
an und machen das eine oder
andere Schnäppchen.
Aber die Pessimisten
(die nämlich mit der zweiten
Corona-Welle rechnen)
lassen den Geldregen in den
Tiefen ihrer Taschen versacken. Union
und SPD setzen darauf, dass die
Bürger mehr Geld ausgeben und dass
die Unternehmen investieren. Dazu
soll extrem viel staatliches Geld
fließen, das so die Binnenkonjunktur
ankurbeln soll. Und
von den größten Posten im
neuen Konjunkturpaket, –
die Mehrwertsteuersenkung,
der Kinderbonus und
die Strompreisdeckelung –
profitieren auch sozial
Schwache.
Das ist tatsächlich
ein echter Gegenentwurf
zu früheren
Konjunkturprogrammen.
Als die
schwarz-gelbe Bundesregierung
2010 auf die Folgen der Finanzkrise
reagierte, sollten 80 Milliarden
Euro eingespart werden - vor
allem im sozialpolitischen Bereich.
Demgegenüber stand eine
staatliche Prämie in Höhe von
2500 Euro für all jene, die sich einen
Neuwagen leisten konnten. Nun ist
es andersherum: Die Autoprämie ist
vom Tisch und Finanzminister Scholz
hat schon früh gesagt, dass man nicht
gegen diese Krise ansparen wolle.
Statt 80 Milliarden Einsparungen
wie 2010 gibt der Staat 2020 nun glatt
Samstag, 20. Juni 2020
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. Juni 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 9
. Juni 2020
Samstag, 20. Juni 2020
130 Milliarden Euro als Hilfe zur Ankurbelung
aus.
Lange hieß es in Deutschland,
dass Schulden vermieden werden
müssten, um den nachfolgenden
Generationen keine „Altlasten“ zu
hinterlassen. Dieses Paradigma hat
sich verändert: In Zeiten historisch
niedriger Zinsen müsse stattdessen
investiert werden, um nachfolgenden
Generationen ein Land zu hinterlassen,
das gut ausgestattet und intakt
ist. Das Konjunkturpaket beweist den
neuen Ansatz. Quasi: Chance nutzen
statt zögern und zaudern. Kredite
von 218 Milliarden Euro will nun die
Regierung aufnehmen, um insgesamt
509 Milliarden Euro im Jahr 2020
ausgeben zu können.
Und dies ist ganz besonders bemerkenswert,
weil das Regierungshandeln
eines ist, das von Merkel
über Söder bis zu Scholz reicht. Da
hat zwar jeder seinen speziellen
Spaß an den einzelnen Aspekten.
Söder etwa findet die Mehrwertsteuersenkung
sei das „Herzstück“
des Konjunkturpakets. „Wir waren
nicht ängstlich, sondern mutig, aber
auch nicht übermütig“, sagte
er. Scholz ist sowieso der mit
dem Wumms, aber auch stolz
darauf, dass die SPD die 300
Euro pro Kind durchgesetzt
hat.
Jenseits allen Selbstlobes
gab es auch andere Ansichten, wie
etwa die des Grünen Winfried
Kretschmann, Ministerpräsident
von Baden-Württemberg. Er hatte
sich für eine Autokaufprämie stark
gemacht, im Ländle von Mercedes
und so. Und Kretschmann blieb auch
später dabei: Eine solche Prämie hätte
nur die modernsten Verbrenner bezuschusst,
während die stattdessen beschlossene
Mehrwertsteuersenkung
nun alle Autokäufe unterstützt. Und
außerdem müsse man ja die Autoindustrie
erstmal erhalten, um sie dann
zu mehr Klimafreundlichkeit transformieren
zu können. Tja, der Mann
ist der Pragmatiker in grün.
Samstag, 13. Juni 2020
10
WELT
GESELLSCHAFT
Corona-Tagebuch
Samstag, 13
Ausgabe 287 am 4.
Der reale Moment
tödlicher Gewalt
Samstag, 4. April 2020
Polizeigewalt. Das Video der 17 Jahre alten Darnella Frazier zeigt den Tod von George Floyd
durch einen brutalen weißen Polizisten. Diese Bilder sind keine Inszenierung, sondern bilden
die grausame Wirklichkeit ab. Danach allerdings beginnen Inszenierungen. Von Michael Zäh
Den Namen George Floyd kennen
inzwischen weltweit Millionen
Menschen. Seine Name wird in
den Mund genommen, auf unzähligen
Demonstrationen in den USA, aber auch
überall in Europa, wie etwa zuletzt in
Freiburg. Es gibt eine Frage zu stellen,
die schmerzhaft ist: Warum kommt es
bei der Ermordung von George Floyd
zu diesem Aufschrei, während viele
vergleichbare, nicht minder bestialische
Verbrechen in den USA, aber auch in
Europa, etwa der Schweiz, Frankreich
und Deutschland kaum zu Protesten
führten? Erst in der Folge des Todes von
George Floyd werden auch die Namen
anderer Menschen genannt, die unter
ähnlichen Umständen zu Tode kamen.
Durch Polizeigewalt. Es sind sehr viele
Namen und es sind oft ebenso grausame
Umstände ihres Todes.
Was den Unterschied ausmacht, ist
ein Video, das die 17 Jahre alte Darnella
Frazier in Minneapolis aufnahm. Die
junge Frau sieht den Vorfall, zückt ihr
Handy und hält alles fest. Diese Aufnahme
wackelt kaum und ganz nah
traut sich Frazier an das Geschehen. Ein
paar Stunden später lädt sie das Video
auf Facebook hoch. Seitdem sieht die
ganze Welt, was geschah, besser: was
getan wurde. Ein weißer Polizist drückt
fast neun Minuten lang sein Knie in
den Hals des bereits gefesselten George
Floyd, der immer wieder sagt, dass er
nicht atmen kann und schließlich nach
seiner Mutter ruft.
Das Video zeigt also einen Mord
(über den im juritischen Sinne erst noch
geurteilt werden wird), aber vor allem
zeigt es einen Menschen, der grausam
stirbt. Es ist klar, dass dieses Video
als Beweisstück für eine schreckliche
Tat verwendet werden muss. Doch die
Frage lautet, ob es für die Öffentlichkeit
immer und immer wieder zur Verfügung
stehen muss.
Ja, diese Frage ist keine leichte.
Denn einerseits wird hier eine Tat
dokumentiert, die sonst womöglich
geleugnet worden wäre. Wie es in vielen
anderen Fällen war. Doch das Video
zeigt auch einen Menschen, der stirbt,
in seinen letzten Lebensmomenten,
und George Floyd hat nicht mehr die
Möglichkeit, selbst zu bestimmen, was
über seinen Tod in der Welt zu sehen ist.
Das Video ist keine Inszenierung,
sondern im Gegenteil liefert es Bilder,
die grausamer nicht sein könnten, weil
es einen realen Moment zeigt. Dieser
reale Moment der tödlichen Gewalt,
der Tod von George Floyd, hat dennoch
eine hohe Symbolkraft, weil ein
weißer Polizist scheinbar völlig unbeeindruckt,
mit den Händen in seiner
Hosentasche, sein Knie in das Genick
des Schwarzen George Floyd drückt,
bis dieser erstickt. Diese Mischung
aus realem Grauen und symbolhafter
Samstag, 13. Juni 2020
| 13. Juni 2020
. Juni 2020
GESELLSCHAFT WELT 11
April 2020
Samstag, 4. April 2020
Gewalt hat Amerika in Flammen
gesetzt. Und die Welle der Proteste
schwappte auf Europa über.
Und irgendwann hier beginnen
auch die Inszenierungen. Und diese
sind schlimm. Etwa wenn Gianna, die
sechs Jahre alte Tochter von George
Floyd auf seiner Beerdigung erklärt,dass
ihr Vater die Welt verändert habe. Das
Mitgefühl für das Verzweifelte in der
Äußerung des kleinen Mädchen könnte
nicht größer sein. Und gleichzeitig darf
man sich fragen, ob das sein musste.
„Ich denke, was hier passiert ist,
ist einer dieser großen Wendepunkte
in der amerikanischen Geschichte,
was bürgerliche Freiheiten, Bürgerrechte
und die gerechte Behandlung
von Menschen mit Würde betrifft“,
sagte Joe Biden nach der Begegnung
mit der Familie Floyds. „Er hörte zu,
hörte ihren Schmerz und teilte ihr
Leid“, sagte der Anwalt der Familie.
Präsident Donald Trump dagegen,
der vor einer Woche mit der Familie
telefonierte, habe in dem „knappen“
Gespräch überwiegend selbst geredet.“
Im Kampf um die Präsidentschaft
hat sich der Demokrat Biden also am
anderen Ende der Skala der Emotionen
eingefunden. So wird aus dem Tod
von George Floyd auch Wahlkampf.
Wenn sich US-Präsident Donald Trump
früh in die Pose von „Law and Order“
warf, dann natürlich wie immer weil er
glaubt, dass ihm das bei seiner Wiederwahl
im November hilft. Wenn er den
Demonstranten in einem entflammten
Amerika droht, dass er das Militär gegen
sie einsetzen werde, um das Problem
„sehr schnell zu lösen“, dann ist es ja
so, dass Trump sich in die Pose dessen
wirft, der als weißer Polizist auf offener
Straße einen Schwarzen ermordet hat.
Denn das ist ja das Problem, dass der
Mörder ein Polizist ist, der ebenfalls
im Namen von „Law and Order“ zu
handeln vorgab. Und dass dies alles vor
laufenden Handy-Kameras geschah,
zeigt wiederum, dass der Mörder sich als
ein Mann von „Law and Order“ sicher
glaubte. Selbst ein Mord auf offener
Straße, in aller Öffentlichkeit schien ihm
kein Problem zu sein.
Unter Recht und Ordnung dürfen
weiße Amerikaner durchaus Schutz
und Sicherheit verstehen, während aber
schwarze Amerikaner es so verstehen
müssen, dass sie die Bedrohung sind,
vor der man die Weißen schützen will.
Das spiegelt sich auch im Verhalten
von Donald Trump wieder. „Während
ich hier spreche, habe ich Tausende
und Abertausende von schwerbewaffneten
Soldaten und Polizisten in Gang
gesetzt“, so Trump in seiner Law-and-
Order-Rede am 2. Juni. Und was das
heißen sollte, wurde kurz darauf klar,
als die Polizei und die Nationalgarde
hunderte friedliche Demonstranten mit
Schlagstöcken, Gummigeschossen und
Tränengas gegenüber dem Weißen Haus
vertrieben – und zwar nur, weil Trump
sich zu Fuß in Szene setzen wollte, um
zur historischen St.Johns Church rüber
zu gehen und dort eine Bibel neben sich
hochzuhalten, für die Kameras. Trump
kniet nicht, sondern spielt Gott.
Es ist sogar wohl so, dass Trump ja
überhaupt zum US-Präsidenten gewählt
wurde, weil es solche Strömungen
schon damals gab. Insofern ist auch
kein Wunder, dass alles, was jetzt auf
die Spitze getrieben wird, schon lange
in Amerika schlummert und Trump nur
ein Ausdruck dessen ist. Er ist eben nur
ein rechter Spalter, der gewählt wurde,
um ein gespaltenes Land zu veranschaulichen.
In der Folge der Unruhen, die nach
dem gefilmten Tod von George Floyd
in mindestens 140 Städten der USA um
sich griffen, hat sich inzwischen die Art
des Protestes gewandelt. Die Randale
findet kaum mehr statt. Es geht jetzt
um einen breiten Wunsch nach Wandel
innerhalb der Gesellschaft. Nicht nur
die Demonstranten, sondern auch viele
Polizisten gehen auf die Knie, um zu
zeigen, dass es gemeinsame Werte gibt.
Das ist immerhin nicht nichts. Und es ist
mehr als es Trump geheuer sein dürfte,
der ja, wie Floyds Familie sagte, „überwiegend
selbst geredet habe.“ Von sich!
Illustrationen: Viktor Lukanow
12 Corona-Tagebuch | 30. Mai 2020
Warten
auf Corona
Während die Zahlen der Covid 19-Infektionen regelrecht dahin schmelzen und
Bund und Länder prompt auch etliche Verbote aufgehoben haben, lauert die eine
Frage: Kann das gut gehen? Das Virus scheint versteckt zu lauern. Von Michael Zäh
Es kommt und geht. Es hat selbst keine Seele und keinen Sinn.
Man hat es „Covid 19“ und „Corona“ getauft, egal warum,
aber es erinnert an Godot.
„Komm, wir gehen.“
„Wir können nicht.“
„Warum nicht?“
„Wir warten auf Godot.“
„Ach ja.“
So ist das in dem berühmten Stück von Samuel Beckett von1949
und so ist es derzeit mit Corona. Denn während die Zahlen wie von
Zauberhand dahin schmelzen und nun auch überall das Leben wieder
erlaubt sein soll, lässt Corona die Botschaft überbringen, dass es bald
wieder da sein werde.
Ein Junge taucht in „Warten auf Godot“ mit einer Nachricht auf:
Herr Godot werde heute nicht mehr kommen, ganz bestimmt aber am
nächsten Tag. Und an diesem heißt die Botschaft dann genau gleich.
Man ahnt: es geht immer so weiter, also bei Beckett in seinem Stück,
der als Autor des absurden Theaters berühmt wurde.
Und wie verhält es sich bei Covid 19? Anfangs wurden Zahlen
vorgelegt, die besagten, dass sich 70 Prozent der Deutschen früher
oder später damit infizieren würden. Weil dies rund 58 Millionen
Menschen sind, wovon dann ein Sechstel, also neun Millionen Menschen
einen schweren Verlauf hätten bekommen können, wurde der
Lockdown ausgerufen. So weit, so klar.
Nach knapp zwei Monaten im runtergefahrenen Modus sind die
Zahlen erfreulicherweise andere. Es erweckt derzeit den Eindruck,
dass sich die Gefahr verflüchtige. Plötzlich liegen die Zahlen in einem
Bereich, der fast schon an einem abwesenden Herrn Godot erinnert.
Da werden dann etwa für Freiburg gerade noch 4,3 Neuinfektionen
pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen (Stand 24. Mai), oder für den
Landkreis Emmendingen 1,2 pro 100.000 oder Landkreis Lörrach
0,4 pro 100.000 Einwohner gemeldet. Rund 161.000 Menschen in
Deutschland galten am 26. Mai als geheilt und es galten nur noch
9.275 Personen an diesem Tag als aktuell infiziert – bei über 80
Millionen Einwohnern im Land.
Und hier könnte es heißen: „Komm, wir gehen.“ Zurück ins
wahre Leben, vor allem auch im Kampf um die wirtschaftlichen
Existenzen in allen Bereichen. Es wurden ja prompt auch von Bund
und Ländern etliche Verbote wieder aufgehoben, logisch, da Verbote
ja kein Selbstzweck sind.
Aber jetzt, was kommt? Die meisten Betriebe aus verschiedenen
Bereichen haben unter Auflagen wieder geöffnet. Und Thüringens
Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) will es bald jedem Bürger
selbst überlassen, ob er Mundschutz trägt oder Abstand hält. Er nennt
das eine „verantwortungsbewusste Solidarität“. Das hat viel Kritik
ausgelöst, weil: „Wir können nicht.“ „Warum nicht?“ „Wir warten
auf Godot.“
Und ja, es ist schon so, dass die Dinge des Lebens, die vor Corona
selbstverständlich waren, nun eher suspekt wirken. Bei Sonnenschein
sind nach den „Lockerungen“ an all den zuvor verwaisten
Stellen plötzlich wieder viele Menschen, in den Cafés, auf Kinderspielplätzen,
im Park, und überall schwingt die bange Frage mit:
Kann das gut gehen? Der Bote sagt: Herr Godot werde heute nicht
mehr kommen, ganz bestimmt aber am nächsten Tag. Dies glauben
bei Corona auch Kanzlerin Merkel, Bayerns Ministerpräsident Söder
und viele Virologen.
Dennoch hat Ramelow auch Recht, wenn er anhand der aktuell
bestehenden Zahlen davon weg will, seinen Bürgern weiterhin ihr
Verhalten vorzuschreiben. Zurück zu den Grundrechten zu kommen
ist nämlich nichts, was man extra begründen müsste. Man braucht
umgekehrt gute Gründe, um die Grundrechte zu beschneiden.
Und das geben die Zahlen nicht mehr her. Es ist sinnlos, auf Herrn
Godot zu warten. Und bei Herrn Corona ist es so, dass es noch viel zu
tun gibt, während er abwesend ist. Zum Beispiel die Pause zu nutzen,
um endlich Schutzausrüstung besorgen, Herr Spahn!
„Ach ja.“
Corona-Tagebuch | 30. Mai 2020
13
Wenn ein Sack
Reis umfällt
Zwischen den USA und China tobt ein Propaganda-Krieg um die Deutungshoheit wegen
dem Corona-Virus. US-Präsident Donald Trump will China zum Sündenbock machen,
China warnt aggressiv vor einem neuen „Kalten Krieg.“ Von Michael Zäh
Vorbehalte und Vorurteile gibt es im Westen schon
seit jeher, was China angeht. Gerne wurde früher
der Spruch bemüht, dass etwas den Sprecher ungefähr
so sehr interessiere „wie wenn in China ein Sack
Reis umfällt.“ Sprich: Gar nicht! Man darf sich hier den
Sprecher als Firmenchef in Deutschland vorstellen, der mit
dem Spruch zum Ausdruck bringen will, dass alle Chinesen
immer Reis essen, es deswegen unendlich viele Säcke Reis
in China gibt, weshalb es egal ist, wenn mal einer davon
umfällt. Ganz im Gegensatz eben zu der Bedeutung, die der
Sprecher sich selbst, seiner Firma, Deutschland und dem
Westen einräumt.
Quasi: Die Chinesen sind zwar viele, haben aber nicht
die Klasse des Individuums im Westen. Oder auch: wir
sind groß und die sind klein. Die bauen uns doch nur alles
nach, klauen die besten Ideen und stellen dann ein billiges
Plagiat her. Undsoweiter, undsofort.
Deshalb taugt China perfekt zum Sündenbock, schon
lange vor Corona. Das ist sozusagen bereits im Hinterkopf
des Westens verankert. Seit aber das gefährliche Virus
von der chinesischen Stadt Wuhan aus in die Welt
kam, tobt ein Propaganda-Krieg zwischen den USA und
China. Und zu diesem tragen beide Seiten erklecklich bei.
US-Präsident Trump sprach gleich vom „chinesischen
Virus“, worauf China die steile Version in Umlauf brachte,
dass es wohl US-Soldaten gewesen seien, die das Virus nach
Wuhan brachten. Diese haben tatsächlich im Oktober 2019
an Militärweltspielen in Wuhan teilgenommen, denn das
waren Sportwettkämpfe von Soldaten aus aller Welt.
Aber selbst chinesische Virologen stellen diese Behauptung
in Frage.
Nachdem das Corona-Virus nun schon 100.000
Amerikaner getötet hat, geht Trump gegen China in die
Offensive und werden in den USA republikanische
Stimmen laut, die eine „Bestrafung“ Chinas fordern.
Die These dahinter ist, dass Peking
zur Jahreswende 2019/2020 bereits
von der großen Gefahr wusste, die
von Corona ausgeht, dies aber
der Welt vorenthalten habe.
Man habe den Ausbruch
vertuscht. Bisher gibt es
Anzeichen dafür, dass das so gewesen sein könnte, aber
keine stichhaltigen Beweise.
China konterte mit einer Art Comic-Offensive, in der
es so dargestellt wurde, dass man alle Welt klar und laut
vor der Corona-Gefahr gewarnt habe, aber es keiner
habe hören wollen. Daraufhin hat die USA behauptet,
dass das Virus aus einem staatlichen Forschungslabor
in Wuhan ausgebrochen sei. Alles ohne Nutzen.
„Es ist nur eine Person, die aus China kommt, und wir
haben es unter Kontrolle. Es wird alles gut werden“, sagte
Donald Trump am 22. Januar in einem CNBC-Interview,
nachdem am Vortag der erste Fall einer Corona-Infektion
in den USA bekannt geworden war. Noch am 26. Februar
sagte der US-Präsident: „Es ist wie eine normale Grippe
gegen die wir Impfungen haben.“ Solche belegten Verharmlosungen
geben China recht, dass die damals längst
abgegebene Warnung von Trump ignoriert wurde.
Aufgrund solcher Aussagen ist klar, dass Trump
lange gar nicht kapiert hat, welchen Schaden die Pandemie
anrichten kann. Und sein Versagen ist so offensichtlich,
dass er im Kampf um seine Wiederwahl dringend
einen Sündenbock braucht, auf den er die über 1,6
Millionen infizierten US-Bürger (täglich mehr) und
die weltweit meisten Corona-Toten abwälzen kann.
Chinas Außenminister Wang Yi warnte vor einem
neuen Kalten Krieg - und damit vor einer Gefahr für den
Weltfrieden. Er warf den USA „Lügen und Verschwörungstheorien“
vor. „Es ist an der Zeit, dass die USA ihr
Wunschdenken aufgeben, China zu verändern oder die
1,4 Milliarden Chinesen an ihrem historischen Marsch
zur Modernisierung zu hindern“, sagte der chinesische
Außenminister weiter. Klingt beherzt und aggressiv.
Es steckt also mehr hinter der Auseinandersetzung
wegen Covid 19. Es geht wohl um nichts
weniger als die Frage, wer morgen eher die
Weltmacht Nummer eins ist. Und Europa
täte gut daran, schnell die eigenen
Probleme zu lösen (Streit über Corona-Fonds),
um nicht zwischen
einem umgefallenen Sack
Reis und einem US-Burger
zerquetscht zu werden.
Ausgabe 289 am 30
Samstag, 30. Mai 2020
14
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 30
Mehr wagen, aber mit
Umsicht des Einzelnen
Samstag, 30. Mai 2020
Präventionsparadox. Es ist ein altbekanntes Phänomen, dass die Vorsorge keinen Preis dafür
gewinnt, wenn sie die Gefahr ausgebremst hat. Doch man sollte den gemeinsam erreichten
Erfolg in sechs entbehrungsreichen Wochen wie Gold behandeln, das man in Händen hält.
Von Michael Zäh
Die Sehnsucht der Menschen,
dass der böse Corona-Spuk
vorbei sein möge, nimmt in
selbem Maße zu, wie die Angst vor
einer Ansteckung abnimmt. Als Ende
März das gesamte gesellschaftliche,
soziale und wirtschaftliche Leben in
Deutschland rapide runtergefahren
wurde, stand auf der anderen Seite ein
fieser Feind, vor dem die Angst groß
war. Man sah damals Horrobilder von
schwerkranken Menschen, die auf
den Fluren der Krankenhäuser ihrem
Schicksal überlassen wurden, weil
die Ärzte nicht mehr mit ihrer Hilfe
nachkamen. Das war in Bergamo, in
Italien. So nah, so gefährlich.
Die Gesellschaft trug daher die
Maßnahmen von Bund und Ländern
mit, natürlich mit ungleich großen
Opfern je nach Gesellschaftsschicht,
wirtschaftlicher Lage, Beruf, Anzahl
der Kinder und vielem mehr. Aber
alle waren verbunden, zumindest
in überwältigender Mehrheit, duch
eben diese Angst vor dem neuartigen
Corona-Virus.
Nach sechs Wochen der Disziplin,
der enormen Einschränkung und der
Vernunft sind die großen Schrecken
in Deutschland ausgeblieben. Und die
Infektionszahlen haben sich in dieser
Zeit auf ein niedriges erfreuliches
Niveau gesenkt. Ebenfalls hat sich
die Präsentation der Zahlen geändert.
Während anfangs nur Infektionen
und Verstorbene geschildert wurden,
boten spätere Darstellungen einen
Dreiklang aus: Infizierte/ Genesene/
Verstorbene. Aktuelle Grafiken (wie
die hier abgebildete vom Landratsamt
für Freiburg und den Kreis
Breisgau-Hochschwarzwald) stellen
nun ehemals Infizierte den aktuell
C OVID- 1 9 – Infektionen am 28. Mai 2020
Das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald meldete am 28. Mai 2020
um 6:55 Uhr folgende Fallzahlen:
Insgesamt: 2123 (unverändert)
Stadt Freiburg: 976
Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald: 1147
Todesfälle insgesamt: 148 (unverändert)
Stadt Freiburg: 79
Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald: 69
Infizierten gegenüber. Daran ist
eine Entwicklung zu erkennen,
die entspannt. In sehr vielen
Gemeinden steht die Null.
So ist es kein Wunder, dass
jetzt das zu erwartende Paradox
in den Köpfen und den Reden
Einzug hält: Der gemeinsam
unter großen Mühen erzielte
Erfolg wird nun zur Basis der
Behauptungen, dass ja wohl
die gesamte Virus-Bedrohung
so groß ja gar nicht gewesen
sein kann. Anstelle der Angst,
die zuvor zu viel Solidarität in
der Gesellschaft führte, kommt nun
oftmals Wut, Trotz und Frust zum
Vorschein.
Es ist ein altbekanntes Phänomen,
dass Vorsorge im Nachhinein keinen
Preis gewinnt, weil eben ihr Wirken
in dem Moment nicht mehr zu sehen
ist, in dem sie die Gefahr ausgebremst
hat. Niemand kann dann mehr beweisen,
dass es ohne die getroffene
Vorsorge viel schlimmer gekommen
wäre. Sprich: Wenn die Vorsorge
erfolgreich war, hat sie sich selbst
diskreditiert.
Doch das ist nur ein Zwischenstand.
Wenn nämlich das Wirken
der Vorsorge plötzlich nicht mehr
anerkannt wird, dann führt das
dazu, dass sie nicht mehr praktiziert
wird. Und dies wiederum
führt dann dazu, dass eben
jene Gefahr real wird, von
der man sich zuvor schon
befreit geglaubt hatte und
die man deshalb als doch
nicht allzu groß einstufte.
Im Falle des Corona-Virus
lässt sich dieser Prozess
bereits erahnen. Nach-
Neuenburg am Rhein
55/2
Auggen
19/0
Vogtsburg im Kaiserstuhl
42/0
Breisach am Rhein
136/0
Hartheim am Rhein
13/0
14/0
116/1
Eschbach
8/0
Buggingen
Müllheim
Ihringen
26/0
Heitersheim
Merdingen
7/0
Bad Krozingen
121/2
5*/0*
19/0
27/0
5*/0*
24/0
14/0 25/0
28/1
Bötzingen
Eichstetten
Gottenheim
Ballrechten-Dottingen
Badenweiler
Sulzburg
8/0
Schallstadt
Umkirch
12/0
29/0
March
32/0
Freiburg im, Breisgau
976/14
14/0
15/0
14/0 9/0
Wittnau
5*/0* Horben
14/1
Sölden 5*/0*
11/10
Pfaffenweiler
Ehrenkirchen
Staufen im Breisgau
Ebringen
Merzhausen
Bollschweil
8/0
Au
Münstertal/ Schwarzwald
Samstag, 30. Mai 2020
| 30. Mai 2020
. Mai 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 15
. Mai 2020
Samstag, 30. Mai 2020
Heuweiler
5*/0*
Gundelfingen
38/1
dem die Vorsorge und Vernunft zu
weniger Infektionszahlen führten,
geht es jetzt einigen Leuten gar nicht
schnell genug, alles auf den Kopf zu
stellen. Dabei sind ja bereits etliche
Lockerungen verkündet worden und
werden weitere folgen, wenn eben die
ganz großen Ausbrüche neuer Infektionen
ausbleiben. Gemesssen an den
letzten sechs Wochen völligen Stillstandes
wäre es jetzt ja vernünftig,
Schritt für Schritt und mit Umsicht
dem gesellschaftlichen, sozialen und
wirtschaftlichebn Leben wieder zu
seinem Recht zu verhelfen. Ja, es
Glottertal
11/0
wäre sozusagen der Lohn aller Mühen
und Verzichte, jetzt den gemeinsam
erzielten Erfolg auch in der
Phase der Neueröffnung des Landes
in eben jener Solidarität zu stemmen
wie in den Wochen der Angst zuvor.
Was dabei aber gar nicht hilft,
sind nun übereilte Vorwürfe, die aus
einem in sechs Wochen aufgestauten
Frust heraus erhoben werden. Es wird
noch Zeit genug sein, in aller Ruhe
über mögliche Fehler in der Politik
zu diskutieren. Wer aber meint, dass
er dies ausgerechnet jetzt auf den
sogenannten „Hygiene-Demos“ tun
muss, noch dazu möglichst
in Missachtung
aller Hygiene-Regeln,
die dem Land in den
Sankt Peter
5*/0*
letzten Wochen gut getan haben, der
wird wohl eher das Gegenteil dessen
bewirken, was er forderte.
Wenn aufgrund solcher doofen
Übergriffe in den kommenden Tagen
und Wochen nun unkontrollierbare
Hotspots von Corona-Infektionen um
sich greifen, quasi Ischgl hoch zehn,
nach Demos in Stuttgart, Berlin,
München und anderswo, dann würde
das alle Mühen und Kosten der letzten
sechs Wochen konterkarieren. Es
würde sich dann zwar zeigen, dass all
jene Besserwisser Unrecht haben, die
die Corona-Gefahr für klein halten.
Doch ausbaden müssten es dann alle
anderen. Das ist nicht akzeptabel.
Es ist doch wahrhaft ein schönes
Gefühl, auf einer Grafik die durch
gemeinsame Anstrengungen derzeit
erreichten Erfolge zu sehen. Anstatt
dem ollen Präventionsparadox zu
unterliegen und sich geschwurbelte
Gedanken darüber zu machen, dass
es aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Opfer doch gar nicht bedurft
hätte, könnte man diesen Erfolg
auch wie Gold behandeln, das man in
Händen hält.
Gerade weil zahlenmäßig eine
gewisse Entwarnung nun stattfindet,
sollte man umso behutsamer auf die
nächsten Schritte achten. Denn die
schwierigste Übung beginnt jetzt
erst: Statt den Verboten und den
Beschränkungen (die ja jetzt schrittweise
aufgehoben werden) muss jeder
Einzelne der eigenen Vernunft folgen.
Um den Erfolg zu retten, der in den
letzten entbehrungsreichen Wochen
erkämpft wurde, muss eine mündige
Solidarität her.
Und die besteht darin, natürlich
wieder etwas zu wagen, mit weniger
Angst als zuvor, aber mit umso mehr
Vorsicht. Dann könnte der derzeitige
Zwischenerfolg in den nachhaltigen
Triumph verwandelt werden.
Stegen
8/0
Sankt Märgen
6/0
Kirchzarten
23/0
Buchenbach
5*/0*
Eisenbach (Hochschwarzwald)
5*/0*
Oberried
13/0
Breitnau
5*/0*
Titisee-Neustadt
54/0
Friedenweiler
16/0
Hinterzarten
5*/0*
Löffingen
10/0
Feldberg (Schwarzwald)
5*/0 *
Lenzkirch
60/0
Schluchsee
7/0
0*/5*: Diese Zahl kann 0 bis 5 Fälle umfassen.
Fallzahlen unter 5 werden nicht
detailliert ausgewiesen, damit eine
Nachverfolgung auf Einzelpersonen ausgeschlossen
werden kann.
Als geheilt gelten Personen, deren Meldung
bis zum 14.05.2020 aufgenommen
und nicht hospitalisiert wurden.
Stand: 28.05.2020, 09:00 Uhr
Ausgabe 289 am 30
Samstag, 30. Mai 2020
16
FORSCHUNG
INTERVIEW
Corona-Tagebuch
Samstag, 30
Samstag, 30. Mai 2020
Manche unterschätzen
die Krankheit
Die Viren, die die Corona-Pandemie ausgelöst haben und jährlich Influenza-Epideminen verursachen, wurden vom Tier
auf den Menschen übertragen. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Martin Schwemmle, Forschungsgruppenleiter am Institut
für Virologie des Universitätsklinikums Freiburg über Fledermäuse , Pandemiepläne und fehlende FFP-Masken.
Die Corona-Pandemie zeigt auf
dramatische Weise, was passieren
kann, wenn tierische Viren
auf den Menschen übertragen werden.
Wie eine solche Infektion erfolgen kann,
erforscht das Team um den Virologen
Prof. Dr. Martin Schwemmle vom Institut
für Virologie des Universitätsklinikums
Freiburg. Die Arbeit seines Teams wird
von der Europäischen Union mit 2,5 Millionen
Euro gefördert. Barbara Breitsprecher
sprach mit ihm über Viren, die für die
Krebsforschung manipuliert werden, über
Fledermäuse und den Masken skandal.
ZaS: Sie forschen seit einigen Jahren
über Fledermäuse als Virusträger.
Ging es dabei auch schon darum, das
SARS-Virus zu bekämpfen?
Martin Schwemmle: Wir sind an Zoonosen
interessiert (Krankheitsübertragungen
von Tieren auf Menschen; Anm. d.
Red.) und forschen dabei hauptsächlich
über Influenzaviren und Bornaviren.
Letztere werden über Spitzmäuse übertragen
und kommen nur im deutschsprachigen
Raum vor. Der Mensch
ist ein Endwirt und stirbt an solch
einer Infektion. Was die Influenzaviren
angeht, so gab es 2011/12 erste
Forschungsergebnisse, die belegten,
dass diese Viren auch bei Fledermäusen
vorkommen.
ZaS: Werden Viren übertragen, wenn
man das Fleisch dieses Tieres isst oder
wenn es einen beißt?
Schwemmle: Das hängt vom Virus ab.
Bestimmte Viren können über ungekochtes
Fleisch übertragen werden,
andere über Aerosol (Schwebeteile in
der Luft; Anm. d. Red.) oder über einen
Stich.
ZaS: Was haben nun die Fledermäuse
mit damit zu tun?
Schwemmle: Wenn in Afrika das Buschfleisch
verarbeitet wird, wozu auch Fledermäuse
gehören, können Menschen
mit Blut oder Sekreten in Berührung
kommen und sich dadurch infizieren.
Wenn das Fleisch erst einmal abgekocht
ist, kann man sich nicht mehr infizieren,
weil das Virus dann unschädlich
gemacht wurde.
ZaS: Fledermäuse werden ja gerne mit
unheimlichen Dingen in Verbindung
gebracht. Hat diese Urangst ihren Ursprung
bei Krankheitsübertragungen?
Schwemmle: In Amerika kann Tollwut
durch die Fledermaus übertragen
werden, aber nicht in Europa. Aber
Fledermäuse beißen uns Menschen
nicht (lacht). Vor Fledermäusen braucht
man hier keine Angst zu haben. Es gibt
nur ganz wenige Berichte, wonach
Höhlenforscher in Deutschland mit
Fledermauskolonien in Kontakt kamen
und infiziert wurden. Das sind absolute
Ausnahmen.
ZaS: Was macht dann die Fledermausviren
so besonders, dass Sie an ihnen
forschen?
Schwemmle: Die Influenzaviren, die wir
erforschen, kommen bei Fledermäusen
in Südamerika vor, nicht in Europa. Alle
Influenzaviren stammen ursprünglich
aus Wasservögeln. Sie haben dann die
Speziesbarriere überwunden und sich
auch im Menschen etabliert, so dass es
bei uns zwei zirkulierende Influenzavirus
Subtypen gibt, H1N1 und H3N2,
die beim Menschen jährlich Epidemien
auslösen. Nun hat man festgestellt,
dass diese Influenzaviren aus der Fledermaus
neue Subtypen sind, die man
bisher nicht kannte. Sie sehen aus wie
Influenzaviren, sind auch welche, aber
die Hüllproteine auf der Virusoberfläche
, insbesondere die sogenannten
HA-Proteine, erkennen komplett etwas
anderes auf der Zelloberfläche als es
Influenzaviren normalerweise tun. Nun
wusste man zunächst nicht, welchen der
mysteriösen Rezeptor das Virus nutzt,
um in die Zelle einzudringen.
ZaS: Haben Sie den Rezeptor gefunden?
Schwemmle: Zusammen mit einer Arbeitsgruppe
aus Zürich haben wir ihn
entschlüsseln können: Er ist Teil unseres
Immunsystems, der Haupthistokompatibilitätskomplex
MHCII, der durch
die HA-Proteine erkannt wird. Diese
Fledermaus-Influenzaviren haben es im
Gegensatz zu klassischen Influenzaviren
geschafft, von einer Zuckerbindung
auf eine Proteinbindung als Rezeptor
zu wechseln.
ZaS: Gibt es diese MHCII-Rezeptoren nur
bei Fledermäusen?
Schwemmle: Es gibt sie auch bei
Schweinen und Mäusen – und im
Prinzip kann auch der Mensch damit
infiziert werden. Um dies zu untersuchen
wurden Frettchen mit diesen Viren
infiziert. Frettchen besitzen auch diese
Samstag, 30. Mai 2020
| 30. Mai 2020
. Mai 2020
INTERVIEW FORSCHUNG 17
. Mai 2020
Samstag, 30. Mai 2020
MHCII-Rezeptoren und sind, ähnlich
dem Menschen, sehr empfänglich für
Influenzaviren. Deshalb werden sie
jetzt auch im Zusammenhang mit Corona
als Tiermodell eingesetzt. Aber die
Fledermaus-Influenzaviren vermehren
sich kaum in diesen Tieren und werden
auch nicht übertragen. Deshalb gehen
wir davon aus, dass der Mensch nicht
gefährdet ist. Aber jetzt wird es kompliziert…
ZaS: Und ich dachte, es wäre bereits
kompliziert…
Schwemmle: Wir haben festgestellt,
solche Pandemie ausbreiten würde, das
war schon überraschend.
ZaS: Warum wirkten dann die öffentlichen
Stellen so überrascht und recht
hilflos, wenn doch längst Pandemiepläne
vorlagen?
Schwemmle: So hilflos waren die gar
nicht und es wurde in Deutschland sehr
viel richtig gemacht. 1918 gab es aber
ähnliche kontroverse Diskussion wie
jetzt auch. (1918 wütete die sogenannte
Spanische Grippe. Das Influenzavirus
tötete damals weltweit schätzungsweise
zwischen 27 bis 50 Millionen
Menschen; Anm. d. Red.) Jetzt sind wir
schon viel besser aufgestellt und kennen
den Erreger. In diesem Pandemieplan
war übrigens ganz klar
Vor dem FSME-Virus, Auslöser der
Frühsommer-Meningoenzephalitis, das
durch Zecken übertragen wird, kann
man sich ja durch Impfung schützen.
ZaS: Wieso ist diese Koexistenz der Ursprung
von Epidemien?
Schwemmle: Weil wir die wilden Tiere
verdrängen. Wir dringen immer mehr
in die Tierwelt hinein und es kommt zu
Kontakten bei denen eine Übertragung
auf den Menschen stattfinden kann.
ZaS: Sind auch Sie nun in der Pflicht,
all Ihr Forschen auf das Coronavirus
auszurichten?
Schwemmle: Alle Virologen sind jetzt
aufgefordert, ein Stück weit durch ihre
Expertise zu helfen.
ZaS: Haben Sie Sorge, dass die fieberhafte
Suche nach einem Corona-Impfstoff
zu Nachlässigkeiten
sicher.
Schwemmle: Eben. Ich würde natürlich
mitmachen, meine Hemmschwelle ist
da ziemlich gering. Tatsächlich gibt es
für bestimmte Studien genug Probanden.
Das hatte ich auf der Dach terrasse
nur gesagt, um den Nachbarn die Problematik
deutlich zu machen (lacht).
ZaS: Wenn es kommenden Herbst/
Winter noch einmal zu einem Peak, einem
Höhepunkt der Coronainfektionen
kommen würde, dann würde Sie das
auch nicht überraschen?
Schwemmle: Nein. Dass es die zweite
Welle in irgend einer Form geben wird,
darüber sind sich alle Experten einig.
Wie hoch sie sein wird, kann ich nicht
abschätzen.
ZaS: Warum im Winter? Hat das was mit
den sinkenden Temperaturen zu tun?
dass dieses
Fledermaus–
viren in Zellkulturansätzen sehr
schnell mutieren und besonders das
HA-Protein verändern. Nun untersuchen
wir, ob diese ungewöhnliche
Fähigkeit ausgenutzt werden kann, um
diese Viren an Zelloberflächen-Rezeptoren
anzupassen, die nur in Krebszellen
vorkommen. So könnte man später
vielleicht Therapeutika entwickeln, die
diese Krebszellen ausschalten.
ZaS: Das heißt, dieses Virus wären dann
eine Art „Schnüffelhund“?
Schwemmle: Genau. Wir benutzen dafür
diese Influenzaviren. Wenn man dies
später therapeutisch einsetzen möchte,
bräuchte man unter Umständen kein
vermehrungsfähiges Virus mehr, sondern
nur noch dieses Hüllprotein, das
die Krebszelle erkennt.
ZaS: Mit dem Coronavirus ist nun aber
ein gefährliches Virus im Umlauf. Waren
Sie vom Ausbruch der Pandemie
überrascht?
Schwemmle: Davon, dass ein Coronavirus
irgendwann mal auf die Spezies
Mensch überspringen würde, war ich
nicht überrascht. Deshalb gab es in
Deutschland ja Pandemiepläne, die
auf diese Situation vorbereiten sollten
und es gibt seit Jahren Corona-Forschungsschwerpunkte.
In China gab
es ein Überwachungsprogramm, weil
man befürchtete, dass SARS-ähnliche
Viren nach der Epidemie 2003 wieder
auftreten könnten. Aber es wurde wahrscheinlich
auch dort nicht früh genug
erkannt, als dass man es hätte verhindern
können. Aber, dass es sich dann als
beschrieben, dass
es eine große Schwachstelle in unserem
System gibt, nämlich dass nicht
genügend Masken vorhanden sind. Die
Nicht-Virologen waren vielleicht überrascht
über den Pandemie-Ausbruch,
die Virologen nur über die Vehemenz
des Ausbruchs. Auch eine Influenza-Pandemie
ist jederzeit möglich.
ZaS: Hören Sie sich eigentlich die Podcasts
des Virologen Christian Drosten
an?
Schwemmle: Herr Drosten ist richtig
gut, teilweise höre ich mir die Podcasts
an. Aber ich bin so beschäftigt mit meinen
Forschungen, dass ich eigentlich
gar keine Zeit mehr dafür habe.
ZaS: Werden sich Pandemien häufen?
Schwemmle: Pandemien werden immer
wieder vorkommen, denn wir koexistieren
mit den Tieren. Wir wissen auch
nicht, ob Impfungen immer etwas nutzen
werden. Welche Erreger kennen Sie,
die von der Tierwelt immer mal wieder
auf den Menschen überspringt?
ZaS: Tollwut?
Schwemmle: Tollwut ist nicht mehr
sehr relevant in Europa. Hantaviren
vielleicht, die durch Mäusekot übertragen
werden können. Und das Hepatitis
E-Virus gäbe es da auch noch, welches
zum Beispiel durch ungekochtes
Schweinefleich oder kontaminierte
Blutprodukte übertragen werden kann.
führen könnte?
Schwemmle: Zunächst
einmal finde ich es natürlich klasse,
dass jetzt so viele Firmen und
Labors weltweit an einem Impfstoff
forschen. Letzthin war ich mit
Nachbarn auf einer Dachterrasse –
in großem Abstand – und habe sie
gefragt, wie sie sich verhielten, wenn
sie aufgefordert würden, die Zuverlässigkeit
eines Impfstoffs zu testen. Die
erste Reaktion war: Klar, da würden
wir mitmachen, wenn es denn sicher
ist. Ich antwortete: Ich glaube schon,
dass der Impfstoff an sich sicher wäre,
aber eine Gewissheit gibt es nicht. Da
wurden sie schon zurückhaltender. Aber
als ich ihnen dann noch sagte, dass man
bei diesen experimentellen Impfstudien
zeigen muss, dass der Impfstoff auch
unter Infektionsbedingungen zum Beispiel
während der befürchteten zweiten
Infektionswelle sicher sein muss, da
wollte keiner mehr mitmachen. Das ist
die Crux bei der Impfstoffentwicklung.
Man muss gewissenhaft forschen, man
braucht sinnvolle Studien, man braucht
Freiwillige und man muss sofort die
Notbremse ziehen, wenn was schief
geht. Und ich glaube da wird jetzt schon
richtig gut drauf geschaut. Aber das
braucht seine Zeit. Würden Sie denn
mitmachen?
ZaS: Ich gebe offen zu, ich wäre nicht
Schwemmle: Ja, es
gibt aber Saisonalitäten
von Influenza auch in Ländern, in denen
es gar keine Jahreszeiten gibt. Und
natürlich ist man im Winter wieder in
Räumen zusammen, was die Virusübertragung
begünstigt.
ZaS: Aber jetzt ist es warm, das Leben
spielt draußen, viele fürchten keine
akute Gefahr mehr…
Schwemmle: Das stimmt. Manch einer,
der die Krankheit nicht im persönlichen
Umfeld miterlebt hat, unterschätzt
sie vielleicht. Das kann zum Problem
werden. Dabei waren wir mit rund
70 Todesfällen in Freiburg durchaus
stark betroffen. Aber viele machen es
auch richtig. Das sehe ich auch in meinem
Bekanntenkreis: Die Großeltern
leben bereits sehr abgeschirmt. Für
alle älteren Menschen sollten kostenlos
FFP2-Masken zur Verfügung gestellt
werden, damit die sich wenigstens
schützen können.
ZaS: Die waren ja zwischenzeitlich gar
nicht mehr zu bekommen und wenn,
dann sind sie jetzt sehr teuer.
Schwemmle: Ja leider. Es müsste
jetzt viel Kraft und Geld investiert
werden, um gefährdete Menschen
mit sicheren Masken auszustatten.
Dass das nicht passiert ist für
mich der eigentliche große Skandal.
Interview: Barbara Breitsprecher
18 Corona-Tagebuch | 30. Mai 2020
Ich verschwör
dir, Alter!
Damit keiner merken soll, dass der Verschwörungstheoretiker im Grunde selbst an die
Macht will, behauptet er, dass ihm ein Maulkorb verpasst würde. Das ver breitet er über
alle Kanäle, eben weil es keinen Maulkorb gibt. Aber er scheitert. Von Michael Zäh
Man muss schon ein bisschen dumm sein, um zu glauben,
dass alle anderen Menschen dümmer seien als man selbst.
Die Krux an Verschwörungstheorien besteht genau darin,
dass sich dabei immer der Verbreiter als gescheiter hinstellt als der
ganze Rest der Menschheit. Und weil der Verschwörungstheoretiker
ja soviel weiß, was anderen völlig verborgen blieb, deckt er eine
weltweite Verschwörung auf. Nein, kleiner geht es nicht, es muss
sich schon um die Welt (am besten noch das gesamte Universum)
handeln, die vom Oberschlaui Verschwörungstheoretiker lässig
leicht durchschaut wird. Hinter der großen Verschwörung vermutet,
wer immer etwas auf sich hält derzeit gerne Bill Gates, den Gründer
von Microsoft und daher auch Multimilliardär.
Denn die Größe des Gegners ist natürlich entscheidend für den
Ruhm derer, die ihn auffliegen lassen. Sprich: Der Bill Gates ist so
schlau, dass alle Menschen auf der Welt gar nicht merken, wie er sie
manipuliert. Denn die Leute sind ja alle „Schlafschafe.“ Nur derjenige,
der das blickt, ist noch schlauer als Bill Gates, dessen Verschwörung
er ja aufdeckt. Also treten Leute wie der ehe malige Radiomoderator
Ken Jebsen oder der Autor erfolgreicher veganer Kochbücher,
Attila Hildmann mit ihren Erzählungen an, die im Falle Gates im
Prinzip lauten, dass alle nationalen Regierungen, sowieso alle
Virologen und die WHO den Plan umsetzen müssten, den Gates
diktiert, um eine Weltherrschaft zu er ringen.
Nun ja, ab hier wird es ein bisschen kompliziert.
Bisher haben wir also Schlaui Gates
(wahlweise kann das auch Putin sein) und
den Oberschlaui Verschwörungstheoretiker
(VT). Der
Rest der Menschheit blökt
blöde vor sich hin.
Aber nun wendet
sich der Oberschlaui
an die schlafenden
Schafe, um ihnen die
Augen zu öffnen – oder
ist es, um ihnen die Wolle zu
scheren?
Warum das? Na ja, das können
sogar Schlafschafe kapieren: Weil halt
der Aufklärer über geheime Mächte und
deren Verschwörung auch ein bisschen
Lob braucht, quasi den Status des
Erlösers, der die ganze Menschheit
gerettet hat, sobald diese das einsieht. Außerdem bringen die
Klicks vieler Neugieriger in den sozialen Medien auch noch Geld ein.
Dann natürlich wird der Mensch, der die Menschheit gerettet hat,
zum gefeierten Anführer. Praktisch: die aufgeweckten Schlafschafe
machen ihn zum Wolf im Schafspelz. Und das ist ja interessant. Erst
fühlt sich der VT einzigartig, weil er eine Meinung hat, die nicht
alle haben, praktisch: voll der Durchblicker, früher auch gerne der
Oberchecker genannt (halt meistens während der Pubertät). Er fühlt
sich dadurch besonders. Er weiß, was eigentlich passiert. Er weiß ja
mehr als alle anderen. Aber dann plötzlich will er die Anerkennung
all dieser Blinden? Er will sie führen. Er will an die Macht. Er will
quasi Bill Gates ersetzen. Merkt ja keiner. Weil so raffiniert!
Zwar kennt die Fantasie bei den Verschwörungserzählungen
kaum Grenzen (Merkel wurde längst durch eine Doppelgängerin
ersetzt, Trump ist der Heiland, der dagegen kämpft, dass Kinder
unterirdisch zu Tode gequält werden, Satan ist der Gegner), aber sie
hat ein Ziel: Den Ruhm derer mehren, die das alles erzählen.
Das Problem besteht nun darin, dass sich dieser Ruhm partout
nicht einstellen will. Denn die „Schlafschafe“ kapieren es einfach
nicht, die Medien kungeln natürlich mit den Mächtigen (weshalb,
logo, auch dieser Text natürlich nur dazu dient, die Wahrheit zu
verschleiern). Ergo: Der geniale Aufdecker der Verschwörung
kommt einfach nicht ans Ziel. Er muss daher weiterhin
seinen Status als Außenseiter pflegen, obwohl er
eigentlich das Gegenteil will.
Also sagt er, dass ihm ein Maulkorb verpasst würde.
Wir können das alle zur Kenntnis nehmen, eben
weil er jeden Quatsch über alle Kanäle ungehindert
erzählen darf. Die Meinungsfreiheit gilt auch hier,
und das ist gut so.
Wir glauben
nicht, dass dies die
Demokratie gefährden
kann. Weil wir
auch nicht glauben,
dass alle Menschen
dümmer sind als der eine
„Aufklärer“. Da halten wir
es eher mit ein bisschen Jugendsprech-Humor:
„Ich verschwör
dir, Alter!“ Wir glauben
an den gesunden Menschenverstand.
Corona-Tagebuch | 23. Mai 2020
19
Sehnsüchte,
welche seid ihr?
Nach den Lockerungen der staatlich verfügten Einschränkungen liegt es nun wieder an
jedem einzelnen deutschen Bürger, seine Entscheidungen abzuwägen und dafür eine
persönliche Verantwortung zu übernehmen. Schwer! Von Michael Zäh
Nach den Lockerungen der Länder im Kampf gegen die
Corona-Pandemie taucht nun etwas am Horizont auf.
Und das, was da von Ferne grüßt, sind die Sehnsüchte.
Denn nun sind wir alle mehr auf das zurück geworfen, was jeder
individuell für sich, sein Leben, seine Liebsten für richtig hält.
Wenn in den letzten sechs bis acht Wochen der Staat den
Ton der Verbote angegeben hat, war das in gewisser Weise eine
Entlastung der Verantwortung des Einzelnen. Wir konnten uns
über die restriktiven Maßnahmen von „denen da oben“ aufregen,
oder wir konnten diese Beschränkungen als noch zu wenig
kritisieren. Sowieso hatten alle erst einmal damit zu tun, die
bis dahin unvorstellbaren Veränderungen des öffentlichen und
privaten Lebens zu begreifen. Und es war in dieser Zeit fast egal,
was man für richtig oder falsch hielt. Denn Bund und Länder
haben es ja schlicht befohlen.
Nun aber, nach diversen und sehr sichtbaren Lockerungen –
um dies zu sehen, musste man nur mal durch die Innenstädte mit
den fast überall geöffneten Cafés flanieren – nun also muss jeder
für sich selbst entscheiden, wie weit er gehen will.
Wo sind die Sehnsuchtsorte und wenn, welche sind es mir
wert, ein Risiko einzugehen? Man darf ja jetzt wieder verreisen,
so nach und nach. Da könnte die Sehnsucht groß sein, gerade
wegen des Schreckens der letzten Wochen, sich zurück in die
paradiesische Welt eines Urlaubs zu beamen. Man könnte doch
da hin, wo man in den letzten Jahren schon ein paar Mal war,
quasi ein sanftes Abtauchen in die Entspannung.
Und jetzt kommt das Neue: Die Sehnsucht muss sich einer
nach Sigmund Freud, dem Erfinder der Psychoanalyse, trefflich
genannten „Realitätsprüfung“ stellen, und zwar nicht von „da
oben“ vorgegeben, sondern vom jedem Einzelnen selbst zu treffen.
Denn die Bedrohung durch das Corona-Virus ist nicht weg,
nur weil die Beschränkungen gelockert wurden. Die meisten von
uns haben begriffen, dass dieses Problem auch weiter besteht
und wir uns mit den eigenen Entscheidungen nicht mehr hinter
einer staatlichen Verordnung verstecken können. Nun ja, nach
Umfragen haben sich jetzt bereits 55 Prozent aller Deutschen
dafür entschieden, in diesem Jahr gar nicht zu verreisen.
Dies ist auch ein Beispiel dafür, dass der Mensch Sehnsuchtsorte
in eine neue Wirklichkeit einordnen kann. Wäre es wirklich
so toll, an die Costa del Sol (Spanien öffnet ja auch frühestens ab
Juli für Touristen), an den Gardasee oder nach Nizza zu reisen?
Nicht nur, dass überall mit Masken zu rechnen wäre und das
Shoppen eher einer Hygiene-Tortur gleichen könnte, sondern
schon gleich am Anfang jeder Reise die Behörden der anderen
Länder mit jedweder Art von Kontrolle nun nicht gerade einen
Willkommensgruß senden würden. Motto: Was wollt ihr hier,
und wenn, wieviele seid ihr?
Ohnehin ist bereits eine ganz andere Realität in das Leben
von uns eingebrochen. Wer will eine Reise planen, wenn er nicht
weiß, wo die Reise in seinem Job hingeht? Es sind Millionen
Jobs in Gefahr, vieles bleibt ungewiss. Deswegen kauft auch
fast keiner derzeit ein neues Auto. Der Konsum muss warten,
vielleicht weil er derzeit auch nicht die Sehnsüchte der Leute
bedienen kann. Konsum ist ein Luxus, den sich derzeit viele
Menschen ersparen. Dazu hat man in früheren Krisen wohl
„hamstern“ gesagt.
Es gilt umgekehrt ganz andere Entscheidungen zu treffen:
Wenn dir nach dem Lockdown wieder die Möglichkeit angeboten
wird, deinen Job erneut zu machen, aber eben in Kontakt
zu vielen Mitmenschen, zum Beispiel Kindern – was machst du
dann? Was ist, wenn du außerdem eine hochbetagte Mutter hast,
die dich braucht?
Dieses und millionenfach mehr sind nun die Entscheidungen,
die der jeweils Einzelne zu treffen hat. Die Angst und die
Sorge vor dem Virus sind nicht weg. Aber nun gar nix mehr tun,
das geht auch nicht. Man muss darauf hoffen, dass die Vernunft
und die Furcht bei möglichst vielen Menschen dafür sorgen, dass
es vorwärts geht, ohne dem Corona-Virus erneut Tür und Tor zu
öffnen. Zu begrüßen ist auf jeden Fall, dass dies nun nicht mehr
zuallererst vom Staat bestimmt wird, sondern in den Händen
(und Köpfen) der Bürger liegt.
Sehnsucht kann man auch nach dem Training im Fitnessstudio,
nach Kino oder Theater haben. Quasi nach einer Welt
ohne Gefahr. Doch diese gab es nie.
20 Corona-Tagebuch | 9. Mai 2020
Der Mann,
der die Maus war
Bund und Länder haben einige Lockerungen beschlossen. Die Hauptbotschaft aber ist,
dass jetzt die Ministerpräsidenten der Länder bestimmen, was wo geschieht. Und Winfried
Kretschmann hat da eine spezielle Ampel-Idee. Von Michael Zäh
Ein Mann denkt, er sei eine Maus. Er kann nicht mehr aus dem
Haus, weil er immer in Panik verfällt, wenn er eine Katze
sieht. Nach langer Behandlung entlässt ihn sein Psychiater
als geheilt: „Sie wissen jetzt, dass sie keine Maus sind!“ „Ja Herr,
Doktor, das weiß ich jetzt. Aber sagen Sie – weiß es die Katze auch?“
Dieser uralte Witz bekommt derzeit eine Neuerung. Wenn es
nach dem Landesvater Winfried Kretschmann geht, soll es ja bald
eine Art Corona-Ampel geben. Das hat er dann auch ausführlich
erklärt: Rot ist das Ampelzeichen etwa bei Großveranstaltungen,
gelb bei den Gastrobetrieben und grün beim Golfen im Freien. Aber
sagen Sie mal, Herr Kretschmann – weiß es das Corona-Virus auch?
Die Ampel ist ja rührend und vorsorglich gemeint. Aber jetzt mal
ehrlich: Wenn es staatlich quasi mit offiziellem Grün gekennzeichnet
ist, wo es angeblich keine Gefahr gibt, wer haftet dann dafür, wenn
es genau dort doch zu einer Ansteckung kommt? Der Corona-Teufel
kann im Detail stecken, sagen wir im Partner beim Golfen.
Und umgekehrt wird es noch schlimmer. Wenn nämlich die
Kretschmann-Ampel, die da vor dem Biergarten steht, plötzlich
von Gelb auf Rot springt, weil so hat es der Landesvater ja erklärt,
dass dies quasi der Sinn von Gelb ist, sowohl auf Grün wie auch auf
Rot springen zu können – heißt das dann, dass Kretschmann eine
Ampel-Koalition anstrebt?
Nun gut, uns entgeht nicht das Fürsorgliche, das der Landesvater
in Baden-Württemberg uns allen zukommen lassen will. Es soll eine
Orietierung sein, für alle, die noch nicht kapiert haben, dass es bei
Großveranstaltungen riskanter ist als zu Hause hinterm Herd.
Die Kretschmann-Ampel lässt sich auch gut mit der Idee
von Jens Spahn kombinieren, der einen Immunitätsausweis
für die Bevölkerung einführen wollte. Und das geht so:
Wer von Corona geheilt ist, hat auf seinem Handy
den Ausweis seiner Immunität gespeichert, quasi
Freibrief! Der darf dann halt mehr machen
als jene bedauernswerten Mitbürger, die Corona noch nicht hatten.
Die Kretschmann-Ampel ist natürlich digital top ausgestattet und
erkennt den Immunen sogleich. Die Ampel springt auf Grün, wo
andere nur rot sehen.
Wir stellen uns die Weiterungen dieser Idee geradezu lässig
vor: Die Profi-Fußballer aller Bundesligisten legen sich gemeinsam
mit nachweislich infizierten Fans gemeinsam ins Entmüdungsbecken.
Bald darauf sind alle Kicker der Liga immun (oder tot) und
man kann auf den ganzen Quatsch mit den Tests und der Hygiene
verzichten und die Spiele durchführen. Das spart Zeit und Geld.
Und na ja, weil die Fans ja auch nicht blöd sind, bestellen jetzt alle
garantiert infizierte Schals im Internet (die Nachfrage macht das
Angebot möglich), um alsbald mit dem Immunitätsausweis an den
Stadiontoren zu stehen.
Okay, Spahn hat seine Idee erstmal auf Eis gelegt und in der
Schalte zwischen den Ministerpräsidenten und Kanzlerin Merkel
wurde eine ganze Reihe von „Lockerungen“ beschlossen. Die Bundesliga
kickt wieder (siehe Seite 16), alle Geschäfte dürfen öffnen,
und auch das Gastro-Gewerbe im Laufe des Mai. Die Hauptbotschaft
war aber, dass es nun erstmal Schluss ist mit den wöchentlichen,
mühsamen Schalt-Konferenzen zwischen Bund und Ländern.
Sprich: Kretschmann und Co. machen es in ihrem Land jeweils so,
wie sie meinen und müssen dafür auch die Verantwortung tragen.
Also: Grüne Ampel für die regionalen Fürsten. Rot hingegen für
Merkels bremsende Strategie.
Natürlich wäre Merkel nicht sie selbst, wenn sie das nicht auch
gut verkaufen könnte: „Wir haben die allererste Phase der Pandemie
hinter uns“, sagte sie. Die Zahlen seien erfreulich, dank der
Bürger, die sich an die Einschränkungen gehalten haben.
Und ein bisschen sind wir wie der Mann, der mal
eine Maus war. Gerne wollen wir wieder raus, wenn da
nur nicht die Corona-Katze wäre.
Corona-Tagebuch | 9. Mai 2020
21
Krise, Krieg,
Katastrophe
Die Begriffe, die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gerne verwendet werden,
offenbaren schon die Unsicherheit. Da ist eine Unschärfe, die davon abhalten soll,
das wahre Ausmaß der Katastrophe ins Auge zu fassen. Von Michael Zäh
Das Wort „Krise“ impliziert, dass es vorbei gehen könnte.
Man spürt dem Wort an, dass eine Dringlichkeit darin
liegt, und dass es Unsicherheit darüber gibt, wie der richtige
Weg aus der Krise denn aussehen soll. Denn im Grunde ist
die „Krise“ erst im Rückblick als eine solche zu bezeichnen, wenn
es nämlich einen Ausweg gab. Wenn es keinen gab, wurde die
Krise nicht überwunden sondern endete in einer „Katastrophe“.
Insofern ist es vielsagend, dass von der Corona-Pandemie
als der „Corona-Krise“ gesprochen wird. Denn das Wort ist
einerseits geeignet, Hoffnung zu machen, eben darauf, dass es
vorbei gehen wird. Doch es offenbart sich darin auch jedwede
Unsicherheit, weil „Corona-Krise“ sehr unbestimmt bleibt. Was
meint der Begriff eigentlich? Meint er die gesundheitliche Krise
der einzelnen Menschen, die von dem Virus krank wurden?
Meint er die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Folgen, die
nicht direkt durch das Corona-Virus entstehen, sondern durch
die Maßnahmen, die dagegen ergriffen werden (müssen)? Meint
er die Angst der Leute ? Oder meint er alles gleichermaßen?
In seiner Unschärfe scheint der Begriff der „Corona-Krise“
alle zu vereinen. Quasi: Zusammenhalt zur Überwindung der
Krise. Doch ein unscharfer Begriff bringt nunmal keine scharfen
Einblicke. Da ist das Los desjenigen, der sich jahrzehntelang
etwas aufgebaut hat (sei es eine Kneipe oder sonst was) und nun
vielleicht alles verliert, weil der Staat ihm die Bude zuschließt.
Und da ist derjenige, dessen Leben noch gerettet werden konnte,
weil es noch ein Bett mit Beatmungsgerät für ihn gab, und zwar
eben weil der Staat durch herbe Einschnitte in das Recht des
Einzelnen dafür gesorgt hat, dass die Ausbreitung des Virus so
verlangsamt wurde, dass das Gesundheitssystem in Deutschland
(bisher) nicht zusammen brach.
Dies alles und millionenfach noch weitere persönliche
Umstände sind derzeit unter dem Begriff der „Corona-Krise“
miteinander verbunden. Wenn man denn „Krise“ als einen
entscheidenden Wendepunkt versteht, der dann zum Besseren
führt, dann geht es eine Weile gut, weil na klar: die Hoffnung
stirbt zuletzt. Wenn aber später unzählige wirtschaftliche,
existenzielle oder psychische Krisen nicht mehr überwunden
werden konnten, sondern zu lauter persönlichen Katastrophen
führten, wird der Sammelbegriff „Corona-Krise“ millionenfach
auseinander fallen.
Zwischenzeitlich wurde ja auch gerne mal der Begriff
„Krieg“ gebraucht, von Macron in Frankreich und Trump in den
USA, in dem man sich gegen das Virus befinde. Was soll uns das
sagen? Da man ein Virus nicht erschießen, nicht wegsprengen
und auch nicht einschüchtern kann (von wegen psychologische
Kriegsführung), bleibt eigentlich nur der dem Begriff „Krieg“
implizite Gedanke der „Mobilisierung“ übrig. Dies wiederum
ist aber nur eine Steigerung der Unschärfe, die schon im Begriff
„Krise“ steckt. Wenn im „Krieg“ gegen das Corona-Virus alle
Kräfte (also Leute) mobilisiert werden sollen, dann soll das ebenfalls
auf den Zusammenhalt abzielen. Da werden aber natürlich
persönliche Unterschiede der jeweils Betroffenen weggewischt,
in diesem Falle ist sogar der Begriff des „Opfers“ mit integriert,
welche im Krieg ja Einzelne zu erbringen haben.
Wenn Begriffe wie „Krise“ und „Krieg“ einen Zusammenhalt
in der Gesellschaft herstellen sollen, dann sind es andere,
negierende Begriffe, die noch deutlicher werden. So sagte etwa
Markus Söder kürzlich, dass es sich beim Corona-Virus „NICHT
um ein Gewitter“ handele. Damit nahm er folglich der „Krise“
das Optimistische, dass es bald vorbei sein könnte.
Noch krasser war hier die Wortschöpfung von Österreichs
Kurz, sowie Scholz und Spahn, die sagten, dass man sich an eine
„neue Normalität“ gewöhnen müsse. Fast so, als sei dieser Begriff
ansteckend. Sprich: Tschüss Freiheit. Das hört sich schwer nach
Katastrophe an. Doch wie soll man auch zu einer Sache sagen,
von der nur eines klar ist: Sie ist da! „Krise“ heißt, das es kritisch
wird. Und das ist es auch, was wir alle sein sollten. Denn die
Kritik schaut auch nach vorne. Nach der Krise ist vor der Krise.
Ausgabe 289 am 30
Samstag, 30. Mai 2020
22
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuc
Samstag, 30
Samstag, 30. Mai 2020
Wenn die Zeit reif ist
für „ein Stück Mut“
Öffnungsdiskussionsorgien. Nach den ersten zaghaften Lockerungen von Bund und Ländern knirschte es immer lauter.
Denn plötzlich waren die Vergleiche da: Warum dürfen wir nicht, was andere dürfen? Angela Merkel wollte „Kritik und
Widerspruch“. Nun überlässt die Kanzlerin weitgehend den Ländern die neuen Lockerungen. Von Michael Zäh
Der Faktor Zeit ist in vielerlei
Hinsicht ungleich. Es kann
um die Zeit gehen, die Geld
sei, oder um die Zeit, die verschwendet
wird. Es kann um Lebenszeit gehen.
Und „mit der Zeit“ zeigt sich manches,
das anfangs noch verborgen blieb.
Manche meinen ja, dass die Zeit
alle Wunden heile. Das könnte man
auch zynisch verstehen. Andere sagen,
dass sich der Mensch an alles gewöhnt,
also wenn es nur lang genug so
ist, wie es ist. Und es kann ja stimmen,
dass es eine Zeit vor Corona sowie eine
Zeit nach Corona gegeben haben wird.
Im Hier und heute geht es aber um
die Zeit mit Corona. Hier heilen die
Wunden nicht, sondern werden Tag
für Tag größer: In der Gesellschaft, in
der Wirtschaft, in der Kultur, im Sport,
ja überhaupt in allem, was Menschen
in dieser Corona-Zeit durchmachen.
Der Schaden, der momentan für viele
Menschen angerichtet wird, häuft
sich ins Unermessliche. Und das wird
mit der Zeit nicht besser werden,
sondern immer schwerer zu
ertragen.
Die Zeit drängt. Das tut sie ja
immer, aber derzeit umso mehr. Denn
die Menschen in Deutschland (auch
in Europa und der Welt) werden sich
nicht daran gewöhnen können, dass
sie eingesperrt werden. Nicht auf
unbestimmte Zeit. Und wenn alles
von der Verbreitung des Corona-Virus
abhängt, ist die Zeit eben unbestimmt.
Die Menschen werden es mit jedem
Tag, den es länger andauert, umso
weniger akzeptieren können, dass sie
sich nicht mit Verwandten, Freunden,
auch in größeren Gruppen treffen
dürfen. Denn zum Menschsein gehört
es dazu, unter Menschen zu sein. Ja
sogar, auch wenn dies heute wie ein
aussätziger Satz klingt, gehört zum
Menschsein dazu, dass sich Menschen
umarmen, zusammen tanzen und
schunkeln. Körperliche Kontakte, um
es krass zu sagen, fördern ja nunmal
den Fortbestand der Menschheit.
Es mag sein, dass es derzeit nicht
die Zeit ist, dies zu erwähnen. So hat
Angela Merkel am 23. April in ihrer
Regierungserklärung zwar erneut um
größtmögliche Geduld gebeten, aber
Samstag, 30. Mai 2020
. h Mai | 9. 2020 Mai 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 23
. Mai 2020
Samstag, 30. Mai 2020
auch gesagt: „Diese Pandemie ist eine
demokratische Zumutung.“ Und eine
solche Situation sei „nur akzeptabel
und erträglich, wenn die Gründe für
die Einschränkungen transparent und
nachvollziehbar sind, wenn Kritik
und Widerspruch nicht nur erlaubt,
sondern eingefordert und angehört
werden, wechselseitig“.
Okay, das war keine Botschaft an
die Ministerpräsidenten des Landes,
denen Kanzlerin Merkel tags zuvor
ja noch „Öffnungsdiskussionsorgien“
vorgeworfen hat (wobei man gerne
wüsste, ob für Merkel die Orgien
schon dort beginnen, wo andere sich
nur mal gerne die Speisekarte bringen
lassen würden). Nein, Merkel meinte
wohl das Volk, und zwar „im Großen
und Ganzen.“
Tja, und tatsächlich knirschte es
immer lauter, nachdem erste eher
zaghafte Lockerungen von Bund und
Ländern eingeführt wurden. Denn
plötzlich waren Vergleiche da. Und
die Frage: Warum dürfen wir nicht,
was andere dürfen? Warum durften
zunächst Gläubige wegen der
Corona-Krise nicht in die Kirche,
aber nebenan standen die Leute am
Baumarkt an? Das war nunmal keine
unberechtigte Frage, da man bei einem
durchschnittlichen Gottesdienst in
einer gottgewollt groß gebauten Kirche
das Abstandsgebot leichter umsetzen
kann als dies beim Friseur um die
Ecke möglich ist. Heißt dies dann, dass
Frisur systemrelevant ist, der Gottesglaube
aber nicht? Nun ja, weil das mit
der Zeit drängender wurde, gab es nun
auch Lockerungen für Gläubige.
Und wieso durfte der Laden mit
bis zu 800 Quadratmeter wieder öffnen,
aber der mit 801 Quadratmetern
sollte dicht bleiben? Mit Beschluss
vom 6. Mai haben Bund und Länder
dies nun geändert: Alle Geschäfte
dürfen wieder öffnen. War es wirklich
gerechtfertigt, dass Kitas noch
Monate geschlossen bleiben sollten,
während ältere Kinder in die Schule
zurückkehren dürfen? Die neuen
Lockerungen sehen nun vor, dass die
Notbetreuung in den Kitas ausgebaut
wird. Und stimmte es wirklich, dass
die Gastronomie potenziell ansteckender
ist als der Blumenladen, der
(zum Glück!) wieder öffnen durfte?
Da gab es doch kreative Bemühungen
in Kneipen und Restaurants, um dann
alle Leute hinter Plexiglas-Scheiben
quasi in durchsichtige Separees zu
schicken. (Man wäre ja neugierig,
welche Orgien sich dahinter abhalten
ließen, also ungefähr das, was man
früher Unterhaltung nannte.) Die Zeit
hat Druck gemacht und deshalb haben
nun einige Bundesländer erlaubt, dass
auch die Gastronomie wieder öffnen
kann.
Es gibt noch viele Bereiche, die
man sozusagen „umgedeutet“ hatte:
Kontaktsperren für Jugendliche sind
eigentlich eine Zumutung, aber wegen
Corona sind es nun die Jugendlichen,
die angeblich die Zumutung für die
Gesellschaft darstellen, weil sie sich
gerne treffen wollen. Vereinsamte
Menschen sind derzeit völlig isoliert,
viele sehr alte Menschen sterben in
Pflegeheimen ohne den Beistand und
die Anwesenheit ihrer Nächsten. Ja
und Millionen Menschen fürchten um
ihren Job und ihre Existenzgrundlage.
Das alles hat mit der Zeit viel
Druck aufgebaut. Viele Fragen wurden
drängender, weil sie nicht dadurch
schon beantwortet sind, dass die Corona-Pandemie
es bestimme. Kanzlerin
Merkel fand noch am 23. April die
Lockerungen in manchen Bundesländern
„zu forsch“. Sie befürchtete, dass
dadurch die bis dahin erzielten Erfolge
im Kampf gegen die Ausbreitung des
Virus in Deutschland schnell zunichte
gemacht werden könnten. Das kaufte
man ihr auch ab.
Doch ihr Credo, dass „Kritik und
Widerspruch nicht nur erlaubt“ seien,
„sondern eingefordert und angehört
werden“ sollen, umfasst eben auch
andere Fragen als jene der Verbreitung
des Virus. Merkel weiß auch das. Nun
gibt sie nach und übertrug am 6. Mai
die Verantwortung weitgehend an die
Länder und deren Minister. Merkel
sagte: „Wir können uns ein Stück Mut
leisten.“
Es war höchste Zeit, dass eine
grundsätzliche Entscheidung kommt.
Und diese Entscheidung betrifft die Zeit
und was man daraus machen will. Denn
es zeichneten sich zwei Varianten ab, im
Kampf gegen Corona. Entweder jetzt,
noch am Anfang der Pandemie länger
strikte Regeln einhalten, um danach
wieder voll öffnen zu können, oder in
ständigen Wellen zwischen Lockerungen
und Lockdowns zu leben, die sich
nach der Corona-Verbreitung richten
werden. Die Beschlüsse für „ein Stück
Mut“ sind die zweite Variante, mit einem
„Notfallmechanismus“, also der Zahl an
Neuinfektionen, die dann wieder alle
Beschränkungen aktiviert.
Die Zeit war wohl reif für „ein
Stück Mut“, weil aktuell der Verlauf
der Pandemie es hergab. Nun tastet
sich Deutschland voran, mit unterschiedlichen
Lockerungs-Szenarien in
den Ländern. Angela Merkel zieht sich
aus der Debatte zurück, ohne Orgie.
Illustrationen: Viktor Lukanow
Samstag, 2. Mai 2020
24
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Samstag, 2.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 4. April 2020
Es geht auch um die
Hygiene des Geistes
Live-Kultur. Plötzlich heißt es wie selbstverständlich, dass Jazzklubs, Theater, Kleinkunst,
Klassik-Konzerte und Pop-Events „verzichtbar“ seien. Es ist evident, dass im Kampf gegen die
Verbreitung des Virus alle Live-Acts suspekt sind. Sie stehen aber auch fürs Menschsein.
Von Michael Zäh
Fast unmerklich, so scheint es,
sorgt weltweit die Bekämpfung
des Virus für eine Verschiebung
der Maßstäbe. Und das wird
in jenen Bereichen des Menschseins
besonders deutlich, über die derzeit
in Corona- Zeiten, wie diese genannt
werden, am wenigsten geredet wird.
Und das ist die Kultur, insbeondere
die Live-Kultur. Diese sei nämlich
„verzichtbar“, sagte Jehns Spahn.
Natürlich wissen wir nicht, ob er die
Kultur sowieso nicht so mag, oder ob
er einfach pflichtgemäß als Gesundheitsminister
des Landes spricht. Das
Wort „verzichtbar“ ist aber in jedem
Fall Ausdruck von Ignoranz.
Denn es ist ja so, dass der Widerspruch
auf der Hand liegt. Einerseits
ist es völlig evident, dass in Zeiten
dieser Seuche jedes Live-Event sehr
großen Schaden anrichten kann,
also bezüglich einer „vogelwilden“
Verbreitung des Virus. Andererseits
sollten wir uns trotzdem noch daran
erinnern können, dass die Live-Kultur
eben deshalb eine Gefahr darstellt,
weil sie so beliebt ist. Nur weil
Tausende oder mitunter Hunderttausende
gerne zu den Live-Acts gehen
– und was könnte besser belegen,
dass es hier nicht um „verzichtbare“
Kultur geht? – also nur weil hier die
„Live“-Kultur buchstäblich das „Leben
unter Menschen“ ausmacht, ist
sie nun zur Gefahrenquelle geworden.
Ist es so, dass die Live-Kultur in
Jazzklubs, auf Theaterbühnen, in der
Kleinkunst, bei Klassik-Konzerten
und bei spektakulären Pop-Events
halt nunmal der Luxus des Menschen
ist, solange er keine anderen Probleme
hat? Sobald es aber „ernst“ wird, ist
das süße Kulturleben nebensächlich?
Fast verschwunden, aus den Augen
aus dem Sinn, könnte man da als
Sprichwort bemühen. Wie soll denn
dann die Prioritäten-Hitliste lauten?
Erst die Gesundheit (sprich: Die ist
nicht alles, aber ohne sie ist alles nix),
dann die Wirtschaft, dann der Fußball
(Brot und Spiele, in schwerer Zeit), und
irgendwann später, ganz hinten auf
der Liste: Kultur live, also wie „Life“,
soll heißen: das Leben in gemeinsamen
Momenten. Dieses unwiderruflich
einmalige Gefühl, live und
lebend dabei gewesen zu sein,
statt sich nur aus der Konserve
des Internets zu speisen. Im Überschwang
des Live-Erlebnisses entsteht
ja auch die Frage: Dürfen
wir erstmal noch ein bisschen
leben, bevor wir sterben?
Es nutzt gar nichts, die Gedanken
damit abzutun, dass es ja eh nicht zu
ändern ist. Das stimmt zwar, so klar
und eindeutig wie nirgendwo sonst,
wenn man es aus Sicht der Bekämpfung
des Corona-Virus sieht. Aber
man darf trotzdem darüber nachdenken,
was das denn heißt. Sind wir jetzt
alle dazu verdammt, in der Isolation
zu verharren und der Kultur jenes
„Live“ zu nehmen, das sie so lebendig
gemacht hat? Es ist zwar völlig okay,
wenn viele Kulturschaffende jetzt
von zu Hause ihre Kunst ins Netz
bringen. Die Frage sei aber erlaubt:
Ist das die Zukunft der Menschheit,
jeder für sich mit einem
Medium vor der Birne, ohne
Kontakt zum wahren
Leben?
Samstag, 2. Mai 2020
Mai 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 25
April 2020
Samstag, 4. April 2020
I‘m a ghost
Living in a ghost town
You can look for me
But I can‘t be found
You can search for me
I had to go under–ground
So lauten ein paar Zeilen eines
neuen Songs der Rolling Stones.
Dieser soll angeblich schon vor
einem Jahr aufgenommen worden
sein, was dann aber wahrhaft Magie
wäre in seiner Weitsicht. Könnte
natürlich Marketing sein,
quasi: Hellseher Jagger.
Aber es passt. Das Feeling
stimmt. Jeder weiß
ja, dass es Hunderttausende
wären, die
bei einer erneuten
Tournee des Stones
dabei sein wollen.
Und ebenso weiß jeder,
dass Mick Jagger und Keith
Richards mit ihren 76 (!) Jahren zur
Risikogruppe gehören (na ja, wobei
Richards wohl nie in seinem Leben
I‘m a ghost
Living in a ghost town
I‘m going nowhere
Shut up all alone
So much time to lose
Just staring at my phone
(Ich bin ein Geist
Der in einer Geisterstadt lebt
Ich gehe nirgendwo hin
Eingesperrt, ganz alleine
So viel Zeit zu verlieren
Nur auf mein Handy starrend)
Tja, das ist der Song, der passt!
Das ist heute und im dazu gehörigen
Video mit Bildern der verlassenen
Städte dieser Welt veranschaulicht.
Es sind aber natürlich nicht die
Rolling Stones, mittlerweile alt und
reich (und trotzdem weiterhin klasse),
um die wir uns jetzt sorgen müssen.
Es sind die unzähligen eher kleinen
I‘m a ghost
Living in a ghost town
I‘m going nowhere
Shut up all alone
So much time to lose
Just staring at my phone
(Ich bin ein Geist
Der in einer Geisterstadt lebt
Ich gehe nirgendwo hin
Eingesperrt, ganz alleine
So viel Zeit zu verlieren
Nur auf mein Handy starrend)
I‘m a ghost
Living in a ghost town
You can look for me
But I can‘t be found
You can search for me
I had to go underground
eine Drogen-Risiko gescheut hat).
Aber dieses : „You can look for me.
But I can‘t be found“ (Du kannst nach
mir Ausschau halte. Aber ich kann
nicht gefunden werden) erinnert an
die großen Hits wie „Street Fighting
Man“ und „Sympathy for the Devil“.
Live-Veranstalter, oft auch Familienbetriebe,
die nicht nur wirtschaftlich
vor dem Nichts stehen, sondern wohl
auch von der Umdeutung konsterniert
sind, die wie selbstverständlich
um sich greift: Live-Kultur ist jetzt
gleich: Seuche!
Daran knüpft sich schon auch die
Frage, ob ein seelenloses Virus nun
das bestimmen darf, was Menschen
denken. Denn was der Mensch denkt,
und wie er es denkt, gibt dem Teufel
Gestalt und Sinn, oder eben trägt zu
dessen Überwindung bei. Da geht es
jetzt mal nicht um Medizin, sondern
um die Hygiene des Geistes.
Pleased to meet you
Hope you guess my name!
Samstag, 25. April 2020
26
POLITIK
AMERIKA
Corona-Tagebuch
Samstag, 25.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 25. April 2020
Donald Trump findet
sich always great
Amerika und die Corona-Katastrophe. Obwohl der US-Präsident nachweislich die Gefahr
durch das Corona-Virus lange leugnete, wollte er sich mit „allumfassender Macht“ zum
alleinigen Entscheider darüber machen, wann Lockerungen für die Wirtschaft kommen.
Von Michael Zäh
Donald Trump zeigt ja eigentlich
immer sein wahres Gesicht. Man
kann ihm daher nicht anlasten,
dass er ein echt raffinierter Lügner sei.
Jede noch so bescheidene Dumpfbacke
erkennt, dass es Trump stets um ihn
selbst und seine von ihm postulierte
Großartigkeit geht. Er ist also insofern
ehrlich. Man weiß, was man an ihm hat.
„Wir haben es völlig unter Kontrolle.
Es ist nur eine Person, die aus
China kommt, und wir haben es unter
Kontrolle. Es wird alles gut werden“,
sagte Trump am 22. Januar in einem
CNBC-Interview, nachdem am Vortag
der erste Fall einer Corona-Infektion in
den USA bekannt geworden war.
Am 30. Januar dann, als die WHO
die Ausbreitung des Virus zur „gesundheitlichen
Notlage von internationaler
Tragweite“ erklärte, sagte Trump: „Wir
haben in diesem Land im Moment ein
sehr kleines Problem - fünf. Und alle
diese Menschen erholen sich erfolgreich.“
Am 10. Februar sagte Trump: „Sie
wissen, dass es im April angeblich mit
dem heißeren Wetter stirbt. Und das ist
ein wunderbares Datum, auf das man
sich freuen kann.“
Am 26. Februar hieß es von Trump:
„Bei uns geht es ganz erheblich nach
unten, nicht nach oben. Es ist in etwa
wie die normale Grippe, gegen die
wir Impfungen haben. Und im Prinzip
werden wir dafür ziemlich schnell eine
Grippeimpfung bekommen.“
Am 9. März twitterte Trump: „Die
Fake-News-Medien und ihre Partner,
die Demokratische Partei, tun alles in
ihrer halbwegs beachtlichen Macht
(früher war sie größer!), um die Corona-Lage
stärker anzuheizen, als die
Fakten es hergeben.“
Stand 17. April gibt es in den USA
knapp 672.000 Infizierte und 33.288
Tote, stündlich wachsend.
Heutzutage sind ja all die früheren
Sprüche des US-Präsidenten in Ton,
Bild und Twitter gespeichert. Doch jetzt
kommt das Erstaunliche: Trump schert
es nicht, dass mit all diesen digital gespeicherten
Aussagen von ihm selbst
ja auch schon bewiesen ist, dass er das
Corona-Virus lange Zeit verharmlost
hat. Er setzt offenbar darauf, dass in
der schnellebigen Welt der sozialen
Netzwerke kein Mensch mehr die Aufnahmen
von gestern (gefühlt: vor einer
Ewigkeit) anschaut.
Kürzlich hat nun die „New York
Times“ detailliert nachgezeichnet, wie
Trump es in den wohl entscheidenden
Wochen zwischen Ende Januar und
Mitte März versäumt hatte, die USA
auf die Corona-Krise vorzubereiten.
Während einige seiner Berater und die
Gesundheitsexperten in der Regierung
schon früh vor einer Pandemie gewarnt
hatten, hatte Trump es versäumt, Ausgangssperren,
Schulschließungen und
andere Maßnahmen abzusegnen, um
die Ausbreitung des Virus möglichst zu
verlangsamen.
Trump sprach - wie immer - von
„Fake News“ und sagte gleich dazu,
dass auch die „New York Times“ selbst,
quasi als ganze Zeitung eine einzige
Fake-News sei. Dummerweise hat dann
aber ein Mann dem Präsidenten indirekt
widersprochen, den das Magazin „The
New Yorker“ erst kürzlich zum „vertrauenswürdigsten
Mann Amerikas“ gekürt
hat: Der Immunologe Anthony Fauci, 79
Jahre alt, der bereits sechs US-Präsidenten
als oberster Berater zur Seite stand.
Bei Trump ist dies in letzter Zeit
ziemlich buchstäblich zu verstehen
Samstag, 25. April 2020
| 18. April 2020
April 2020
AMERIKA POLITIK 27
April 2020
Samstag, 25. April 2020
gewesen: In den täglichen Presseauftritten
von Trump steht Fauci seitlich
hinter Trump, während dieser von
Dingen prahlt, die er nicht versteht. Wie
etwa am 5. April, als er vor Millionen
Zuschauern die Einnahme eines Malaria-Mittels
anpries. „Take it“ und „Try
it“ rief Trump der Nation zu. Er hatte
davon schon am 6. März in einer Rede
in Atlanta geschwärmt: „Ich mag dieses
Zeug. Ich verstehe es wirklich. Die Leute
sind überrascht, dass ich es verstehe.
Jeder dieser Ärzte sagte: ‚Woher wissen
Sie so viel darüber?‘ Vielleicht bin ich
ein Naturtalent.“ Noch Fragen?
Doch dann kommt Anthony Fauci
als Fachmann zu Wort, der somit von
seitlich hinter Trump ganz nach vorne
gebeten wird. Und der sagte in diesem
Fall: Die Wirksamkeit des
soeben vom Präsidenten
angepriesenen Mittels sei
nicht durch Studien belegt,
die nämlich allenfalls eine
„anekdotische Evidenz“ hätten
(ein kleiner Seitenhieb nach Marseille,
wo Frankreichs führender Seuchenbekämpfer
eine Mini-Studie mit 26 (!)
Teilnehmern machte). Die Belege, sagte
Fauci nun dem Millionen-Publikum,
reichten nicht für eine Empfehlung.
So ging das schon seit einer Weile
zwischen Trump und Fauci, der dabei
stets betonte, dass er sich nicht gegen
den Präsidenten aufspielen will. Nun
aber hat Fauci in einem Interview mit
CNN (auf den New-York-Times-Artikel
angesprochen), bestätigt, dass wohl
weniger Amerikaner gestorben wären,
wenn man das Land früher dicht
gemacht hätte. Prompt ließ Trump
in einem Tweet durchblicken, dass
er Fauci feuern will. Es ist so: Jeden
Morgen steht Trump auf, schaut in den
Spiegel und sagt sich: „Make
Trump great again!“
Und als er es gemerkt hat,
dass seine Verharmlosung
des Corona-Virus ihm noch schaden
könnte, hat er schamlos die verbale
Kehrtwende gemacht: „Ich habe immer
gewusst, dass das eine Pandemie
ist. Ich hatte das Gefühl, dass es eine
Pandemie ist, lange bevor es als Pandemie
bezeichnet wurde.“ Oder, na
klar, einen Schuldigen benannt: „Die
WHO hat es wirklich vermasselt.“ Der
Organisation mit Sitz in Genf fror er
die US-Zahlungen ein.
Besonder dreist ist der Gegensatz
späterer Äußerungen zu den früheren:
„Wenn wir es so eindämmen können,
dass wir zwischen 100.000 und 200.000
Tote haben, dann haben wir alle zusammen
einen guten Job gemacht“, so
Trump im April.
Es könnte sein, dass sich in den USA
ein Drama abspielt, wie es bisher kaum
vorstellbar war. Nämlich dass Trump
trotz täglich steigender Todeszahlen
(die ja längst die höchsten in der Welt
sind) den Lockdown öffnen will, weil er
um seine Wiederwahl fürchtet, wenn
es der Wirtschaft schlecht geht. Trump
meint, dass er allein über die Lockerung
der Corona-Auflagen entscheiden
kann. „Wenn jemand Präsident der
Vereinigten Staaten ist, ist die Macht
allumfassend“, so Trump in geradezu
verräterischer Offenheit. Gouverneure
aus den einzelnen US-Staaten wiesen
das umgehend mit der Argumentation
zurück, die Verantwortung für
die öffentliche Sicherheit liege gemäß
dem föderalen System der USA bei ihnen.
Das wiederum ist prima für
Trump: Geht es schief, dann
sind die Gouverneure schuld.
Layout: Viktor Lukanow
Samstag, 18. April 2020
28
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 18. April 2020
Da ist der Mensch
wie der Hund
Verbote. Wenn es verboten ist, in München auf einer Parkbank ein Buch zu lesen, dann fragt
sich der Mensch schon, was hier der Hintergedanke ist. Der Weiße Schäferhund oder der Tibet
Terrier befolgen Befehle auch nur, wenn sie deren Sinn einsehen. Von Michael Zäh
Wenn Sie einen Hund suchen,
der ohne zu zucken auf Ihre
Befehle hört, dann ist der
Weiße Schäferhund nicht der richtige
für sie. Denn er befolgt einen Befehl
nur, wenn er auch den Sinn des Befehls
einsieht. So steht es geschrieben in
einem einschlägigen Ratgeber.
Nun ist der Mensch natürlich
nicht in jeder Hinsicht wie der Hund.
Es könnte aber sein, dass auch der
Mensch sich eher jenen Befehlen
beugt, deren Sinn er einsehen kann.
Und umgekehrt: Je strikter der Mensch
die Befehle befolgen soll, die derzeit
überall in der Welt sind, desto eher
neigt er zum Ausbrechen. Und wenn
der Weiße Schäferhund nicht will,
dann will er nicht. Da kann Herrchen
zehnmal „du sturer Hund“ rufen. Nutzt
dann gar nix.
Doch heute ist ja auch ein Mensch
nicht nur „der Mensch“, sondern er ist
womöglich ein Franzose anstatt ein
Deutscher, ein Amerikaner gar, oder
als Deutscher vielleicht ein Bayer.
Die Unterschiede sind derzeit riesig,
jetzt mal rein vom erzieherischen
Ansatz her gesehen. Es ist insgesamt
zu loben (siehe Titel), dass in Deutschland
mit den deutlich sinnvolleren
Kontakverboten anstatt den schwer
nachvollziehbaren Ausgangssperren
wie etwa in Frankreich und anderswo
operiert wird.
Wer dort nur eine Stunde am
Tag aus der Wohnung darf und dies
dann auch nur im Umkreis von einem
Kilometer um den Wohnsitz, selbst
wenn er völlig allein spaziert und den
Mindestabstand von zwei Metern zu
anderen Personen einhält, dem kann
als Mensch und Franzose schon die
Sinnkrise kommen, weil hinter dem
strikten Ausgehverbot einfach nur
Drohung (und die Vollstreckung der
Strafe) steckt und keine nachvollziehbare
Erklärung.
Hinzu kann dann noch kommen,
je nach Lebenssituation, dass die so
auferlegten Verbote aller Wahrscheinlichkeit
nach mehr Schaden anrichten
als Gutes zu bewirken. Etwa wenn der
Mensch in einem Hochhaus in einem
Vorort von Paris lebt, und dort auf
45 Quadratmetern mit weiteren acht
Leuten in einem Haushalt. Jetzt, selbst
wenn er da nicht wahnsinnig wird,
weil er nur eine Stunde am Tag raus
darf, ist es doch so, dass es für alle
besser wäre, wenn er fünf Stunden an
der frischen Luft spaziert wäre.
Auch in Deutschland gibt es einige
Beispiele, bei denen sich die Sinnfrage
stellt. „Nein, ein Buch auf einer Bank
lesen ist nicht erlaubt“, lautet etwa
ein Tweet der Müncher Polizei. Es gab
entsprechend auch Fernsehbilder von
Park- bzw. Uferbänken am Bodensee,
die allesamt mit rotweißem Plastikband
umwickelt sind, damit sich da
bloß keiner drauf setzt.
Jetzt warum? Angenommen man
würde sagen, dass halt derzeit immer
nur eine Person auf eine Bank sitzen
darf, möglicherweise mit dem Appell
verbunden, dass der lesend Sitzende
auch an jene denken soll, denen er
nicht zu lange den Platz wegnehmen
soll, sprich: Kurzgedicht und dann im
Gehen weiter denken. Dann wäre doch
im Sinne der Gesundheit aller logisch,
dass dies kaum gefährlich wäre, aber
förderlich für Geist und Seele.
Wenn ein Buch auf einer Bank zu
lesen in München nicht erlaubt ist,
dann kommt der Mensch ins Grübeln.
Denn er fragt sich prompt nach dem
Grund dafür. Da ist der Mensch ganz
ähnlich wie der Tibet Terrier, der laut
Ratgeber „über ein großes Maß an
Unabhängigkeit und Sebstsicherheit
verfügt.“ Ergo: „Unterwürfigkeit oder
gar bedingungslose Unterwerfung
können wir beim Tibet Terrier also
niemals erwarten.“
Doch weil der Mensch sich etwas
denken kann, kann er sich schon auch
denken, dass hinter solchen Verboten
wie dem von der Müncher Parkbank
ein weiterer Gedanke der Behörden
steckt. Nämlich derselbe, weshalb das
Sonnenbaden (trotz allem Abstand
zu anderen Leuten) in Parks und auf
Wiesen nicht erlaubt sein soll.
Achtung, die Beörden denken sich:
Wenn einer auf die Parkbank darf,
dann wollen das alle anderen auch.
Und dann ist jeder Abstand schnell dahin
und womöglich finden dann sogar
Gespräche zwischen Leuten statt, die
sich erzählen, was sie jeweils lesen.
Auch das Sonnenbaden hat ja quasi
einen Sogeffekt, weil die Sonne ist ja
für alle da. Warum aber Leute nicht
aus Berlin raus in ihre Zweitwohnung
aufs Land dürfen, kann dann doch
wieder keiner erklären.
Solche Hintergedanken, die nicht
wirklich mitgeteilt oder gar diskutiert
werden, haben einen groben Fehler.
Und der besteht darin, dass sowieso
alle Maßnahmen zur Eindämmung
des Corona-Virus nur funktionieren
können, wenn halt möglichst viele
Menschen aus eigener Überzeugung
auch mitmachen. Und dies scheint ja
in Deutschland auch recht gut zu klappen.
Deshalb sollte es nicht von dem
Gedanken der Unmündigkeit der Bürger
(schwer erziehbare Kinder) untergraben
werden, wo es doch gerade die
Mündigkeit ist, die derzeit alles trägt.
Deshalb nochmal zurück: Weshalb soll
es den Bürgern nicht zuzutrauen sein,
sich an sonnigen Tagen an der frischen
Luft, auf Parkbänken oder Wiesen so
verantwortungsvoll zu verhalten wie
sie es schon die ganze Zeit über tun?
Ohne die Einsicht und Disziplin der
Gesellschaft geht eh gar nix. Da ist der
Mensch wie der Hund: „Naturgemäß
verfügt der Tibet Terrier über eine
gewisse Zielstrebigkeit, wenn es ihm
darum geht, seinen Willen durchzusetzen.
Anweisungen, die er nicht für
geeignet hält, kann er auch einmal
schlicht ignorieren.“
Samstag, 18. April 2020
| 11. April 2020
April 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 29
April 2020
Samstag, 18. April 2020
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30
GESELLSCHAFT
EXPERTISE
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
„Jeder einzelne
Samstag, 18. April 2020
Mensch erlebt dies
seelisch anders“
Interview. Die Psychologin Dr. Andrea Zäh trägt einen anderen Blick zur
aktuellen Pandemie bei. Was vorher schon war, wird durch die Corona-
Krise nicht verschwinden, sondern nur anders sein.
Interview von Michael Zäh
Dr. Andrea Zäh erklärt im Interview
mit ihrem Bruder, weshalb
es auch noch einen anderen
Blick auf das Geschehen rund um die
Ausbreitung des Corona-Virus geben
kann. Nämlich den der Einzigartigkeit
jedes einzelnen Menschen und den Umstand,
dass deshalb auch jeder einzelene
Mensch die momentane Corona-Krise
seelisch anders erlebt.
ZaS: Was versteht man unter Gesundheit
?
Andrea Zäh: In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation
heißt es: „Gesundheit
ist ein Zustand des vollständigen
körperlichen, geistigen und sozialen
Wohlergehens und nicht nur das Fehlen
von Krankheit oder Gebrechen. »
ZaS: Was heißt dies bezüglich der psychischen
Gesundheit?
Andrea Zäh: Psychische Gesundheit ist
die Möglichkeit zum seelischem individuellem
Wohlbefinden. Ein Mensch,
der sich seiner selbst bewusst ist, der
einerseits genug widersprüchliche Fixierungen
in sich trägt, um so krank
zu sein wie viele Patienten, der andererseits
aber auf seinem Weg nicht
auf zu viele oder zu große interne und
externe Schwierigkeiten gestoßen ist,
hinsichtlich seiner erblichen und seiner
erworbenen affektiven Ausrüstung,
hinsichtlich seiner defensiven und anpassungsfähigen
persönlichen Fähigkeiten.
Denn dieselben ermöglichen
ihm seine Bedürfnisse und Triebe, seine
irrationalen und rationalen seelischen
Vorgänge weiterhin so zu steuern, in
Schach zu halten, damit er auf persönlicher
und sozialer Ebene, unter gebührender
Berücksichtigung der Realität,
flexibel bleibt.
ZaS: Was bedeutet dies in Bezug auf die
derzeitige Krisen-Situation wegen des
Corona-Virus, die ja nun tatsächlich
eine Realität ist, die es gebührend zu
berücksichtigen gilt? Es wurden inzwischen
mehr als 3,5 Milliarden Menschen
aufgefordert zu Hause zu bleiben, um
die Ausbreitung der Pandemie einzugrenzen
bzw. zu verzögern.
Andrea Zäh: Ja genau, diese Schutzmaßnahmen
betreffen unglaublich
viele Menschen auf der Welt, in ganz
verschiedenen Ländern, wo die medizinische
Versorgung mehr oder weniger
gelingt. Auch in Europa sind die
sozialen, materiellen und finanziellen
Unterschiede sehr groß, und damit auch
konkret die persönlichen Bedingungen
der Menschen, diese Kontaktsperre
positiv oder negativ zu erleben. Solange
man nicht ins Krankenhaus muss und
da man nicht mehr an seinen Arbeitsplatz
gehen kann, soll ja Jeder zu Hause
bleiben. Entscheidend ist hier aus meiner
Sicht: Jeder einzelne Mensch erlebt
dies seelisch anders!
ZaS: Worauf wollen Sie hinaus? Haben
Sie vielleicht ein paar Beispiele?
Andrea Zäh: Ich will betonen dass jeder
Mensch nicht nur unter ganz verschiedenen
sozialen, beruflichen, materiellen,
auch körperlichen Bedingungen
diese noch nie dagewesene Situation
mehr oder weniger bewältigt. Sondern
dass auch jeder Mensch psychisch
mehr oder weniger unter der Situation
leidet. Ein paar Fallbeispiele sollen das
verständlich machen. Also, es gibt Menschen
welche die derzeitige Ausgangssperre
eher nutzen, um weiterhin zu
schaffen: Worte finden, Gestalt geben,
kreativ sein in verschiedener Weise.
Ich denke an eine 60 jährige Künstlerin,
Madeleine (alle Namen wurden von der
Redaktion geändert, sind also fiktiv),
ZUR SACHE
Die Methode der Psychoanalyse
Die Methode der klinischen Psychologie ist die eingehende Untersuchung von
normalen oder pathologischen Einzelfällen auf der Grundlage von Beobachtungen
und Gesprächen, in denen persönliche lebensgeschichtliche, innere seelische
psychodynamische, sowie familiäre und soziale Elemente gesammelt werden.
Anders ausgedrückt: es geht um individuelles menschliches Verhalten und seine
Bedingungen, also um die Untersuchung einer einzigartigen Persönlichkeit in der
Gesamtheit ihrer momentanen Situation und ihrer Entwicklung.
Klinische Tiefenpsychologie wurde von Sigmund Freud als Psychoanalyse bezeichnet
in der man drei Ebenen unterscheidet: „Psychoanalyse ist der Name
1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum
zugänglich sind; 2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich
auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem
Wege gewonnen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen
Disziplin zusammenwachsen.“ (S.Freud, Gesammelte Werke XIII, Seite 211)
Die psychoanalytische Methode besteht also in der Hervorhebung der unbewussten
Bedeutung von Gesagtem, Handlungen, Träumen, Fantasien oder
Wahnvorstellungen von jedem einzelnen Menschen. Die Methode beruht auf den
freien Assoziationen des sogenannten Patienten einerseits, und auf der Deutung
derselben vom Psychoanalytiker anderseits, welcher seine ganze gleichschwebende
Aufmerksamkeit diesem einen Patienten widmet.
Es handelt sich um eine individuelle Psychotherapie. Diese psychoanalytische Kur
besteht aus regelmäßigen Treffen, wobei der Patient folgende Grundregel einhalten
sollte: „Sagen Sie, was Ihnen spontan einfällt, auch wenn es ihnen unwichtig,
albern, peinlich, nicht dazugehörig oder unlogisch erscheint“. Es handelt sich also
nicht um ein rationales vernünftiges Gespräch!
Währenddessen kommt es zur einer sogenannten Übertragung , das heißt der
Patient überträgt seine unbewussten Wünsche bzw. Ängste auf den Analytiker,
und wiederholt dabei seine üblichen inneren seelischen Konflikte. Sie werden
somit aktualisiert, dann werden ihre unbewussten Bedeutungen freigelegt. Diese
Ursachenforschung ist gleichzeitig die Lösung der seelischen Konflikte wodurch
neurotische Symptome verschwinden, sich geradezu auflösen.
Andrea Zäh
Samstag, 18. April 2020
| 11. April 2020
April 2020
EXPERTISE GESELLSCHAFT 31
April 2020
die weiterhin kreativ zuhause eine
Samstag, neue 18. April Schmuckkollektion 2020 entwirft. Sie
sagte mir sogar, dass sie sich während
dieser Zeit intensiver auf ihr Schaffen
konzentriert.
Auch eine 67 jährige Schriftstellerin,
Ariane, schreibt weiter an ihrem früher
begonnenem Kriminalroman. Sie steht
jeden Morgen auf und setzt sich gleich
an ihren Schreibtisch, das gefällt ihr, ja
das gelingt ihr eher gut.
Auch kenne ich einige liebe Omas die
weiterhin still stricken, zum Beispiel
die 81jährige Clara, die momentan
viele wunderbare tolle Pullis für sich
und ihre Lieben strickt. Und auch die
88jährige Monique bestickt weiterhin
wunderschöne Tischdecken.
Samantha, 45 Jahre alt, hat inzwischen
die tollsten Dekorationen in Macrame
erfunden, in Vorbereitung auf ihre im
Sommer bevorstehende Hochzeit. Das
beruhige sie, selbst wenn die geplante
Heirat wahrscheinlich auf später verschoben
wird.
Und es gibt Menschen, die neue Musik
oder Lieder komponieren und diese
Kreationen sogar veröffentlichen in den
digitalen Medien. Darunter übrigens
eine Menge Komiker, die mehr oder
weniger Lustiges, manchmal Ironisches
veröffentlichen.
ZaS: Sie fangen mit denen an, die nicht
so sehr unter der Situation leiden. Haben
Sie auch Beispiele von Menschen, die
jetzt größere Probleme haben?
Andrea Zäh: Vielleicht riskiert derzeit
so mancher Drogenabhängige, dass
er derzeit zu noch mehr individuellem
Konsum von Alkohol, Cannabis oder
anderem neigt. Der 70jährige Christophe
kümmert sich vor allem darum wo, er
problemlos seine übliche tägliche Dosis
Whisky kaufen wird. Der 50jährige
Pierre, der sich schon jahrelang an Cannabis
gewöhnt hat, weiß inzwischen,
dass bald aus Marokko fast nichts mehr
nach Europa rüberkommen wird, weil
die Grenzen geschlossen sind.
Simon und seine Freunde, Jugendliche
jünger als 20 Jahre alt, zeigen weiterhin
Risikoverhalten, wollen den erlassenen
Verboten entgehen, treffen sich abends
in Gruppen obwohl die Regierung das
inzwischen verbietet!
Alzheimerkranke verstehen durch ihre
neurologische Krankheit vielleicht
gar nicht, warum jeder Mensch sich
unbedingt an die vernünftige Hygiene
halten sollte.
Und so stellen sich viele Fragen: Wie
geht es den Zwangsneurotikern, zum
Beispiel jenen, die sowieso andauernd
ihre Wohnung putzten? Immer wieder
putzen, heute mehr als jemals zuvor?
Wie sieht es aus, wenn jemand schon
etwas länger an einer Angstneurose
leidet, sich lieber in großen Räumen, gar
draußen aufhält als in einer vielleicht zu
engen Wohnung?
Hypochondrische Menschen oder sogenannte
Hysteriker fühlen sich eventuell
in ihren schon da gewesenen inneren
irrationalen Ängsten vor körperlichen
Krankheiten bestätigt.
Werden gewalttätige Männer gegenüber
Frauen sanfter oder noch schlimmer?
Wie begreifen besonders liebenswerte
Autisten überhaupt, worum es eigentlich
momentan geht in der allgemeinen
Realität?
Oder Schizophrene, Paranoiker, Melancholiker:
sind sie gewappnet, unsere
Psychotiker?
Etwa eine 32jährige Schizophrene, die
ihre Therapeutin wiederholt täglich
anruft, um dieselbe zu bitten, ihr nochmal
genau den Prozentsatz zu nennen
zwischen Corona-Risikopatienten, den
Kranken und den Toten.
Mancher empfindet Trennungsangst,
und solche wird je mehr aktiviert als er
jetzt von seinem Partner oder Partnerin
getrennt leben muss, da Reisen derzeit
weitgehend verboten sind.
Ein Anderer kann möglicherweise seine
häufige sexuelle Lust momentan nicht
mehr befriedigen und leidet besonders
unter dieser aktuellen Frustration, seine
Kastrationsangst überkommt ihn.
Schon früher konkret traumatisierte
Menschen durch Attentate – gerade hier
in Nizza – werden an das schrecklich
Erlebte erinnert: ihre Todesangst wird
reaktiviert.
ZaS: Sie wollen also verdeutlichen, dass
die extreme Situation in der sogenannten
Corona-Krise für jeden Menschen
anders ist, je nachdem wie er disponiert
ist?
Andrea Zäh: Es gibt viele Beispiele
dafür. Alberto, ein 40jähriger Mann,
ein eher kontaktscheuer Mensch, fühlt
sich erleichtert durch die offizielle
Ausgangssperre: endlich braucht er
nicht mehr dem sozialen Druck der
üblich flüssigen zwischenmenschlichen
Kommunikation zu entsprechen. Viele
Sportler trainieren weiterhin bei guter
Laune daheim: sie halten sich durchaus
fit, in Form und bei weiterer körperlicher
Gesundheit. Nur wie machen denn das
die Surfer, Schwimmer, Segler: eine
besonders große Anpassung ist also
gefragt!
ZaS: Klar, jeder Mensch empfindet
sein Leben, seine eigene Seele, seine
bisherigen oder momentanen Probleme
und führt seine individuelle
Lebensgeschichte weiter. Könnten
Sie vielleicht etwas klarer ausführen
inwieweit oder inwiefern Ihr psychoanalytischer
individualpsychologischer
Gesichtspunkt in dieser kollektiven
Situation hilfreich sein könnte?
Andrea Zäh: Individualpsychologisch
ausgedrückt geht es um die Besonderheit
jedes Menschen, um seine
Einzigartigkeit. Um sein seelisches
Gleichgewicht
und um seine Anpassungsfähigkeit
in jeglicher und
momentan um
die von außen
angsterregende
Situation. Laut psychoanalytischem
Ansatz hat sowieso jeder Mensch immerzu
mit seinen inneren widersprüchlichen
bewussten und unbewussten
Konflikten zu kämpfen. Kommt eine
tatsächliche äußere Gefahr hinzu, wird
es noch komplizierter! Je nach Lebensalter
– Kleinkinder, Kinder, Jugendliche,
Erwachsene, alte Menschen – wirkt sich
die äußere Gefahrensituation anders auf
ihr seelisches Innenleben aus.
ZaS: Wie lässt sich das näher erklären ?
Andrea Zäh: Jeder Mensch, je nach Alter,
Erfahrung und Lebensgeschichte
empfindet zwar immer wieder seine
eigenen inneren üblichen Ängste, jedoch
wendet jeder Mensch dagegen
individuelle psychische Abwehrmechanismen
an.
ZaS: Was sind Abwehrmechanismen ?
Andrea Zäh: Abwehrmechanismen sind
psychische Prozesse, die im Allgemeinen
dem organisierten Selbst zugeschrieben
werden. Ihre Aufgabe ist
es, optimale psychische Bedingungen
zu organisieren und aufrechtzuerhalten,
die dem Selbst des Individuums
helfen können, sich zu wappnen, zu
stellen und Angstzustände und geistige
Beschwerden zu vermeiden. Sie
beteiligen sich somit an Versuchen, die
psychischen Konflikte zu bewältigen,
können aber durch ihre übermäßige
oder unangemessene Verwendung das
psychische Wachstum beeinträchtigen,
und dann zu durchaus störenden
und beeinträchtigenden Symptomen
führen. Anders gesagt: Gegen innere
sowie äußere Ängste – wie hier die
Angst vor der Ansteckung mit dem
Corona-Virus – wird einer versuchen
sie zu vergessen, indem er sie möglicherweise
verdrängt. Der nächste wird
sie verneinen, sie vielleicht gar nicht
wahrnehmen, indem er seine Angst
von seinem Bewusstsein, seiner Wahrnehmung
abspaltet. Wieder ein anderer
verschiebt oder verdichtet hingegen
seine Ansteckungsangst auf eine bisher
belanglose körperliche Schwäche,
der er plötzlich viel mehr Aufmerksamkeit
widmet. Kreative Menschen
sublimieren.
ZaS: Was können Sie den Menschen
raten in diesen Zeiten der Bedrohung
durch das Corona-Virus?
Andrea Zäh: Es ist besonders wichtig den
grundsätzlichen Unterschied zwischen
Fantasie und Realität beizubehalten,
d.h. jeden Tag so zu organisieren dass
eigenes Gefühl von Raum und Zeit
weiter gut strukturiert bleibt. Seine
Affekte sollte man versuchen zu erkennen,
wenn möglich in Worte fassen.
Natürlich sollten ein paar persönliche
Träumereien nicht fehlen, einen gewissen
inneren Spielraum sollte man
sich durchaus gewähren, sozusagen als
Übergangsbereich: etwa vorübergehend
Zuflucht in einen guten Film finden,
oder einen schönen Roman lesen, ja
mal öfters die eigene Lieblingsmusik
anhören.
ZUR PERSON
Dr. Andrea Zäh
Die Dipl.-Psych. Dr. Andrea Zäh
arbeitete 40 Jahre im Gesundheits-
und Bildungswesen, in der
Forschung, in psychosozialen Helferinstitutionen
sowie in eigener
Praxis als Psychoanalytikerin. In
Paris an der Universität Paris 10 als
klinische Psychologin durch praxisbezogenes
Hochschuldiplom zum
Master ausgebildet, hat sie an der
Universität Paris 7 als Freud-Expertin
promoviert. Weitergebildet
in Sciences-Po Paris durch ein Executive
Master der gerontologischen
Politikwissenschaften und an der
Universitätsklinik Nizza in der psychiatrischen
Phänomenologie.
Sie war hauptsächlich in Einrichtungen
der Behindertenhilfe, Kindertagesstätten,
in der Jugendund
Familienhilfe sowie Kinderheilkunde
tätig. Als Dozentin wirkte
sie an der Universität Paris 13, in
École Centrale Paris der allgemeinen
Ingenieurwissenschaften, als
Erasmusgastdozentin an der Charité
in Berlin und als leitende Pädagogin
an der Psychopädagogischen
Fachoberschule zur Erzieher-Ausbildung
in Nizza.
Sie lebt weiterhin in Frankreich,
widmet sich heute persönlich in
Nizza besonders der Philosophie,
dem Yoga und der Meditation.
Kontakt:
andreazah@sfr.fr
miz
32 Corona-Tagebuch | 4. April 2020
Rauchende Colts
Marshall Matt Dillon hat früher die Banditen gejagt, die ein Halstuch vor Nase
und Mund hatten. Wer damals im Röhren-TV zusah, ist heute in der Risikogruppe.
Wie auch die Ärzte, denen millionenfach Schutzausrüstung fehlt. Von Michael Zäh
Wenn es so käme, dass der deutsche Bürger nur
noch mit Mundschutz durch die Gegend laufen
darf, weckt dies bei manchem Zeitgenossen
ganz klar Erinnerungen: Rauchende Colts, ein gewisser
Marshall Matt Dillon, der all jene gejagt hat, die sich ein
Halstuch vor Nase und Mund gebunden hatten, sprich:
die Banditen. Damals im staubigen Wilden Westen, und
sehr lange vor dem World-Wide-Web. Auch vom Virus
keine Spur, damals.
Die Vorstellung, dass wir alle vom „Gunsmoker“ durch
die Prärie gejagt werden, weil wir schnell zu Pferde eine
Postkutsche ausgeraubt haben, ist durchaus tröstlich. Weil
das ist ja Kindheitserinnerung. Doch die Vorstellung, dass
wir bald alle unser Gesicht banditengleich hinter einer
Maske verstecken müssen, um außer Haus gehen zu dürfen,
hat dafür eher den Hauch des Bösen. Da wüsste der
Marshall Matt Dillon ja gar nicht mehr, welche Schurken
er zur Strecke bringen soll.
Man könnte auch sagen, dass es etwas irre wirkt, wenn
heuer über solche Mundschutzmasken für die gesamte
Bevölkerung gesprochen wird, während ja derzeit genau
solche Masken dort millionenhaft fehlen, wo sie wirklich
dringend gebraucht würden. Laut einer Liste der AOK
fehlen schon allein bei den niedergelassenen Ärzten (also
ohne die Kliniken, Krankenhäuser oder auch Pflegeheime
etc.) rund 115 Millionen Mund-Nasen-Schutzmasken,
außerdem 47 Millionen Masken der FFP2-Qualität sowie
zusätzlich noch mal 7,5 Millionen FFP3-Masken der
noch höheren Qualität. Was außerdem fehlt: 63 Millionen
Schutzkittel, 55 Millionen Packungen Einmalhandschuhe,
sowie 3,7 Millionen Schutzbrillen.
Diese Mängel sind nicht etwa durch das plötzliche
Auftreten des Coronavirus entstanden, sondern werden
dadurch nur sichtbar. Die bittere Wahrheit ist nämlich,
dass es bereits 2005, also vor 15 Jahren (ist ja natürlich
nix sind im Vergleich zu den Hochzeiten von „Rauchende
Colts“) einen Pandemieplan gab, den damals schon das
Robert-Koch-Institut (heute ja in aller Munde) im Auftrag
des Bundesgesundheitsministeriums erstellt hat. Dieser
Plan sieht vor, dass benötigte Materialien „rechtzeitig
vor Eintreten einer Pandemie“ von der Bundesregierung
bevorratet werden müssen. Sprich: All das, was jetzt fehlt,
hätte eigentlich nach dem Pandemieplan auf Vorrat sein
müssen. Das hat der Bund aber nicht so ernst genommen.
Man schlug solche ungeheuren Pläne in den Wind, weshalb
man heute umso entschiedener darüber nachdenkt,
wie eben dieses Ungeheuer mit dem Namen Coronavirus
durch private Initiativen noch gebändigt werden könnte.
Bayerns Ministerpräsident Söder hat doch prompt vorgeschlagen,
dass Bayerns Bürger zehn Millionen Masken
selbst nähen sollen. Wie im Krieg, sozusagen.
Da wir hier schon mal in Bayern sind, hört man den
Kaiser rufen: „Ja ist denn jetzt schon Weihnachten?“
Aber gut, das ist eine ganz andere tragische Geschichte.
Heuer würde es heißen: „Ja ist denn jetzt schon Ostern?“
Denn bis dahin regiert ja Marshall Söder als Gunsmoker
mit unbeirrter Hand. Diskussionen über eine „Exit-Strategie“
hat er sich verbeten. Erst muss der Bandit erlegt
sein. Ein Schuss, ein Treffer, mitten ins Virus, und dann
raucht der Colt.
Und danach also soll es all die selbstgenähten Mundschutzmasken
geben, quasi als Geste der Unterwerfung
des Volkes, wenn es denn wieder raus darf. Lieber als
Bandit auf der Arbeit als nur immer zu Hause im beengten
Homeoffice.
Der praktische Nutzen solcher Masken ist laut WHO
äußerst umstritten. Könnte medizinisch sogar mehr Schaden
anrichten als es Nutzen hätte. Aber darum geht es
offenbar längst nicht mehr. Eher scheint es um den Gleichklang
der Herde zu gehen (hier also: die deutschen Bürger
in Panik), weil die Autorität derer zementiert werden soll,
die zuvor fahrlässig versagt haben, als sie sich nicht an
bestehende Pandemie-Vorsorge hielten.
Na klar schauen jetzt diejenigen in die Röhre, die Matt
Dillon im Röhren-TV sahen. Sprich: Risikogruppe!
Corona-Tagebuch | 13. Juni 2020
33
Bloß nicht
lumpen lassen
Die Konjunktur will angekurbelt werden und deine Lieblingsgeschäfte brauchen jetzt
deinen Einkauf. Aber nach acht Wochen der Einkehr weißt du gar nicht, was du denn
wirklich brauchst. Na ja, vielleicht ein paar neue Laufschuhe? Von Michael Zäh
Auf gehts, die Konjunktur will angekurbelt werden. Nach
der zweimonatigen Zeit der Einkehr ins Innere soll nun
der Ausritt in die Stadtmitte folgen. Das ist quasi
Pflicht. Denn die Läden brauchen dich jetzt, um nicht pleite zu
gehen. Und der Staat päppelt mit seinem Konjunkturprogramm
ja auch nach Kräften. Da wollen wir uns nicht lumpen lassen.
Aber was soll man kaufen? Für ein neues Auto ist es doch
noch zu früh – denn wer weiß, wann Corona wieder um die
Ecke biegt? Also sorry! Buisiness-Klamotten braucht man
wahrscheinlich auch nicht mehr. Im Home-Office geht es eher
leger zu. Da genießt man Freiheiten, von denen Karl Lagerfeld
gesagt hat, dass man die Kontrolle über sein Leben verloren habe.
Außerdem soll es etwas Sinnvolles sein, was man kauft. Der
reine Spaß am Einkaufen, die leichte Freude am Überflüssigen,
gar die psychologische Tiefenentspannung durch den eigentlich
unsinnigen Einkauf von schönen, nutzlosen Dingen ist nicht
mehr. Das war vor Corona. Das war, als wir noch dachten, dass
unsere Jobs sicher sind. Das war, als ein Einkauf quasi ein Ausgleich
dafür war, dass sonst alles nach Strich und Faden lief. Das
waren lauter kleine Fluchten ins herrliche Reich der Kaufhäuser,
Drogerien, Buchläden, Sportgeschäfte.
Ja, das war einmal. In den acht Wochen der Einkehr hat
sich gezeigt, dass es keine kleinen Fluchten braucht, wenn alle
voreinander auf der Flucht sind. Und wie die Haare so vor sich
hin wuchsen, schwand auch die Lust, überhaupt aus dem Haus zu
gehen. Weil eh alles zu war, reichte Balkonien oder der Garten,
um sich genügsam mit der aus unerfindlichen Gründen zumeist
scheinenden Lockdown-Sonne zu verabreden.
Nun aber raus, es muss doch vorwärts gehen! Und ja, die
Laufschuhe haben tatsächlich einen Schlenzer an der Seite und
auch leidlichst abgelaufene Sohlen. Komm, das könnte man jetzt
wagen. Denn Laufschuhe brauchst du ja mit und ohne Corona.
Nämlich zum Weglaufen in freier Natur. Das passt. Das kann ja
gar nicht falsch sein.
Auf zum Fachgeschäft, wo man die letzten Laufschuhe gekauft
hat. Doch das hat zu. Läden runter, fertig aus. Schade, aber
da kann man wohl nix mehr machen. Gleich weiter, um zwei
Ecken, ist ja das nächste Sportgeschäft. Maske auf und rein. Zwei
Etagen, kein Mensch da. Lange Gänge voller Regale. Hunderte
von Laufschuhen, schön nach Marken sortiert. Du lässt das
Läufer-Auge schweifen, weil alles so schön bunt ist. Ein Mann
mit Maske kommt und fragt, ob er helfen kann. Ja klar, man hat
ja keine Hektik, so als einziger Kunde im Laden.
„Dieser Schuh da, der wird ja viel gelobt. Ist er so gut oder
ist das nur Marketing?“
„Ist gut.“
„Gibt es eine Alternative von einer anderen Marke?“
„Nein.“
„Können Sie mir noch etwas empfehlen, also Schuhe, die im
Preis-Leistungsverhältnis vielleicht besonders gut sind?“
„Nein.“
Na gut, dann probierst du mal von der Marke, die so hoch
gelobt wird. Der Mann mit Maske stellt dir zwei Modelle zur
Auswahl hin. Es sind die teuersten Modelle im ganzen Laden.
Welches Modell soll ich nehmen? Das eine hat eine gute Farbe,
ist aber nur für Asphalt und nicht für den Wald geeignet. Das
zweite geht im Wald, ist aber so blöd grün. „Was meinen Sie?“
„Sie brauchen zwei paar Schuhe!“
Du zögerst. Ja okay, zwei paar Schuhe, wenn du schon
mal da bist. Dazu bist du bereit. Du frägst nach einer zweiten
Marke, weiße Lederschuhe, legendär. „Gibt es jetzt nur noch im
Schuh-Discounter.“
Tja. Der Mann mit Maske muss kurz mal weg. Deine Entscheidung
ist gefallen: Du nimmst die teuren Grünen für den
Wald. Du wartest. Der Mann kommt nicht zurück. Ist wahrscheinlich
zum Lachen in den Keller gegangen. Also gehst du
ohne die grünen Schuhe zum Discounter. Dort ist eine Schlange
weit in die Straße hinaus. Nee, oder?
Samstag, 18. April 2020
34
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 18. April 2020
Bis zum nächsten
Friseurtermin
Coronavirus. Das 750-Milliarden Hilfspaket des Staates gegen die Folgen des Coronavirus ist
schon ein fettes Butterbrot, nachdem zuvor das Knallen der Peitsche dafür gesorgt hat, dass
gesellschaftliche und wirtschaftliche Aktivitäten zum Stillstand kamen. Von Michael Zäh
Wie wird Deutschland in den
kommenden Wochen (oder
gar Monaten) frisiert sein?
Das ist keine kleine Frage, da ja alle
Friseur/innen-Betriebe schließen
mussten. Wird unsere Mutti Merkel
dann plötzlich graue Strähnen im
Haaransatz aufweisen, werden Olaf
Scholz die (bisher nicht vorhandenen)
Haare zu Berge stehen? Und wie wirkt
es sich aus, wenn bei über 80 Millionen
deutschen Bürgern die Matte wächst,
wo sie es gar nicht soll, das Grau und
gar das Weiße sprießt, während das
akkurate Kurzhaar wie auch der schön
gestutzte Bart nur noch eine ferne
Erinnerung sind. Vielmehr sogar eine
Sehnsucht, die unerreichbar in den
Weiten des Seins dahin schwebt.
Nun ja, je länger das deutsche Haar
wird, desto mehr Milliarden Steuergelder
wird das kosten. Weil es
ja so ist: Der Staat nimmt
es, der Staat gibt es –
das ist quasi
ZUR SACHE
Einschneidende
Eingriffe, überall
Die Bundesregierung und die Länder
haben gemeinsam die Schließung
einer Vielzahl von Geschäften
und Institutionen beschlossen. So
sollen „Zusammenkünfte in Kirchen,
Moscheen, Synagogen und
die Zusammenkünfte anderer
Glaubensgemeinschaften“ verboten
werden, auch Gottesdienste
können nicht mehr stattfinden.
Ebenso sind Zusammenkünfte in
Vereinen und sonstigen Sport- und
Freizeiteinrichtungen untersagt,
Angebote in Volkshochschulen,
Musikschulen und sonstigen öffentlichen
und privaten Bildungseinrichtungen
sowie Reisebusreisen
sollen eingestellt, Spielplatzbesuche
unterlassen werden.
Bars, Clubs, Diskotheken sollen
geschlossen bleiben, desgleichen
Theater, Opern, Konzerthäuser,
Museen, Messen, Ausstellungen,
Freizeit- und Tierparks und Anbieter
von Freizeitaktivitäten, Spezialmärkte,
Spielhallen, Spielbanken,
Wettannahmestellen. Auch der
Betrieb öffentlicher und privater
Sportanlagen, Schwimm- und
Spaßbädern sowie Fitnessstudios
muss eingestellt werden. miz
Samstag, 18. April 2020
April | 28. 2020 März 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 35
April 2020
Samstag, 18. April 2020
ein alter Zopf. Wenn nun also Scholz,
Kretschmann, Söder, Laschet
und Konsorten sich darin übertreffen,
die aufgemotzte Bazooka in Anschlag
zu bringen, dann vergessen staatliche
Kurzhaardackel ja gerne, dass dieses
Geld nicht wie ein Sternenregen vom
Himmel fiel, sondern es sich um genau
jene Kohle handelt, die zuvor der gut
frisierte Steuerzahler (und danach
wirds auch so sein) an den Staat bezahlt
hat. Das ist also ungefähr so, als
ob der Friseur das Trinkgeld spendiert,
das er soeben vom Kunden für die
tolle Tolle bekam. Mit dem kleinen
Unterschied freilich, dass derzeit keine
Frisuren welcher Art auch immer zu
haben sind.
Der Transfer von insgesamt rund
750 Milliarden Euro zurück an die
Wirtschaft und die Steuerzahler ist
ein bisschen ein Ablasshandel dafür,
dass der Staat ja das wirtschaftliche
Leben von oben herab eingestellt hat.
Ja, es ist vielleicht sogar womöglich
so, dass damit auch die Demokratie
geschützt werden kann. Denn der
Staat, der Verbote erlassen hat und
die Freiheit seiner Bürger extrem einschränkt,
gibt so auf der anderen Seite
Millionen Menschen etwas Hoffnung,
dass sie nicht völlig pleite gehen in
den nächsten Wochen. Es ist schon ein
fettes Butterbrot nach der knallenden
Peitsche des Zusperrens allen gesellschaftlichen
Lebens.
Der Bundestag hat also ein großes
Rettungspaket für die deutsche Wirtschaft
beschlossen. Die Abgeordneten
stimmten einem Nachtragshaushalt
in Höhe von 156 Milliarden Euro und
dem Rettungsschirm WSF im Volumen
von 600 Milliarden Euro zu. Die
Schuldenbremse des Grundgesetzes
soll vorübergehend ausgesetzt werden.
Selten einhellig: Es gab gegen das gesamte
Paket nur drei Gegenstimmen.
Weil Bundeskanzlerin Angela
Merkel unter häuslicher Quarantäne
steht (ein Arzt, der sie geimpft hat,
hatte das Coronavirus intus), stellte
der Finanzminister und Vizekanzler
Olaf Scholz die Pläne der Regierung
vor. „Vor uns liegen harte Wochen -
und doch: Wir können sie bewältigen“,
sagte Scholz. Quasi ein bisschen Zuversicht
verbreiten. Um dann fortzufahren:
„Wir erleben eine Krise, die in der Geschichte
der Bundesrepublik ohne Vorbild
ist“, und für die Krisenbewältigung
gebe es „kein Drehbuch“. Und erst recht
nicht die passende Frisur, möchten wir
an dieser Stelle hinzufügen.
CSU-Landesgruppenchef Alexander
Dobrindt (lange nix gehört von ihm)
bezifferte das Volumen des Hilfspakets
der Bundesregierung gar auf etwa 1400
Milliarden Euro. Das sei in etwa die
Gesamtsumme an Krediten, Garantien
und Hilfen. Je länger die Haare wachsen
müssen, desto größer sind die Zahlen.
Oh je, Schwindel, lass nach.
Es lässt sich noch gar nicht bis in jede
Haarspitze darstellen, wer denn nun
welche Gelder erhalten soll. Klar ist aber
schon mal der Löwenanteil (nein, bitte
nicht mit der Löwenmähne verwechseln):
Es wird einen 600 Milliarden Euro
umfassenden Schutzschirm für größere
Firmen geben. Der Staat will in großem
Umfang Garantien geben und notfalls
wichtige Unternehmen auch ganz oder
zum Teil verstaatlichen. Wenn die Krise
vorbei ist, sollen sie wieder privatisiert
werden. Profitieren können nicht alle
Unternehmen, sondern nur solche mit
hohen Umsatzerlösen oder mehr als
250 Mitarbeitern. Unter diesen Schutzschirm
können kleinere Firmen nur im
Einzelfall schlüpfen - wenn sie für die
Infrastruktur besonders wichtig sind.
(Wie Friseure, möchte man rufen).
Aber da wären dann noch die 50
Milliarden, die für kleine und kleinste
Unternehmen ausgegeben werden
sollen, inklusive den sogenannten
Solo-Selbstständigen. So hat etwa das
Ministerium für Wirtschaft, Arbeit
und Wohnungsbau Baden-Württemberg
ein Soforthilfeprogramm aufgelegt:
„Gewerbliche Unternehmen,
Sozialunternehmen und Angehörige
der Freien Berufe, die sich unmittelbar
infolge der Corona-Pandemie in einer
existenzbedrohenden wirtschaftlichen
Lage befinden und massive
Liquiditätsengpässe erleiden, werden
mit einem einmaligen, nicht rückzahlbaren
Zuschuss unterstützt“, heißt es
dort. Ausgezahlt über die Länder (wie
hier BW) sollen kleine Firmen und
Selbstständige, Musiker, Fotografen,
Heilpraktiker oder Pfleger direkte Finanzspritzen
erhalten. Je nach Unternehmensgröße
sind das für drei
Monate 9.000 bis 15.000 Euro. Dies
wären keine Kredite, sondern Zuschüsse,
die nicht zurück gezahlt werden
müssen. Die Anträge hierfür können
bereits digital gestellt werden. Ausgezahlt
werden die Zuschüsse dann
direkt über die Landesbank.
Millionen Menschen in Deutschland,
die sich durch die Maßnahmen
des Staates gegen die Ausbreitung
des Corona-Virus in existenzieller Not
wiederfinden, werden sich über solche
Programme freuen (falls diese dann
auch wirklich so unbürokratisch funktionieren
wie versprochen), und sich
zumindest mal kurz entspannen. Aber
Vorsicht: Experten warnen, dass diese
„Soforthilfen“ hohe Hürden haben
und es sich daher um Augenwischerei
handeln könnte. Es wäre allerdings
skandalös, so laut und unfrisiert die
Hilfe ins Land zu posaunen, riesige
Hoffnungen zu wecken und am Ende
doch für die meisten Kleinen nicht
infrage zu kommen! Es wäre ein staatlicher
und politischer Schwindel, wenn
das Soforthilfeprogramm quasi Hartz IV
ist, nur nicht so heißt.
Ist ja schon verwunderlich genug,
wie schnell über Jahre tragende
Grundsätze wie die „schwarze Null“
oder die im Grundgesetz verankerte
„Schuldenbremse“ von einem Tag
zum anderen plötzlich über Bord sind.
Zack, zack, oder sagen wir: Schnipp
Schnapp!
Ewig kann trotz Milliardenschirm
das komplette Runterfahren des gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen
Lebens nicht dauern. Höchstens bis zum
nächsten Friseur-Termin.
ZUR SACHE
Der Streit um die
Deutungshoheit
In Berlin mahnte Gesundheitsminister
Jens Spahn weiterhin die
Einhaltung aller Regeln an. „Noch
ist das die Ruhe vor dem Sturm“,
sagte er. Natürlich werde es „eine
Zeit nach Corona geben“. Das Leben
werde sich aber erst schrittweise
wieder normalisieren müssen. Unter
Medizinern und Politikern gibt
es aber auch welche, die sich öffentlich
dahingehend äußern, dass
das Corona-Virus in Wirklichkeit
gar nicht so schlimm sei. Diesen
Thesen gegenüber hat nun Innenminister
Horst Seehofer Stellung
bezogen: Er lehne die These der
Herdenimmunisierung ab, nach der
möglichst viele Menschen vom Corona-Virus
befallen werden sollen,
um zügig immun zu werden. Das
halte die Kosten der Pandemie zwar
vergleichsweise niedrig, sei aber
nur um den Preis hoher Sterberaten
zu erreichen. „Erstens hat mir
noch kein Wissenschaftler in die
Hand versprochen, dass man dann
wirklich immun ist“, sagte Seehofer.
„Und zweitens heißt das, dass man
Opfer in Kauf nimmt. Das halte ich
für eine unvertretbare Strategie.“
Es gibt Zyniker, die berechnen, was
ein Menschenleben kostet. miz
Montagen: Viktor Lukanow
Samstag, 18. April 2020
36
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Eine Hand wäscht
die andere,
oder wie?
Samstag, 18. April 2020
Coronavirus. Die drastischen Maßnahmen der deutschen Behörden
gegen die Verbreitung des Virus könnten am Ende zu einer paradoxen
Reaktion führen: Gelingt die Eindämmung auf einige Zehntausend
Fälle mit anschließend flacher Kurve, wird es heißen: Und deswegen
all die Verbote? Gelingt dies trotz aller Maßnahmen nicht, heißt es:
Wofür der ganze Zauber? Hat ja eh nichts genutzt! Von Michael Zäh
Es ist nicht so, wie man denkt, sondern so, wie es
kommt. Das sagte Sigmund Freud, der Begründer
der Psychoanalyse und einer der größten
Denker der Menschheit. Dies ist keinesfalls zu verwechseln
mit dem rheinischen Grundgesetz: „Et kütt
wie et kütt.“ Denn dieses „Es kommt wie es kommt“
ist eher fatalistisch lässig gemeint, bis hin zum unvermeidlichen
Untergang, während Freud sein Leben
lang Wissenschaftler war, der sich Gedanken darüber
machte, was den Menschen helfen könnte.
Niemand von uns hat derzeit die Macht, auch
nur zu wissen, was kommt und wie es kommt. Wohl
auch unsere Wissenschaftler nicht, denen aber in
der derzeitigen Situation zunächst einmal Glauben
geschenkt werden sollte. Und diese haben denn auch
eine recht klare Formel in Umlauf gebracht: Siebzig
Prozent der deutschen Bevölkerung werden sich über
kurz oder lang mit dem Corona-Virus anstecken. Dies
wären rund 58 Millionen Menschen in Deutschland.
Die Frage sei nur, in welchem Zeitraum dies geschehe.
Und genau diese Frage sei entscheidend dafür, wie
schlimm es kommt. Entweder zur Katastrophe und dem
gesellschaftlichen Zusammenbruch, oder zu einer gewaltigen
Aufgabe, die aber bewältigt werden könnte.
Die Wissenschaftler gehen bei ihren Prognosen
von zwei Prämissen aus: Erstens wird sich das Corona-
Virus so lange von Mensch zu Mensch weiter verbreiten,
in Deutschland wie in der Welt, bis es keine neuen
Wirte mehr findet, die nicht schon immun sind. Und
zweitens würde die Kurve der Ansteckungen in kurzer
Zeit steil nach oben gehen, wenn keine einschneidenden
Maßnahmen ergriffen würden. Wenn wie bisher
knapp ein Sechstel der Infizierten einen schweren
Verlauf der Lungenkrankheit bekämen und daher im
Krankenhaus behandelt werden müssten, dann wären
dies also knapp neun Millionen Menschen.
Dieses Szenario ist so, wie Wissenschaftler es
heute denken. Nein, keiner weiß, ob es so kommt.
Weil aber allein die Möglichkeit besteht, dass es –
ohne all die Gegenmaßnahmen, die bereits ergriffen
wurden – zu einem Kollaps in Kliniken führen könnte
(weil natürlich nicht neun Millionen Menschen dort
gleichzeitig behandelt werden könnten) alles rechtfertigt,
was man dagegen tun kann, kommt es im Moment
bei der Gesellschaft – uns allen – ganz gut an, wenn
nun der Ausnahmezustand ausgerufen ist. Noch dazu,
weil die Wissenschaftler ja darauf hinweisen, dass es
hauptsächlich eine bestimmte Gruppe ist, die durch
den Rest der Gesellschaft – uns alle – geschützt werden
müsse: Ältere und bereits erkrankte Menschen, also
unsere Eltern oder Großeltern (insofern wir das nicht
selbst schon sind). Und wer möchte nicht seine eigenen
Eltern schützen? Ohne die Bereitschaft aller käme es
laut Hochrechnungen bis zu 1,8 Millionen Toten in
kürzester Zeit durch das Corona-Virus. Hinzu kämen
vermutlich noch viele weitere Tote, die an ganz anderen
Krankheiten (wie etwa Herzinfarkte, Krebs und
dergleichen) leiden, aber wegen des Zusammenbruchs
des Gesundheitssystems nicht mehr entsprechend versorgt
werden könnten. Dass es nicht so kommen darf,
wie sich das die Wissenschaftler vorsorglich denken,
überzeugt auch jene von uns, die ungern auf all das
verzichten, was unser Leben schon auch ein bisschen
ausmacht: Soziale Kontakte, Kultur, Sport, Kneipen,
die Freiheit, sich dort bewegen zu dürfen, wo man will.
Man übt sich in Solidarität, es fühlt sich ja auch an
wie zwischen den Zeiten (verwandt mit den wenigen
Wochen zwischen den Jahren), ist mal etwas Neues
und schweißt im Abstandhalten sogar zusammen. Eine
Weile geht das gut. Es sind Coronaferien, die man gar
nicht beantragen musste (ja, die man nicht mal auf
die eigene Kappe nehmen muss), eine überraschend
geschenkte Zeit im Kreise seiner Nächsten. Und es
kann sogar sein, dass man dann in neun Monaten den
„Corona-Baby-Boom“ feststellt. Ja, was soll man auch
machen, wenn man mal nicht gestresst ist?
Eine Weile lang ist es ein Test, der seinen Reiz entfaltet.
Das sonstige gesellschaftliche Leben in Deutsch-
ZUR SACHE
Die „Bazooka“ soll
nun also helfen
Es ist eine seltsame Wortwahl, die
Finanzminister Olaf Scholz und
Bundeswirtschaftsminister Peter
Altmaier in Anschlag bringen: Der
Bund werde die „Bazooka“ gegen
die Auswirkungen des Corona-Virus
einsetzen. Nun ja, das ist wohl als
Beruhigung gemeint, obwohl das
„Ofenrohr“ im Zweiten Weltkrieg
als eher grobschlächtige Waffe der
US-Streitkräfte galt, die nicht selten
die Schützen selbst zu Tode verbrannte.
In Übersetzung heißt dies,
dass der Bund in unbegrenzter Höhe
Kredite für Firmen bereitstellen will,
die durch das Corona-Virus in Not
geraten sind. „Das ist ein Schritt,
den es so in der Nachkriegsgeschichte
noch nicht gegeben hat.
An fehlendem Geld und fehlendem
Willen soll es nicht scheitern“, so
Altmaier. Man sitze auf gut gefüllten
Kassen und habe deshalb auch
großes Durchhaltevermögen, sagte
Scholz. „Wir können alles stabilisieren,
was stabilisiert werden muss“,
so der Finanzminister weiter. Dies
soll für kleine wie für große Unternehmen
gelten, so heißt es. Wenn
man dies aber die „Bazooka“ nennt,
rennen viele Firmen gleich davon.
Verbrennungsgefahr! miz
Samstag, 18. April 2020
| 21. März 2020
April 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 37
April 2020
Samstag, 18. April 2020
land ist ausgeknipst – was können wir an dessen Stelle
rücken? Manche machen vielleicht den Couch-Potato
vor der Glotze, dem Computer oder dem Handy. Ist
bequem und tut nicht weh. Wann hat man das schon,
dass es auch noch ohne schlechtes Gewissen gemacht
werden kann? Ist zum Schutz der Großeltern und ja
auch staatlich verordnet.
Andere nutzen die Auszeit dafür, mal das zu
machen, an das sie sonst gar nicht denken dürfen.
Nachdenken übers eigene Leben und das der Nächsten.
Sogar über Politik und Ethik. Mal ein Buch lesen, das
tausend Seiten hat. Mal raus aus der ewigen Beschleunigung
des sonstigen Alltags, um zu sich selbst zu
finden. Quasi eine Erfrischungskur für Geist und Seele.
Und dann soll es auch jene geben, die ganz konkret
helfen wollen. So gibt es bereits spontan gegründete
Nachbarschaftshilfen für ältere Menschen, damit diese
nicht selbst einkaufen gehen müssen. Oder es gibt
Leute, die vorübergehend arbeitslos geworden sind und
sich als Babysitter anbieten, um jene zur Arbeit gehen
zu lassen, die dringend benötigt werden, vor allem im
Gesundheitssystem.
Wenn wir alle immer schön unsere Hände waschen
und es dann auch noch stimmt, dass offiziell eine Hand
die andere wäscht, weil die Regierung einfach allen
Betroffenen finanziell unter die Arme greift, könnte
am Ende etwas ganz Großartiges stehen. Das wäre fast
wie das deutsche Wirtschaftswunder in der Folge des
Zweiten Weltkriegs.
Die Frage ist allerdings, wie lange diese Solidarität
gutgehen kann. Denn angesichts existenzieller
Nöte von all jenen, die freischaffend tätig sind oder
auf öffentliches Publikum angewiesen sind, wird es
wohl nicht allzu lange dauern, bis es sogar soziale
Unruhen geben wird. Wenn in vier Wochen alles unter
Kontrolle wäre und die rigorosen Beschränkungen mit
Pauken und Trompeten alle wieder aufgehoben werden
könnten, wäre dies noch machbar. Dann würde sich
die Gesellschaft ob ihres Zusammenhalts vielleicht
sogar feiern.
Wenn es nach acht Wochen immer noch heißt,
dass kein Ende absehbar sei, sondern immer noch neue
unzumutbare Restriktionen erlassen würden, rauscht
die gesellschaftliche Depression heran. Wenn es ein
halbes Jahr, gar ein Jahr oder länger dauern sollte, wäre
die Gesellschaft und die Wirtschaft, wie wir sie heute
kennen, nicht mehr wieder zu erkennen. Dann wäre es
nicht so, wie es von heute aus gedacht war, sondern
so, wie es dann gekommen ist. Es wäre der Absturz ins
Bodenlose, mit allen politischen Verwerfungen, die das
mit sich brächte.
Kurzfristig könnte es zu einer paradoxen Reaktion
kommen: Sollte es nämlich gelingen, dass durch die
drastischen Maßnahmen des Staates die Zahl der Infektionen
recht konstant auf einem niedrigen Niveau
gehalten würde und dann flach verläuft, dann würden
die Millionen Menschen, die ihre wirtschaftliche
Existenz verloren haben, sagen: Wie bitte, wegen nur
ein paar zehntausend Infektionen wurde vom Staat
der Ausnahmezustand verfügt und habe ich alles
verloren? Sollte aber umgekehrt eine gesundheitliche
Katastrophe über das Land herein brechen, weil alle
Maßnahmen es nicht verhindern konnten, dann werden
Millionen Menschen sagen, dass man dann diese
wirtschaftlich vernichtenden Verbote auch hätte sein
lassen können, da sie ja nichts bewirkt haben.
Man kann sich das ausdenken wie man will. Derzeit
werden selbst frohgemute Geister verunsichert sein
und daran zweifeln ob ein „Et hätt noch immer jot jejange“
zutrifft. Es stimmt ja außerdem auch nicht, dass
es noch immer gut gegangen ist. Eher könnte sein, dass
das Jahr 2020 ein einschneidendes in der Geschichte
der Menschheit sein wird.
Womöglich kommt es so, dass der Virus irgendwann
kontrolliert wird, aber die Weltordnung und die
globale Wirtschaft sich zwischenzeitlich stark verändert
haben werden. Könnten wir uns denken, wenn wir
nicht wüssten, was Freud gesagt hat.