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GERT LOSCHÜTZ<br />

AUSTREIBUNG<br />

EINES WORTES<br />

FESTREDE VOM<br />

16. HESSISCHEN SCHULBIBLIOTHEKSTAG<br />

2003 IN WITZENHAUSEN<br />

Im Zusammenhang mit dem, was jetzt Bildungsmisere<br />

genannt wird, ist ein Wort aufgetaucht, das mir sofort<br />

eingeleuchtet hat, und zwar so, dass ich es im Gespräch<br />

mit einem Freund, der Lehrer ist, selber häufig<br />

benutzt habe, das Wort Lesekompetenz, bis mir auffiel,<br />

dass ich es nicht mehr hören und aussprechen konnte,<br />

ohne dass sich ein Unbehagen bei mir einstellte, das sich<br />

mit der Zeit zu einem regelrechten Widerwillen ausgewachsen<br />

hat.<br />

Bevor ich erkläre, warum, muss ich dazu sagen, dass<br />

ich durchaus weiß (oder zu wissen glaube), was damit gemeint<br />

ist, und dass mir darüber hinaus klar ist, dass man<br />

sich auf einen Begriff einigen muss, wenn man einen<br />

Sachverhalt so eingrenzen will, dass er diskussionstauglich<br />

und der Sachverhalt selbst operabel wird. Die öffent -<br />

liche Diskussion braucht Begriffe, die handlich sind und<br />

einen leichten Wiedererkennungswert besitzen, das ist ihr<br />

Vor- wie ihr Nachteil, denn nicht zuletzt aus diesem Grund<br />

geschieht es, dass sie sich – zunächst unmerklich – aus<br />

ihrem Rahmen lösen und selbständig zu machen beginnen,<br />

mit dem Erfolg, dass sie nicht mehr allein auf den vorgesehenen<br />

Fall anwendet werden, sondern in ihren Umdeutungen<br />

auch auf andere Fälle. Dies sei vorausgeschickt,<br />

um nicht gleich am Anfang in den Verdacht der Ahnungs -<br />

losigkeit zu geraten. Nach einer Weile nämlich geschah<br />

folgendes: Wann immer ich in einer Diskussionsrunde<br />

jemanden das Wort Lesekompetenz aussprechen hörte,<br />

vernahm ich zugleich ein leises Kichern und etwas in mir<br />

fragte sich, wie es denn um die Lesekompetenz dessen<br />

bestellt sein mochte, der das Wort – fürsorglich, besorgt,<br />

in reformerischem Eifer oder von oben herab – im<br />

Mund führte.<br />

Denn das schien mir (bei der Relativität des Begriffs)<br />

völlig klar zu sein: dass sich je nach Standort dessen, der<br />

die Meßlatte anlegte, das, was man darunter verstand,<br />

um Grade verschob, und plötzlich sah ich wie im Film die<br />

Gesichter meiner Freunde vorbeiziehen, angeführt von<br />

der stellvertretenden Leiterin eines Lehrerseminars im<br />

Brandenburgischen, die in den USA über die gesellschaftskritischen<br />

Aspekte in der Lyrik Konstantin<br />

Weckers promoviert hat und, wie ich zuverlässig weiß,<br />

Gedichte von Peter Huchel oder Paul Celan als so schwierig<br />

empfindet, dass sie niemals auf die Idee käme, darin nach<br />

einer Zeile zu graben, die sie etwas anginge: bei ihr, wie<br />

bei vielen anderen, die ich durchaus zur Gemeinde der<br />

ebenso empfindsamen wie gebildeten, jedenfalls der<br />

Literatur grundsätzlich zugetanen Menschen zähle,<br />

endet das Verständnis von Lyrik mit dem humoristisch<br />

Gereimten von Tucholsky und Kästner (oder eben<br />

Konstantin Wecker), dem sich in den letzten Jahren das<br />

von Robert Gernhardt zugesellt hat, nicht als gleichwertig,<br />

sondern als den Nachempfindern Nachempfundenes...<br />

Und während ich mir noch sage: Na gut, die Lyrik... läuft<br />

der Film weiter und zeigt mir das sich beim Namen Kafka<br />

zusammenknautschende Gesicht eines anderen, mich<br />

regelmäßig mit Zeitungsausschnitten über die Weltlage<br />

versorgenden Freundes, der mich ungläubig ansieht,<br />

wenn ich ihn von Kafkas Komik zu überzeugen suche,<br />

nicht weil ich glaube, damit sei das Wesentliche an Kafka<br />

benannt, sondern weil ich weiß, dass dieser Freund einen<br />

Sinn für Komik hat, und ich hoffe, ihm auf diese Weise<br />

einen Weg zu dem anderen Kafka zu zeigen, aber er<br />

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