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Samstag/<strong>Sonntag</strong>, 29./30. August 2020<br />
<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Nachrichten</strong><br />
GEDANKEN ZUM SONNTAG. Von Pater Kolumban Reichlin<br />
Das Leben mit den Augen Gottes sehen<br />
Jede Zeit und Generation ist mit<br />
vielfältigsten Herausforderungen<br />
konfrontiert. Wer sie aus rein<br />
menschlich-rationaler Perspektive<br />
betrachtet, war in der Vergangenheit<br />
und ist auch heute versucht,<br />
aufgrund des vielen Unvollkommenen<br />
und Ungelösten in der<br />
Schöpfung und im Leben der Menschen<br />
einer pessimistisch-mutlosen<br />
Endzeitstimmung zu verfallen<br />
und Ungeklärtes und scheinbar<br />
Negatives zu dämonisieren. Wer<br />
so denkt und spricht, lebt jedoch<br />
nicht im Bewusstsein, dass aus der<br />
Perspektive Gottes die gesamte<br />
Schöpfung, auch die Menschheit,<br />
willentlich ein Projekt im Prozess<br />
darstellt und dass die körperlichmaterielle,<br />
die intellektuelle wie<br />
auch die spirituelle Evolution,<br />
sprich das umfassende menschliche<br />
Wachsen und Reifen insgesamt<br />
stets vorwärts geht und nicht<br />
zurück, selbst wenn wir Menschen<br />
diese Entwicklung im Kleinen wie<br />
im Grossen bewusst und unbewusst<br />
immer wieder behindern.<br />
Wir hören an diesem <strong>Sonntag</strong><br />
in der Lesung ein unscheinbares,<br />
aber kraftvolles Wort des Apostels<br />
Paulus. Im Schlussteil seines Briefes<br />
an die Christen in Rom schreibt<br />
er (12,2): „Lasst euch von Gott verändern,<br />
damit euer ganzes Denken<br />
erneuert wird und ihr erkennen<br />
könnt, was der Wille Gottes ist!“<br />
Lernen, die gesamte Schöpfung,<br />
das menschliche Leben, die eigene<br />
Biografie, den Lauf der Geschichte<br />
mit den Augen Gottes zu sehen<br />
und aus dieser Weitsicht und Erkenntnis<br />
zu leben und zu handeln,<br />
ist Sinn und Ziel jeder Religion und<br />
Glaubenspraxis. Um dieses Fragen<br />
und Suchen nach Gott, das Entdecken<br />
seiner „Handschrift“ und<br />
seines Willens im Leben, im konkreten<br />
Alltag, in der Schöpfung hat<br />
Jesus mit seinem Verhalten und mit<br />
seiner Botschaft unermüdlich geworben:<br />
mit seinem Beten, seiner<br />
Hingabe und Dienstbereitschaft,<br />
mit aussagekräftigen Gleichnissen,<br />
mit seiner Aufmerksamkeit<br />
für jeden Bedürftigen und seiner<br />
Wertschätzung gegenüber dem<br />
Leben. Nach Jesu Lebenszeugnis<br />
<br />
Pater Kolumban Reichlin, bis Mitte August<br />
Propst von St. Gerold.<br />
ADOBE STOCK<br />
gefällt Gott, was gut, was schön,<br />
was ganzheitlich ist und <strong>zum</strong> großen<br />
Ziel hinführt, dem grenzenlosen<br />
Miteinander und Füreinander<br />
– hier auf Erden, wie einst in vollendeter<br />
Weise in seinem Reich.<br />
Um sich allen bisweilen mühseligen<br />
menschlichen Alltags- und<br />
Grenzerfahrungen <strong>zum</strong> Trotz<br />
dieser großen Vision und besonderen<br />
Berufung bewusst zu werden<br />
und zu bleiben, brauchen wir<br />
Menschen Räume und Zeiten der<br />
Einkehr, der Verinnerlichung, der<br />
Stille, des Schweigens. Der tiefe<br />
Sinn und das einzigartige Ziel der<br />
Schöpfung und des Lebens erschließen<br />
sich im Gleichschritt von<br />
Lebenserfahrung und dem, was<br />
sich uns in der Stille offenbart. Stille<br />
ist für ein sinnvolles Leben unerlässlich.<br />
„Ein Mensch, der nicht<br />
wirklich schweigen kann, wird nie<br />
anders sein können als oberflächlich.<br />
Die einzige Medizin gegen<br />
Oberflächlichkeit ist das Schweigen“,<br />
schreibt der Schweizer Kardinal<br />
Kurt Koch. Schweigen meint<br />
nicht, bloß äußerlich still zu sein<br />
und nicht zu reden. Schweigen ist<br />
viel mehr als ein Nicht-Reden. Es<br />
ist ein Nicht-Reden, damit wir innerlich<br />
und äußerlich frei und offen<br />
sind für etwas Anderes, etwas<br />
Größeres, für etwas, das nicht von<br />
uns selber stammt. Wenn wir in<br />
unserem Leben die Stille suchen,<br />
soll sie uns helfen, das Wesentliche,<br />
das Eigentliche unseres Lebens<br />
und der Schöpfung besser<br />
und tiefer erfassen und darüber<br />
staunen und uns freuen zu lernen.<br />
Bezeichnenderweise hat auch Jesus<br />
sich immer wieder an einsame<br />
Orte, in die Stille zurückgezogen.<br />
Ich stelle mir vor, dass dieser Rückzug,<br />
dass sein Schweigen etwas innerlich<br />
sehr Aktives gewesen sein<br />
muss, das ihm eine große Kraft,<br />
einen tiefen Frieden gegeben hat<br />
und auch die Gewissheit, dass er<br />
allen Schwierigkeiten und Herausforderungen<br />
des Lebens und<br />
seiner Berufung <strong>zum</strong> Trotz vom<br />
Gottesgeheimnis, das er „Abba“,<br />
Vater nannte, gewollt und geliebt<br />
ist. Vielleicht sagt das, was der<br />
dänische Philosoph und Theologe<br />
Sören Kierkegaard einmal <strong>zum</strong><br />
Thema „Beten“ geschrieben hat,<br />
annähernd aus, was Jesu Beten geprägt<br />
hat: „Ich meinte erst, beten<br />
sei reden. Ich lernte aber, dass beten<br />
nicht bloß schweigen ist, sondern<br />
hören. Beten heißt nicht, sich<br />
selbst reden hören. Beten heißt,<br />
still werden und warten, bis der<br />
Betende Gott hört.“<br />
Ich wünsche uns allen immer<br />
wieder den Mut und die Entschlossenheit,<br />
die Stille zu suchen und<br />
sie auszuhalten, damit wir die<br />
Schöpfung, uns selber und Gott –<br />
das Geheimnis der Liebe – immer<br />
besser kennen, tiefer erfassen und<br />
aus ihm und mit ihm leben lernen.