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AREA 7 Matthäusexpedition von Christoph Schlingensief - Burgtheater

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<strong>AREA</strong> 7<br />

<strong>Matthäusexpedition</strong> <strong>von</strong> <strong>Christoph</strong> <strong>Schlingensief</strong><br />

Joseph Beuys Elfriede Jelinek Hosea Dzingirai Dieter Roth<br />

<strong>Christoph</strong> <strong>Schlingensief</strong> Patti Smith Wilhelm I. + II.<br />

»Die Kontrollmechanismen verlieren und das zugleich als eine Inszenierung begreifen,<br />

sich in einem fließenden Zustand befinden, das ist der Kern«, sagt <strong>Schlingensief</strong> über<br />

seine Arbeit. »Ich will das Leben überzeugen, dass es zum großen Teil inszeniert ist,<br />

und das Theater, dass es ohne das Leben überhaupt nicht auskommt.« Bei<br />

<strong>Schlingensief</strong>s Inszenierungen vermischen sich Schauspieler und Zuschauer, Bühne<br />

und Zuschauerraum gehen ineinander über. Behinderungen, Pannen, Pausen oder<br />

Störungen sind immer wiederkehrende Inszenierungsbrüche, die die Frage aufwerfen,<br />

welche Spielregeln für Schauspieler und Zuschauer gelten.<br />

<strong>Schlingensief</strong> ist gereist, gereist, gereist, <strong>von</strong> Oberhausen an den Prenzlauer Berg, <strong>von</strong><br />

dort bald geflüchtet an die Wiener Burg und nach Bayreuth, nach Nepal, Island oder<br />

(mehrfach) Afrika. Brasilien soll folgen…<br />

Wie in einer Blackbox wird die Welt aufgesogen, das Hirn als Archiv und die Kamera als<br />

Auge, und in ihr vermischen sich politische Ereignisse und mythische Geschichten<br />

unserer Zivilisationen, die Twin Towers mit den Herero-Aufständen in Deutsch<br />

Südwestafrika, die Kontinentalspalten in Island mit der Gralssuche…<br />

All das ist natürlich gar nicht zu fassen, aber Gott sei Dank hat sich der Künstler etwas<br />

erfunden, in dem all dies Platz hat, auch ohne vorher geordnet zu werden: den<br />

ANIMATOGRAPHEN. Er könnte in all dem Chaos der ungebremsten Einflüsse die<br />

Rettung sein, für Welt und Ich. Er erlaubt die Reise ins eigene Innere, ins Chaos der<br />

halluzinierten Zustände, eine Reise durch den eigenen runden Kopf, in dem sich all der<br />

Daten- und Mythenmüll gesammelt hat, oder eben eine Reise durch die ebenfalls runde<br />

Erdkugel. Aber <strong>Schlingensief</strong> denkt nicht nur an sich, sondern konstruiert den<br />

Animatographen als einen Raum, den jeder betreten darf, um seine Erlebnisse zu<br />

machen und seine Erfahrungen zu gestalten. Vielleicht ist das dann der eigene Kopf,<br />

vielleicht die Welt <strong>von</strong> der Innenrinde gesehen, vielleicht auch nur eine primitive<br />

Drehbühne oder eine Reminiszenz an kinematographische Frühzeiten, eine <strong>von</strong> innen<br />

begehbare Laterna Magica oder eine intermediale Fotoplatte – egal! »Der Animatograph<br />

ist wie ein lebender Organismus, auf dem der Zuschauer mit mir herumfährt, lebt und<br />

selber zum Bestandteil wird.« Er wird überall aufgebaut, wo <strong>Schlingensief</strong> sich in letzter<br />

Zeit aufhielt: in Bayreuth, in Island, in Neuhardenberg bei Berlin im deutschen Wald oder<br />

eben in Afrika. Überall stellt <strong>Schlingensief</strong> das Requisit auf, um zu sehen, wie sich<br />

Herero-Aufstände und der 11. September, Odin und TamTam, Wagner und Widerstand<br />

gegen das deutsche Wesen kreuzen und bis aufs Blut bekämpfen, auch wenn alle <strong>von</strong><br />

Joseph Beuys bis zu Mohammed Atta nach dem Gral suchen.<br />

1


Manchmal aber fokussiert sich etwas, zum Beispiel im <strong>AREA</strong> 7 – Baracken, Slums,<br />

Vorstädte, scheinbar geschichtslos, irgendwo in Afrika, aber Wagner im Hirn. Und<br />

plötzlich also ist das gar nicht so geschichtslos, sondern erinnert an Europa, an die<br />

Aufklärung, an den Kolonialismus, an Mohammed Attas Flüge in die Twin Towers und<br />

schon fängt die Reise durch Zeit und Raum wieder an, wie bei H.G. Wells, und man<br />

wünscht sich, dass einer »Stopp!« ruft, »Stopp!«, »Stopp!« – zurück in die<br />

Mönchsklause, nach Hause, raus hier, ins <strong>Burgtheater</strong>. Vielleicht kann man da ja,<br />

gemeinsam mit Patti Smith und anderen, Kraft schöpfen… Ruhe tanken … obwohl, na<br />

ja…oder doch?... bevor die Reise weitergeht. Vielleicht geht das ja in Wien, in dieser<br />

langsamen Stadt, in der Burg, diesem Gral ganz anderer Art, vielleicht gibt es da ja<br />

genügend Leute, die aus ihren Wohnungen in den soundsovielen Bezirken<br />

hinausströmen, um zu sehen, was <strong>Schlingensief</strong> da erlebt hat auf seinen<br />

odysseusartigen Irrfahrten durchs Weltenlabyrinth… eine gibt es schon mal auf jeden<br />

Fall…Elfriede Jelinek… »Lass o Welt o Schreck lass nach«… Mit irgendwas fängt es<br />

immer an. Vielleicht kriegt er ja seinen Tropenhelm ab und kann – jetzt mal nicht in<br />

Afrika – im Atelier werkeln und arbeiten wie er will, in Ruhe, in Ruhe, in Ruhe…Da<br />

müsste sich aber trotzdem etwas bewegen, der Animatograph dreht sich …ja… wie die<br />

Welt… wie die Bilder, viele Bilder und Menschen, die sich darin drehen, ja.<br />

Mit: Jovita Domingos-Dendo, Sachiko Hara, Irm Hermann, Karin Lischka, Karin Witt,<br />

Abate Ambachev, Klaus Beyer, Michael Gempart, Juergen Maurer, Dirk Rohde,<br />

Hermann Scheidleder , <strong>Christoph</strong> <strong>Schlingensief</strong>, Bernhard Schütz, Robert Stadlober,<br />

Björn Thors, sowie – zeitweise – Patti Smith.<br />

Musiker: Erik Bilic-Eric, Klaus Falschlunger/Perry Wurzinger ,Gerhard Rosner, Murielle<br />

Stadelmann.<br />

Leitung <strong>Christoph</strong> <strong>Schlingensief</strong>, Konstruktion Thekla <strong>von</strong> Mülheim, Tobias Buser<br />

Kostüm Aino Laberenz, Dramaturgie Jörg van der Horst, Joachim Lux, Henning Nass,<br />

Musik und Sounddesign Uwe Altmann, Video und Schnitt Kathrin Krottenthaler.<br />

Es hat bereits begonnen: Heute, Donnerstag, 19.1. ab 18 Uhr!<br />

Eröffnung: Freitag, 20.1., 20 Uhr, <strong>Burgtheater</strong><br />

außerdem: Samstag, 21. Jänner und Sonntag, 22. Jänner, jeweils 20 Uhr<br />

Einlaß ist jeweils bereits eine Stunde vor der angegebenen Beginnzeit.<br />

Wie bei jeder Expedition ist damit zu rechnen, daß – je nach sich ändernden<br />

Bedingungen – keine der anderen gleicht und jede anders verläuft als ursprünglich<br />

geplant.<br />

Die Veranstaltung am 22. Jänner ist gleichzeitig der Vorabend <strong>von</strong> Joseph Beuys 20.<br />

Todestag.<br />

Zwei Zitate in den Artikel reinblocken:<br />

2


Und jetzt wird da oben, in Area 7, <strong>Schlingensief</strong>s Animatograph<br />

fertiggestellt, am "Hauptplatz", dort, wo Sonntags auch immer die<br />

mehrstündigen Messen abgehalten werden. Den Männern aus dem Township, die<br />

mitarbeiten, wird etwa das Doppelte der üblichen Löhne gezahlt.<br />

Der Animatograph ist eine Drehscheibe. Auf der Scheibe steht ein Schiff. Ans<br />

Schiff angebaut: Ein Wellblechcontainer, das Dach per Leiter erreichbar und<br />

als Auftrittsbühne nutzbar. Er wirkt wie eine Miniausgabe des "Ausländer<br />

raus"-Containers, 2000 vor der Wiener Staatsoper, aber hier haben sich die<br />

Perspektiven drastisch verschoben. Rund um stehen hunderte<br />

Wellblechcontainer, wie mit dem Lineal gezogen in diese Hochebene platziert,<br />

daß sie beinahe an Peter Eisenmans Holocaust-Denkmal in Berlin erinnern.<br />

Andererseits: Während in Wien Erregtheit und Zorn dominierten, erhebt sich<br />

hier rund um das immer weiter wuchernde Animatographen-Gebilde oft<br />

Kinderlachen: Die sehen das Schiff wie einen Abenteuer-Spielplatz. Gestern<br />

durften Sie Ihre Graffitis drauf malen: HOMEBOY steht da. Oder, <strong>von</strong><br />

<strong>Schlingensief</strong> geschrieben: GODS TEARS CENTER.<br />

Claus Philipp in einem Bericht aus Afrika auf derStandard.at<br />

Afrika bleibt, wo es ist, das ist seine Tragödie, und es läßt alles, wo es ist. Neugier ist<br />

eine Untugend. Parsifal ist hier völlig falsch, zum Glück weiß er es nicht. Daß er wo<br />

anders ist, das erlaubt ihm der Medizinmann aber auch nicht. Er muß hier sein, und die<br />

Verpflichtung, bei jedem Fest dabei zu sein, ist gegeben. Der Zauberer sagt: er, Parsifal,<br />

muß ein anderer werden, oder er soll gar keiner mehr werden. Ich glaub auch schon, ich<br />

wird nicht mehr! Unter Medizinmännern, Griots, Feticheurs! Wer möchte da nicht<br />

Mediziner sein oder zumindest die Medizin selber? Mitten im Gral: Afrika! Afrika mitten<br />

im Gralsfieber, das <strong>von</strong> Mücken übertragen wird, während man seinen Koffer mit dem<br />

Gral mühsam durch den Staub schleppt, weil das Gruppentaxi mal wieder völlig<br />

überladen war.<br />

Elfriede Jelinek: Parsifal<br />

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