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Online-Ausgabe 12, ET 04.07.2020

Testen vor der Kanzlerschaft: Ministerpräsident Markus Söder marschiert mal wieder ganz früh weit vorneweg, in Sachen Massentests auf Corona für alle Deutschter Meister FCB und Freude am Fahren bei BMW. Viel Sinn hat das nicht, aber egal. Von Michael Zäh

Testen vor der Kanzlerschaft: Ministerpräsident Markus Söder marschiert mal wieder ganz früh weit vorneweg, in Sachen Massentests auf Corona für alle Deutschter Meister FCB und Freude am Fahren bei BMW. Viel Sinn hat das nicht, aber egal. Von Michael Zäh

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Samstag, 20. Juni 2020

Samstag, 20. Juni 2020

Samstag, 20. Juni 2020

Online-Ausgabe 290 am am 20. 04. Juni Juli 2020 2020

Maske als Sinnbild

Samstag, 20. Juni 2020

Samstag, 20. Juni 2020

Unrunde Corona-Kreise

Nationalfeiertag USA

Ausgerechnet zum Nationalfeiertag am 4. Juli steht in den USA

die politische Frage im Vordergrund, was der Nation mehr

nutzt: Trumps Ignoranz oder Bidens Zurückhaltung. Es gibt

womöglich bald 100.00 Neuinfektionen mit dem Corona-

Virus – pro Tag! Und schon jetzt über 128.000 Tote. Seite 2

Lockdown in Gütersloh

Es zeigt sich, dass es eine zweischneidige Sache

ist, wenn Corona nun in den Landkreisen

bekämpft werden soll. Denn aus Sicht der Betroffenen

ist dies eine grobe Benachteiligung und aus Sicht aller

anderen kommt der Lockdown zu spät. Seite 3

Testen vor der Kanzlerschaft

Ministerpräsident Markus Söder marschiert mal wieder ganz früh weit vorneweg, in Sachen Massentests auf Corona für alle

Bayern, sprich Deutschter Meister FCB und Freude am Fahren bei BMW. Viel Sinn hat das nicht, aber egal. Von Michael Zäh

Nach dem Spiel ist vor dem

Spiel, heißt es im Fußball ja

schon lange. Und nun, da

der Profi-Fußball mit seinem sehr

speziellen Hygiene-Konzept gezeigt

hat, was alles möglich ist, wenn

Geld keine Rolle spielt, der politische

Wille vorhanden ist und die Geduld

der Gesellschaft es hergibt – nun

hat auch Bayerns Ministerpräsident

Markus Söder erkannt, quasi weil

die Bayern ja Meister sind: Wir sind

immer vorne weg.

Söder und Bayern wollen nun

also die große Testoffensive bei

Corona einleiten. Jeder der rund 13

Millionen in Bayern lebenden Leute

soll sich schnell und kostenlos auf

eine Corona-Infektion testen lassen

können. Das ist mal ein Wort. Und

genau so ist es von Söder auch

gemeint: Er inszeniert sich damit

weiterhin als großer Macher, im

Fernduell zu Armin Laschet, der ja

im Kreis Gütersloh gerade andere

Probleme hat. Dort geht es derzeit

bekanntlich um die Wurst.

Es ist in der Corona-Krise zum

Markenzeichen des Markus Söder

geworden, vorneweg zu gehen. Das

war bei Kontaktbeschränkungen

und bei der Maskenpflicht so. Sein

Credo lautet, dass er sich um seine

Bayern ein bisschen früher kümmert

als andere Ministerpräsidenten dies

sonstwo tun, wie etwa in NRW. Und

dies war teilweise richtig, also nicht

nur politisches Kalkül, sondern dem

Umstand geschuldet, dass Bayern

schon früh mehr Corona-Fälle hatte

als anderswo, wegen „Webasto“,

Patient Null in Deutschland und in

Bayern, eine Firma in der Nähe von

München. Aber auch wegen der

Nähe zu Österreich (und somit auch

zu Italien), wo früh Corona wütete.

Sprich: Markus Söder hat sich

profiliert, weil er die Gefahr früh

erkannte und dagegen anmachte.

Das war richtig und gut. Er hat dabei

allerdings auch keine Gelegenheit

ausgelassen, politisches Kapital aus

der Corona-Krise zu schlagen.

Beispielsweise war sein früher

Vorstoß zur Maskenpflicht auch

von Ignoranz gekennzeichnet. Denn

diese „Pflicht“ hat er zu einem Zeitpunkt

thematisiert, als es in ganz

Deutschland aufgrund gravierender

Fehler in der Vorsorge viel zu wenig

Masken für die Menschen gab, die

sie dringend brauchten, nämlich

Ärzte, Pfleger und Krankenhäuser.

Und wie ist das nun mit der

Testoffensive in Bayern? Ja, es ist

erstmal so, dass es ein politisches

Statement sein soll. Frei nach dem

Motto: Wir haben die Kraft, dies zu

machen, sprich BMW und der FC

Bayern gegen den Rest der Nation.

Während es in vielen Bundesländern

nicht einmal Tests für jene

gibt, die Symptome einer Corona-

Infektion haben, sollen sich nun in

Bayern alle völlig anlasslos testen

lassen können, nur einfach, weil

jemand als Bayer das eben will. Das

hat schon etwas von Kraftmeierei

(sprich: „Freude am Fahren“). Aber

viel Sinn hat es nicht.

Denn nach dem Test ist vor dem

Test. Wer sich im Freudentaumel

über ein negatives Testergebnis

gleich mal auf eine Party begibt, um

seine neue Freiheit zu feiern, kann

ja schon am nächsten Tag infiziert

sein. Dann ist sein Testpapier von

gestern nix mehr wert. Und so ist

es auch umgekehrt: Ein positiver

Corona-Test bedeutet keine sichere

Immunität.

Hilfreicher als solche politisch

motivierte Massentests wäre eine

systematische, wissenschaftliche

Strategie. Dazu würde gehören,

dass in etlichen sensiblen Bereichen,

wie etwa in Krankenhäusern, Plegeeinrichtungen,

Schulen und in der

Fleischindustrie alle vierzehn Tage

aufs Neue getestet würde, also wie

das die Fußball-Bundesliga vorgelebt

hat. Denn ein Test ist kein Test

ist kein Test, undsoweiter.

Und noch schwieriger ist die

Frage, wie denn die Gesundheitsämter

es stemmen sollen, all jenen

Fällen nachzugehen, die sich durch

die Massentests unvermutet auftun

könnten. Sprich: Kampf gegen die

Dunkelziffer, na toll, wo doch schon

für die bestätigten Fälle zu wenig an

Personal vorhanden ist.

Nun ja, der Weg ist noch

weit. Wer wie Söder ganz

früh ganz vorne marschiert,

den umgibt das Licht des

Visionären. Aber das ist nur

ein Test. Vor der Kanzlerschaft.

HALLO ZUSAMMEN

Jeden Samstag

die ZaS Online

Liebe Leserinnen und Leser,

wir haben die Zeit während der

„Corona-Pause“ genutzt, um

Ihnen ein zusätzliches Angebot

machen zu können. Wer Lust

und Zeit hat, findet (und fand

bereits in den letzten Wochen)

auf unserer Homepage unter

www.zas-freiburg.de

JEDEN SAMSTAG unsere

Online-Ausgabe der ZaS, also

ein paar aktuelle Essays und

News, was insgesamt ein ganz

spezielles Corona-Tagebuch

der ZaS ergibt. Diese Texte sind

für Sie immer am Samstag nur

einen Klick weit entfernt, und

zwar ebenso frisch geschrieben

und meinungsstark wie sonst

auch immer, selbstverständlich

ohne Bezahlschranke und so,

also gratis. Sagen Sie das auch

gerne weiter, denn wir freuen

uns über jeden Besucher, der

uns online liest. Natürlich gibt

es weiterhin wie gewohnt auch

die gedruckte ZaS, aber an all

den Samstagen dazwischen

jetzt eben unser neues Angebot,

sozusagen immer am ZaS-

Ball zu bleiben, wenn sie es

mögen. Ein aktueller Blick

in die USA zeigt, wie

schlimm es ein

könnte, auch bei

uns. Ignoranz

bringt da gar nix.

Michael Zäh


2

Corona-Tagebuch | 4. Juli 2020

Die Maske als

Sinn/Sittenbild

Wer im Supermarkt in den USA keine Maske trägt, kann dies lauthals als politisches

Statement verkaufen, quasi: Ich harter Republikaner, du Weichei der Demokraten. Blöd

nur, dass die Maske die Mitmenschen schützen soll. Von Michael Zäh

Diesen Samstag ist der 4. Juli, der Nationalfeiertag in

den USA. Es wird ein zerissener Tag sein. Einerseits soll

doch wohl ein kleines Ding wie das Corona-Virus nicht

dem großen Ding der USA-Feierlichkeiten echt im Wege stehen

können. Andererseits sterben an dem kleinen Ding schon jetzt

mehr Amerikaner als im Vietnam-Krieg. Mehr als 2,6 Millionen

bestätigte Infektionen gibt es in den USA bereits, über 128.000

Menschen sind an den Folgen des Virus gestorben, stündlich

werden es mehr. Und die Dynamik nimmt immer noch weiter

zu. Amerikas Topimmunologe Anthony Fauci sagte jüngst bei

einer Anhörung im Senat, die Zahl der Neuinfektionen könne

auf 100.000 pro Tag ansteigen, falls der Anstieg in den betroffenen

Bundesstaaten nicht unter Kontrolle gebracht werden

könne. „Ich wäre nicht überrascht, wenn wir 100.000 pro Tag

erreichen. Deswegen bin ich sehr besorgt“, sagte der Leiter des

Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten.

„Wir bewegen uns in die falsche Richtung.“ Die Pandemie

könne derzeit nur eingedämmt werden, wenn die Menschen

in der Öffentlichkeit konsequent Masken trügen und auf ihren

Sicherheitsabstand achteten. Wenn sich die Menschen nicht

daran halten würden, „werden wir weiter große Probleme

haben“, warnte Fauci.

Doch genau hier wird die Zerissenheit und die Spaltung

in den USA besonders anschaulich. Denn selbst das Tragen

von Masken ist inzwischen politisch mit Streit um die Macht

aufgeladen. Donald Trump trägt keine, aus Instinkt heraus,

weil er damit seine Größe und die Nichtigkeit seines politischen

Kontrahenten Joe Biden demonstrieren möchte. Dabei ist es

natürlich nicht das Problem, dass ein stes mit mächtig Abstand

abgeschirmter US-Präsident ein Mordsübertrager des Virus

sein könnte. Aber er gibt damit ein Vorbild für seine Wähler

ab (oder jene, die er damit erst noch gewinnen will). Sprich:

Wer im Supermarkt keine Maske trägt, kann dies lauthals als

ein politisches Statement verkaufen. Quasi ein waschechter

Repuplikaner kennt keinen Schmerz. Oder waren das nicht die

Indianer, früher? Na gut, jedenfalls hat Trump es per Vorbild

geschafft, dass die Maske als Sinnbild der demokratischen

Weicheier gilt, während wahre

Männer sowas nicht brauchen. Und das sagt unendlich

viel mehr aus als alle sonstigen Reden.

Denn wie jeder weiß, ist es bei den Masken ja so,

dass sie nicht denjenigen schützen, der sie trägt, sondern

dazu gedacht sind, die Menschen zu schützen, die

sich im Umfeld befinden. Also geht es nicht darum, dass

einer ein Weichei ist, wenn er eine Maske trägt (sozusagen als

Angsthase, sich anstecken zu können), sondern es geht darum,

Verantwortung für die Nächsten zu zeigen. Ein Gedanke, der

Trump völlig fremd sein dürfte. In seiner typischen Widersprüchlichkeit

sagte er nun, dass er „für Masken“ sei, die er ja

demonstrativ nicht trägt.

Mag sein, dass dies auch dem Umstand geschuldet ist, dass

sich viele seiner Wähler altersbedingt selbst im Bereich der

Risikogruppe sehen und den laxen bis lässig-verleumderischen

Umgang des Präsidenten mit der Pandemie daher als Gefahr

für sich selbst einschätzen. Nun ja, das versteht sogar Trump.

Die Corona-Pandemie ist noch dazu im republikanischen Teil

Amerikas angekommen. Nachdem das Virus im Frühjahr vor

allem in den Städten und dichtbesiedelten Küstengebieten im

Nordosten und Westen des Landes wütete, in denen ja meist

die Demokraten regieren, steigen derzeit die Fallzahlen ganz

besonders in den republikanischen Hochburgen Florida, Texas

und Arizona an. Auch in den ländlichen Gebieten von Mississippi,

South Carolina, Louisiana, Missouri, Georgia und

Arkansas steigen die Zahlen rasant, alles Staaten, die

Trump 2016 gewonnen hatte. Krankenhäuser warnen,

dem Ansturm der Patienten bald nicht mehr gewachsen

zu sein. Und überall werden Lockerungen zurückgenommen,

Bars, Fitnessclubs, Kinos und Strände wieder geschlossen – und

das ausgerechnet vor dem Feiertagswochenende rund um den

4. Juli.

Kann sein, dass es für Trump eng wird mit der Wiederwahl

im November. Kann auch sein, dass er Dollarscheine hochhält:

„In God we trust.“ Quasi: viel Kleingeld,

viel Kleingeist.


Corona-Tagebuch | 27. Juni 2020 3

Corona-Kreise

sind unrund!

Es zeigt sich, dass es eine zweischneidige Sache ist, wenn Corona in den Landkreisen

bekämpft werden soll. Denn aus Sicht der Betroffenen ist es eine grobe Benachteiligung.

Aus Sicht anderer kommt dort der Lockdown zu spät. Von Michael Zäh

Mit dem Kreis ist es eine unrunde Sache. Als der allgemeine

Lockdown nach fast acht Wochen vom Bund

und den Ländern runter gefahren wurde, schien es

eine plausible Idee, künftige Corona-Ausbrüche gezielt dort zu

bekämpfen, wo sie auftreten. Dafür wurde sogar eine Formel

gefunden: Wenn in einem Landkreis mehr als 50 Neuinfektionen

pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen gemeldet werden,

dann soll auf Kreisebene ein Lockdown verhängt werden – und

nicht gleich für ein ganzes Bundesland oder gar erneut für ganz

Deutschland.

Das fühlte sich nach Aufatmen an. So ungefähr wie nach

einem Großbrand, der unter Kontrolle gebracht wurde und wo in

der Folge die Feuerwehr nur noch ein paar Glutnester rechtzeitig

entdecken und löschen muss. Da es zuvor ja im ganzen Land eine

verheerende wirtschaftliche, soziale, kulturelle Verwüstung gab,

schien die neue Formel den Weg frei zu machen, dass fast überall

mit den Aufräumarbeiten begonnen werden kann.

Außer in den Kreisen, wo ein Corona-Glutnest aufflammt.

Aber was ist schon so ein Kreis, im Verhältnis zu ganz Deutschland?

Nun ja, das war alles nur Theorie. Bis nun in Nordrhein-Westfalen

erstmals der Ernstfall eintrat. Dort verhängte

Ministerpräsident Armin Laschet für den Kreis Gütersloh und

sein Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann für den Nachbarskreis

Warendorf den erneuten Lockdown, zunächst bis

Ende Juni.

Rund 650.000 Menschen, die in diesen beiden Kreisen leben,

werden zurück geworfen auf die Zustände, die im März, April

bis in den Mai in ganz Deutschland herrschten, quasi: nix geht

mehr. Die restlichen 79,4 Millionen Deutschen aber nicht. Und

wer das Pech hat, in diesen Kreisen ein Kino, ein Museum oder

ein Fitness-Studio zu betreiben, kann schon wieder zumachen,

wo er doch gerade mit der Aufholjagd beginnen wollte.

Ab sofort ist Deutschland so zu einer Art Pokerspiel geworden.

Dabei hat schlechte Karten, wer in einem Kreis lebt,

in dem es eine Großschlachterei gibt. Können aber wahlweise

auch andere Risiken sein. Klar ist aber, dass die Betroffenen sich

vorkommen, als würden sie nur Kreisliga spielen und nicht mehr

Teil der Bundesliga sein.

Wo in den Schockwochen des allgemeinen Lockdows in

Deutschland, Europa und der Welt immerhin die Solidarität

herrschte, dass es ja alle trifft, ist es nun so, dass nur die Pechvögel

der Nation nix dürfen, während alle anderen wieder in die

Hände spucken, also sprichwörtlich gemeint, weil hygienisch

natürlich nicht angesagt.

Hhinzu kommt, dass die Bewohner der beiden Kreise wissen,

dass der massive Ausbruch beim Fleischereibetrieb Tönnies auftrat,

wo allein 1553 Mitarbeiter mit dem Corona-Virus infiziert

sind. Das scheint zwar einerseits eine beruhigende Nachricht,

weil sich das Geschehen eingrenzen lässt. Doch nur im Kopf und

nicht in der Wirklichkeit. Denn gleichzeitig ist es das größte Infektionsgeschehen

in ganz Deutschland. Und kein Mensch kann

heute sagen, wieviele Leute sich ihrerseits von den Infizierten

angesteckt haben.

So ist es also ein Blick von zwei Seiten auf das Modell

„Landkreise“. Aus Sicht derer, die sich überall in Deutschland

aufmachen, um sich die Wunden zu lecken, darf es nicht wahr

sein, wie zögerlich Laschet und Co. den Lockdown für die betroffenen

Kreise verhängten. Denn aus diesem Blickwinkel steht

im Vordergrund, dass dann alle überall in Deutschland für ein

solches Versäumnis haften müsen.

Aus Sicht der Kreisbewohner ist es umgekehrt so, dass sie

sich gleich mehrfach benachteiligt fühlen. Da wäre zum Beispiel

der Urlaub, da die Sommerferien beginnen. Und prompt haben

mehrere Bundesländer den Urlaubern aus dem Kreis Gütersloh

die Anreise verboten. Batsch!

Laschet hat betont, dass es kein Ausreiseverbot für die Kreise

gebe. Also: Wem der Lockdown zu blöd ist, der geht dorthin, wo

Kreise noch rund sind, mit Kino und Kneipe.


Samstag, 13. Juni 2020

4

POLITIK

DEUTSCHLAND

Corona-Tagebuch

Samstag, 13

Ausgabe 287 am 4.

Samstag, 4. April 2020

Das Brennglas für

Benachteiligte

Corona-Ausbruch bei Tönnies. Armin Laschet, der Ministerpräsident von NRW will sich den

Corona-Feind zum Freund machen, um ganz plötzlich jahrelang von ihm geduldete Zustände

in der Fleischindustrie anzuprangern. Er nennt das „eine riesige Chance“. Von Michael Zäh

Armin Laschet sprach jüngst im

Düsseldorfer Landtag: „Jetzt

haben wir die riesige Chance.

Wenn die Pandemie einen positiven

Effekt hat, dann doch den, dass sie ein

Brennglas auf die Probleme unserer

Gesellschaft gerichtet hat.“

Also, da muss man erstmal drauf

kommen, im bislang größten Corona-

Ausbruch in ganz Deutschland die

„riesige Chance“ zu sehen. Weil wenn

du da nicht drauf kommst, kannst du

natürlich nicht CDU-Chef und alsbald

Bundeskanzler auch nicht werden.

So hat der NRW-Ministerpräsident

Armin Laschet also seine Logik vorgeführt,

die ihn später zu noch höheren

Aufgaben weihen soll. Da kommt

nämlich kein Merz und kein Söder

mehr mit, wie der Laschet um die Ecke

denken kann.

Denn seine Logik geht ja so: „Ich

mache mir meinen Feind zum

Freund.“ Im konkreten Fall ist

der Corona-Ausbruch im

Kreis Gütersloh, speziell

rund um die Tönnies-

Fleischfabriken

zuerst der Feind, der aber dann zum

Freund wird. Weil Brennglas auf die

lange Jahre bekannten Arbeitsverhältnisse

in den Tönnies-Betrieben.

Nun endlich hat man die „riesige

Chance“, dank Corona, das zu ändern,

was man über Jahrzehnte nicht ändern

mochte. Ist doch klar!

Ja, man konnte machen nix, bis

jetzt Corona zu Hilfe eilte und mehr als

1500 Neuinfektionen binnen weniger

Tage, wie soll man sagen: beisteuerte?

Und zwar fast alle zunächst einmal bei

Tönnies, brennglastechnisch natürlich

voll brillant, danke mein Freund!

Ach übrigens, als die ersten Fälle

von Infektionen bei Tönnies bekannt

wurden, hat Armin Laschet noch

andere Töne angeschlagen. Reporter

fragten quasi auflauernd im Gang

vor dem Kanzleramt nach, was denn

der bedrohliche Corona-Ausbruch bei

Tönnies über die bisherigen Lockerungen

in Nordrhein-Westfalen aussagt.

Schnelle Antwort Laschet: „Das sagt

darüber überhaupt nichts aus, weil

Rumänen und Bulgaren da eingereist

sind, und da der Virus herkommt.“

Weil das passte damals, vor ein

paar Tagen erst, einfach nicht in den

Plan, den Laschet in seiner Eigenschaft

als oberster Lockerer der Nation hatte.

Er war übrigens nicht vor dem Kanzleramt,

weil er jetzt schon mal schauen

wollte, wie es da so aussieht, sondern


Samstag, 13. Juni 2020

| 27. Juni 2020

. Juni 2020

DEUTSCHLAND POLITIK 5

April 2020

Samstag, 4. April 2020

kam aus einem Gespräch mit seinen

Ministerpräsidenten-Kollegen, und

er hatte es eilig. Doch gerade deshalb

lässt seine Reflex-Antwort, in aller

Eile, quasi im Vorübergehen tief blicken.

Da hatte der Mann noch keine

Zeit gehabt, darüber nachzudenken,

wie er seinen liebsten Feind Corona

zum Freund machen könnte. Der war

ihm als Virus einfach nur lästig. Deshalb

Auslands-Import, der mit dem

Geschehen in seinem Land gar nichts

zu tun hat. Oder vielmehr: Mit seinen

Lockerungs-Ideen sollte das alles

nichts zu tun haben. Aber klar, das

Video seiner Bulgaren/Rumänen-Aussage

ging schnell selbst viral. Denn

darin lag eine Extraportion Wurstigkeit.

Ausgerechnet.

Armin Laschet hat sich dafür

dann schon auch entschuldigt. Und

eine Woche später, als er den erneuten

Lockdown für die Kreise Gütersloh

und Warendorf verkündet hat, war

dann aus den Auslands-Einschleppern

das geworden, was sie ja in

Wirklichkeit sind: Die Opfer in einer

Wegschau-Politik.

Und diese lag in den letzten

Jahren hauptsächlich in der

Verantwortung der Union, im

Bund wie im Land NRW. Nun

ja, wenn einer wie Laschet

in seiner gütlichen Art bald

Kanzler werden will, kann

er natürlich nicht nur den

Feind zum Freund machen

(Corona hilf!), sondern muss

auch Feinde benennen können,

die er schlagen will. Also

sagte er im Landtag, dass ja erst

nach den Arbeitsmarktreformen

der rot-grünen Schröder-Regierung

das System der Ausbeutung

osteuropäischer Arbeitsmigranten so

richtig Fahrt aufnahm. Also ehrlich,

wer heute in die Falten von Schröder

oder Fischer schaut, der kann

erahnen, wieviel Wasser seither

auch in Düsseldorf den Rhein

runter floss. Und in all der Zeit

haben Leute wie Laschet (und

alle anderen Politiker, etwa im

Kreis Gütersloh) dem riesigen

Konzern von Tönnies nur das

Beste gewünscht. Schon wegen

der Gewerbesteuer und so.

Aber okay, jetzt ist dank Corona

ja die „riesige Chance“ da, endlich in

Europas größter Fleischfabrik mal die

Struktur der unendlich verschachtelten

Sub-Sub-Sub-Unternehmer und

die daraus resultierenden Zustände

offensichtlicher Ausbeutung anzuprangern.

Denn mehr ist es ja nicht. Wenn

heute Tönnies zum „Feind“ gemacht

wird, ist er ja morgen wieder der

Freund. Alles andere sind nur maue

Worte, um die aufgebrachten Bürger

der Kreise aus Gütersloh und Warendorf

ein bisschen zu beruhigen,

die sich in Geiselhaft sehen und nun

stundenlang vor den Testzentren anstehen,

um dann mit einem negativen

Corona-Test noch in Urlaub fahren zu

können.

Dazu gehört übrigens auch der

fast schon lächerliche Versuch von

Laschet, vor einer „Stigmatisierung“

der Bürger aus Gütersloh zu warnen.

Was soll so ein Quatsch denn bringen?

Wird sich ein Markus Söder in

Bayern die warmen Worte seines Lieblingsgegners

Laschet so dermaßen zu

Herzen nehmen, dass die Gütersloher

ungeprüft in Bayern ihren Urlaub

verbringen dürfen?

Wohl nicht. Dafür hat Söder knapp

verkündet, dass man in Bayern nicht

so sehr der Lockerungs-Strategie aus

NRW huldigt. „Wir in Bayern bleiben

vorsichtig“, lautete ein Söder-Tweet

in diesen Tagen. Das ist ihm natürlich

ein Hochgenuss, weil Corona auch

Söder ein guter Freund wurde, indem

es nach den Laschet-Lockerungen nun

in NRW erneut wütet. Ätschbätsch!

Mal von Profilierungsversuchen

im Vorfeld der Kanzlerkandidatssuche

der Union abgesehen, hat Laschet

sogar recht damit, dass durch Corona

viele Probleme unserer Gesellschaft(en)

grell ausgeleuchtet werden.

Das reicht weit über

deutsche Politik hinaus

und lässt sich schon gar nicht in

einem innerparteilichen Wettkampf

der Union zum Freund machen.

Wenn es am Anfang der Pandemie

noch das (damals schon idealisierte)

Bild gab, dass alle Menschen vor

dem Corona-Virus gleich seien, egal

ob reich oder arm, ob Macher oder

Looser, dann zeigen etliche neuere

Studien und fast alle Zahlen, dass es

eben nicht so ist. Das reicht von den

katastrophalen Zuständen in den USA

oder auch Brasilien, über Südafrika

bis nach Europa. Immer sind es die

sowieso soziel erheblich Benachteiligten,

die besonders unter Corona leiden

müssen. Unter ihnen finden sich auch

die meisten Todesopfer.

Corona als „riesige Chance“? Wer

es glaubt, soll seelig sein mit Laschet

und Co. Wahr ist wohl eher, dass

das „Brennglas“ die Benachteiligten

verbrennt.

IMPRESSUM

Herausgeber:

Michael Zäh und Christopher Kunz

Verlag: Zeitung am Samstag Verlags

GmbH, Benzstraße 22, 79232 March.

Tel. 07665/93458-0, Fax -286,

e-mail: info@zas-freiburg.de

Geschäftsführer:

Christopher Kunz, Rüdiger van der Vliet

Chefredakteur: Michael Zäh (visdp),

Tel.: 0170 / 739 17 87,

m.zaeh@zas-freiburg.de

Grafik, Layout & Herstellung:

Viktor Lukanow,

@vidocesc;

Anzeigen und Verkauf:

Michael Metzger (Verkaufsleitung),

Tel. 07641 / 967 50 20,

anzeigen@zas-freiburg.de


6

Corona-Tagebuch | 20. Juni 2020

Jetzt gehts

aber mal App

An der deutschen Corona-App wird selbst von kritischen Geistern wie dem „Chaos

Computer Club“ wenig rumgemeckert. Die Probleme könnten mehr im gefühlten Bereich

liegen, etwa beim mühsamen Weg, eine Infektion zu melden. Von Michael Zäh

Die deutsche Corona-App ist nun also da. Sie gilt bereits

jetzt als Vorzeige-Dings für deutsche Technik in Verbindung

mit vorbildlichem Datenschutz. Na ja, dass

der amerikansiche Konzern Apple zunächst einmal Druck auf

Gesundheitsminister Spahn und Co. ausüben musste, damit die

App nicht über einen zentralen Server, sondern dezentral und

anonym nur auf den Handys selbst relevante Daten speichert,

entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ausgerechnet der Gigant

des Datenabgreifens hat so verhindert, dass Daten an deutsche

Behörden gehen. Aber geschenkt!

Die Corona-App wird auch von kritischen Geistern wie

dem „Chaos Computer Club“ wenig bemeckert. Heißt also:

Diese App kann man sich runterladen, ohne größere Sorgen

haben zu müssen, dass man damit überwacht würde. Und

das ist ja tatsächlich des Lobes wert. Denn diese Corona-App

kann erheblich dazu beitragen, dass das Virus mehr und mehr

eingedämmt werden könnte. Es ist ein kleiner Schritt für einen

Nutzer, die App zu aktivieren, kann aber für die Gesellschaft

insgesamt einen großen Nutzen bringen.

Die eher kuriosen „Probleme“ der App könnten mehr im gefühlten

als im technischen Bereich liegen. Da wäre gleich zum

Zeitpunkt des Starts das Präventionsparadox, das im Falle der

Corona-App darin liegt, dass es derzeit in Deutschland ja nur

geringe Infektionszahlen gibt und somit die Wahrscheinlichkeit

sehr gering ist, dass die herunter geladene App sich demnächst

bei ihren Nutzern mit einem Klingeling Warnhinweis meldet.

Dies könnte psychologisch dafür sorgen, dass die App-Nutzer

sich gar keine Sorgen mehr machen. Womöglich finden die

Leute die App dann sogar überflüssig, weil was nie piept, nun

ja, danach kräht auch kein Hahn.

Aber okay, da sollte man die Nutzer aller möglichen Apps

jetzt auch nicht unterschätzen. Wer hat nicht viele stumme Apps

auf seinem Handy, von Yoga bis Sonstwas, die man dann doch

nie benutzt. Und für die Corona-App gilt ja immerhin: Wenn

die sich nicht meldet ist das selbst schon die gute Nachricht!

Aber klar, man muss hier die Voraussicht der Leute annehmen,

dass diese App erst dann wertvolle Dienste erbringen

kann, wenn es mit Corona wieder ernst wird, zweite Welle und

so, und man dann bei aller Angst und Sorge durch die App dazu

beitragen kann, dass es nicht wieder zum absoluten Lockdown

kommen muss. Das müsste machbar sein, da die Corona-App

keine ist, die man wieder löscht, weil sie derzeit nicht ständig

Alarm schlägt.

Ein anderes „gefühltes“ Problem könnte da schon eher

gewünschte Effekte der App torpedieren. Man kann das Ding

nämlich von zwei Seiten betrachten, fast schon ein bisschen

Janus und so. Denn der zweigesichtige Gott Janus (aus der

römischen Mythologie) gilt als Herrscher von Tür und Tor.

Und bei der Corona-App ist es ja so, dass man aus Sicht des

Jedermanns und Jederfrau (der/die nicht infiziert ist) nur den

Vorteil, sieht, dass man informiert würde, wenn man in der

Nähe eines Infizierten war.

Aus Sicht dessen allerdings, der schon positiv auf das

Corona-Virus getestet wurde, sieht die Sache etwas anders

aus. Er kann zwar zum Nutzen seiner Mitmenschen als Infizierter

selbst in der App eintragen, dass es eben so ist und

damit verschlüsselt alle Handys und deren Besitzer warnen,

die zuletzt in seiner Nähe waren. Um einen Missbrauch zu

verhindern (also Leute, die hypochondrisch gepolt sind), muss

dieser Status aber offiziell bestätigt werden. Das geschieht

zum einen über einen QR-Code, den man vom Testlabor

erhält. Da jedoch nicht alle Labors in der Lage sind, QR-

Codes zu generieren, muss der Betroffene eine TAN - also

eine Transaktionsnummer - eingeben, die man von einer

Telefon-Hotline bekommt. Dort wird man aber erstmal

„psychologisch geschult“ ausgefragt, quasi Lügendetektor.

Macht das jemand? Eine Hotline anrufen, sich ausfragen

lassen, nur um dann per App Mitmenschen zu warnen?

Da könnte es menscheln, weil mühsam. Die App ist nur so

gut wie sie genutzt wird.


Corona-Tagebuch | 20. Juni 2020 7

Den Schlüssel

behalten

Die Bundesrepublik Deutschland steigt mit 23 Prozent für 300 Millionen Euro beim

Impfstoff-Entwickler Curevac ein. Das ist ein Signal von Stärke und Entschlossenheit.

Von Michael Zäh

Mensch, es gibt Zufälle, das glaubst du gar nicht. Da

steigt also an einem Tag die Bundesrepublik Deutschland

beim Tübinger Impfstoffentwickler Curevac ein,

lässig mit 300 Millionen Euro für 23 Prozent der Firmenanteile,

und dann am nächsten Tag wird bekannt, dass deren Antrag

auf eine klinische Studie ihres Covid-19-Impfstoffs vom

Paul-Ehrlich-Institut genehmigt wurde. Klaus Cichutek, Chef

des Paul-Ehrlich-Instituts, des deutschen Bundesinstituts für

Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel: „Es wurde sehr

schnell entschieden.“

Quasi: Nach dem Einstieg des Bundes hat der Bund gleich

mal grünes Licht für sein eigenes Investment gegeben. Und

ab geht die tolle Fahrt. Böse Zungen behaupten, dass es einen

Wettlauf gäbe, nicht nur gegen die Zeit wegen des bösen Corona

und dessen zweiter Welle, sondern auch weltweit zwischen

hunderten von Firmen, die an einem Impfstoff gegen Corona

forschen. Und jeder weiß: Wer dieses Rennen gewinnt, wird so

richtig reich.

Der Bundesregierung nun aber zu unterstellen, dass

sie mit ihrer Beteiligung an Curevac auf Reichtum aus

ist, wäre zu kurz gegriffen. Es ist mehr als das. Es ist

eine strategische Beteiligung mit Botschaft: „Germany

is not for sale“, hatte Wirtschaftsminister Peter Altmaier

ja gleich gesagt, nachdem im März bekannt wurde,

dass Donald Trump sich und seinem Amerika die

Firma Curevac sichern wollte, praktisch per

Übernahme. Das hatten die Tübinger aber

abgelehnt, wohl nach ein paar Gesprächen

des Mehrheitseigners Dietmar Hopp mit

Merkel, Altmaier und Co.

Der Einstieg des Bundes beim Impfstoffentwickler

ist schon außergewöhnlich.

Denn es handelt sich bei Curevac ja

um ein finanziell flottes Unternehmen,

das keineswegs in Nöten steckt. Es

ist ja die eine Sache, wenn der Bund

vorrübergehend bei in Schieflage geratenen

Firmen wie etwa zuletzt bei

der Lufthansa einspringt, um diese

zu stützen und vor Übernahmen zu

schützen. Eine ganz andere Sache

aber ist es, den weiteren Ausbau

eines florierenden Unternehmens

wie jetzt Curevac mit zu finanzieren.

Die Kernbotschaft lautet denn

auch: Man arbeite „an der industriellen

Souveränität Deutschlands“, wie Wirtschaftsminister Altmaier

sagt. Es gehe darum, „Erfolg versprechende Schlüsseltechnologien

am Standort Deutschland zu erhalten und zu stärken“, so

Altmaier weiter.

Diese Beteiligung ist also ein Signal. Und dieses Signal hat

mit den Lehren in Corona-Zeiten zu tun. Es soll nicht mehr alles

dem freien Spiel der weltweiten Märkte überlassen werden. Es

sollen Technologien und die Produktion wichtiger Güter in

Deutschland gehalten werden. Da die Bundesregierung dafür ja

das Geld der Steuerzahler einsetzt, kann ein solches Vorgehen

bei den Bürgern hierzulande das Gefühl von Stolz, Zustimmung

und Patriotismus auslösen. Frei nach dem Motto: Trump mal die

Grenzen aufgezeigt, die er selbst ja immer zieht. Und China den

Weg versperrt, sich durch die Hintertür ein deutsches Topunternehmen

zu schnappen.

Bei der Entscheidung, sich an Curevac zu beteiligen dürfte

auch die Person des Mehrheitseigners Dietmar Hopp eine Rolle

gespielt haben. Schließlich zähle der von Hopp mit gegründete

Softwarekonzern SAP zu den wertvollsten Unternehmen

Deutschlands, führte Peter Altmaier aus. Sprich: Dem

Unternehmer Hopp kann man durchaus vertrauen.

Der hat schon etwas vorzuweisen. So sieht das der

Wirtschaftsminister. So sehen das wohl alle, die nicht

Verschwörungstheorien nachhängen, die Hopp in

Verbindung zu Bill Gates bringen, der mit seiner

Stiftung ebenfalls an Curevac beteiligt ist.

Curevac darf seinen Impfstoffkandidaten

jetzt also an Menschen testen,

nachdem sich seine hohe Wirksamkeit in

Tierversuchen zeigen ließ. Erste Ergebnisse

werden im Herbst erwartet. Doch

bereits jetzt läuft bei Curevac die Produktion

einiger Millionen Impfdosen

an, heißt es aus dem Unternehmen. Es

seien Anlagen im Bau, nun mitfinanziert

vom Bund, die sogar Milliarden

Impfdosen liefern könnten. Heißt auch:

Curevac hat offensichtlich gar keinen

Zweifel an der Zulassung seines Impfstoffes.

Und Gesundheitsminister Jens Spahn führte

aus, dass die deutsche Beteiligung an Curevac

auch bedeute, sich heute schon auf künftige

Pandemien vorzubereiten.

Und ja, sieh an: Corona, auf das man ja überhaupt

nicht vorbereitet war, hat hier zu einem

Umdenken geführt. Das wenigstens ist gut.


Samstag, 20. Juni 2020

8

GESELLSCHAFT

DEUTSCHLAND

Corona-Tagebuch

Samstag, 20

Ausgabe 290 am 20

Samstag, 20. Juni 2020

Mit dem Wumms

aus der Krise

Konjunkturpaket. Mit 130 Milliarden Euro, die in Deutschland quasi wie ein warmer

Geldregen vom Regierungshimmel fallen sollen, wollen Merkel, Scholz, Söder und Co. „ein

Stück weit Optimismus“ vermitteln. Kretschmann übte Kritik. Von Michael Zäh

Es regnet Geld. Die Regenmacher

der GroKo haben jedenfalls

nicht das kleine Gießkännchen,

sondern mindestens den Sprenkler

heraus geholt. Manch einer hat verbal

sogar den Gartenschlauch dabei: „Mit

Wumms aus der Krise“, sagte Finanzminister

Olaf Scholz (SPD) zu dem

verabschiedeten Paket. Ja, man kann

sich den Mann als einen vorstellen,

der volle Pulle das Wasser aus dem

Gartenschlauch (war zuvor ja schon

die Bazooka) auf die allzu trockene

Vegetation richtet. Wenn

das so weiter geht,

werden uns Scholz,

Merkel und gar die

GroKo ja noch richtig

sympathisch.

Weitere 130

Milliarden Euro

will also die Große

Koalition als „Konjunkturpaket“

über Land und Leute

regnen lassen. Es ist zweifellos

ein geradezu historischer Geldregen.

Kein Mensch weiß, ob das reicht, um

die tiefen Risse in der Wirtschaft

zu schließen, die durch Corona,

den Lockdown, sowie durch den

Zusammenbruch international

eng verwebter Produktionsund

Lieferstrukturen erzeugt

wurden. Aber es ist ein Signal

wie es eindeutiger nicht sein

könnte. Deutschland zeigt seine

Muskeln.

Nach einem 21-stündigen Verhandlungsmarathon

hat sich dabei

nicht die eine oder andere Partei mehr

durchgesetzt, sondern eher eine neue

strategische Vernunft. Es ist kaum

ein fauler Kompromiss

dabei. Viele vereinbarte Maßnahmen

überraschen durch Ausgewogenheit.

Man könnte sagen: GroKo überzeugt

und handelt. Und dann auch noch in

diesem Tempo! Wer hätte das vor der

Corona-Krise gedacht?

Im Vorfeld gab es ja besonders

symbolträchtige Punkte. Da war die

SPD-Idee, eine Vermögensabgabe

für Reiche zu fordern.

Bei der Union wurde die

Autokaufprämie hoch

gehandelt. Von

beiden Vorschlägen

war am Ende keine

Rede mehr. Vielmehr besteht

die Schnittmenge des Kompromisses

aus 57 Einzelpunkten,

die womöglich

die drohende Rezession

tatsächlich ein bisschen abfedern

könnte. Aber klar, der Wumms

muss von der Wirtschaft und von

den Konsumenten kommen. Der

130-Milliarden-Euro Reigen

soll nur ein Anreiz dafür

sein. Es gehe um Psycholgie in

den Zeiten der größten Krise der

deutschen Nachkriegsgeschichte.

Das sagen zumindest Merkel, Scholz,

Söder und Co. Es gehe halt um eine

positive Stimmung – quasi Pfeifen

im tiefsten Tal, aber mit Vehemenz.

Und tatsächlich werden

teure Maßnahmen des

Pakets nur greifen, wenn

die „Stimmung“ dazu führt,

dass konsumiert wird. Dafür

kann man zwei Beispiele nennen:

Wenn etwa erstens 300 Euro

pro Kind in Deutschland ausgezahlt

werden sollen, dann soll das dazu

führen, dass die Eltern für ihre Kinder

auch etwas davon einkaufen. Tun sie

das aber nicht, sondern legen

das Geld in kriselnden Zeiten

einfach auf die hohe

Kante, dann verfehlt dieser

Anreiz sein Ziel. Wenn

zweitens der Mehrwertsteuersatz

von Juli bis zum Jahresende von

19 auf 16 Prozent reduziert wird,

dann bringt das konjunkturell

nur dann etwas, wenn

die Waren in dieser Zeit für

die Konsumenten auch entsprechend

günstiger werden. Denn

nur dann führt der Verzicht des

Staates zu einem Kaufanreiz

und damit zur Belebung des

Binnenmarktes. Wenn aber

die Händler durch Anhebung

der Preise diesen Vorteil

wieder zunichte machen,

dann verpufft die Aktion,

die den Staat aber dennoch Milliarden

kostet. Es ist also alles

eine Frage der Stimmung. Die

Optimisten nutzen die Gelegenheit,

kurbeln mit ihrem Konsum wie

gewünscht die Wirtschaft im Binnenmarkt

an und machen das eine oder

andere Schnäppchen.

Aber die Pessimisten

(die nämlich mit der zweiten

Corona-Welle rechnen)

lassen den Geldregen in den

Tiefen ihrer Taschen versacken. Union

und SPD setzen darauf, dass die

Bürger mehr Geld ausgeben und dass

die Unternehmen investieren. Dazu

soll extrem viel staatliches Geld

fließen, das so die Binnenkonjunktur

ankurbeln soll. Und

von den größten Posten im

neuen Konjunkturpaket, –

die Mehrwertsteuersenkung,

der Kinderbonus und

die Strompreisdeckelung –

profitieren auch sozial

Schwache.

Das ist tatsächlich

ein echter Gegenentwurf

zu früheren

Konjunkturprogrammen.

Als die

schwarz-gelbe Bundesregierung

2010 auf die Folgen der Finanzkrise

reagierte, sollten 80 Milliarden

Euro eingespart werden - vor

allem im sozialpolitischen Bereich.

Demgegenüber stand eine

staatliche Prämie in Höhe von

2500 Euro für all jene, die sich einen

Neuwagen leisten konnten. Nun ist

es andersherum: Die Autoprämie ist

vom Tisch und Finanzminister Scholz

hat schon früh gesagt, dass man nicht

gegen diese Krise ansparen wolle.

Statt 80 Milliarden Einsparungen

wie 2010 gibt der Staat 2020 nun glatt


Samstag, 20. Juni 2020

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. Juni 2020

DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 9

. Juni 2020

Samstag, 20. Juni 2020

130 Milliarden Euro als Hilfe zur Ankurbelung

aus.

Lange hieß es in Deutschland,

dass Schulden vermieden werden

müssten, um den nachfolgenden

Generationen keine „Altlasten“ zu

hinterlassen. Dieses Paradigma hat

sich verändert: In Zeiten historisch

niedriger Zinsen müsse stattdessen

investiert werden, um nachfolgenden

Generationen ein Land zu hinterlassen,

das gut ausgestattet und intakt

ist. Das Konjunkturpaket beweist den

neuen Ansatz. Quasi: Chance nutzen

statt zögern und zaudern. Kredite

von 218 Milliarden Euro will nun die

Regierung aufnehmen, um insgesamt

509 Milliarden Euro im Jahr 2020

ausgeben zu können.

Und dies ist ganz besonders bemerkenswert,

weil das Regierungshandeln

eines ist, das von Merkel

über Söder bis zu Scholz reicht. Da

hat zwar jeder seinen speziellen

Spaß an den einzelnen Aspekten.

Söder etwa findet die Mehrwertsteuersenkung

sei das „Herzstück“

des Konjunkturpakets. „Wir waren

nicht ängstlich, sondern mutig, aber

auch nicht übermütig“, sagte

er. Scholz ist sowieso der mit

dem Wumms, aber auch stolz

darauf, dass die SPD die 300

Euro pro Kind durchgesetzt

hat.

Jenseits allen Selbstlobes

gab es auch andere Ansichten, wie

etwa die des Grünen Winfried

Kretschmann, Ministerpräsident

von Baden-Württemberg. Er hatte

sich für eine Autokaufprämie stark

gemacht, im Ländle von Mercedes

und so. Und Kretschmann blieb auch

später dabei: Eine solche Prämie hätte

nur die modernsten Verbrenner bezuschusst,

während die stattdessen beschlossene

Mehrwertsteuersenkung

nun alle Autokäufe unterstützt. Und

außerdem müsse man ja die Autoindustrie

erstmal erhalten, um sie dann

zu mehr Klimafreundlichkeit transformieren

zu können. Tja, der Mann

ist der Pragmatiker in grün.


Samstag, 13. Juni 2020

10

WELT

GESELLSCHAFT

Corona-Tagebuch

Samstag, 13

Ausgabe 287 am 4.

Der reale Moment

tödlicher Gewalt

Samstag, 4. April 2020

Polizeigewalt. Das Video der 17 Jahre alten Darnella Frazier zeigt den Tod von George Floyd

durch einen brutalen weißen Polizisten. Diese Bilder sind keine Inszenierung, sondern bilden

die grausame Wirklichkeit ab. Danach allerdings beginnen Inszenierungen. Von Michael Zäh

Den Namen George Floyd kennen

inzwischen weltweit Millionen

Menschen. Seine Name wird in

den Mund genommen, auf unzähligen

Demonstrationen in den USA, aber auch

überall in Europa, wie etwa zuletzt in

Freiburg. Es gibt eine Frage zu stellen,

die schmerzhaft ist: Warum kommt es

bei der Ermordung von George Floyd

zu diesem Aufschrei, während viele

vergleichbare, nicht minder bestialische

Verbrechen in den USA, aber auch in

Europa, etwa der Schweiz, Frankreich

und Deutschland kaum zu Protesten

führten? Erst in der Folge des Todes von

George Floyd werden auch die Namen

anderer Menschen genannt, die unter

ähnlichen Umständen zu Tode kamen.

Durch Polizeigewalt. Es sind sehr viele

Namen und es sind oft ebenso grausame

Umstände ihres Todes.

Was den Unterschied ausmacht, ist

ein Video, das die 17 Jahre alte Darnella

Frazier in Minneapolis aufnahm. Die

junge Frau sieht den Vorfall, zückt ihr

Handy und hält alles fest. Diese Aufnahme

wackelt kaum und ganz nah

traut sich Frazier an das Geschehen. Ein

paar Stunden später lädt sie das Video

auf Facebook hoch. Seitdem sieht die

ganze Welt, was geschah, besser: was

getan wurde. Ein weißer Polizist drückt

fast neun Minuten lang sein Knie in

den Hals des bereits gefesselten George

Floyd, der immer wieder sagt, dass er

nicht atmen kann und schließlich nach

seiner Mutter ruft.

Das Video zeigt also einen Mord

(über den im juritischen Sinne erst noch

geurteilt werden wird), aber vor allem

zeigt es einen Menschen, der grausam

stirbt. Es ist klar, dass dieses Video

als Beweisstück für eine schreckliche

Tat verwendet werden muss. Doch die

Frage lautet, ob es für die Öffentlichkeit

immer und immer wieder zur Verfügung

stehen muss.

Ja, diese Frage ist keine leichte.

Denn einerseits wird hier eine Tat

dokumentiert, die sonst womöglich

geleugnet worden wäre. Wie es in vielen

anderen Fällen war. Doch das Video

zeigt auch einen Menschen, der stirbt,

in seinen letzten Lebensmomenten,

und George Floyd hat nicht mehr die

Möglichkeit, selbst zu bestimmen, was

über seinen Tod in der Welt zu sehen ist.

Das Video ist keine Inszenierung,

sondern im Gegenteil liefert es Bilder,

die grausamer nicht sein könnten, weil

es einen realen Moment zeigt. Dieser

reale Moment der tödlichen Gewalt,

der Tod von George Floyd, hat dennoch

eine hohe Symbolkraft, weil ein

weißer Polizist scheinbar völlig unbeeindruckt,

mit den Händen in seiner

Hosentasche, sein Knie in das Genick

des Schwarzen George Floyd drückt,

bis dieser erstickt. Diese Mischung

aus realem Grauen und symbolhafter


Samstag, 13. Juni 2020

| 13. Juni 2020

. Juni 2020

GESELLSCHAFT WELT 11

April 2020

Samstag, 4. April 2020

Gewalt hat Amerika in Flammen

gesetzt. Und die Welle der Proteste

schwappte auf Europa über.

Und irgendwann hier beginnen

auch die Inszenierungen. Und diese

sind schlimm. Etwa wenn Gianna, die

sechs Jahre alte Tochter von George

Floyd auf seiner Beerdigung erklärt,dass

ihr Vater die Welt verändert habe. Das

Mitgefühl für das Verzweifelte in der

Äußerung des kleinen Mädchen könnte

nicht größer sein. Und gleichzeitig darf

man sich fragen, ob das sein musste.

„Ich denke, was hier passiert ist,

ist einer dieser großen Wendepunkte

in der amerikanischen Geschichte,

was bürgerliche Freiheiten, Bürgerrechte

und die gerechte Behandlung

von Menschen mit Würde betrifft“,

sagte Joe Biden nach der Begegnung

mit der Familie Floyds. „Er hörte zu,

hörte ihren Schmerz und teilte ihr

Leid“, sagte der Anwalt der Familie.

Präsident Donald Trump dagegen,

der vor einer Woche mit der Familie

telefonierte, habe in dem „knappen“

Gespräch überwiegend selbst geredet.“

Im Kampf um die Präsidentschaft

hat sich der Demokrat Biden also am

anderen Ende der Skala der Emotionen

eingefunden. So wird aus dem Tod

von George Floyd auch Wahlkampf.

Wenn sich US-Präsident Donald Trump

früh in die Pose von „Law and Order“

warf, dann natürlich wie immer weil er

glaubt, dass ihm das bei seiner Wiederwahl

im November hilft. Wenn er den

Demonstranten in einem entflammten

Amerika droht, dass er das Militär gegen

sie einsetzen werde, um das Problem

„sehr schnell zu lösen“, dann ist es ja

so, dass Trump sich in die Pose dessen

wirft, der als weißer Polizist auf offener

Straße einen Schwarzen ermordet hat.

Denn das ist ja das Problem, dass der

Mörder ein Polizist ist, der ebenfalls

im Namen von „Law and Order“ zu

handeln vorgab. Und dass dies alles vor

laufenden Handy-Kameras geschah,

zeigt wiederum, dass der Mörder sich als

ein Mann von „Law and Order“ sicher

glaubte. Selbst ein Mord auf offener

Straße, in aller Öffentlichkeit schien ihm

kein Problem zu sein.

Unter Recht und Ordnung dürfen

weiße Amerikaner durchaus Schutz

und Sicherheit verstehen, während aber

schwarze Amerikaner es so verstehen

müssen, dass sie die Bedrohung sind,

vor der man die Weißen schützen will.

Das spiegelt sich auch im Verhalten

von Donald Trump wieder. „Während

ich hier spreche, habe ich Tausende

und Abertausende von schwerbewaffneten

Soldaten und Polizisten in Gang

gesetzt“, so Trump in seiner Law-and-

Order-Rede am 2. Juni. Und was das

heißen sollte, wurde kurz darauf klar,

als die Polizei und die Nationalgarde

hunderte friedliche Demonstranten mit

Schlagstöcken, Gummigeschossen und

Tränengas gegenüber dem Weißen Haus

vertrieben – und zwar nur, weil Trump

sich zu Fuß in Szene setzen wollte, um

zur historischen St.Johns Church rüber

zu gehen und dort eine Bibel neben sich

hochzuhalten, für die Kameras. Trump

kniet nicht, sondern spielt Gott.

Es ist sogar wohl so, dass Trump ja

überhaupt zum US-Präsidenten gewählt

wurde, weil es solche Strömungen

schon damals gab. Insofern ist auch

kein Wunder, dass alles, was jetzt auf

die Spitze getrieben wird, schon lange

in Amerika schlummert und Trump nur

ein Ausdruck dessen ist. Er ist eben nur

ein rechter Spalter, der gewählt wurde,

um ein gespaltenes Land zu veranschaulichen.

In der Folge der Unruhen, die nach

dem gefilmten Tod von George Floyd

in mindestens 140 Städten der USA um

sich griffen, hat sich inzwischen die Art

des Protestes gewandelt. Die Randale

findet kaum mehr statt. Es geht jetzt

um einen breiten Wunsch nach Wandel

innerhalb der Gesellschaft. Nicht nur

die Demonstranten, sondern auch viele

Polizisten gehen auf die Knie, um zu

zeigen, dass es gemeinsame Werte gibt.

Das ist immerhin nicht nichts. Und es ist

mehr als es Trump geheuer sein dürfte,

der ja, wie Floyds Familie sagte, „überwiegend

selbst geredet habe.“ Von sich!

Illustrationen: Viktor Lukanow


12 Corona-Tagebuch | 30. Mai 2020

Warten

auf Corona

Während die Zahlen der Covid 19-Infektionen regelrecht dahin schmelzen und

Bund und Länder prompt auch etliche Verbote aufgehoben haben, lauert die eine

Frage: Kann das gut gehen? Das Virus scheint versteckt zu lauern. Von Michael Zäh

Es kommt und geht. Es hat selbst keine Seele und keinen Sinn.

Man hat es „Covid 19“ und „Corona“ getauft, egal warum,

aber es erinnert an Godot.

„Komm, wir gehen.“

„Wir können nicht.“

„Warum nicht?“

„Wir warten auf Godot.“

„Ach ja.“

So ist das in dem berühmten Stück von Samuel Beckett von1949

und so ist es derzeit mit Corona. Denn während die Zahlen wie von

Zauberhand dahin schmelzen und nun auch überall das Leben wieder

erlaubt sein soll, lässt Corona die Botschaft überbringen, dass es bald

wieder da sein werde.

Ein Junge taucht in „Warten auf Godot“ mit einer Nachricht auf:

Herr Godot werde heute nicht mehr kommen, ganz bestimmt aber am

nächsten Tag. Und an diesem heißt die Botschaft dann genau gleich.

Man ahnt: es geht immer so weiter, also bei Beckett in seinem Stück,

der als Autor des absurden Theaters berühmt wurde.

Und wie verhält es sich bei Covid 19? Anfangs wurden Zahlen

vorgelegt, die besagten, dass sich 70 Prozent der Deutschen früher

oder später damit infizieren würden. Weil dies rund 58 Millionen

Menschen sind, wovon dann ein Sechstel, also neun Millionen Menschen

einen schweren Verlauf hätten bekommen können, wurde der

Lockdown ausgerufen. So weit, so klar.

Nach knapp zwei Monaten im runtergefahrenen Modus sind die

Zahlen erfreulicherweise andere. Es erweckt derzeit den Eindruck,

dass sich die Gefahr verflüchtige. Plötzlich liegen die Zahlen in einem

Bereich, der fast schon an einem abwesenden Herrn Godot erinnert.

Da werden dann etwa für Freiburg gerade noch 4,3 Neuinfektionen

pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen (Stand 24. Mai), oder für den

Landkreis Emmendingen 1,2 pro 100.000 oder Landkreis Lörrach

0,4 pro 100.000 Einwohner gemeldet. Rund 161.000 Menschen in

Deutschland galten am 26. Mai als geheilt und es galten nur noch

9.275 Personen an diesem Tag als aktuell infiziert – bei über 80

Millionen Einwohnern im Land.

Und hier könnte es heißen: „Komm, wir gehen.“ Zurück ins

wahre Leben, vor allem auch im Kampf um die wirtschaftlichen

Existenzen in allen Bereichen. Es wurden ja prompt auch von Bund

und Ländern etliche Verbote wieder aufgehoben, logisch, da Verbote

ja kein Selbstzweck sind.

Aber jetzt, was kommt? Die meisten Betriebe aus verschiedenen

Bereichen haben unter Auflagen wieder geöffnet. Und Thüringens

Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) will es bald jedem Bürger

selbst überlassen, ob er Mundschutz trägt oder Abstand hält. Er nennt

das eine „verantwortungsbewusste Solidarität“. Das hat viel Kritik

ausgelöst, weil: „Wir können nicht.“ „Warum nicht?“ „Wir warten

auf Godot.“

Und ja, es ist schon so, dass die Dinge des Lebens, die vor Corona

selbstverständlich waren, nun eher suspekt wirken. Bei Sonnenschein

sind nach den „Lockerungen“ an all den zuvor verwaisten

Stellen plötzlich wieder viele Menschen, in den Cafés, auf Kinderspielplätzen,

im Park, und überall schwingt die bange Frage mit:

Kann das gut gehen? Der Bote sagt: Herr Godot werde heute nicht

mehr kommen, ganz bestimmt aber am nächsten Tag. Dies glauben

bei Corona auch Kanzlerin Merkel, Bayerns Ministerpräsident Söder

und viele Virologen.

Dennoch hat Ramelow auch Recht, wenn er anhand der aktuell

bestehenden Zahlen davon weg will, seinen Bürgern weiterhin ihr

Verhalten vorzuschreiben. Zurück zu den Grundrechten zu kommen

ist nämlich nichts, was man extra begründen müsste. Man braucht

umgekehrt gute Gründe, um die Grundrechte zu beschneiden.

Und das geben die Zahlen nicht mehr her. Es ist sinnlos, auf Herrn

Godot zu warten. Und bei Herrn Corona ist es so, dass es noch viel zu

tun gibt, während er abwesend ist. Zum Beispiel die Pause zu nutzen,

um endlich Schutzausrüstung besorgen, Herr Spahn!

„Ach ja.“


Corona-Tagebuch | 30. Mai 2020

13

Wenn ein Sack

Reis umfällt

Zwischen den USA und China tobt ein Propaganda-Krieg um die Deutungshoheit wegen

dem Corona-Virus. US-Präsident Donald Trump will China zum Sündenbock machen,

China warnt aggressiv vor einem neuen „Kalten Krieg.“ Von Michael Zäh

Vorbehalte und Vorurteile gibt es im Westen schon

seit jeher, was China angeht. Gerne wurde früher

der Spruch bemüht, dass etwas den Sprecher ungefähr

so sehr interessiere „wie wenn in China ein Sack

Reis umfällt.“ Sprich: Gar nicht! Man darf sich hier den

Sprecher als Firmenchef in Deutschland vorstellen, der mit

dem Spruch zum Ausdruck bringen will, dass alle Chinesen

immer Reis essen, es deswegen unendlich viele Säcke Reis

in China gibt, weshalb es egal ist, wenn mal einer davon

umfällt. Ganz im Gegensatz eben zu der Bedeutung, die der

Sprecher sich selbst, seiner Firma, Deutschland und dem

Westen einräumt.

Quasi: Die Chinesen sind zwar viele, haben aber nicht

die Klasse des Individuums im Westen. Oder auch: wir

sind groß und die sind klein. Die bauen uns doch nur alles

nach, klauen die besten Ideen und stellen dann ein billiges

Plagiat her. Undsoweiter, undsofort.

Deshalb taugt China perfekt zum Sündenbock, schon

lange vor Corona. Das ist sozusagen bereits im Hinterkopf

des Westens verankert. Seit aber das gefährliche Virus

von der chinesischen Stadt Wuhan aus in die Welt

kam, tobt ein Propaganda-Krieg zwischen den USA und

China. Und zu diesem tragen beide Seiten erklecklich bei.

US-Präsident Trump sprach gleich vom „chinesischen

Virus“, worauf China die steile Version in Umlauf brachte,

dass es wohl US-Soldaten gewesen seien, die das Virus nach

Wuhan brachten. Diese haben tatsächlich im Oktober 2019

an Militärweltspielen in Wuhan teilgenommen, denn das

waren Sportwettkämpfe von Soldaten aus aller Welt.

Aber selbst chinesische Virologen stellen diese Behauptung

in Frage.

Nachdem das Corona-Virus nun schon 100.000

Amerikaner getötet hat, geht Trump gegen China in die

Offensive und werden in den USA republikanische

Stimmen laut, die eine „Bestrafung“ Chinas fordern.

Die These dahinter ist, dass Peking

zur Jahreswende 2019/2020 bereits

von der großen Gefahr wusste, die

von Corona ausgeht, dies aber

der Welt vorenthalten habe.

Man habe den Ausbruch

vertuscht. Bisher gibt es

Anzeichen dafür, dass das so gewesen sein könnte, aber

keine stichhaltigen Beweise.

China konterte mit einer Art Comic-Offensive, in der

es so dargestellt wurde, dass man alle Welt klar und laut

vor der Corona-Gefahr gewarnt habe, aber es keiner

habe hören wollen. Daraufhin hat die USA behauptet,

dass das Virus aus einem staatlichen Forschungslabor

in Wuhan ausgebrochen sei. Alles ohne Nutzen.

„Es ist nur eine Person, die aus China kommt, und wir

haben es unter Kontrolle. Es wird alles gut werden“, sagte

Donald Trump am 22. Januar in einem CNBC-Interview,

nachdem am Vortag der erste Fall einer Corona-Infektion

in den USA bekannt geworden war. Noch am 26. Februar

sagte der US-Präsident: „Es ist wie eine normale Grippe

gegen die wir Impfungen haben.“ Solche belegten Verharmlosungen

geben China recht, dass die damals längst

abgegebene Warnung von Trump ignoriert wurde.

Aufgrund solcher Aussagen ist klar, dass Trump

lange gar nicht kapiert hat, welchen Schaden die Pandemie

anrichten kann. Und sein Versagen ist so offensichtlich,

dass er im Kampf um seine Wiederwahl dringend

einen Sündenbock braucht, auf den er die über 1,6

Millionen infizierten US-Bürger (täglich mehr) und

die weltweit meisten Corona-Toten abwälzen kann.

Chinas Außenminister Wang Yi warnte vor einem

neuen Kalten Krieg - und damit vor einer Gefahr für den

Weltfrieden. Er warf den USA „Lügen und Verschwörungstheorien“

vor. „Es ist an der Zeit, dass die USA ihr

Wunschdenken aufgeben, China zu verändern oder die

1,4 Milliarden Chinesen an ihrem historischen Marsch

zur Modernisierung zu hindern“, sagte der chinesische

Außenminister weiter. Klingt beherzt und aggressiv.

Es steckt also mehr hinter der Auseinandersetzung

wegen Covid 19. Es geht wohl um nichts

weniger als die Frage, wer morgen eher die

Weltmacht Nummer eins ist. Und Europa

täte gut daran, schnell die eigenen

Probleme zu lösen (Streit über Corona-Fonds),

um nicht zwischen

einem umgefallenen Sack

Reis und einem US-Burger

zerquetscht zu werden.


Ausgabe 289 am 30

Samstag, 30. Mai 2020

14

GESELLSCHAFT

DEUTSCHLAND

Corona-Tagebuch

Samstag, 30

Mehr wagen, aber mit

Umsicht des Einzelnen

Samstag, 30. Mai 2020

Präventionsparadox. Es ist ein altbekanntes Phänomen, dass die Vorsorge keinen Preis dafür

gewinnt, wenn sie die Gefahr ausgebremst hat. Doch man sollte den gemeinsam erreichten

Erfolg in sechs entbehrungsreichen Wochen wie Gold behandeln, das man in Händen hält.

Von Michael Zäh

Die Sehnsucht der Menschen,

dass der böse Corona-Spuk

vorbei sein möge, nimmt in

selbem Maße zu, wie die Angst vor

einer Ansteckung abnimmt. Als Ende

März das gesamte gesellschaftliche,

soziale und wirtschaftliche Leben in

Deutschland rapide runtergefahren

wurde, stand auf der anderen Seite ein

fieser Feind, vor dem die Angst groß

war. Man sah damals Horrobilder von

schwerkranken Menschen, die auf

den Fluren der Krankenhäuser ihrem

Schicksal überlassen wurden, weil

die Ärzte nicht mehr mit ihrer Hilfe

nachkamen. Das war in Bergamo, in

Italien. So nah, so gefährlich.

Die Gesellschaft trug daher die

Maßnahmen von Bund und Ländern

mit, natürlich mit ungleich großen

Opfern je nach Gesellschaftsschicht,

wirtschaftlicher Lage, Beruf, Anzahl

der Kinder und vielem mehr. Aber

alle waren verbunden, zumindest

in überwältigender Mehrheit, duch

eben diese Angst vor dem neuartigen

Corona-Virus.

Nach sechs Wochen der Disziplin,

der enormen Einschränkung und der

Vernunft sind die großen Schrecken

in Deutschland ausgeblieben. Und die

Infektionszahlen haben sich in dieser

Zeit auf ein niedriges erfreuliches

Niveau gesenkt. Ebenfalls hat sich

die Präsentation der Zahlen geändert.

Während anfangs nur Infektionen

und Verstorbene geschildert wurden,

boten spätere Darstellungen einen

Dreiklang aus: Infizierte/ Genesene/

Verstorbene. Aktuelle Grafiken (wie

die hier abgebildete vom Landratsamt

für Freiburg und den Kreis

Breisgau-Hochschwarzwald) stellen

nun ehemals Infizierte den aktuell

C OVID- 1 9 – Infektionen am 28. Mai 2020

Das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald meldete am 28. Mai 2020

um 6:55 Uhr folgende Fallzahlen:

Insgesamt: 2123 (unverändert)

Stadt Freiburg: 976

Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald: 1147

Todesfälle insgesamt: 148 (unverändert)

Stadt Freiburg: 79

Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald: 69

Infizierten gegenüber. Daran ist

eine Entwicklung zu erkennen,

die entspannt. In sehr vielen

Gemeinden steht die Null.

So ist es kein Wunder, dass

jetzt das zu erwartende Paradox

in den Köpfen und den Reden

Einzug hält: Der gemeinsam

unter großen Mühen erzielte

Erfolg wird nun zur Basis der

Behauptungen, dass ja wohl

die gesamte Virus-Bedrohung

so groß ja gar nicht gewesen

sein kann. Anstelle der Angst,

die zuvor zu viel Solidarität in

der Gesellschaft führte, kommt nun

oftmals Wut, Trotz und Frust zum

Vorschein.

Es ist ein altbekanntes Phänomen,

dass Vorsorge im Nachhinein keinen

Preis gewinnt, weil eben ihr Wirken

in dem Moment nicht mehr zu sehen

ist, in dem sie die Gefahr ausgebremst

hat. Niemand kann dann mehr beweisen,

dass es ohne die getroffene

Vorsorge viel schlimmer gekommen

wäre. Sprich: Wenn die Vorsorge

erfolgreich war, hat sie sich selbst

diskreditiert.

Doch das ist nur ein Zwischenstand.

Wenn nämlich das Wirken

der Vorsorge plötzlich nicht mehr

anerkannt wird, dann führt das

dazu, dass sie nicht mehr praktiziert

wird. Und dies wiederum

führt dann dazu, dass eben

jene Gefahr real wird, von

der man sich zuvor schon

befreit geglaubt hatte und

die man deshalb als doch

nicht allzu groß einstufte.

Im Falle des Corona-Virus

lässt sich dieser Prozess

bereits erahnen. Nach-

Neuenburg am Rhein

55/2

Auggen

19/0

Vogtsburg im Kaiserstuhl

42/0

Breisach am Rhein

136/0

Hartheim am Rhein

13/0

14/0

116/1

Eschbach

8/0

Buggingen

Müllheim

Ihringen

26/0

Heitersheim

Merdingen

7/0

Bad Krozingen

121/2

5*/0*

19/0

27/0

5*/0*

24/0

14/0 25/0

28/1

Bötzingen

Eichstetten

Gottenheim

Ballrechten-Dottingen

Badenweiler

Sulzburg

8/0

Schallstadt

Umkirch

12/0

29/0

March

32/0

Freiburg im, Breisgau

976/14

14/0

15/0

14/0 9/0

Wittnau

5*/0* Horben

14/1

Sölden 5*/0*

11/10

Pfaffenweiler

Ehrenkirchen

Staufen im Breisgau

Ebringen

Merzhausen

Bollschweil

8/0

Au

Münstertal/ Schwarzwald


Samstag, 30. Mai 2020

| 30. Mai 2020

. Mai 2020

DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 15

. Mai 2020

Samstag, 30. Mai 2020

Heuweiler

5*/0*

Gundelfingen

38/1

dem die Vorsorge und Vernunft zu

weniger Infektionszahlen führten,

geht es jetzt einigen Leuten gar nicht

schnell genug, alles auf den Kopf zu

stellen. Dabei sind ja bereits etliche

Lockerungen verkündet worden und

werden weitere folgen, wenn eben die

ganz großen Ausbrüche neuer Infektionen

ausbleiben. Gemesssen an den

letzten sechs Wochen völligen Stillstandes

wäre es jetzt ja vernünftig,

Schritt für Schritt und mit Umsicht

dem gesellschaftlichen, sozialen und

wirtschaftlichebn Leben wieder zu

seinem Recht zu verhelfen. Ja, es

Glottertal

11/0

wäre sozusagen der Lohn aller Mühen

und Verzichte, jetzt den gemeinsam

erzielten Erfolg auch in der

Phase der Neueröffnung des Landes

in eben jener Solidarität zu stemmen

wie in den Wochen der Angst zuvor.

Was dabei aber gar nicht hilft,

sind nun übereilte Vorwürfe, die aus

einem in sechs Wochen aufgestauten

Frust heraus erhoben werden. Es wird

noch Zeit genug sein, in aller Ruhe

über mögliche Fehler in der Politik

zu diskutieren. Wer aber meint, dass

er dies ausgerechnet jetzt auf den

sogenannten „Hygiene-Demos“ tun

muss, noch dazu möglichst

in Missachtung

aller Hygiene-Regeln,

die dem Land in den

Sankt Peter

5*/0*

letzten Wochen gut getan haben, der

wird wohl eher das Gegenteil dessen

bewirken, was er forderte.

Wenn aufgrund solcher doofen

Übergriffe in den kommenden Tagen

und Wochen nun unkontrollierbare

Hotspots von Corona-Infektionen um

sich greifen, quasi Ischgl hoch zehn,

nach Demos in Stuttgart, Berlin,

München und anderswo, dann würde

das alle Mühen und Kosten der letzten

sechs Wochen konterkarieren. Es

würde sich dann zwar zeigen, dass all

jene Besserwisser Unrecht haben, die

die Corona-Gefahr für klein halten.

Doch ausbaden müssten es dann alle

anderen. Das ist nicht akzeptabel.

Es ist doch wahrhaft ein schönes

Gefühl, auf einer Grafik die durch

gemeinsame Anstrengungen derzeit

erreichten Erfolge zu sehen. Anstatt

dem ollen Präventionsparadox zu

unterliegen und sich geschwurbelte

Gedanken darüber zu machen, dass

es aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen

Opfer doch gar nicht bedurft

hätte, könnte man diesen Erfolg

auch wie Gold behandeln, das man in

Händen hält.

Gerade weil zahlenmäßig eine

gewisse Entwarnung nun stattfindet,

sollte man umso behutsamer auf die

nächsten Schritte achten. Denn die

schwierigste Übung beginnt jetzt

erst: Statt den Verboten und den

Beschränkungen (die ja jetzt schrittweise

aufgehoben werden) muss jeder

Einzelne der eigenen Vernunft folgen.

Um den Erfolg zu retten, der in den

letzten entbehrungsreichen Wochen

erkämpft wurde, muss eine mündige

Solidarität her.

Und die besteht darin, natürlich

wieder etwas zu wagen, mit weniger

Angst als zuvor, aber mit umso mehr

Vorsicht. Dann könnte der derzeitige

Zwischenerfolg in den nachhaltigen

Triumph verwandelt werden.

Stegen

8/0

Sankt Märgen

6/0

Kirchzarten

23/0

Buchenbach

5*/0*

Eisenbach (Hochschwarzwald)

5*/0*

Oberried

13/0

Breitnau

5*/0*

Titisee-Neustadt

54/0

Friedenweiler

16/0

Hinterzarten

5*/0*

Löffingen

10/0

Feldberg (Schwarzwald)

5*/0 *

Lenzkirch

60/0

Schluchsee

7/0

0*/5*: Diese Zahl kann 0 bis 5 Fälle umfassen.

Fallzahlen unter 5 werden nicht

detailliert ausgewiesen, damit eine

Nachverfolgung auf Einzelpersonen ausgeschlossen

werden kann.

Als geheilt gelten Personen, deren Meldung

bis zum 14.05.2020 aufgenommen

und nicht hospitalisiert wurden.

Stand: 28.05.2020, 09:00 Uhr


Ausgabe 289 am 30

Samstag, 30. Mai 2020

16

FORSCHUNG

INTERVIEW

Corona-Tagebuch

Samstag, 30

Samstag, 30. Mai 2020

Manche unterschätzen

die Krankheit

Die Viren, die die Corona-Pandemie ausgelöst haben und jährlich Influenza-Epideminen verursachen, wurden vom Tier

auf den Menschen übertragen. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Martin Schwemmle, Forschungsgruppenleiter am Institut

für Virologie des Universitätsklinikums Freiburg über Fledermäuse , Pandemiepläne und fehlende FFP-Masken.

Die Corona-Pandemie zeigt auf

dramatische Weise, was passieren

kann, wenn tierische Viren

auf den Menschen übertragen werden.

Wie eine solche Infektion erfolgen kann,

erforscht das Team um den Virologen

Prof. Dr. Martin Schwemmle vom Institut

für Virologie des Universitätsklinikums

Freiburg. Die Arbeit seines Teams wird

von der Europäischen Union mit 2,5 Millionen

Euro gefördert. Barbara Breitsprecher

sprach mit ihm über Viren, die für die

Krebsforschung manipuliert werden, über

Fledermäuse und den Masken skandal.

ZaS: Sie forschen seit einigen Jahren

über Fledermäuse als Virusträger.

Ging es dabei auch schon darum, das

SARS-Virus zu bekämpfen?

Martin Schwemmle: Wir sind an Zoonosen

interessiert (Krankheitsübertragungen

von Tieren auf Menschen; Anm. d.

Red.) und forschen dabei hauptsächlich

über Influenzaviren und Bornaviren.

Letztere werden über Spitzmäuse übertragen

und kommen nur im deutschsprachigen

Raum vor. Der Mensch

ist ein Endwirt und stirbt an solch

einer Infektion. Was die Influenzaviren

angeht, so gab es 2011/12 erste

Forschungsergebnisse, die belegten,

dass diese Viren auch bei Fledermäusen

vorkommen.

ZaS: Werden Viren übertragen, wenn

man das Fleisch dieses Tieres isst oder

wenn es einen beißt?

Schwemmle: Das hängt vom Virus ab.

Bestimmte Viren können über ungekochtes

Fleisch übertragen werden,

andere über Aerosol (Schwebeteile in

der Luft; Anm. d. Red.) oder über einen

Stich.

ZaS: Was haben nun die Fledermäuse

mit damit zu tun?

Schwemmle: Wenn in Afrika das Buschfleisch

verarbeitet wird, wozu auch Fledermäuse

gehören, können Menschen

mit Blut oder Sekreten in Berührung

kommen und sich dadurch infizieren.

Wenn das Fleisch erst einmal abgekocht

ist, kann man sich nicht mehr infizieren,

weil das Virus dann unschädlich

gemacht wurde.

ZaS: Fledermäuse werden ja gerne mit

unheimlichen Dingen in Verbindung

gebracht. Hat diese Urangst ihren Ursprung

bei Krankheitsübertragungen?

Schwemmle: In Amerika kann Tollwut

durch die Fledermaus übertragen

werden, aber nicht in Europa. Aber

Fledermäuse beißen uns Menschen

nicht (lacht). Vor Fledermäusen braucht

man hier keine Angst zu haben. Es gibt

nur ganz wenige Berichte, wonach

Höhlenforscher in Deutschland mit

Fledermauskolonien in Kontakt kamen

und infiziert wurden. Das sind absolute

Ausnahmen.

ZaS: Was macht dann die Fledermausviren

so besonders, dass Sie an ihnen

forschen?

Schwemmle: Die Influenzaviren, die wir

erforschen, kommen bei Fledermäusen

in Südamerika vor, nicht in Europa. Alle

Influenzaviren stammen ursprünglich

aus Wasservögeln. Sie haben dann die

Speziesbarriere überwunden und sich

auch im Menschen etabliert, so dass es

bei uns zwei zirkulierende Influenzavirus

Subtypen gibt, H1N1 und H3N2,

die beim Menschen jährlich Epidemien

auslösen. Nun hat man festgestellt,

dass diese Influenzaviren aus der Fledermaus

neue Subtypen sind, die man

bisher nicht kannte. Sie sehen aus wie

Influenzaviren, sind auch welche, aber

die Hüllproteine auf der Virusoberfläche

, insbesondere die sogenannten

HA-Proteine, erkennen komplett etwas

anderes auf der Zelloberfläche als es

Influenzaviren normalerweise tun. Nun

wusste man zunächst nicht, welchen der

mysteriösen Rezeptor das Virus nutzt,

um in die Zelle einzudringen.

ZaS: Haben Sie den Rezeptor gefunden?

Schwemmle: Zusammen mit einer Arbeitsgruppe

aus Zürich haben wir ihn

entschlüsseln können: Er ist Teil unseres

Immunsystems, der Haupthistokompatibilitätskomplex

MHCII, der durch

die HA-Proteine erkannt wird. Diese

Fledermaus-Influenzaviren haben es im

Gegensatz zu klassischen Influenzaviren

geschafft, von einer Zuckerbindung

auf eine Proteinbindung als Rezeptor

zu wechseln.

ZaS: Gibt es diese MHCII-Rezeptoren nur

bei Fledermäusen?

Schwemmle: Es gibt sie auch bei

Schweinen und Mäusen – und im

Prinzip kann auch der Mensch damit

infiziert werden. Um dies zu untersuchen

wurden Frettchen mit diesen Viren

infiziert. Frettchen besitzen auch diese


Samstag, 30. Mai 2020

| 30. Mai 2020

. Mai 2020

INTERVIEW FORSCHUNG 17

. Mai 2020

Samstag, 30. Mai 2020

MHCII-Rezeptoren und sind, ähnlich

dem Menschen, sehr empfänglich für

Influenzaviren. Deshalb werden sie

jetzt auch im Zusammenhang mit Corona

als Tiermodell eingesetzt. Aber die

Fledermaus-Influenzaviren vermehren

sich kaum in diesen Tieren und werden

auch nicht übertragen. Deshalb gehen

wir davon aus, dass der Mensch nicht

gefährdet ist. Aber jetzt wird es kompliziert…

ZaS: Und ich dachte, es wäre bereits

kompliziert…

Schwemmle: Wir haben festgestellt,

solche Pandemie ausbreiten würde, das

war schon überraschend.

ZaS: Warum wirkten dann die öffentlichen

Stellen so überrascht und recht

hilflos, wenn doch längst Pandemiepläne

vorlagen?

Schwemmle: So hilflos waren die gar

nicht und es wurde in Deutschland sehr

viel richtig gemacht. 1918 gab es aber

ähnliche kontroverse Diskussion wie

jetzt auch. (1918 wütete die sogenannte

Spanische Grippe. Das Influenzavirus

tötete damals weltweit schätzungsweise

zwischen 27 bis 50 Millionen

Menschen; Anm. d. Red.) Jetzt sind wir

schon viel besser aufgestellt und kennen

den Erreger. In diesem Pandemieplan

war übrigens ganz klar

Vor dem FSME-Virus, Auslöser der

Frühsommer-Meningoenzephalitis, das

durch Zecken übertragen wird, kann

man sich ja durch Impfung schützen.

ZaS: Wieso ist diese Koexistenz der Ursprung

von Epidemien?

Schwemmle: Weil wir die wilden Tiere

verdrängen. Wir dringen immer mehr

in die Tierwelt hinein und es kommt zu

Kontakten bei denen eine Übertragung

auf den Menschen stattfinden kann.

ZaS: Sind auch Sie nun in der Pflicht,

all Ihr Forschen auf das Coronavirus

auszurichten?

Schwemmle: Alle Virologen sind jetzt

aufgefordert, ein Stück weit durch ihre

Expertise zu helfen.

ZaS: Haben Sie Sorge, dass die fieberhafte

Suche nach einem Corona-Impfstoff

zu Nachlässigkeiten

sicher.

Schwemmle: Eben. Ich würde natürlich

mitmachen, meine Hemmschwelle ist

da ziemlich gering. Tatsächlich gibt es

für bestimmte Studien genug Probanden.

Das hatte ich auf der Dach terrasse

nur gesagt, um den Nachbarn die Problematik

deutlich zu machen (lacht).

ZaS: Wenn es kommenden Herbst/

Winter noch einmal zu einem Peak, einem

Höhepunkt der Coronainfektionen

kommen würde, dann würde Sie das

auch nicht überraschen?

Schwemmle: Nein. Dass es die zweite

Welle in irgend einer Form geben wird,

darüber sind sich alle Experten einig.

Wie hoch sie sein wird, kann ich nicht

abschätzen.

ZaS: Warum im Winter? Hat das was mit

den sinkenden Temperaturen zu tun?

dass dieses

Fledermaus–

viren in Zellkulturansätzen sehr

schnell mutieren und besonders das

HA-Protein verändern. Nun untersuchen

wir, ob diese ungewöhnliche

Fähigkeit ausgenutzt werden kann, um

diese Viren an Zelloberflächen-Rezeptoren

anzupassen, die nur in Krebszellen

vorkommen. So könnte man später

vielleicht Therapeutika entwickeln, die

diese Krebszellen ausschalten.

ZaS: Das heißt, dieses Virus wären dann

eine Art „Schnüffelhund“?

Schwemmle: Genau. Wir benutzen dafür

diese Influenzaviren. Wenn man dies

später therapeutisch einsetzen möchte,

bräuchte man unter Umständen kein

vermehrungsfähiges Virus mehr, sondern

nur noch dieses Hüllprotein, das

die Krebszelle erkennt.

ZaS: Mit dem Coronavirus ist nun aber

ein gefährliches Virus im Umlauf. Waren

Sie vom Ausbruch der Pandemie

überrascht?

Schwemmle: Davon, dass ein Coronavirus

irgendwann mal auf die Spezies

Mensch überspringen würde, war ich

nicht überrascht. Deshalb gab es in

Deutschland ja Pandemiepläne, die

auf diese Situation vorbereiten sollten

und es gibt seit Jahren Corona-Forschungsschwerpunkte.

In China gab

es ein Überwachungsprogramm, weil

man befürchtete, dass SARS-ähnliche

Viren nach der Epidemie 2003 wieder

auftreten könnten. Aber es wurde wahrscheinlich

auch dort nicht früh genug

erkannt, als dass man es hätte verhindern

können. Aber, dass es sich dann als

beschrieben, dass

es eine große Schwachstelle in unserem

System gibt, nämlich dass nicht

genügend Masken vorhanden sind. Die

Nicht-Virologen waren vielleicht überrascht

über den Pandemie-Ausbruch,

die Virologen nur über die Vehemenz

des Ausbruchs. Auch eine Influenza-Pandemie

ist jederzeit möglich.

ZaS: Hören Sie sich eigentlich die Podcasts

des Virologen Christian Drosten

an?

Schwemmle: Herr Drosten ist richtig

gut, teilweise höre ich mir die Podcasts

an. Aber ich bin so beschäftigt mit meinen

Forschungen, dass ich eigentlich

gar keine Zeit mehr dafür habe.

ZaS: Werden sich Pandemien häufen?

Schwemmle: Pandemien werden immer

wieder vorkommen, denn wir koexistieren

mit den Tieren. Wir wissen auch

nicht, ob Impfungen immer etwas nutzen

werden. Welche Erreger kennen Sie,

die von der Tierwelt immer mal wieder

auf den Menschen überspringt?

ZaS: Tollwut?

Schwemmle: Tollwut ist nicht mehr

sehr relevant in Europa. Hantaviren

vielleicht, die durch Mäusekot übertragen

werden können. Und das Hepatitis

E-Virus gäbe es da auch noch, welches

zum Beispiel durch ungekochtes

Schweinefleich oder kontaminierte

Blutprodukte übertragen werden kann.

führen könnte?

Schwemmle: Zunächst

einmal finde ich es natürlich klasse,

dass jetzt so viele Firmen und

Labors weltweit an einem Impfstoff

forschen. Letzthin war ich mit

Nachbarn auf einer Dachterrasse –

in großem Abstand – und habe sie

gefragt, wie sie sich verhielten, wenn

sie aufgefordert würden, die Zuverlässigkeit

eines Impfstoffs zu testen. Die

erste Reaktion war: Klar, da würden

wir mitmachen, wenn es denn sicher

ist. Ich antwortete: Ich glaube schon,

dass der Impfstoff an sich sicher wäre,

aber eine Gewissheit gibt es nicht. Da

wurden sie schon zurückhaltender. Aber

als ich ihnen dann noch sagte, dass man

bei diesen experimentellen Impfstudien

zeigen muss, dass der Impfstoff auch

unter Infektionsbedingungen zum Beispiel

während der befürchteten zweiten

Infektionswelle sicher sein muss, da

wollte keiner mehr mitmachen. Das ist

die Crux bei der Impfstoffentwicklung.

Man muss gewissenhaft forschen, man

braucht sinnvolle Studien, man braucht

Freiwillige und man muss sofort die

Notbremse ziehen, wenn was schief

geht. Und ich glaube da wird jetzt schon

richtig gut drauf geschaut. Aber das

braucht seine Zeit. Würden Sie denn

mitmachen?

ZaS: Ich gebe offen zu, ich wäre nicht

Schwemmle: Ja, es

gibt aber Saisonalitäten

von Influenza auch in Ländern, in denen

es gar keine Jahreszeiten gibt. Und

natürlich ist man im Winter wieder in

Räumen zusammen, was die Virusübertragung

begünstigt.

ZaS: Aber jetzt ist es warm, das Leben

spielt draußen, viele fürchten keine

akute Gefahr mehr…

Schwemmle: Das stimmt. Manch einer,

der die Krankheit nicht im persönlichen

Umfeld miterlebt hat, unterschätzt

sie vielleicht. Das kann zum Problem

werden. Dabei waren wir mit rund

70 Todesfällen in Freiburg durchaus

stark betroffen. Aber viele machen es

auch richtig. Das sehe ich auch in meinem

Bekanntenkreis: Die Großeltern

leben bereits sehr abgeschirmt. Für

alle älteren Menschen sollten kostenlos

FFP2-Masken zur Verfügung gestellt

werden, damit die sich wenigstens

schützen können.

ZaS: Die waren ja zwischenzeitlich gar

nicht mehr zu bekommen und wenn,

dann sind sie jetzt sehr teuer.

Schwemmle: Ja leider. Es müsste

jetzt viel Kraft und Geld investiert

werden, um gefährdete Menschen

mit sicheren Masken auszustatten.

Dass das nicht passiert ist für

mich der eigentliche große Skandal.

Interview: Barbara Breitsprecher


18 Corona-Tagebuch | 30. Mai 2020

Ich verschwör

dir, Alter!

Damit keiner merken soll, dass der Verschwörungstheoretiker im Grunde selbst an die

Macht will, behauptet er, dass ihm ein Maulkorb verpasst würde. Das ver breitet er über

alle Kanäle, eben weil es keinen Maulkorb gibt. Aber er scheitert. Von Michael Zäh

Man muss schon ein bisschen dumm sein, um zu glauben,

dass alle anderen Menschen dümmer seien als man selbst.

Die Krux an Verschwörungstheorien besteht genau darin,

dass sich dabei immer der Verbreiter als gescheiter hinstellt als der

ganze Rest der Menschheit. Und weil der Verschwörungstheoretiker

ja soviel weiß, was anderen völlig verborgen blieb, deckt er eine

weltweite Verschwörung auf. Nein, kleiner geht es nicht, es muss

sich schon um die Welt (am besten noch das gesamte Universum)

handeln, die vom Oberschlaui Verschwörungstheoretiker lässig

leicht durchschaut wird. Hinter der großen Verschwörung vermutet,

wer immer etwas auf sich hält derzeit gerne Bill Gates, den Gründer

von Microsoft und daher auch Multimilliardär.

Denn die Größe des Gegners ist natürlich entscheidend für den

Ruhm derer, die ihn auffliegen lassen. Sprich: Der Bill Gates ist so

schlau, dass alle Menschen auf der Welt gar nicht merken, wie er sie

manipuliert. Denn die Leute sind ja alle „Schlafschafe.“ Nur derjenige,

der das blickt, ist noch schlauer als Bill Gates, dessen Verschwörung

er ja aufdeckt. Also treten Leute wie der ehe malige Radiomoderator

Ken Jebsen oder der Autor erfolgreicher veganer Kochbücher,

Attila Hildmann mit ihren Erzählungen an, die im Falle Gates im

Prinzip lauten, dass alle nationalen Regierungen, sowieso alle

Virologen und die WHO den Plan umsetzen müssten, den Gates

diktiert, um eine Weltherrschaft zu er ringen.

Nun ja, ab hier wird es ein bisschen kompliziert.

Bisher haben wir also Schlaui Gates

(wahlweise kann das auch Putin sein) und

den Oberschlaui Verschwörungstheoretiker

(VT). Der

Rest der Menschheit blökt

blöde vor sich hin.

Aber nun wendet

sich der Oberschlaui

an die schlafenden

Schafe, um ihnen die

Augen zu öffnen – oder

ist es, um ihnen die Wolle zu

scheren?

Warum das? Na ja, das können

sogar Schlafschafe kapieren: Weil halt

der Aufklärer über geheime Mächte und

deren Verschwörung auch ein bisschen

Lob braucht, quasi den Status des

Erlösers, der die ganze Menschheit

gerettet hat, sobald diese das einsieht. Außerdem bringen die

Klicks vieler Neugieriger in den sozialen Medien auch noch Geld ein.

Dann natürlich wird der Mensch, der die Menschheit gerettet hat,

zum gefeierten Anführer. Praktisch: die aufgeweckten Schlafschafe

machen ihn zum Wolf im Schafspelz. Und das ist ja interessant. Erst

fühlt sich der VT einzigartig, weil er eine Meinung hat, die nicht

alle haben, praktisch: voll der Durchblicker, früher auch gerne der

Oberchecker genannt (halt meistens während der Pubertät). Er fühlt

sich dadurch besonders. Er weiß, was eigentlich passiert. Er weiß ja

mehr als alle anderen. Aber dann plötzlich will er die Anerkennung

all dieser Blinden? Er will sie führen. Er will an die Macht. Er will

quasi Bill Gates ersetzen. Merkt ja keiner. Weil so raffiniert!

Zwar kennt die Fantasie bei den Verschwörungserzählungen

kaum Grenzen (Merkel wurde längst durch eine Doppelgängerin

ersetzt, Trump ist der Heiland, der dagegen kämpft, dass Kinder

unterirdisch zu Tode gequält werden, Satan ist der Gegner), aber sie

hat ein Ziel: Den Ruhm derer mehren, die das alles erzählen.

Das Problem besteht nun darin, dass sich dieser Ruhm partout

nicht einstellen will. Denn die „Schlafschafe“ kapieren es einfach

nicht, die Medien kungeln natürlich mit den Mächtigen (weshalb,

logo, auch dieser Text natürlich nur dazu dient, die Wahrheit zu

verschleiern). Ergo: Der geniale Aufdecker der Verschwörung

kommt einfach nicht ans Ziel. Er muss daher weiterhin

seinen Status als Außenseiter pflegen, obwohl er

eigentlich das Gegenteil will.

Also sagt er, dass ihm ein Maulkorb verpasst würde.

Wir können das alle zur Kenntnis nehmen, eben

weil er jeden Quatsch über alle Kanäle ungehindert

erzählen darf. Die Meinungsfreiheit gilt auch hier,

und das ist gut so.

Wir glauben

nicht, dass dies die

Demokratie gefährden

kann. Weil wir

auch nicht glauben,

dass alle Menschen

dümmer sind als der eine

„Aufklärer“. Da halten wir

es eher mit ein bisschen Jugendsprech-Humor:

„Ich verschwör

dir, Alter!“ Wir glauben

an den gesunden Menschenverstand.


Corona-Tagebuch | 23. Mai 2020

19

Sehnsüchte,

welche seid ihr?

Nach den Lockerungen der staatlich verfügten Einschränkungen liegt es nun wieder an

jedem einzelnen deutschen Bürger, seine Entscheidungen abzuwägen und dafür eine

persönliche Verantwortung zu übernehmen. Schwer! Von Michael Zäh

Nach den Lockerungen der Länder im Kampf gegen die

Corona-Pandemie taucht nun etwas am Horizont auf.

Und das, was da von Ferne grüßt, sind die Sehnsüchte.

Denn nun sind wir alle mehr auf das zurück geworfen, was jeder

individuell für sich, sein Leben, seine Liebsten für richtig hält.

Wenn in den letzten sechs bis acht Wochen der Staat den

Ton der Verbote angegeben hat, war das in gewisser Weise eine

Entlastung der Verantwortung des Einzelnen. Wir konnten uns

über die restriktiven Maßnahmen von „denen da oben“ aufregen,

oder wir konnten diese Beschränkungen als noch zu wenig

kritisieren. Sowieso hatten alle erst einmal damit zu tun, die

bis dahin unvorstellbaren Veränderungen des öffentlichen und

privaten Lebens zu begreifen. Und es war in dieser Zeit fast egal,

was man für richtig oder falsch hielt. Denn Bund und Länder

haben es ja schlicht befohlen.

Nun aber, nach diversen und sehr sichtbaren Lockerungen –

um dies zu sehen, musste man nur mal durch die Innenstädte mit

den fast überall geöffneten Cafés flanieren – nun also muss jeder

für sich selbst entscheiden, wie weit er gehen will.

Wo sind die Sehnsuchtsorte und wenn, welche sind es mir

wert, ein Risiko einzugehen? Man darf ja jetzt wieder verreisen,

so nach und nach. Da könnte die Sehnsucht groß sein, gerade

wegen des Schreckens der letzten Wochen, sich zurück in die

paradiesische Welt eines Urlaubs zu beamen. Man könnte doch

da hin, wo man in den letzten Jahren schon ein paar Mal war,

quasi ein sanftes Abtauchen in die Entspannung.

Und jetzt kommt das Neue: Die Sehnsucht muss sich einer

nach Sigmund Freud, dem Erfinder der Psychoanalyse, trefflich

genannten „Realitätsprüfung“ stellen, und zwar nicht von „da

oben“ vorgegeben, sondern vom jedem Einzelnen selbst zu treffen.

Denn die Bedrohung durch das Corona-Virus ist nicht weg,

nur weil die Beschränkungen gelockert wurden. Die meisten von

uns haben begriffen, dass dieses Problem auch weiter besteht

und wir uns mit den eigenen Entscheidungen nicht mehr hinter

einer staatlichen Verordnung verstecken können. Nun ja, nach

Umfragen haben sich jetzt bereits 55 Prozent aller Deutschen

dafür entschieden, in diesem Jahr gar nicht zu verreisen.

Dies ist auch ein Beispiel dafür, dass der Mensch Sehnsuchtsorte

in eine neue Wirklichkeit einordnen kann. Wäre es wirklich

so toll, an die Costa del Sol (Spanien öffnet ja auch frühestens ab

Juli für Touristen), an den Gardasee oder nach Nizza zu reisen?

Nicht nur, dass überall mit Masken zu rechnen wäre und das

Shoppen eher einer Hygiene-Tortur gleichen könnte, sondern

schon gleich am Anfang jeder Reise die Behörden der anderen

Länder mit jedweder Art von Kontrolle nun nicht gerade einen

Willkommensgruß senden würden. Motto: Was wollt ihr hier,

und wenn, wieviele seid ihr?

Ohnehin ist bereits eine ganz andere Realität in das Leben

von uns eingebrochen. Wer will eine Reise planen, wenn er nicht

weiß, wo die Reise in seinem Job hingeht? Es sind Millionen

Jobs in Gefahr, vieles bleibt ungewiss. Deswegen kauft auch

fast keiner derzeit ein neues Auto. Der Konsum muss warten,

vielleicht weil er derzeit auch nicht die Sehnsüchte der Leute

bedienen kann. Konsum ist ein Luxus, den sich derzeit viele

Menschen ersparen. Dazu hat man in früheren Krisen wohl

„hamstern“ gesagt.

Es gilt umgekehrt ganz andere Entscheidungen zu treffen:

Wenn dir nach dem Lockdown wieder die Möglichkeit angeboten

wird, deinen Job erneut zu machen, aber eben in Kontakt

zu vielen Mitmenschen, zum Beispiel Kindern – was machst du

dann? Was ist, wenn du außerdem eine hochbetagte Mutter hast,

die dich braucht?

Dieses und millionenfach mehr sind nun die Entscheidungen,

die der jeweils Einzelne zu treffen hat. Die Angst und die

Sorge vor dem Virus sind nicht weg. Aber nun gar nix mehr tun,

das geht auch nicht. Man muss darauf hoffen, dass die Vernunft

und die Furcht bei möglichst vielen Menschen dafür sorgen, dass

es vorwärts geht, ohne dem Corona-Virus erneut Tür und Tor zu

öffnen. Zu begrüßen ist auf jeden Fall, dass dies nun nicht mehr

zuallererst vom Staat bestimmt wird, sondern in den Händen

(und Köpfen) der Bürger liegt.

Sehnsucht kann man auch nach dem Training im Fitnessstudio,

nach Kino oder Theater haben. Quasi nach einer Welt

ohne Gefahr. Doch diese gab es nie.


20 Corona-Tagebuch | 9. Mai 2020

Der Mann,

der die Maus war

Bund und Länder haben einige Lockerungen beschlossen. Die Hauptbotschaft aber ist,

dass jetzt die Ministerpräsidenten der Länder bestimmen, was wo geschieht. Und Winfried

Kretschmann hat da eine spezielle Ampel-Idee. Von Michael Zäh

Ein Mann denkt, er sei eine Maus. Er kann nicht mehr aus dem

Haus, weil er immer in Panik verfällt, wenn er eine Katze

sieht. Nach langer Behandlung entlässt ihn sein Psychiater

als geheilt: „Sie wissen jetzt, dass sie keine Maus sind!“ „Ja Herr,

Doktor, das weiß ich jetzt. Aber sagen Sie – weiß es die Katze auch?“

Dieser uralte Witz bekommt derzeit eine Neuerung. Wenn es

nach dem Landesvater Winfried Kretschmann geht, soll es ja bald

eine Art Corona-Ampel geben. Das hat er dann auch ausführlich

erklärt: Rot ist das Ampelzeichen etwa bei Großveranstaltungen,

gelb bei den Gastrobetrieben und grün beim Golfen im Freien. Aber

sagen Sie mal, Herr Kretschmann – weiß es das Corona-Virus auch?

Die Ampel ist ja rührend und vorsorglich gemeint. Aber jetzt mal

ehrlich: Wenn es staatlich quasi mit offiziellem Grün gekennzeichnet

ist, wo es angeblich keine Gefahr gibt, wer haftet dann dafür, wenn

es genau dort doch zu einer Ansteckung kommt? Der Corona-Teufel

kann im Detail stecken, sagen wir im Partner beim Golfen.

Und umgekehrt wird es noch schlimmer. Wenn nämlich die

Kretschmann-Ampel, die da vor dem Biergarten steht, plötzlich

von Gelb auf Rot springt, weil so hat es der Landesvater ja erklärt,

dass dies quasi der Sinn von Gelb ist, sowohl auf Grün wie auch auf

Rot springen zu können – heißt das dann, dass Kretschmann eine

Ampel-Koalition anstrebt?

Nun gut, uns entgeht nicht das Fürsorgliche, das der Landesvater

in Baden-Württemberg uns allen zukommen lassen will. Es soll eine

Orietierung sein, für alle, die noch nicht kapiert haben, dass es bei

Großveranstaltungen riskanter ist als zu Hause hinterm Herd.

Die Kretschmann-Ampel lässt sich auch gut mit der Idee

von Jens Spahn kombinieren, der einen Immunitätsausweis

für die Bevölkerung einführen wollte. Und das geht so:

Wer von Corona geheilt ist, hat auf seinem Handy

den Ausweis seiner Immunität gespeichert, quasi

Freibrief! Der darf dann halt mehr machen

als jene bedauernswerten Mitbürger, die Corona noch nicht hatten.

Die Kretschmann-Ampel ist natürlich digital top ausgestattet und

erkennt den Immunen sogleich. Die Ampel springt auf Grün, wo

andere nur rot sehen.

Wir stellen uns die Weiterungen dieser Idee geradezu lässig

vor: Die Profi-Fußballer aller Bundesligisten legen sich gemeinsam

mit nachweislich infizierten Fans gemeinsam ins Entmüdungsbecken.

Bald darauf sind alle Kicker der Liga immun (oder tot) und

man kann auf den ganzen Quatsch mit den Tests und der Hygiene

verzichten und die Spiele durchführen. Das spart Zeit und Geld.

Und na ja, weil die Fans ja auch nicht blöd sind, bestellen jetzt alle

garantiert infizierte Schals im Internet (die Nachfrage macht das

Angebot möglich), um alsbald mit dem Immunitätsausweis an den

Stadiontoren zu stehen.

Okay, Spahn hat seine Idee erstmal auf Eis gelegt und in der

Schalte zwischen den Ministerpräsidenten und Kanzlerin Merkel

wurde eine ganze Reihe von „Lockerungen“ beschlossen. Die Bundesliga

kickt wieder (siehe Seite 16), alle Geschäfte dürfen öffnen,

und auch das Gastro-Gewerbe im Laufe des Mai. Die Hauptbotschaft

war aber, dass es nun erstmal Schluss ist mit den wöchentlichen,

mühsamen Schalt-Konferenzen zwischen Bund und Ländern.

Sprich: Kretschmann und Co. machen es in ihrem Land jeweils so,

wie sie meinen und müssen dafür auch die Verantwortung tragen.

Also: Grüne Ampel für die regionalen Fürsten. Rot hingegen für

Merkels bremsende Strategie.

Natürlich wäre Merkel nicht sie selbst, wenn sie das nicht auch

gut verkaufen könnte: „Wir haben die allererste Phase der Pandemie

hinter uns“, sagte sie. Die Zahlen seien erfreulich, dank der

Bürger, die sich an die Einschränkungen gehalten haben.

Und ein bisschen sind wir wie der Mann, der mal

eine Maus war. Gerne wollen wir wieder raus, wenn da

nur nicht die Corona-Katze wäre.


Corona-Tagebuch | 9. Mai 2020

21

Krise, Krieg,

Katastrophe

Die Begriffe, die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gerne verwendet werden,

offenbaren schon die Unsicherheit. Da ist eine Unschärfe, die davon abhalten soll,

das wahre Ausmaß der Katastrophe ins Auge zu fassen. Von Michael Zäh

Das Wort „Krise“ impliziert, dass es vorbei gehen könnte.

Man spürt dem Wort an, dass eine Dringlichkeit darin

liegt, und dass es Unsicherheit darüber gibt, wie der richtige

Weg aus der Krise denn aussehen soll. Denn im Grunde ist

die „Krise“ erst im Rückblick als eine solche zu bezeichnen, wenn

es nämlich einen Ausweg gab. Wenn es keinen gab, wurde die

Krise nicht überwunden sondern endete in einer „Katastrophe“.

Insofern ist es vielsagend, dass von der Corona-Pandemie

als der „Corona-Krise“ gesprochen wird. Denn das Wort ist

einerseits geeignet, Hoffnung zu machen, eben darauf, dass es

vorbei gehen wird. Doch es offenbart sich darin auch jedwede

Unsicherheit, weil „Corona-Krise“ sehr unbestimmt bleibt. Was

meint der Begriff eigentlich? Meint er die gesundheitliche Krise

der einzelnen Menschen, die von dem Virus krank wurden?

Meint er die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Folgen, die

nicht direkt durch das Corona-Virus entstehen, sondern durch

die Maßnahmen, die dagegen ergriffen werden (müssen)? Meint

er die Angst der Leute ? Oder meint er alles gleichermaßen?

In seiner Unschärfe scheint der Begriff der „Corona-Krise“

alle zu vereinen. Quasi: Zusammenhalt zur Überwindung der

Krise. Doch ein unscharfer Begriff bringt nunmal keine scharfen

Einblicke. Da ist das Los desjenigen, der sich jahrzehntelang

etwas aufgebaut hat (sei es eine Kneipe oder sonst was) und nun

vielleicht alles verliert, weil der Staat ihm die Bude zuschließt.

Und da ist derjenige, dessen Leben noch gerettet werden konnte,

weil es noch ein Bett mit Beatmungsgerät für ihn gab, und zwar

eben weil der Staat durch herbe Einschnitte in das Recht des

Einzelnen dafür gesorgt hat, dass die Ausbreitung des Virus so

verlangsamt wurde, dass das Gesundheitssystem in Deutschland

(bisher) nicht zusammen brach.

Dies alles und millionenfach noch weitere persönliche

Umstände sind derzeit unter dem Begriff der „Corona-Krise“

miteinander verbunden. Wenn man denn „Krise“ als einen

entscheidenden Wendepunkt versteht, der dann zum Besseren

führt, dann geht es eine Weile gut, weil na klar: die Hoffnung

stirbt zuletzt. Wenn aber später unzählige wirtschaftliche,

existenzielle oder psychische Krisen nicht mehr überwunden

werden konnten, sondern zu lauter persönlichen Katastrophen

führten, wird der Sammelbegriff „Corona-Krise“ millionenfach

auseinander fallen.

Zwischenzeitlich wurde ja auch gerne mal der Begriff

„Krieg“ gebraucht, von Macron in Frankreich und Trump in den

USA, in dem man sich gegen das Virus befinde. Was soll uns das

sagen? Da man ein Virus nicht erschießen, nicht wegsprengen

und auch nicht einschüchtern kann (von wegen psychologische

Kriegsführung), bleibt eigentlich nur der dem Begriff „Krieg“

implizite Gedanke der „Mobilisierung“ übrig. Dies wiederum

ist aber nur eine Steigerung der Unschärfe, die schon im Begriff

„Krise“ steckt. Wenn im „Krieg“ gegen das Corona-Virus alle

Kräfte (also Leute) mobilisiert werden sollen, dann soll das ebenfalls

auf den Zusammenhalt abzielen. Da werden aber natürlich

persönliche Unterschiede der jeweils Betroffenen weggewischt,

in diesem Falle ist sogar der Begriff des „Opfers“ mit integriert,

welche im Krieg ja Einzelne zu erbringen haben.

Wenn Begriffe wie „Krise“ und „Krieg“ einen Zusammenhalt

in der Gesellschaft herstellen sollen, dann sind es andere,

negierende Begriffe, die noch deutlicher werden. So sagte etwa

Markus Söder kürzlich, dass es sich beim Corona-Virus „NICHT

um ein Gewitter“ handele. Damit nahm er folglich der „Krise“

das Optimistische, dass es bald vorbei sein könnte.

Noch krasser war hier die Wortschöpfung von Österreichs

Kurz, sowie Scholz und Spahn, die sagten, dass man sich an eine

„neue Normalität“ gewöhnen müsse. Fast so, als sei dieser Begriff

ansteckend. Sprich: Tschüss Freiheit. Das hört sich schwer nach

Katastrophe an. Doch wie soll man auch zu einer Sache sagen,

von der nur eines klar ist: Sie ist da! „Krise“ heißt, das es kritisch

wird. Und das ist es auch, was wir alle sein sollten. Denn die

Kritik schaut auch nach vorne. Nach der Krise ist vor der Krise.


Ausgabe 289 am 30

Samstag, 30. Mai 2020

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GESELLSCHAFT

DEUTSCHLAND

Corona-Tagebuc

Samstag, 30

Samstag, 30. Mai 2020

Wenn die Zeit reif ist

für „ein Stück Mut“

Öffnungsdiskussionsorgien. Nach den ersten zaghaften Lockerungen von Bund und Ländern knirschte es immer lauter.

Denn plötzlich waren die Vergleiche da: Warum dürfen wir nicht, was andere dürfen? Angela Merkel wollte „Kritik und

Widerspruch“. Nun überlässt die Kanzlerin weitgehend den Ländern die neuen Lockerungen. Von Michael Zäh

Der Faktor Zeit ist in vielerlei

Hinsicht ungleich. Es kann

um die Zeit gehen, die Geld

sei, oder um die Zeit, die verschwendet

wird. Es kann um Lebenszeit gehen.

Und „mit der Zeit“ zeigt sich manches,

das anfangs noch verborgen blieb.

Manche meinen ja, dass die Zeit

alle Wunden heile. Das könnte man

auch zynisch verstehen. Andere sagen,

dass sich der Mensch an alles gewöhnt,

also wenn es nur lang genug so

ist, wie es ist. Und es kann ja stimmen,

dass es eine Zeit vor Corona sowie eine

Zeit nach Corona gegeben haben wird.

Im Hier und heute geht es aber um

die Zeit mit Corona. Hier heilen die

Wunden nicht, sondern werden Tag

für Tag größer: In der Gesellschaft, in

der Wirtschaft, in der Kultur, im Sport,

ja überhaupt in allem, was Menschen

in dieser Corona-Zeit durchmachen.

Der Schaden, der momentan für viele

Menschen angerichtet wird, häuft

sich ins Unermessliche. Und das wird

mit der Zeit nicht besser werden,

sondern immer schwerer zu

ertragen.

Die Zeit drängt. Das tut sie ja

immer, aber derzeit umso mehr. Denn

die Menschen in Deutschland (auch

in Europa und der Welt) werden sich

nicht daran gewöhnen können, dass

sie eingesperrt werden. Nicht auf

unbestimmte Zeit. Und wenn alles

von der Verbreitung des Corona-Virus

abhängt, ist die Zeit eben unbestimmt.

Die Menschen werden es mit jedem

Tag, den es länger andauert, umso

weniger akzeptieren können, dass sie

sich nicht mit Verwandten, Freunden,

auch in größeren Gruppen treffen

dürfen. Denn zum Menschsein gehört

es dazu, unter Menschen zu sein. Ja

sogar, auch wenn dies heute wie ein

aussätziger Satz klingt, gehört zum

Menschsein dazu, dass sich Menschen

umarmen, zusammen tanzen und

schunkeln. Körperliche Kontakte, um

es krass zu sagen, fördern ja nunmal

den Fortbestand der Menschheit.

Es mag sein, dass es derzeit nicht

die Zeit ist, dies zu erwähnen. So hat

Angela Merkel am 23. April in ihrer

Regierungserklärung zwar erneut um

größtmögliche Geduld gebeten, aber


Samstag, 30. Mai 2020

. h Mai | 9. 2020 Mai 2020

DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 23

. Mai 2020

Samstag, 30. Mai 2020

auch gesagt: „Diese Pandemie ist eine

demokratische Zumutung.“ Und eine

solche Situation sei „nur akzeptabel

und erträglich, wenn die Gründe für

die Einschränkungen transparent und

nachvollziehbar sind, wenn Kritik

und Widerspruch nicht nur erlaubt,

sondern eingefordert und angehört

werden, wechselseitig“.

Okay, das war keine Botschaft an

die Ministerpräsidenten des Landes,

denen Kanzlerin Merkel tags zuvor

ja noch „Öffnungsdiskussionsorgien“

vorgeworfen hat (wobei man gerne

wüsste, ob für Merkel die Orgien

schon dort beginnen, wo andere sich

nur mal gerne die Speisekarte bringen

lassen würden). Nein, Merkel meinte

wohl das Volk, und zwar „im Großen

und Ganzen.“

Tja, und tatsächlich knirschte es

immer lauter, nachdem erste eher

zaghafte Lockerungen von Bund und

Ländern eingeführt wurden. Denn

plötzlich waren Vergleiche da. Und

die Frage: Warum dürfen wir nicht,

was andere dürfen? Warum durften

zunächst Gläubige wegen der

Corona-Krise nicht in die Kirche,

aber nebenan standen die Leute am

Baumarkt an? Das war nunmal keine

unberechtigte Frage, da man bei einem

durchschnittlichen Gottesdienst in

einer gottgewollt groß gebauten Kirche

das Abstandsgebot leichter umsetzen

kann als dies beim Friseur um die

Ecke möglich ist. Heißt dies dann, dass

Frisur systemrelevant ist, der Gottesglaube

aber nicht? Nun ja, weil das mit

der Zeit drängender wurde, gab es nun

auch Lockerungen für Gläubige.

Und wieso durfte der Laden mit

bis zu 800 Quadratmeter wieder öffnen,

aber der mit 801 Quadratmetern

sollte dicht bleiben? Mit Beschluss

vom 6. Mai haben Bund und Länder

dies nun geändert: Alle Geschäfte

dürfen wieder öffnen. War es wirklich

gerechtfertigt, dass Kitas noch

Monate geschlossen bleiben sollten,

während ältere Kinder in die Schule

zurückkehren dürfen? Die neuen

Lockerungen sehen nun vor, dass die

Notbetreuung in den Kitas ausgebaut

wird. Und stimmte es wirklich, dass

die Gastronomie potenziell ansteckender

ist als der Blumenladen, der

(zum Glück!) wieder öffnen durfte?

Da gab es doch kreative Bemühungen

in Kneipen und Restaurants, um dann

alle Leute hinter Plexiglas-Scheiben

quasi in durchsichtige Separees zu

schicken. (Man wäre ja neugierig,

welche Orgien sich dahinter abhalten

ließen, also ungefähr das, was man

früher Unterhaltung nannte.) Die Zeit

hat Druck gemacht und deshalb haben

nun einige Bundesländer erlaubt, dass

auch die Gastronomie wieder öffnen

kann.

Es gibt noch viele Bereiche, die

man sozusagen „umgedeutet“ hatte:

Kontaktsperren für Jugendliche sind

eigentlich eine Zumutung, aber wegen

Corona sind es nun die Jugendlichen,

die angeblich die Zumutung für die

Gesellschaft darstellen, weil sie sich

gerne treffen wollen. Vereinsamte

Menschen sind derzeit völlig isoliert,

viele sehr alte Menschen sterben in

Pflegeheimen ohne den Beistand und

die Anwesenheit ihrer Nächsten. Ja

und Millionen Menschen fürchten um

ihren Job und ihre Existenzgrundlage.

Das alles hat mit der Zeit viel

Druck aufgebaut. Viele Fragen wurden

drängender, weil sie nicht dadurch

schon beantwortet sind, dass die Corona-Pandemie

es bestimme. Kanzlerin

Merkel fand noch am 23. April die

Lockerungen in manchen Bundesländern

„zu forsch“. Sie befürchtete, dass

dadurch die bis dahin erzielten Erfolge

im Kampf gegen die Ausbreitung des

Virus in Deutschland schnell zunichte

gemacht werden könnten. Das kaufte

man ihr auch ab.

Doch ihr Credo, dass „Kritik und

Widerspruch nicht nur erlaubt“ seien,

„sondern eingefordert und angehört

werden“ sollen, umfasst eben auch

andere Fragen als jene der Verbreitung

des Virus. Merkel weiß auch das. Nun

gibt sie nach und übertrug am 6. Mai

die Verantwortung weitgehend an die

Länder und deren Minister. Merkel

sagte: „Wir können uns ein Stück Mut

leisten.“

Es war höchste Zeit, dass eine

grundsätzliche Entscheidung kommt.

Und diese Entscheidung betrifft die Zeit

und was man daraus machen will. Denn

es zeichneten sich zwei Varianten ab, im

Kampf gegen Corona. Entweder jetzt,

noch am Anfang der Pandemie länger

strikte Regeln einhalten, um danach

wieder voll öffnen zu können, oder in

ständigen Wellen zwischen Lockerungen

und Lockdowns zu leben, die sich

nach der Corona-Verbreitung richten

werden. Die Beschlüsse für „ein Stück

Mut“ sind die zweite Variante, mit einem

„Notfallmechanismus“, also der Zahl an

Neuinfektionen, die dann wieder alle

Beschränkungen aktiviert.

Die Zeit war wohl reif für „ein

Stück Mut“, weil aktuell der Verlauf

der Pandemie es hergab. Nun tastet

sich Deutschland voran, mit unterschiedlichen

Lockerungs-Szenarien in

den Ländern. Angela Merkel zieht sich

aus der Debatte zurück, ohne Orgie.

Illustrationen: Viktor Lukanow


Samstag, 2. Mai 2020

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GESELLSCHAFT

DEUTSCHLAND

Samstag, 2.

Ausgabe 287 am 4.

Samstag, 4. April 2020

Es geht auch um die

Hygiene des Geistes

Live-Kultur. Plötzlich heißt es wie selbstverständlich, dass Jazzklubs, Theater, Kleinkunst,

Klassik-Konzerte und Pop-Events „verzichtbar“ seien. Es ist evident, dass im Kampf gegen die

Verbreitung des Virus alle Live-Acts suspekt sind. Sie stehen aber auch fürs Menschsein.

Von Michael Zäh

Fast unmerklich, so scheint es,

sorgt weltweit die Bekämpfung

des Virus für eine Verschiebung

der Maßstäbe. Und das wird

in jenen Bereichen des Menschseins

besonders deutlich, über die derzeit

in Corona- Zeiten, wie diese genannt

werden, am wenigsten geredet wird.

Und das ist die Kultur, insbeondere

die Live-Kultur. Diese sei nämlich

„verzichtbar“, sagte Jehns Spahn.

Natürlich wissen wir nicht, ob er die

Kultur sowieso nicht so mag, oder ob

er einfach pflichtgemäß als Gesundheitsminister

des Landes spricht. Das

Wort „verzichtbar“ ist aber in jedem

Fall Ausdruck von Ignoranz.

Denn es ist ja so, dass der Widerspruch

auf der Hand liegt. Einerseits

ist es völlig evident, dass in Zeiten

dieser Seuche jedes Live-Event sehr

großen Schaden anrichten kann,

also bezüglich einer „vogelwilden“

Verbreitung des Virus. Andererseits

sollten wir uns trotzdem noch daran

erinnern können, dass die Live-Kultur

eben deshalb eine Gefahr darstellt,

weil sie so beliebt ist. Nur weil

Tausende oder mitunter Hunderttausende

gerne zu den Live-Acts gehen

– und was könnte besser belegen,

dass es hier nicht um „verzichtbare“

Kultur geht? – also nur weil hier die

„Live“-Kultur buchstäblich das „Leben

unter Menschen“ ausmacht, ist

sie nun zur Gefahrenquelle geworden.

Ist es so, dass die Live-Kultur in

Jazzklubs, auf Theaterbühnen, in der

Kleinkunst, bei Klassik-Konzerten

und bei spektakulären Pop-Events

halt nunmal der Luxus des Menschen

ist, solange er keine anderen Probleme

hat? Sobald es aber „ernst“ wird, ist

das süße Kulturleben nebensächlich?

Fast verschwunden, aus den Augen

aus dem Sinn, könnte man da als

Sprichwort bemühen. Wie soll denn

dann die Prioritäten-Hitliste lauten?

Erst die Gesundheit (sprich: Die ist

nicht alles, aber ohne sie ist alles nix),

dann die Wirtschaft, dann der Fußball

(Brot und Spiele, in schwerer Zeit), und

irgendwann später, ganz hinten auf

der Liste: Kultur live, also wie „Life“,

soll heißen: das Leben in gemeinsamen

Momenten. Dieses unwiderruflich

einmalige Gefühl, live und

lebend dabei gewesen zu sein,

statt sich nur aus der Konserve

des Internets zu speisen. Im Überschwang

des Live-Erlebnisses entsteht

ja auch die Frage: Dürfen

wir erstmal noch ein bisschen

leben, bevor wir sterben?

Es nutzt gar nichts, die Gedanken

damit abzutun, dass es ja eh nicht zu

ändern ist. Das stimmt zwar, so klar

und eindeutig wie nirgendwo sonst,

wenn man es aus Sicht der Bekämpfung

des Corona-Virus sieht. Aber

man darf trotzdem darüber nachdenken,

was das denn heißt. Sind wir jetzt

alle dazu verdammt, in der Isolation

zu verharren und der Kultur jenes

„Live“ zu nehmen, das sie so lebendig

gemacht hat? Es ist zwar völlig okay,

wenn viele Kulturschaffende jetzt

von zu Hause ihre Kunst ins Netz

bringen. Die Frage sei aber erlaubt:

Ist das die Zukunft der Menschheit,

jeder für sich mit einem

Medium vor der Birne, ohne

Kontakt zum wahren

Leben?


Samstag, 2. Mai 2020

Mai 2020

DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 25

April 2020

Samstag, 4. April 2020

I‘m a ghost

Living in a ghost town

You can look for me

But I can‘t be found

You can search for me

I had to go under–ground

So lauten ein paar Zeilen eines

neuen Songs der Rolling Stones.

Dieser soll angeblich schon vor

einem Jahr aufgenommen worden

sein, was dann aber wahrhaft Magie

wäre in seiner Weitsicht. Könnte

natürlich Marketing sein,

quasi: Hellseher Jagger.

Aber es passt. Das Feeling

stimmt. Jeder weiß

ja, dass es Hunderttausende

wären, die

bei einer erneuten

Tournee des Stones

dabei sein wollen.

Und ebenso weiß jeder,

dass Mick Jagger und Keith

Richards mit ihren 76 (!) Jahren zur

Risikogruppe gehören (na ja, wobei

Richards wohl nie in seinem Leben

I‘m a ghost

Living in a ghost town

I‘m going nowhere

Shut up all alone

So much time to lose

Just staring at my phone

(Ich bin ein Geist

Der in einer Geisterstadt lebt

Ich gehe nirgendwo hin

Eingesperrt, ganz alleine

So viel Zeit zu verlieren

Nur auf mein Handy starrend)

Tja, das ist der Song, der passt!

Das ist heute und im dazu gehörigen

Video mit Bildern der verlassenen

Städte dieser Welt veranschaulicht.

Es sind aber natürlich nicht die

Rolling Stones, mittlerweile alt und

reich (und trotzdem weiterhin klasse),

um die wir uns jetzt sorgen müssen.

Es sind die unzähligen eher kleinen

I‘m a ghost

Living in a ghost town

I‘m going nowhere

Shut up all alone

So much time to lose

Just staring at my phone

(Ich bin ein Geist

Der in einer Geisterstadt lebt

Ich gehe nirgendwo hin

Eingesperrt, ganz alleine

So viel Zeit zu verlieren

Nur auf mein Handy starrend)

I‘m a ghost

Living in a ghost town

You can look for me

But I can‘t be found

You can search for me

I had to go underground

eine Drogen-Risiko gescheut hat).

Aber dieses : „You can look for me.

But I can‘t be found“ (Du kannst nach

mir Ausschau halte. Aber ich kann

nicht gefunden werden) erinnert an

die großen Hits wie „Street Fighting

Man“ und „Sympathy for the Devil“.

Live-Veranstalter, oft auch Familienbetriebe,

die nicht nur wirtschaftlich

vor dem Nichts stehen, sondern wohl

auch von der Umdeutung konsterniert

sind, die wie selbstverständlich

um sich greift: Live-Kultur ist jetzt

gleich: Seuche!

Daran knüpft sich schon auch die

Frage, ob ein seelenloses Virus nun

das bestimmen darf, was Menschen

denken. Denn was der Mensch denkt,

und wie er es denkt, gibt dem Teufel

Gestalt und Sinn, oder eben trägt zu

dessen Überwindung bei. Da geht es

jetzt mal nicht um Medizin, sondern

um die Hygiene des Geistes.

Pleased to meet you

Hope you guess my name!


Samstag, 25. April 2020

26

POLITIK

AMERIKA

Corona-Tagebuch

Samstag, 25.

Ausgabe 287 am 4.

Samstag, 25. April 2020

Donald Trump findet

sich always great

Amerika und die Corona-Katastrophe. Obwohl der US-Präsident nachweislich die Gefahr

durch das Corona-Virus lange leugnete, wollte er sich mit „allumfassender Macht“ zum

alleinigen Entscheider darüber machen, wann Lockerungen für die Wirtschaft kommen.

Von Michael Zäh

Donald Trump zeigt ja eigentlich

immer sein wahres Gesicht. Man

kann ihm daher nicht anlasten,

dass er ein echt raffinierter Lügner sei.

Jede noch so bescheidene Dumpfbacke

erkennt, dass es Trump stets um ihn

selbst und seine von ihm postulierte

Großartigkeit geht. Er ist also insofern

ehrlich. Man weiß, was man an ihm hat.

„Wir haben es völlig unter Kontrolle.

Es ist nur eine Person, die aus

China kommt, und wir haben es unter

Kontrolle. Es wird alles gut werden“,

sagte Trump am 22. Januar in einem

CNBC-Interview, nachdem am Vortag

der erste Fall einer Corona-Infektion in

den USA bekannt geworden war.

Am 30. Januar dann, als die WHO

die Ausbreitung des Virus zur „gesundheitlichen

Notlage von internationaler

Tragweite“ erklärte, sagte Trump: „Wir

haben in diesem Land im Moment ein

sehr kleines Problem - fünf. Und alle

diese Menschen erholen sich erfolgreich.“

Am 10. Februar sagte Trump: „Sie

wissen, dass es im April angeblich mit

dem heißeren Wetter stirbt. Und das ist

ein wunderbares Datum, auf das man

sich freuen kann.“

Am 26. Februar hieß es von Trump:

„Bei uns geht es ganz erheblich nach

unten, nicht nach oben. Es ist in etwa

wie die normale Grippe, gegen die

wir Impfungen haben. Und im Prinzip

werden wir dafür ziemlich schnell eine

Grippeimpfung bekommen.“

Am 9. März twitterte Trump: „Die

Fake-News-Medien und ihre Partner,

die Demokratische Partei, tun alles in

ihrer halbwegs beachtlichen Macht

(früher war sie größer!), um die Corona-Lage

stärker anzuheizen, als die

Fakten es hergeben.“

Stand 17. April gibt es in den USA

knapp 672.000 Infizierte und 33.288

Tote, stündlich wachsend.

Heutzutage sind ja all die früheren

Sprüche des US-Präsidenten in Ton,

Bild und Twitter gespeichert. Doch jetzt

kommt das Erstaunliche: Trump schert

es nicht, dass mit all diesen digital gespeicherten

Aussagen von ihm selbst

ja auch schon bewiesen ist, dass er das

Corona-Virus lange Zeit verharmlost

hat. Er setzt offenbar darauf, dass in

der schnellebigen Welt der sozialen

Netzwerke kein Mensch mehr die Aufnahmen

von gestern (gefühlt: vor einer

Ewigkeit) anschaut.

Kürzlich hat nun die „New York

Times“ detailliert nachgezeichnet, wie

Trump es in den wohl entscheidenden

Wochen zwischen Ende Januar und

Mitte März versäumt hatte, die USA

auf die Corona-Krise vorzubereiten.

Während einige seiner Berater und die

Gesundheitsexperten in der Regierung

schon früh vor einer Pandemie gewarnt

hatten, hatte Trump es versäumt, Ausgangssperren,

Schulschließungen und

andere Maßnahmen abzusegnen, um

die Ausbreitung des Virus möglichst zu

verlangsamen.

Trump sprach - wie immer - von

„Fake News“ und sagte gleich dazu,

dass auch die „New York Times“ selbst,

quasi als ganze Zeitung eine einzige

Fake-News sei. Dummerweise hat dann

aber ein Mann dem Präsidenten indirekt

widersprochen, den das Magazin „The

New Yorker“ erst kürzlich zum „vertrauenswürdigsten

Mann Amerikas“ gekürt

hat: Der Immunologe Anthony Fauci, 79

Jahre alt, der bereits sechs US-Präsidenten

als oberster Berater zur Seite stand.

Bei Trump ist dies in letzter Zeit

ziemlich buchstäblich zu verstehen


Samstag, 25. April 2020

| 18. April 2020

April 2020

AMERIKA POLITIK 27

April 2020

Samstag, 25. April 2020

gewesen: In den täglichen Presseauftritten

von Trump steht Fauci seitlich

hinter Trump, während dieser von

Dingen prahlt, die er nicht versteht. Wie

etwa am 5. April, als er vor Millionen

Zuschauern die Einnahme eines Malaria-Mittels

anpries. „Take it“ und „Try

it“ rief Trump der Nation zu. Er hatte

davon schon am 6. März in einer Rede

in Atlanta geschwärmt: „Ich mag dieses

Zeug. Ich verstehe es wirklich. Die Leute

sind überrascht, dass ich es verstehe.

Jeder dieser Ärzte sagte: ‚Woher wissen

Sie so viel darüber?‘ Vielleicht bin ich

ein Naturtalent.“ Noch Fragen?

Doch dann kommt Anthony Fauci

als Fachmann zu Wort, der somit von

seitlich hinter Trump ganz nach vorne

gebeten wird. Und der sagte in diesem

Fall: Die Wirksamkeit des

soeben vom Präsidenten

angepriesenen Mittels sei

nicht durch Studien belegt,

die nämlich allenfalls eine

„anekdotische Evidenz“ hätten

(ein kleiner Seitenhieb nach Marseille,

wo Frankreichs führender Seuchenbekämpfer

eine Mini-Studie mit 26 (!)

Teilnehmern machte). Die Belege, sagte

Fauci nun dem Millionen-Publikum,

reichten nicht für eine Empfehlung.

So ging das schon seit einer Weile

zwischen Trump und Fauci, der dabei

stets betonte, dass er sich nicht gegen

den Präsidenten aufspielen will. Nun

aber hat Fauci in einem Interview mit

CNN (auf den New-York-Times-Artikel

angesprochen), bestätigt, dass wohl

weniger Amerikaner gestorben wären,

wenn man das Land früher dicht

gemacht hätte. Prompt ließ Trump

in einem Tweet durchblicken, dass

er Fauci feuern will. Es ist so: Jeden

Morgen steht Trump auf, schaut in den

Spiegel und sagt sich: „Make

Trump great again!“

Und als er es gemerkt hat,

dass seine Verharmlosung

des Corona-Virus ihm noch schaden

könnte, hat er schamlos die verbale

Kehrtwende gemacht: „Ich habe immer

gewusst, dass das eine Pandemie

ist. Ich hatte das Gefühl, dass es eine

Pandemie ist, lange bevor es als Pandemie

bezeichnet wurde.“ Oder, na

klar, einen Schuldigen benannt: „Die

WHO hat es wirklich vermasselt.“ Der

Organisation mit Sitz in Genf fror er

die US-Zahlungen ein.

Besonder dreist ist der Gegensatz

späterer Äußerungen zu den früheren:

„Wenn wir es so eindämmen können,

dass wir zwischen 100.000 und 200.000

Tote haben, dann haben wir alle zusammen

einen guten Job gemacht“, so

Trump im April.

Es könnte sein, dass sich in den USA

ein Drama abspielt, wie es bisher kaum

vorstellbar war. Nämlich dass Trump

trotz täglich steigender Todeszahlen

(die ja längst die höchsten in der Welt

sind) den Lockdown öffnen will, weil er

um seine Wiederwahl fürchtet, wenn

es der Wirtschaft schlecht geht. Trump

meint, dass er allein über die Lockerung

der Corona-Auflagen entscheiden

kann. „Wenn jemand Präsident der

Vereinigten Staaten ist, ist die Macht

allumfassend“, so Trump in geradezu

verräterischer Offenheit. Gouverneure

aus den einzelnen US-Staaten wiesen

das umgehend mit der Argumentation

zurück, die Verantwortung für

die öffentliche Sicherheit liege gemäß

dem föderalen System der USA bei ihnen.

Das wiederum ist prima für

Trump: Geht es schief, dann

sind die Gouverneure schuld.

Layout: Viktor Lukanow


Samstag, 18. April 2020

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GESELLSCHAFT

DEUTSCHLAND

Corona-Tagebuch

Samstag, 18.

Ausgabe 287 am 4.

Samstag, 18. April 2020

Da ist der Mensch

wie der Hund

Verbote. Wenn es verboten ist, in München auf einer Parkbank ein Buch zu lesen, dann fragt

sich der Mensch schon, was hier der Hintergedanke ist. Der Weiße Schäferhund oder der Tibet

Terrier befolgen Befehle auch nur, wenn sie deren Sinn einsehen. Von Michael Zäh

Wenn Sie einen Hund suchen,

der ohne zu zucken auf Ihre

Befehle hört, dann ist der

Weiße Schäferhund nicht der richtige

für sie. Denn er befolgt einen Befehl

nur, wenn er auch den Sinn des Befehls

einsieht. So steht es geschrieben in

einem einschlägigen Ratgeber.

Nun ist der Mensch natürlich

nicht in jeder Hinsicht wie der Hund.

Es könnte aber sein, dass auch der

Mensch sich eher jenen Befehlen

beugt, deren Sinn er einsehen kann.

Und umgekehrt: Je strikter der Mensch

die Befehle befolgen soll, die derzeit

überall in der Welt sind, desto eher

neigt er zum Ausbrechen. Und wenn

der Weiße Schäferhund nicht will,

dann will er nicht. Da kann Herrchen

zehnmal „du sturer Hund“ rufen. Nutzt

dann gar nix.

Doch heute ist ja auch ein Mensch

nicht nur „der Mensch“, sondern er ist

womöglich ein Franzose anstatt ein

Deutscher, ein Amerikaner gar, oder

als Deutscher vielleicht ein Bayer.

Die Unterschiede sind derzeit riesig,

jetzt mal rein vom erzieherischen

Ansatz her gesehen. Es ist insgesamt

zu loben (siehe Titel), dass in Deutschland

mit den deutlich sinnvolleren

Kontakverboten anstatt den schwer

nachvollziehbaren Ausgangssperren

wie etwa in Frankreich und anderswo

operiert wird.

Wer dort nur eine Stunde am

Tag aus der Wohnung darf und dies

dann auch nur im Umkreis von einem

Kilometer um den Wohnsitz, selbst

wenn er völlig allein spaziert und den

Mindestabstand von zwei Metern zu

anderen Personen einhält, dem kann

als Mensch und Franzose schon die

Sinnkrise kommen, weil hinter dem

strikten Ausgehverbot einfach nur

Drohung (und die Vollstreckung der

Strafe) steckt und keine nachvollziehbare

Erklärung.

Hinzu kann dann noch kommen,

je nach Lebenssituation, dass die so

auferlegten Verbote aller Wahrscheinlichkeit

nach mehr Schaden anrichten

als Gutes zu bewirken. Etwa wenn der

Mensch in einem Hochhaus in einem

Vorort von Paris lebt, und dort auf

45 Quadratmetern mit weiteren acht

Leuten in einem Haushalt. Jetzt, selbst

wenn er da nicht wahnsinnig wird,

weil er nur eine Stunde am Tag raus

darf, ist es doch so, dass es für alle

besser wäre, wenn er fünf Stunden an

der frischen Luft spaziert wäre.

Auch in Deutschland gibt es einige

Beispiele, bei denen sich die Sinnfrage

stellt. „Nein, ein Buch auf einer Bank

lesen ist nicht erlaubt“, lautet etwa

ein Tweet der Müncher Polizei. Es gab

entsprechend auch Fernsehbilder von

Park- bzw. Uferbänken am Bodensee,

die allesamt mit rotweißem Plastikband

umwickelt sind, damit sich da

bloß keiner drauf setzt.

Jetzt warum? Angenommen man

würde sagen, dass halt derzeit immer

nur eine Person auf eine Bank sitzen

darf, möglicherweise mit dem Appell

verbunden, dass der lesend Sitzende

auch an jene denken soll, denen er

nicht zu lange den Platz wegnehmen

soll, sprich: Kurzgedicht und dann im

Gehen weiter denken. Dann wäre doch

im Sinne der Gesundheit aller logisch,

dass dies kaum gefährlich wäre, aber

förderlich für Geist und Seele.

Wenn ein Buch auf einer Bank zu

lesen in München nicht erlaubt ist,

dann kommt der Mensch ins Grübeln.

Denn er fragt sich prompt nach dem

Grund dafür. Da ist der Mensch ganz

ähnlich wie der Tibet Terrier, der laut

Ratgeber „über ein großes Maß an

Unabhängigkeit und Sebstsicherheit

verfügt.“ Ergo: „Unterwürfigkeit oder

gar bedingungslose Unterwerfung

können wir beim Tibet Terrier also

niemals erwarten.“

Doch weil der Mensch sich etwas

denken kann, kann er sich schon auch

denken, dass hinter solchen Verboten

wie dem von der Müncher Parkbank

ein weiterer Gedanke der Behörden

steckt. Nämlich derselbe, weshalb das

Sonnenbaden (trotz allem Abstand

zu anderen Leuten) in Parks und auf

Wiesen nicht erlaubt sein soll.

Achtung, die Beörden denken sich:

Wenn einer auf die Parkbank darf,

dann wollen das alle anderen auch.

Und dann ist jeder Abstand schnell dahin

und womöglich finden dann sogar

Gespräche zwischen Leuten statt, die

sich erzählen, was sie jeweils lesen.

Auch das Sonnenbaden hat ja quasi

einen Sogeffekt, weil die Sonne ist ja

für alle da. Warum aber Leute nicht

aus Berlin raus in ihre Zweitwohnung

aufs Land dürfen, kann dann doch

wieder keiner erklären.

Solche Hintergedanken, die nicht

wirklich mitgeteilt oder gar diskutiert

werden, haben einen groben Fehler.

Und der besteht darin, dass sowieso

alle Maßnahmen zur Eindämmung

des Corona-Virus nur funktionieren

können, wenn halt möglichst viele

Menschen aus eigener Überzeugung

auch mitmachen. Und dies scheint ja

in Deutschland auch recht gut zu klappen.

Deshalb sollte es nicht von dem

Gedanken der Unmündigkeit der Bürger

(schwer erziehbare Kinder) untergraben

werden, wo es doch gerade die

Mündigkeit ist, die derzeit alles trägt.

Deshalb nochmal zurück: Weshalb soll

es den Bürgern nicht zuzutrauen sein,

sich an sonnigen Tagen an der frischen

Luft, auf Parkbänken oder Wiesen so

verantwortungsvoll zu verhalten wie

sie es schon die ganze Zeit über tun?

Ohne die Einsicht und Disziplin der

Gesellschaft geht eh gar nix. Da ist der

Mensch wie der Hund: „Naturgemäß

verfügt der Tibet Terrier über eine

gewisse Zielstrebigkeit, wenn es ihm

darum geht, seinen Willen durchzusetzen.

Anweisungen, die er nicht für

geeignet hält, kann er auch einmal

schlicht ignorieren.“


Samstag, 18. April 2020

| 11. April 2020

April 2020

DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 29

April 2020

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GESELLSCHAFT

EXPERTISE

Corona-Tagebuch

Samstag, 18.

Ausgabe 287 am 4.

„Jeder einzelne

Samstag, 18. April 2020

Mensch erlebt dies

seelisch anders“

Interview. Die Psychologin Dr. Andrea Zäh trägt einen anderen Blick zur

aktuellen Pandemie bei. Was vorher schon war, wird durch die Corona-

Krise nicht verschwinden, sondern nur anders sein.

Interview von Michael Zäh

Dr. Andrea Zäh erklärt im Interview

mit ihrem Bruder, weshalb

es auch noch einen anderen

Blick auf das Geschehen rund um die

Ausbreitung des Corona-Virus geben

kann. Nämlich den der Einzigartigkeit

jedes einzelnen Menschen und den Umstand,

dass deshalb auch jeder einzelene

Mensch die momentane Corona-Krise

seelisch anders erlebt.

ZaS: Was versteht man unter Gesundheit

?

Andrea Zäh: In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation

heißt es: „Gesundheit

ist ein Zustand des vollständigen

körperlichen, geistigen und sozialen

Wohlergehens und nicht nur das Fehlen

von Krankheit oder Gebrechen. »

ZaS: Was heißt dies bezüglich der psychischen

Gesundheit?

Andrea Zäh: Psychische Gesundheit ist

die Möglichkeit zum seelischem individuellem

Wohlbefinden. Ein Mensch,

der sich seiner selbst bewusst ist, der

einerseits genug widersprüchliche Fixierungen

in sich trägt, um so krank

zu sein wie viele Patienten, der andererseits

aber auf seinem Weg nicht

auf zu viele oder zu große interne und

externe Schwierigkeiten gestoßen ist,

hinsichtlich seiner erblichen und seiner

erworbenen affektiven Ausrüstung,

hinsichtlich seiner defensiven und anpassungsfähigen

persönlichen Fähigkeiten.

Denn dieselben ermöglichen

ihm seine Bedürfnisse und Triebe, seine

irrationalen und rationalen seelischen

Vorgänge weiterhin so zu steuern, in

Schach zu halten, damit er auf persönlicher

und sozialer Ebene, unter gebührender

Berücksichtigung der Realität,

flexibel bleibt.

ZaS: Was bedeutet dies in Bezug auf die

derzeitige Krisen-Situation wegen des

Corona-Virus, die ja nun tatsächlich

eine Realität ist, die es gebührend zu

berücksichtigen gilt? Es wurden inzwischen

mehr als 3,5 Milliarden Menschen

aufgefordert zu Hause zu bleiben, um

die Ausbreitung der Pandemie einzugrenzen

bzw. zu verzögern.

Andrea Zäh: Ja genau, diese Schutzmaßnahmen

betreffen unglaublich

viele Menschen auf der Welt, in ganz

verschiedenen Ländern, wo die medizinische

Versorgung mehr oder weniger

gelingt. Auch in Europa sind die

sozialen, materiellen und finanziellen

Unterschiede sehr groß, und damit auch

konkret die persönlichen Bedingungen

der Menschen, diese Kontaktsperre

positiv oder negativ zu erleben. Solange

man nicht ins Krankenhaus muss und

da man nicht mehr an seinen Arbeitsplatz

gehen kann, soll ja Jeder zu Hause

bleiben. Entscheidend ist hier aus meiner

Sicht: Jeder einzelne Mensch erlebt

dies seelisch anders!

ZaS: Worauf wollen Sie hinaus? Haben

Sie vielleicht ein paar Beispiele?

Andrea Zäh: Ich will betonen dass jeder

Mensch nicht nur unter ganz verschiedenen

sozialen, beruflichen, materiellen,

auch körperlichen Bedingungen

diese noch nie dagewesene Situation

mehr oder weniger bewältigt. Sondern

dass auch jeder Mensch psychisch

mehr oder weniger unter der Situation

leidet. Ein paar Fallbeispiele sollen das

verständlich machen. Also, es gibt Menschen

welche die derzeitige Ausgangssperre

eher nutzen, um weiterhin zu

schaffen: Worte finden, Gestalt geben,

kreativ sein in verschiedener Weise.

Ich denke an eine 60 jährige Künstlerin,

Madeleine (alle Namen wurden von der

Redaktion geändert, sind also fiktiv),

ZUR SACHE

Die Methode der Psychoanalyse

Die Methode der klinischen Psychologie ist die eingehende Untersuchung von

normalen oder pathologischen Einzelfällen auf der Grundlage von Beobachtungen

und Gesprächen, in denen persönliche lebensgeschichtliche, innere seelische

psychodynamische, sowie familiäre und soziale Elemente gesammelt werden.

Anders ausgedrückt: es geht um individuelles menschliches Verhalten und seine

Bedingungen, also um die Untersuchung einer einzigartigen Persönlichkeit in der

Gesamtheit ihrer momentanen Situation und ihrer Entwicklung.

Klinische Tiefenpsychologie wurde von Sigmund Freud als Psychoanalyse bezeichnet

in der man drei Ebenen unterscheidet: „Psychoanalyse ist der Name

1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum

zugänglich sind; 2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich

auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem

Wege gewonnen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen

Disziplin zusammenwachsen.“ (S.Freud, Gesammelte Werke XIII, Seite 211)

Die psychoanalytische Methode besteht also in der Hervorhebung der unbewussten

Bedeutung von Gesagtem, Handlungen, Träumen, Fantasien oder

Wahnvorstellungen von jedem einzelnen Menschen. Die Methode beruht auf den

freien Assoziationen des sogenannten Patienten einerseits, und auf der Deutung

derselben vom Psychoanalytiker anderseits, welcher seine ganze gleichschwebende

Aufmerksamkeit diesem einen Patienten widmet.

Es handelt sich um eine individuelle Psychotherapie. Diese psychoanalytische Kur

besteht aus regelmäßigen Treffen, wobei der Patient folgende Grundregel einhalten

sollte: „Sagen Sie, was Ihnen spontan einfällt, auch wenn es ihnen unwichtig,

albern, peinlich, nicht dazugehörig oder unlogisch erscheint“. Es handelt sich also

nicht um ein rationales vernünftiges Gespräch!

Währenddessen kommt es zur einer sogenannten Übertragung , das heißt der

Patient überträgt seine unbewussten Wünsche bzw. Ängste auf den Analytiker,

und wiederholt dabei seine üblichen inneren seelischen Konflikte. Sie werden

somit aktualisiert, dann werden ihre unbewussten Bedeutungen freigelegt. Diese

Ursachenforschung ist gleichzeitig die Lösung der seelischen Konflikte wodurch

neurotische Symptome verschwinden, sich geradezu auflösen.

Andrea Zäh


Samstag, 18. April 2020

| 11. April 2020

April 2020

EXPERTISE GESELLSCHAFT 31

April 2020

die weiterhin kreativ zuhause eine

Samstag, neue 18. April Schmuckkollektion 2020 entwirft. Sie

sagte mir sogar, dass sie sich während

dieser Zeit intensiver auf ihr Schaffen

konzentriert.

Auch eine 67 jährige Schriftstellerin,

Ariane, schreibt weiter an ihrem früher

begonnenem Kriminalroman. Sie steht

jeden Morgen auf und setzt sich gleich

an ihren Schreibtisch, das gefällt ihr, ja

das gelingt ihr eher gut.

Auch kenne ich einige liebe Omas die

weiterhin still stricken, zum Beispiel

die 81jährige Clara, die momentan

viele wunderbare tolle Pullis für sich

und ihre Lieben strickt. Und auch die

88jährige Monique bestickt weiterhin

wunderschöne Tischdecken.

Samantha, 45 Jahre alt, hat inzwischen

die tollsten Dekorationen in Macrame

erfunden, in Vorbereitung auf ihre im

Sommer bevorstehende Hochzeit. Das

beruhige sie, selbst wenn die geplante

Heirat wahrscheinlich auf später verschoben

wird.

Und es gibt Menschen, die neue Musik

oder Lieder komponieren und diese

Kreationen sogar veröffentlichen in den

digitalen Medien. Darunter übrigens

eine Menge Komiker, die mehr oder

weniger Lustiges, manchmal Ironisches

veröffentlichen.

ZaS: Sie fangen mit denen an, die nicht

so sehr unter der Situation leiden. Haben

Sie auch Beispiele von Menschen, die

jetzt größere Probleme haben?

Andrea Zäh: Vielleicht riskiert derzeit

so mancher Drogenabhängige, dass

er derzeit zu noch mehr individuellem

Konsum von Alkohol, Cannabis oder

anderem neigt. Der 70jährige Christophe

kümmert sich vor allem darum wo, er

problemlos seine übliche tägliche Dosis

Whisky kaufen wird. Der 50jährige

Pierre, der sich schon jahrelang an Cannabis

gewöhnt hat, weiß inzwischen,

dass bald aus Marokko fast nichts mehr

nach Europa rüberkommen wird, weil

die Grenzen geschlossen sind.

Simon und seine Freunde, Jugendliche

jünger als 20 Jahre alt, zeigen weiterhin

Risikoverhalten, wollen den erlassenen

Verboten entgehen, treffen sich abends

in Gruppen obwohl die Regierung das

inzwischen verbietet!

Alzheimerkranke verstehen durch ihre

neurologische Krankheit vielleicht

gar nicht, warum jeder Mensch sich

unbedingt an die vernünftige Hygiene

halten sollte.

Und so stellen sich viele Fragen: Wie

geht es den Zwangsneurotikern, zum

Beispiel jenen, die sowieso andauernd

ihre Wohnung putzten? Immer wieder

putzen, heute mehr als jemals zuvor?

Wie sieht es aus, wenn jemand schon

etwas länger an einer Angstneurose

leidet, sich lieber in großen Räumen, gar

draußen aufhält als in einer vielleicht zu

engen Wohnung?

Hypochondrische Menschen oder sogenannte

Hysteriker fühlen sich eventuell

in ihren schon da gewesenen inneren

irrationalen Ängsten vor körperlichen

Krankheiten bestätigt.

Werden gewalttätige Männer gegenüber

Frauen sanfter oder noch schlimmer?

Wie begreifen besonders liebenswerte

Autisten überhaupt, worum es eigentlich

momentan geht in der allgemeinen

Realität?

Oder Schizophrene, Paranoiker, Melancholiker:

sind sie gewappnet, unsere

Psychotiker?

Etwa eine 32jährige Schizophrene, die

ihre Therapeutin wiederholt täglich

anruft, um dieselbe zu bitten, ihr nochmal

genau den Prozentsatz zu nennen

zwischen Corona-Risikopatienten, den

Kranken und den Toten.

Mancher empfindet Trennungsangst,

und solche wird je mehr aktiviert als er

jetzt von seinem Partner oder Partnerin

getrennt leben muss, da Reisen derzeit

weitgehend verboten sind.

Ein Anderer kann möglicherweise seine

häufige sexuelle Lust momentan nicht

mehr befriedigen und leidet besonders

unter dieser aktuellen Frustration, seine

Kastrationsangst überkommt ihn.

Schon früher konkret traumatisierte

Menschen durch Attentate – gerade hier

in Nizza – werden an das schrecklich

Erlebte erinnert: ihre Todesangst wird

reaktiviert.

ZaS: Sie wollen also verdeutlichen, dass

die extreme Situation in der sogenannten

Corona-Krise für jeden Menschen

anders ist, je nachdem wie er disponiert

ist?

Andrea Zäh: Es gibt viele Beispiele

dafür. Alberto, ein 40jähriger Mann,

ein eher kontaktscheuer Mensch, fühlt

sich erleichtert durch die offizielle

Ausgangssperre: endlich braucht er

nicht mehr dem sozialen Druck der

üblich flüssigen zwischenmenschlichen

Kommunikation zu entsprechen. Viele

Sportler trainieren weiterhin bei guter

Laune daheim: sie halten sich durchaus

fit, in Form und bei weiterer körperlicher

Gesundheit. Nur wie machen denn das

die Surfer, Schwimmer, Segler: eine

besonders große Anpassung ist also

gefragt!

ZaS: Klar, jeder Mensch empfindet

sein Leben, seine eigene Seele, seine

bisherigen oder momentanen Probleme

und führt seine individuelle

Lebensgeschichte weiter. Könnten

Sie vielleicht etwas klarer ausführen

inwieweit oder inwiefern Ihr psychoanalytischer

individualpsychologischer

Gesichtspunkt in dieser kollektiven

Situation hilfreich sein könnte?

Andrea Zäh: Individualpsychologisch

ausgedrückt geht es um die Besonderheit

jedes Menschen, um seine

Einzigartigkeit. Um sein seelisches

Gleichgewicht

und um seine Anpassungsfähigkeit

in jeglicher und

momentan um

die von außen

angsterregende

Situation. Laut psychoanalytischem

Ansatz hat sowieso jeder Mensch immerzu

mit seinen inneren widersprüchlichen

bewussten und unbewussten

Konflikten zu kämpfen. Kommt eine

tatsächliche äußere Gefahr hinzu, wird

es noch komplizierter! Je nach Lebensalter

– Kleinkinder, Kinder, Jugendliche,

Erwachsene, alte Menschen – wirkt sich

die äußere Gefahrensituation anders auf

ihr seelisches Innenleben aus.

ZaS: Wie lässt sich das näher erklären ?

Andrea Zäh: Jeder Mensch, je nach Alter,

Erfahrung und Lebensgeschichte

empfindet zwar immer wieder seine

eigenen inneren üblichen Ängste, jedoch

wendet jeder Mensch dagegen

individuelle psychische Abwehrmechanismen

an.

ZaS: Was sind Abwehrmechanismen ?

Andrea Zäh: Abwehrmechanismen sind

psychische Prozesse, die im Allgemeinen

dem organisierten Selbst zugeschrieben

werden. Ihre Aufgabe ist

es, optimale psychische Bedingungen

zu organisieren und aufrechtzuerhalten,

die dem Selbst des Individuums

helfen können, sich zu wappnen, zu

stellen und Angstzustände und geistige

Beschwerden zu vermeiden. Sie

beteiligen sich somit an Versuchen, die

psychischen Konflikte zu bewältigen,

können aber durch ihre übermäßige

oder unangemessene Verwendung das

psychische Wachstum beeinträchtigen,

und dann zu durchaus störenden

und beeinträchtigenden Symptomen

führen. Anders gesagt: Gegen innere

sowie äußere Ängste – wie hier die

Angst vor der Ansteckung mit dem

Corona-Virus – wird einer versuchen

sie zu vergessen, indem er sie möglicherweise

verdrängt. Der nächste wird

sie verneinen, sie vielleicht gar nicht

wahrnehmen, indem er seine Angst

von seinem Bewusstsein, seiner Wahrnehmung

abspaltet. Wieder ein anderer

verschiebt oder verdichtet hingegen

seine Ansteckungsangst auf eine bisher

belanglose körperliche Schwäche,

der er plötzlich viel mehr Aufmerksamkeit

widmet. Kreative Menschen

sublimieren.

ZaS: Was können Sie den Menschen

raten in diesen Zeiten der Bedrohung

durch das Corona-Virus?

Andrea Zäh: Es ist besonders wichtig den

grundsätzlichen Unterschied zwischen

Fantasie und Realität beizubehalten,

d.h. jeden Tag so zu organisieren dass

eigenes Gefühl von Raum und Zeit

weiter gut strukturiert bleibt. Seine

Affekte sollte man versuchen zu erkennen,

wenn möglich in Worte fassen.

Natürlich sollten ein paar persönliche

Träumereien nicht fehlen, einen gewissen

inneren Spielraum sollte man

sich durchaus gewähren, sozusagen als

Übergangsbereich: etwa vorübergehend

Zuflucht in einen guten Film finden,

oder einen schönen Roman lesen, ja

mal öfters die eigene Lieblingsmusik

anhören.

ZUR PERSON

Dr. Andrea Zäh

Die Dipl.-Psych. Dr. Andrea Zäh

arbeitete 40 Jahre im Gesundheits-

und Bildungswesen, in der

Forschung, in psychosozialen Helferinstitutionen

sowie in eigener

Praxis als Psychoanalytikerin. In

Paris an der Universität Paris 10 als

klinische Psychologin durch praxisbezogenes

Hochschuldiplom zum

Master ausgebildet, hat sie an der

Universität Paris 7 als Freud-Expertin

promoviert. Weitergebildet

in Sciences-Po Paris durch ein Executive

Master der gerontologischen

Politikwissenschaften und an der

Universitätsklinik Nizza in der psychiatrischen

Phänomenologie.

Sie war hauptsächlich in Einrichtungen

der Behindertenhilfe, Kindertagesstätten,

in der Jugendund

Familienhilfe sowie Kinderheilkunde

tätig. Als Dozentin wirkte

sie an der Universität Paris 13, in

École Centrale Paris der allgemeinen

Ingenieurwissenschaften, als

Erasmusgastdozentin an der Charité

in Berlin und als leitende Pädagogin

an der Psychopädagogischen

Fachoberschule zur Erzieher-Ausbildung

in Nizza.

Sie lebt weiterhin in Frankreich,

widmet sich heute persönlich in

Nizza besonders der Philosophie,

dem Yoga und der Meditation.

Kontakt:

andreazah@sfr.fr

miz


32 Corona-Tagebuch | 4. April 2020

Rauchende Colts

Marshall Matt Dillon hat früher die Banditen gejagt, die ein Halstuch vor Nase

und Mund hatten. Wer damals im Röhren-TV zusah, ist heute in der Risikogruppe.

Wie auch die Ärzte, denen millionenfach Schutzausrüstung fehlt. Von Michael Zäh

Wenn es so käme, dass der deutsche Bürger nur

noch mit Mundschutz durch die Gegend laufen

darf, weckt dies bei manchem Zeitgenossen

ganz klar Erinnerungen: Rauchende Colts, ein gewisser

Marshall Matt Dillon, der all jene gejagt hat, die sich ein

Halstuch vor Nase und Mund gebunden hatten, sprich:

die Banditen. Damals im staubigen Wilden Westen, und

sehr lange vor dem World-Wide-Web. Auch vom Virus

keine Spur, damals.

Die Vorstellung, dass wir alle vom „Gunsmoker“ durch

die Prärie gejagt werden, weil wir schnell zu Pferde eine

Postkutsche ausgeraubt haben, ist durchaus tröstlich. Weil

das ist ja Kindheitserinnerung. Doch die Vorstellung, dass

wir bald alle unser Gesicht banditengleich hinter einer

Maske verstecken müssen, um außer Haus gehen zu dürfen,

hat dafür eher den Hauch des Bösen. Da wüsste der

Marshall Matt Dillon ja gar nicht mehr, welche Schurken

er zur Strecke bringen soll.

Man könnte auch sagen, dass es etwas irre wirkt, wenn

heuer über solche Mundschutzmasken für die gesamte

Bevölkerung gesprochen wird, während ja derzeit genau

solche Masken dort millionenhaft fehlen, wo sie wirklich

dringend gebraucht würden. Laut einer Liste der AOK

fehlen schon allein bei den niedergelassenen Ärzten (also

ohne die Kliniken, Krankenhäuser oder auch Pflegeheime

etc.) rund 115 Millionen Mund-Nasen-Schutzmasken,

außerdem 47 Millionen Masken der FFP2-Qualität sowie

zusätzlich noch mal 7,5 Millionen FFP3-Masken der

noch höheren Qualität. Was außerdem fehlt: 63 Millionen

Schutzkittel, 55 Millionen Packungen Einmalhandschuhe,

sowie 3,7 Millionen Schutzbrillen.

Diese Mängel sind nicht etwa durch das plötzliche

Auftreten des Coronavirus entstanden, sondern werden

dadurch nur sichtbar. Die bittere Wahrheit ist nämlich,

dass es bereits 2005, also vor 15 Jahren (ist ja natürlich

nix sind im Vergleich zu den Hochzeiten von „Rauchende

Colts“) einen Pandemieplan gab, den damals schon das

Robert-Koch-Institut (heute ja in aller Munde) im Auftrag

des Bundesgesundheitsministeriums erstellt hat. Dieser

Plan sieht vor, dass benötigte Materialien „rechtzeitig

vor Eintreten einer Pandemie“ von der Bundesregierung

bevorratet werden müssen. Sprich: All das, was jetzt fehlt,

hätte eigentlich nach dem Pandemieplan auf Vorrat sein

müssen. Das hat der Bund aber nicht so ernst genommen.

Man schlug solche ungeheuren Pläne in den Wind, weshalb

man heute umso entschiedener darüber nachdenkt,

wie eben dieses Ungeheuer mit dem Namen Coronavirus

durch private Initiativen noch gebändigt werden könnte.

Bayerns Ministerpräsident Söder hat doch prompt vorgeschlagen,

dass Bayerns Bürger zehn Millionen Masken

selbst nähen sollen. Wie im Krieg, sozusagen.

Da wir hier schon mal in Bayern sind, hört man den

Kaiser rufen: „Ja ist denn jetzt schon Weihnachten?“

Aber gut, das ist eine ganz andere tragische Geschichte.

Heuer würde es heißen: „Ja ist denn jetzt schon Ostern?“

Denn bis dahin regiert ja Marshall Söder als Gunsmoker

mit unbeirrter Hand. Diskussionen über eine „Exit-Strategie“

hat er sich verbeten. Erst muss der Bandit erlegt

sein. Ein Schuss, ein Treffer, mitten ins Virus, und dann

raucht der Colt.

Und danach also soll es all die selbstgenähten Mundschutzmasken

geben, quasi als Geste der Unterwerfung

des Volkes, wenn es denn wieder raus darf. Lieber als

Bandit auf der Arbeit als nur immer zu Hause im beengten

Homeoffice.

Der praktische Nutzen solcher Masken ist laut WHO

äußerst umstritten. Könnte medizinisch sogar mehr Schaden

anrichten als es Nutzen hätte. Aber darum geht es

offenbar längst nicht mehr. Eher scheint es um den Gleichklang

der Herde zu gehen (hier also: die deutschen Bürger

in Panik), weil die Autorität derer zementiert werden soll,

die zuvor fahrlässig versagt haben, als sie sich nicht an

bestehende Pandemie-Vorsorge hielten.

Na klar schauen jetzt diejenigen in die Röhre, die Matt

Dillon im Röhren-TV sahen. Sprich: Risikogruppe!


Corona-Tagebuch | 13. Juni 2020

33

Bloß nicht

lumpen lassen

Die Konjunktur will angekurbelt werden und deine Lieblingsgeschäfte brauchen jetzt

deinen Einkauf. Aber nach acht Wochen der Einkehr weißt du gar nicht, was du denn

wirklich brauchst. Na ja, vielleicht ein paar neue Laufschuhe? Von Michael Zäh

Auf gehts, die Konjunktur will angekurbelt werden. Nach

der zweimonatigen Zeit der Einkehr ins Innere soll nun

der Ausritt in die Stadtmitte folgen. Das ist quasi

Pflicht. Denn die Läden brauchen dich jetzt, um nicht pleite zu

gehen. Und der Staat päppelt mit seinem Konjunkturprogramm

ja auch nach Kräften. Da wollen wir uns nicht lumpen lassen.

Aber was soll man kaufen? Für ein neues Auto ist es doch

noch zu früh – denn wer weiß, wann Corona wieder um die

Ecke biegt? Also sorry! Buisiness-Klamotten braucht man

wahrscheinlich auch nicht mehr. Im Home-Office geht es eher

leger zu. Da genießt man Freiheiten, von denen Karl Lagerfeld

gesagt hat, dass man die Kontrolle über sein Leben verloren habe.

Außerdem soll es etwas Sinnvolles sein, was man kauft. Der

reine Spaß am Einkaufen, die leichte Freude am Überflüssigen,

gar die psychologische Tiefenentspannung durch den eigentlich

unsinnigen Einkauf von schönen, nutzlosen Dingen ist nicht

mehr. Das war vor Corona. Das war, als wir noch dachten, dass

unsere Jobs sicher sind. Das war, als ein Einkauf quasi ein Ausgleich

dafür war, dass sonst alles nach Strich und Faden lief. Das

waren lauter kleine Fluchten ins herrliche Reich der Kaufhäuser,

Drogerien, Buchläden, Sportgeschäfte.

Ja, das war einmal. In den acht Wochen der Einkehr hat

sich gezeigt, dass es keine kleinen Fluchten braucht, wenn alle

voreinander auf der Flucht sind. Und wie die Haare so vor sich

hin wuchsen, schwand auch die Lust, überhaupt aus dem Haus zu

gehen. Weil eh alles zu war, reichte Balkonien oder der Garten,

um sich genügsam mit der aus unerfindlichen Gründen zumeist

scheinenden Lockdown-Sonne zu verabreden.

Nun aber raus, es muss doch vorwärts gehen! Und ja, die

Laufschuhe haben tatsächlich einen Schlenzer an der Seite und

auch leidlichst abgelaufene Sohlen. Komm, das könnte man jetzt

wagen. Denn Laufschuhe brauchst du ja mit und ohne Corona.

Nämlich zum Weglaufen in freier Natur. Das passt. Das kann ja

gar nicht falsch sein.

Auf zum Fachgeschäft, wo man die letzten Laufschuhe gekauft

hat. Doch das hat zu. Läden runter, fertig aus. Schade, aber

da kann man wohl nix mehr machen. Gleich weiter, um zwei

Ecken, ist ja das nächste Sportgeschäft. Maske auf und rein. Zwei

Etagen, kein Mensch da. Lange Gänge voller Regale. Hunderte

von Laufschuhen, schön nach Marken sortiert. Du lässt das

Läufer-Auge schweifen, weil alles so schön bunt ist. Ein Mann

mit Maske kommt und fragt, ob er helfen kann. Ja klar, man hat

ja keine Hektik, so als einziger Kunde im Laden.

„Dieser Schuh da, der wird ja viel gelobt. Ist er so gut oder

ist das nur Marketing?“

„Ist gut.“

„Gibt es eine Alternative von einer anderen Marke?“

„Nein.“

„Können Sie mir noch etwas empfehlen, also Schuhe, die im

Preis-Leistungsverhältnis vielleicht besonders gut sind?“

„Nein.“

Na gut, dann probierst du mal von der Marke, die so hoch

gelobt wird. Der Mann mit Maske stellt dir zwei Modelle zur

Auswahl hin. Es sind die teuersten Modelle im ganzen Laden.

Welches Modell soll ich nehmen? Das eine hat eine gute Farbe,

ist aber nur für Asphalt und nicht für den Wald geeignet. Das

zweite geht im Wald, ist aber so blöd grün. „Was meinen Sie?“

„Sie brauchen zwei paar Schuhe!“

Du zögerst. Ja okay, zwei paar Schuhe, wenn du schon

mal da bist. Dazu bist du bereit. Du frägst nach einer zweiten

Marke, weiße Lederschuhe, legendär. „Gibt es jetzt nur noch im

Schuh-Discounter.“

Tja. Der Mann mit Maske muss kurz mal weg. Deine Entscheidung

ist gefallen: Du nimmst die teuren Grünen für den

Wald. Du wartest. Der Mann kommt nicht zurück. Ist wahrscheinlich

zum Lachen in den Keller gegangen. Also gehst du

ohne die grünen Schuhe zum Discounter. Dort ist eine Schlange

weit in die Straße hinaus. Nee, oder?


Samstag, 18. April 2020

34

GESELLSCHAFT

DEUTSCHLAND

Corona-Tagebuch

Samstag, 18.

Ausgabe 287 am 4.

Samstag, 18. April 2020

Bis zum nächsten

Friseurtermin

Coronavirus. Das 750-Milliarden Hilfspaket des Staates gegen die Folgen des Coronavirus ist

schon ein fettes Butterbrot, nachdem zuvor das Knallen der Peitsche dafür gesorgt hat, dass

gesellschaftliche und wirtschaftliche Aktivitäten zum Stillstand kamen. Von Michael Zäh

Wie wird Deutschland in den

kommenden Wochen (oder

gar Monaten) frisiert sein?

Das ist keine kleine Frage, da ja alle

Friseur/innen-Betriebe schließen

mussten. Wird unsere Mutti Merkel

dann plötzlich graue Strähnen im

Haaransatz aufweisen, werden Olaf

Scholz die (bisher nicht vorhandenen)

Haare zu Berge stehen? Und wie wirkt

es sich aus, wenn bei über 80 Millionen

deutschen Bürgern die Matte wächst,

wo sie es gar nicht soll, das Grau und

gar das Weiße sprießt, während das

akkurate Kurzhaar wie auch der schön

gestutzte Bart nur noch eine ferne

Erinnerung sind. Vielmehr sogar eine

Sehnsucht, die unerreichbar in den

Weiten des Seins dahin schwebt.

Nun ja, je länger das deutsche Haar

wird, desto mehr Milliarden Steuergelder

wird das kosten. Weil es

ja so ist: Der Staat nimmt

es, der Staat gibt es –

das ist quasi

ZUR SACHE

Einschneidende

Eingriffe, überall

Die Bundesregierung und die Länder

haben gemeinsam die Schließung

einer Vielzahl von Geschäften

und Institutionen beschlossen. So

sollen „Zusammenkünfte in Kirchen,

Moscheen, Synagogen und

die Zusammenkünfte anderer

Glaubensgemeinschaften“ verboten

werden, auch Gottesdienste

können nicht mehr stattfinden.

Ebenso sind Zusammenkünfte in

Vereinen und sonstigen Sport- und

Freizeiteinrichtungen untersagt,

Angebote in Volkshochschulen,

Musikschulen und sonstigen öffentlichen

und privaten Bildungseinrichtungen

sowie Reisebusreisen

sollen eingestellt, Spielplatzbesuche

unterlassen werden.

Bars, Clubs, Diskotheken sollen

geschlossen bleiben, desgleichen

Theater, Opern, Konzerthäuser,

Museen, Messen, Ausstellungen,

Freizeit- und Tierparks und Anbieter

von Freizeitaktivitäten, Spezialmärkte,

Spielhallen, Spielbanken,

Wettannahmestellen. Auch der

Betrieb öffentlicher und privater

Sportanlagen, Schwimm- und

Spaßbädern sowie Fitnessstudios

muss eingestellt werden. miz


Samstag, 18. April 2020

April | 28. 2020 März 2020

DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 35

April 2020

Samstag, 18. April 2020

ein alter Zopf. Wenn nun also Scholz,

Kretschmann, Söder, Laschet

und Konsorten sich darin übertreffen,

die aufgemotzte Bazooka in Anschlag

zu bringen, dann vergessen staatliche

Kurzhaardackel ja gerne, dass dieses

Geld nicht wie ein Sternenregen vom

Himmel fiel, sondern es sich um genau

jene Kohle handelt, die zuvor der gut

frisierte Steuerzahler (und danach

wirds auch so sein) an den Staat bezahlt

hat. Das ist also ungefähr so, als

ob der Friseur das Trinkgeld spendiert,

das er soeben vom Kunden für die

tolle Tolle bekam. Mit dem kleinen

Unterschied freilich, dass derzeit keine

Frisuren welcher Art auch immer zu

haben sind.

Der Transfer von insgesamt rund

750 Milliarden Euro zurück an die

Wirtschaft und die Steuerzahler ist

ein bisschen ein Ablasshandel dafür,

dass der Staat ja das wirtschaftliche

Leben von oben herab eingestellt hat.

Ja, es ist vielleicht sogar womöglich

so, dass damit auch die Demokratie

geschützt werden kann. Denn der

Staat, der Verbote erlassen hat und

die Freiheit seiner Bürger extrem einschränkt,

gibt so auf der anderen Seite

Millionen Menschen etwas Hoffnung,

dass sie nicht völlig pleite gehen in

den nächsten Wochen. Es ist schon ein

fettes Butterbrot nach der knallenden

Peitsche des Zusperrens allen gesellschaftlichen

Lebens.

Der Bundestag hat also ein großes

Rettungspaket für die deutsche Wirtschaft

beschlossen. Die Abgeordneten

stimmten einem Nachtragshaushalt

in Höhe von 156 Milliarden Euro und

dem Rettungsschirm WSF im Volumen

von 600 Milliarden Euro zu. Die

Schuldenbremse des Grundgesetzes

soll vorübergehend ausgesetzt werden.

Selten einhellig: Es gab gegen das gesamte

Paket nur drei Gegenstimmen.

Weil Bundeskanzlerin Angela

Merkel unter häuslicher Quarantäne

steht (ein Arzt, der sie geimpft hat,

hatte das Coronavirus intus), stellte

der Finanzminister und Vizekanzler

Olaf Scholz die Pläne der Regierung

vor. „Vor uns liegen harte Wochen -

und doch: Wir können sie bewältigen“,

sagte Scholz. Quasi ein bisschen Zuversicht

verbreiten. Um dann fortzufahren:

„Wir erleben eine Krise, die in der Geschichte

der Bundesrepublik ohne Vorbild

ist“, und für die Krisenbewältigung

gebe es „kein Drehbuch“. Und erst recht

nicht die passende Frisur, möchten wir

an dieser Stelle hinzufügen.

CSU-Landesgruppenchef Alexander

Dobrindt (lange nix gehört von ihm)

bezifferte das Volumen des Hilfspakets

der Bundesregierung gar auf etwa 1400

Milliarden Euro. Das sei in etwa die

Gesamtsumme an Krediten, Garantien

und Hilfen. Je länger die Haare wachsen

müssen, desto größer sind die Zahlen.

Oh je, Schwindel, lass nach.

Es lässt sich noch gar nicht bis in jede

Haarspitze darstellen, wer denn nun

welche Gelder erhalten soll. Klar ist aber

schon mal der Löwenanteil (nein, bitte

nicht mit der Löwenmähne verwechseln):

Es wird einen 600 Milliarden Euro

umfassenden Schutzschirm für größere

Firmen geben. Der Staat will in großem

Umfang Garantien geben und notfalls

wichtige Unternehmen auch ganz oder

zum Teil verstaatlichen. Wenn die Krise

vorbei ist, sollen sie wieder privatisiert

werden. Profitieren können nicht alle

Unternehmen, sondern nur solche mit

hohen Umsatzerlösen oder mehr als

250 Mitarbeitern. Unter diesen Schutzschirm

können kleinere Firmen nur im

Einzelfall schlüpfen - wenn sie für die

Infrastruktur besonders wichtig sind.

(Wie Friseure, möchte man rufen).

Aber da wären dann noch die 50

Milliarden, die für kleine und kleinste

Unternehmen ausgegeben werden

sollen, inklusive den sogenannten

Solo-Selbstständigen. So hat etwa das

Ministerium für Wirtschaft, Arbeit

und Wohnungsbau Baden-Württemberg

ein Soforthilfeprogramm aufgelegt:

„Gewerbliche Unternehmen,

Sozialunternehmen und Angehörige

der Freien Berufe, die sich unmittelbar

infolge der Corona-Pandemie in einer

existenzbedrohenden wirtschaftlichen

Lage befinden und massive

Liquiditätsengpässe erleiden, werden

mit einem einmaligen, nicht rückzahlbaren

Zuschuss unterstützt“, heißt es

dort. Ausgezahlt über die Länder (wie

hier BW) sollen kleine Firmen und

Selbstständige, Musiker, Fotografen,

Heilpraktiker oder Pfleger direkte Finanzspritzen

erhalten. Je nach Unternehmensgröße

sind das für drei

Monate 9.000 bis 15.000 Euro. Dies

wären keine Kredite, sondern Zuschüsse,

die nicht zurück gezahlt werden

müssen. Die Anträge hierfür können

bereits digital gestellt werden. Ausgezahlt

werden die Zuschüsse dann

direkt über die Landesbank.

Millionen Menschen in Deutschland,

die sich durch die Maßnahmen

des Staates gegen die Ausbreitung

des Corona-Virus in existenzieller Not

wiederfinden, werden sich über solche

Programme freuen (falls diese dann

auch wirklich so unbürokratisch funktionieren

wie versprochen), und sich

zumindest mal kurz entspannen. Aber

Vorsicht: Experten warnen, dass diese

„Soforthilfen“ hohe Hürden haben

und es sich daher um Augenwischerei

handeln könnte. Es wäre allerdings

skandalös, so laut und unfrisiert die

Hilfe ins Land zu posaunen, riesige

Hoffnungen zu wecken und am Ende

doch für die meisten Kleinen nicht

infrage zu kommen! Es wäre ein staatlicher

und politischer Schwindel, wenn

das Soforthilfeprogramm quasi Hartz IV

ist, nur nicht so heißt.

Ist ja schon verwunderlich genug,

wie schnell über Jahre tragende

Grundsätze wie die „schwarze Null“

oder die im Grundgesetz verankerte

„Schuldenbremse“ von einem Tag

zum anderen plötzlich über Bord sind.

Zack, zack, oder sagen wir: Schnipp

Schnapp!

Ewig kann trotz Milliardenschirm

das komplette Runterfahren des gesellschaftlichen

und wirtschaftlichen

Lebens nicht dauern. Höchstens bis zum

nächsten Friseur-Termin.

ZUR SACHE

Der Streit um die

Deutungshoheit

In Berlin mahnte Gesundheitsminister

Jens Spahn weiterhin die

Einhaltung aller Regeln an. „Noch

ist das die Ruhe vor dem Sturm“,

sagte er. Natürlich werde es „eine

Zeit nach Corona geben“. Das Leben

werde sich aber erst schrittweise

wieder normalisieren müssen. Unter

Medizinern und Politikern gibt

es aber auch welche, die sich öffentlich

dahingehend äußern, dass

das Corona-Virus in Wirklichkeit

gar nicht so schlimm sei. Diesen

Thesen gegenüber hat nun Innenminister

Horst Seehofer Stellung

bezogen: Er lehne die These der

Herdenimmunisierung ab, nach der

möglichst viele Menschen vom Corona-Virus

befallen werden sollen,

um zügig immun zu werden. Das

halte die Kosten der Pandemie zwar

vergleichsweise niedrig, sei aber

nur um den Preis hoher Sterberaten

zu erreichen. „Erstens hat mir

noch kein Wissenschaftler in die

Hand versprochen, dass man dann

wirklich immun ist“, sagte Seehofer.

„Und zweitens heißt das, dass man

Opfer in Kauf nimmt. Das halte ich

für eine unvertretbare Strategie.“

Es gibt Zyniker, die berechnen, was

ein Menschenleben kostet. miz

Montagen: Viktor Lukanow


Samstag, 18. April 2020

36

GESELLSCHAFT

DEUTSCHLAND

Corona-Tagebuch

Samstag, 18.

Ausgabe 287 am 4.

Eine Hand wäscht

die andere,

oder wie?

Samstag, 18. April 2020

Coronavirus. Die drastischen Maßnahmen der deutschen Behörden

gegen die Verbreitung des Virus könnten am Ende zu einer paradoxen

Reaktion führen: Gelingt die Eindämmung auf einige Zehntausend

Fälle mit anschließend flacher Kurve, wird es heißen: Und deswegen

all die Verbote? Gelingt dies trotz aller Maßnahmen nicht, heißt es:

Wofür der ganze Zauber? Hat ja eh nichts genutzt! Von Michael Zäh

Es ist nicht so, wie man denkt, sondern so, wie es

kommt. Das sagte Sigmund Freud, der Begründer

der Psychoanalyse und einer der größten

Denker der Menschheit. Dies ist keinesfalls zu verwechseln

mit dem rheinischen Grundgesetz: „Et kütt

wie et kütt.“ Denn dieses „Es kommt wie es kommt“

ist eher fatalistisch lässig gemeint, bis hin zum unvermeidlichen

Untergang, während Freud sein Leben

lang Wissenschaftler war, der sich Gedanken darüber

machte, was den Menschen helfen könnte.

Niemand von uns hat derzeit die Macht, auch

nur zu wissen, was kommt und wie es kommt. Wohl

auch unsere Wissenschaftler nicht, denen aber in

der derzeitigen Situation zunächst einmal Glauben

geschenkt werden sollte. Und diese haben denn auch

eine recht klare Formel in Umlauf gebracht: Siebzig

Prozent der deutschen Bevölkerung werden sich über

kurz oder lang mit dem Corona-Virus anstecken. Dies

wären rund 58 Millionen Menschen in Deutschland.

Die Frage sei nur, in welchem Zeitraum dies geschehe.

Und genau diese Frage sei entscheidend dafür, wie

schlimm es kommt. Entweder zur Katastrophe und dem

gesellschaftlichen Zusammenbruch, oder zu einer gewaltigen

Aufgabe, die aber bewältigt werden könnte.

Die Wissenschaftler gehen bei ihren Prognosen

von zwei Prämissen aus: Erstens wird sich das Corona-

Virus so lange von Mensch zu Mensch weiter verbreiten,

in Deutschland wie in der Welt, bis es keine neuen

Wirte mehr findet, die nicht schon immun sind. Und

zweitens würde die Kurve der Ansteckungen in kurzer

Zeit steil nach oben gehen, wenn keine einschneidenden

Maßnahmen ergriffen würden. Wenn wie bisher

knapp ein Sechstel der Infizierten einen schweren

Verlauf der Lungenkrankheit bekämen und daher im

Krankenhaus behandelt werden müssten, dann wären

dies also knapp neun Millionen Menschen.

Dieses Szenario ist so, wie Wissenschaftler es

heute denken. Nein, keiner weiß, ob es so kommt.

Weil aber allein die Möglichkeit besteht, dass es –

ohne all die Gegenmaßnahmen, die bereits ergriffen

wurden – zu einem Kollaps in Kliniken führen könnte

(weil natürlich nicht neun Millionen Menschen dort

gleichzeitig behandelt werden könnten) alles rechtfertigt,

was man dagegen tun kann, kommt es im Moment

bei der Gesellschaft – uns allen – ganz gut an, wenn

nun der Ausnahmezustand ausgerufen ist. Noch dazu,

weil die Wissenschaftler ja darauf hinweisen, dass es

hauptsächlich eine bestimmte Gruppe ist, die durch

den Rest der Gesellschaft – uns alle – geschützt werden

müsse: Ältere und bereits erkrankte Menschen, also

unsere Eltern oder Großeltern (insofern wir das nicht

selbst schon sind). Und wer möchte nicht seine eigenen

Eltern schützen? Ohne die Bereitschaft aller käme es

laut Hochrechnungen bis zu 1,8 Millionen Toten in

kürzester Zeit durch das Corona-Virus. Hinzu kämen

vermutlich noch viele weitere Tote, die an ganz anderen

Krankheiten (wie etwa Herzinfarkte, Krebs und

dergleichen) leiden, aber wegen des Zusammenbruchs

des Gesundheitssystems nicht mehr entsprechend versorgt

werden könnten. Dass es nicht so kommen darf,

wie sich das die Wissenschaftler vorsorglich denken,

überzeugt auch jene von uns, die ungern auf all das

verzichten, was unser Leben schon auch ein bisschen

ausmacht: Soziale Kontakte, Kultur, Sport, Kneipen,

die Freiheit, sich dort bewegen zu dürfen, wo man will.

Man übt sich in Solidarität, es fühlt sich ja auch an

wie zwischen den Zeiten (verwandt mit den wenigen

Wochen zwischen den Jahren), ist mal etwas Neues

und schweißt im Abstandhalten sogar zusammen. Eine

Weile geht das gut. Es sind Coronaferien, die man gar

nicht beantragen musste (ja, die man nicht mal auf

die eigene Kappe nehmen muss), eine überraschend

geschenkte Zeit im Kreise seiner Nächsten. Und es

kann sogar sein, dass man dann in neun Monaten den

„Corona-Baby-Boom“ feststellt. Ja, was soll man auch

machen, wenn man mal nicht gestresst ist?

Eine Weile lang ist es ein Test, der seinen Reiz entfaltet.

Das sonstige gesellschaftliche Leben in Deutsch-

ZUR SACHE

Die „Bazooka“ soll

nun also helfen

Es ist eine seltsame Wortwahl, die

Finanzminister Olaf Scholz und

Bundeswirtschaftsminister Peter

Altmaier in Anschlag bringen: Der

Bund werde die „Bazooka“ gegen

die Auswirkungen des Corona-Virus

einsetzen. Nun ja, das ist wohl als

Beruhigung gemeint, obwohl das

„Ofenrohr“ im Zweiten Weltkrieg

als eher grobschlächtige Waffe der

US-Streitkräfte galt, die nicht selten

die Schützen selbst zu Tode verbrannte.

In Übersetzung heißt dies,

dass der Bund in unbegrenzter Höhe

Kredite für Firmen bereitstellen will,

die durch das Corona-Virus in Not

geraten sind. „Das ist ein Schritt,

den es so in der Nachkriegsgeschichte

noch nicht gegeben hat.

An fehlendem Geld und fehlendem

Willen soll es nicht scheitern“, so

Altmaier. Man sitze auf gut gefüllten

Kassen und habe deshalb auch

großes Durchhaltevermögen, sagte

Scholz. „Wir können alles stabilisieren,

was stabilisiert werden muss“,

so der Finanzminister weiter. Dies

soll für kleine wie für große Unternehmen

gelten, so heißt es. Wenn

man dies aber die „Bazooka“ nennt,

rennen viele Firmen gleich davon.

Verbrennungsgefahr! miz


Samstag, 18. April 2020

| 21. März 2020

April 2020

DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 37

April 2020

Samstag, 18. April 2020

land ist ausgeknipst – was können wir an dessen Stelle

rücken? Manche machen vielleicht den Couch-Potato

vor der Glotze, dem Computer oder dem Handy. Ist

bequem und tut nicht weh. Wann hat man das schon,

dass es auch noch ohne schlechtes Gewissen gemacht

werden kann? Ist zum Schutz der Großeltern und ja

auch staatlich verordnet.

Andere nutzen die Auszeit dafür, mal das zu

machen, an das sie sonst gar nicht denken dürfen.

Nachdenken übers eigene Leben und das der Nächsten.

Sogar über Politik und Ethik. Mal ein Buch lesen, das

tausend Seiten hat. Mal raus aus der ewigen Beschleunigung

des sonstigen Alltags, um zu sich selbst zu

finden. Quasi eine Erfrischungskur für Geist und Seele.

Und dann soll es auch jene geben, die ganz konkret

helfen wollen. So gibt es bereits spontan gegründete

Nachbarschaftshilfen für ältere Menschen, damit diese

nicht selbst einkaufen gehen müssen. Oder es gibt

Leute, die vorübergehend arbeitslos geworden sind und

sich als Babysitter anbieten, um jene zur Arbeit gehen

zu lassen, die dringend benötigt werden, vor allem im

Gesundheitssystem.

Wenn wir alle immer schön unsere Hände waschen

und es dann auch noch stimmt, dass offiziell eine Hand

die andere wäscht, weil die Regierung einfach allen

Betroffenen finanziell unter die Arme greift, könnte

am Ende etwas ganz Großartiges stehen. Das wäre fast

wie das deutsche Wirtschaftswunder in der Folge des

Zweiten Weltkriegs.

Die Frage ist allerdings, wie lange diese Solidarität

gutgehen kann. Denn angesichts existenzieller

Nöte von all jenen, die freischaffend tätig sind oder

auf öffentliches Publikum angewiesen sind, wird es

wohl nicht allzu lange dauern, bis es sogar soziale

Unruhen geben wird. Wenn in vier Wochen alles unter

Kontrolle wäre und die rigorosen Beschränkungen mit

Pauken und Trompeten alle wieder aufgehoben werden

könnten, wäre dies noch machbar. Dann würde sich

die Gesellschaft ob ihres Zusammenhalts vielleicht

sogar feiern.

Wenn es nach acht Wochen immer noch heißt,

dass kein Ende absehbar sei, sondern immer noch neue

unzumutbare Restriktionen erlassen würden, rauscht

die gesellschaftliche Depression heran. Wenn es ein

halbes Jahr, gar ein Jahr oder länger dauern sollte, wäre

die Gesellschaft und die Wirtschaft, wie wir sie heute

kennen, nicht mehr wieder zu erkennen. Dann wäre es

nicht so, wie es von heute aus gedacht war, sondern

so, wie es dann gekommen ist. Es wäre der Absturz ins

Bodenlose, mit allen politischen Verwerfungen, die das

mit sich brächte.

Kurzfristig könnte es zu einer paradoxen Reaktion

kommen: Sollte es nämlich gelingen, dass durch die

drastischen Maßnahmen des Staates die Zahl der Infektionen

recht konstant auf einem niedrigen Niveau

gehalten würde und dann flach verläuft, dann würden

die Millionen Menschen, die ihre wirtschaftliche

Existenz verloren haben, sagen: Wie bitte, wegen nur

ein paar zehntausend Infektionen wurde vom Staat

der Ausnahmezustand verfügt und habe ich alles

verloren? Sollte aber umgekehrt eine gesundheitliche

Katastrophe über das Land herein brechen, weil alle

Maßnahmen es nicht verhindern konnten, dann werden

Millionen Menschen sagen, dass man dann diese

wirtschaftlich vernichtenden Verbote auch hätte sein

lassen können, da sie ja nichts bewirkt haben.

Man kann sich das ausdenken wie man will. Derzeit

werden selbst frohgemute Geister verunsichert sein

und daran zweifeln ob ein „Et hätt noch immer jot jejange“

zutrifft. Es stimmt ja außerdem auch nicht, dass

es noch immer gut gegangen ist. Eher könnte sein, dass

das Jahr 2020 ein einschneidendes in der Geschichte

der Menschheit sein wird.

Womöglich kommt es so, dass der Virus irgendwann

kontrolliert wird, aber die Weltordnung und die

globale Wirtschaft sich zwischenzeitlich stark verändert

haben werden. Könnten wir uns denken, wenn wir

nicht wüssten, was Freud gesagt hat.

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