Das Ende der Arbeitsgesellschaft
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Das Ende der Arbeitsgesellschaft
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wenn sie in München arbeitet und er in…, ja wo eigentlich? Der Vertrag mit Siemens in London endet im<br />
Sommer.<br />
Eine Festanstellung gäbe ihm Raum für das eigene Leben, aber selbst wenn Terber es wollte, er fände<br />
schwer einen Job, <strong>der</strong> ihm gefällt. Im strengen Sinn <strong>der</strong> deutschen Arbeitswelt hat er nichts gelernt. Keine<br />
Ausbildung abgeschlossen, kein Studium. Er denkt daran, sein für die Alterssicherung gedachtes Geld zu<br />
nehmen und ein Unternehmen aufzumachen. Eines, bei dem er in München leben kann. „Aber dazu fehlt<br />
mir noch eine tragfähige Geschäftsidee.“<br />
Fragt man Sozialforscher, woran es liegt, dass die Arbeit immer größere Teile des einst privaten Raumes<br />
besetzt, geben sie zwei Antworten.<br />
Erstens: „Die Unternehmen verlangen nach mehr Flexibilität“, sagt Ulrich Walwei vom Nürnberger Institut<br />
für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. An<strong>der</strong>s gesagt: Sie wollen ihre Kosten drücken. Deshalb läutete<br />
zum Beispiel bei Frau Rothe das Telefon. <strong>Das</strong> Siemens-Werk in Chemnitz gleicht<br />
Produktionsschwankungen bevorzugt mit Zeitarbeitern aus. Die kann man schnell einstellen, wenn die<br />
Aufträge steigen, und wenn diese sinken, wird man sie leicht wie<strong>der</strong> los. Als Angestellte <strong>der</strong><br />
Zeitarbeitsfirma saß Ursula Rothe zwei Meter neben Siemens-Kolleginnen, die die gleiche Arbeit<br />
erledigten, aber mehr Geld verdienten. Heute, da sie selbst zu Siemens gehört, sitzt sie zwei Meter neben<br />
Zeitarbeiterinnen, <strong>der</strong>en Neid sie spürt, weil sie nicht wissen, wie lange sie den Job noch haben.<br />
Zweitens: „Die Arbeit ist den Menschen wichtiger geworden“, sagt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungsforscher Helmut<br />
Klages von <strong>der</strong> Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Früher galt sie den Deutschen als<br />
notwendige Pflicht, nötig vor allem, um Geld zu verdienen. Über mögliche Berufe machten sie sich wenig<br />
Gedanken, oft gingen sie schlicht dorthin, wohin die Eltern sie schickten. Heute lesen sie dutzendweise<br />
Ratgeber, sitzen in Informationszentren, lassen von Psychologen ihre Talente und Neigungen testen. Die<br />
Arbeit hat sich zum Mittel <strong>der</strong> Selbstverwirklichung entwickelt. Für einen Großteil <strong>der</strong> Bundesbürger ist <strong>der</strong><br />
Beruf heute Teil des individuellen Lebensstils, ein Markenzeichen wie Mode o<strong>der</strong> Musikgeschmack. Noch<br />
vor 20 Jahren hätte einer wie Terber die nächstbeste Festanstellung angenommen. Heute sagt er: „Ich bin<br />
nicht <strong>der</strong> Typ, <strong>der</strong> 30 Jahre an einem Ort arbeitet.“<br />
In den Sechzigern o<strong>der</strong> Siebzigern entsprachen viele Deutsche noch diesem Typ. Weil damals<br />
Vollbeschäftigung herrschte, sind diese Jahre als Hochzeit <strong>der</strong> Arbeit im kollektiven Gedächtnis verhaftet,<br />
als die Zeit des Wirtschaftswun<strong>der</strong>s und <strong>der</strong> Stahlarbeiter. Tatsächlich waren sie, zumindest im Westen,<br />
die Zeit <strong>der</strong> Hausfrauen. 1970 strebten 48 von 100 Frauen im Alter zwischen 25 und 55 auf den<br />
Arbeitsmarkt. Heute sind es 79. <strong>Das</strong> hat auch damit zu tun, dass in den vergangenen Jahren die realen<br />
Nettolöhne kaum gestiegen sind; Haushalte, die sich finanziell verbessern wollen, können es sich nicht<br />
leisten, dass nur einer Geld verdient. Vor allem aber liegt es daran, dass Frauen heute „Anspruch auf ein<br />
Stück eigenes Leben“ erheben, so die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim. Sie wollen, was ihre Männer<br />
wollen: einen Beruf.<br />
So gesehen, krankt <strong>der</strong> Kapitalismus hierzulande an seinem eigenen Erfolg. Anstatt sich wie anständige<br />
Marxisten ausgebeutet und entfremdet zu fühlen, haben die Deutschen die Arbeit schätzen gelernt.<br />
Weshalb es nicht mehr genug Jobs für alle gibt.<br />
O<strong>der</strong> etwa doch?<br />
An den Wochenenden kommen die Ersten so gegen neun o<strong>der</strong> zehn. Hängt auch vom Wetter ab. Bei<br />
Regen kommen weniger. Aber ein paar schauen immer vorbei, junge Frauen zumeist, Unternehmer- o<strong>der</strong><br />
Anwaltstöchter. In Reitstiefeln, Reithose und mit Reitkappe reden sie auf ihre Pferde ein, striegeln sie,<br />
streicheln sie und führen sie von <strong>der</strong> Koppel für den wöchentlichen Ausritt. Gut, dass Bielecki die drei<br />
Dutzend Pferde morgens schon gefüttert hat.<br />
Er hat sie auch getränkt, ihren Mist in die Schubkarre geladen und weggebracht, und jetzt hievt er mit <strong>der</strong><br />
Mistgabel große Strohballen vom Hänger in die Schubkarre. Dabei flucht er wie<strong>der</strong> einmal innerlich, dass<br />
die Pferde nicht alle in einem großen Stall stehen, son<strong>der</strong>n in fünf kleinen, verstreut über die ganze Koppel.<br />
Deshalb muss er dauernd rennen. Wenigstens regnet es nicht.<br />
Seit bald zwei Jahren läuft er jetzt auf diesem Pferdehof herum. Dariusz Bielecki (Name geän<strong>der</strong>t), Mitte<br />
30, eigentlich ausgebildeter Musiker, aber als Musiker verdient er in Polen nicht viel, außer im Sommer und<br />
an Weihnachten und Ostern, da spielt er auf Hochzeiten und bei Familienfesten. In <strong>der</strong> übrigen Zeit ist er<br />
meist in Deutschland. Offiziell als Tourist, inoffiziell als illegaler Arbeiter, als Knecht bei einem bayerischen<br />
<strong>Das</strong> <strong>Ende</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeitsgesellschaft</strong>? Von Wegen - Von Wolfgang Uchatius - Die Zeit, 4.12.2003