Das Ende der Arbeitsgesellschaft
Das Ende der Arbeitsgesellschaft
Das Ende der Arbeitsgesellschaft
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Die Republik hat das Konzept einer Nichterwerbsgesellschaft abgestoßen wie ein menschlicher Körper ein<br />
falsch verpflanztes Organ. <strong>Das</strong> Land sehnt sich nach Jobs. „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ plakatierte die SPD zu<br />
den Bundestagswahlen. O<strong>der</strong> auch: „Es gibt viele schöne Plätze, die schönsten sind Arbeitsplätze“. Wer<br />
das an<strong>der</strong>s sieht, gerät neuerdings in Schwierigkeiten. Bundesbürgern, die arbeiten können, aber nicht<br />
wollen, wird nach dem Willen von Regierung und Opposition künftig die Unterstützung gekürzt. Zwar soll,<br />
wer nicht arbeitet, auch weiterhin zu essen haben, aber nicht mehr so viel.<br />
<strong>Ende</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeitsgesellschaft</strong>? Von wegen. „Die Erwerbszentrierung ist nicht gesunken, son<strong>der</strong>n<br />
gestiegen“, sagt Gerd Mutz, Leiter des Münchner Instituts für Sozialforschung. Nie strömte ein so großer<br />
Teil <strong>der</strong> Bundesbürger zwischen 25 und 55 auf den Arbeitsmarkt wie heute (siehe Grafik). Nie hatten sie es<br />
so schwer, dort einen Platz zu finden. Umfragen zufolge sieht ein Großteil <strong>der</strong> Deutschen die Arbeit als<br />
Quelle von Zufriedenheit und Stolz. Aber wer heute einen Job bekommen und behalten will, muss<br />
Kompromisse schließen. Die Hoffnung auf Arbeit erzwingt Umzüge, beendet Freundschaften, verhin<strong>der</strong>t<br />
Familiengründungen und bringt Eltern dazu, ihren Kin<strong>der</strong>n das Spielen zu verbieten und das Lernen zu<br />
befehlen.<br />
Der Soziologe Wolfgang Bonß von <strong>der</strong> Universität <strong>der</strong> Bundeswehr in München sagt: „Die<br />
<strong>Arbeitsgesellschaft</strong> geht jetzt erst richtig los.“ Überall in <strong>der</strong> Republik ist das zu besichtigen. Ob in Berlin<br />
o<strong>der</strong> einem Dorf in Bayern, ob in Cottbus, Frankfurt o<strong>der</strong> einem Gewerbegebiet in Chemnitz.<br />
Man muss sich auch Frau Rothe als einen glücklichen Menschen vorstellen. Aber an<strong>der</strong>s als Hans<br />
Ruggaber. Sein Arbeitsleben läuft seit Jahrzehnten störungsfrei wie ein S-Klassen-Motor, ihres geriet<br />
immer wie<strong>der</strong> ins Stocken, starb ab. Jetzt ist es wie<strong>der</strong> angesprungen, endlich. Ihr Glück ist das einer<br />
Davongekommenen.<br />
Auch sie ist Anfang 50, eine kräftige Frau mit kurzen, grauen Haaren, die es nicht stört, wenn Arbeiten<br />
Zupacken bedeutet und einen krummen Rücken. Ursula Rothe: Aufgewachsen ist sie in Thüringen, gleich<br />
an <strong>der</strong> Grenze nach drüben, und gleich nach <strong>der</strong> Wende hat sie den Job verloren. Wie so viele im Osten.<br />
<strong>Das</strong> Arbeitsamt hat Ursula Rothe dann zur Industriemechanikerin umschulen lassen, zwei Jahre lang,<br />
obwohl sie als ausgebildete Elektromonteurin wenig Neues lernte. Weil Anfang 1993 keine Stellen für<br />
Industriemechaniker verfügbar waren, kam sie in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) unter:<br />
Zäune ziehen an einem Wildgatter. Damit die Hirsche nicht abhauen. Mit Industriemechanik hatte das<br />
wenig zu tun, aber sie war nicht unzufrieden. „Arbeit an <strong>der</strong> frischen Luft, das hat Spaß gemacht“, sagt<br />
Ursula Rothe. Außerdem hat sie dabei ihren heutigen Mann getroffen, was nicht untypisch ist. In <strong>der</strong><br />
Arbeitsrepublik Deutschland lernen sich 30 Prozent <strong>der</strong> Paare im Job kennen, und ABM zählen da natürlich<br />
auch dazu.<br />
Nach zwei Jahren war sie wie<strong>der</strong> arbeitslos, dann wie<strong>der</strong> ABM, diesmal Fahrradwege bauen, dann wie<strong>der</strong><br />
arbeitslos, fast drei Jahre lang. Also: Bewerbungen schreiben, fernsehen und täglich die Frage, wofür sie<br />
eigentlich aufsteht. Sie kannte ja die Statistiken, wonach in Deutschland nur rund zehn Prozent <strong>der</strong><br />
Arbeitslosen über 50 noch eine Stelle finden. Doch an einem Frühlingstag 1999 läutete das Telefon, eine<br />
Zeitarbeitsfirma war dran mit einem Angebot für sie, und da ist Ursula Rothe „eine Steinlawine vom Herzen<br />
gefallen“. Die Arbeit gab den Tagen ihre Ordnung wie<strong>der</strong>.<br />
Die Zeitarbeitsfirma hat sie zu Siemens nach Chemnitz geschickt. Dort ist sie heute noch. Sie bestückt<br />
Leiterplatten, steckt Transistoren, Dioden und Wi<strong>der</strong>stände auf grüne Kunststoffplatten, die dann an<strong>der</strong>swo<br />
in Fernseher o<strong>der</strong> Computer eingebaut werden. In diesem Jahr ist sie in die Siemens-Stammbelegschaft<br />
aufgerückt, arbeitet Frühschicht und Spätschicht, im wöchentlichen Wechsel. Genau wie Hans Ruggaber.<br />
Hans Ruggaber und Ursula Rothe: Für die Protokollanten <strong>der</strong> deutschen <strong>Arbeitsgesellschaft</strong> gehören beide<br />
zur selben großen Gruppe <strong>der</strong>er, die im so genannten Normalarbeitsverhältnis stehen. Trotz Minijobs und<br />
Zeitverträgen, steigen<strong>der</strong> Teilzeit- und Selbstständigenquote zählen noch immer 60 Prozent <strong>der</strong> deutschen<br />
Erwerbstätigen zu diesen Normalarbeitern: Sie haben unbefristete Vollzeitverträge. Trotzdem könnte <strong>der</strong><br />
Unterschied zwischen Ruggaber und Rothe kaum größer sein. Der Westdeutsche Hans Ruggaber hat seit<br />
drei Jahrzehnten so einen sicheren Arbeitsplatz, die Ostdeutsche Ursula Rothe erst seit einigen Monaten.<br />
Ruggaber ist sich gewiss, ihn bis zur Rente zu behalten, Rothe ist skeptischer. „Heutzutage kann man nie<br />
wissen.“<br />
<strong>Das</strong> <strong>Ende</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeitsgesellschaft</strong>? Von Wegen - Von Wolfgang Uchatius - Die Zeit, 4.12.2003