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Im nebenher von allem - Markus Daum

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<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong><br />

<strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong>


Für Melly, Elisabeth, Felicitas und Clemens


Dieser Katalog erscheint anläßlich der Ausstellung<br />

<strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong> • Skulptur, Zeichnung, Radierung<br />

vom 16.09. – 16.10.1998 in der galerie parterre<br />

des Kulturamtes Prenzlauer Berg, Berlin,<br />

und vom 25.10. – 19.11.1998 in der<br />

Sebastianskapelle, Ulm.<br />

Mit freundlicher Unterstützung des Berliner<br />

Kabinett und des Verbandes der<br />

Kunstwissenschaftler und Kunstkritiker e.V.<br />

Konzept und Gestaltung<br />

Jörg Freiberg, Wolfgang Wäldin, Radolfzell<br />

Realisation<br />

F&W KOMMUNIKATIONSDESIGN, Radolfzell<br />

Digitalfotografie<br />

Taube Photoproduction, Heilbronn<br />

Lithographie<br />

Wagner, Radolfzell<br />

Druck und Buchbindung<br />

Engelhardt & Bauer, Karlsruhe<br />

Ausstellungsadressen<br />

galerie parterre<br />

Danziger Straße 101<br />

D-10405 Berlin<br />

Galerie Sebastianskapelle<br />

Hahnengasse 25<br />

D-89073 Ulm<br />

© 1998 <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong> und Autoren<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 3-931640-37-X<br />

4


Textbeiträge<br />

Inhalt<br />

Andreas Pfeiffer<br />

An <strong>Markus</strong> 6<br />

Barbara Stark<br />

Amphora 8<br />

Jörg Freiberg<br />

<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong> 18<br />

Biographie 59<br />

Ausstellungen 60


An <strong>Markus</strong><br />

Lieber <strong>Markus</strong>,<br />

bei der Vorbereitung der jetzigen „Henry-Moore”-Ausstellung stieß ich<br />

auf ein Zitat dieses Bildhauers, das mir für Deine Person und Arbeitsweise<br />

passend schien.<br />

Moore sagte 1976: „Ich glaube, ein Bildhauer muß ein praktischer<br />

Mensch sein. Er kann nicht nur Träumer sein. Wenn man aus einem<br />

Steinbrocken eine Skulptur machen will, muß man mit Hammer und<br />

Meißel umgehen [...] man muß ein Arbeiter sein; jemand, der mit seinen<br />

Füßen auf dem Boden steht.”<br />

Moore starb 1986; Du wurdest 1959 geboren, hast die Skulpturenwelt<br />

<strong>von</strong> Henry Moore während Deines Studiums der Bildhauerei in Stuttgart,<br />

Berlin und auf Deinen Auslandsreisen kennengelernt. Wenn ich es richtig<br />

sehe, verbindet Euch beide die Liebe zu Italien und zur mediterranen<br />

Kultur. Auch Du kommst aus der Praxis. Dein Können basiert auf einer<br />

gediegenen Steinmetz- und Steinbildhauerlehre, der Du eine breite<br />

Erfahrungspalette im Bronze- und Eisenguß, im Zeichnen, Radieren und<br />

6


Malen hinzugefügt hast. 1994 konnte ich die erste Retrospektive Deines<br />

erstaunlichen Œuvres in den Städtischen Museen Heilbronn zeigen.<br />

Du bist inzwischen zu einer markanten Künstlerpersönlichkeit im<br />

Süddeutschen Raum gereift. Dein Ausgangspunkt ist die Natur. Du bist<br />

„inwendig voller Figuren” (Dürer), und Deine Gestaltimaginationen<br />

besitzen jene geistige Vitalität, die mich immer wieder stark berührt, weil<br />

sie über meine bloße Sinneswahrnehmung der Natur hinausgehen.<br />

Was mich an Deiner künstlerischen Arbeit fasziniert, ist die Konsequenz<br />

Deines Schaffens. Deine Haltung, Deine Offenheit und Dein Interesse an<br />

den Problemen unserer Zeit lassen Dich nach dem „Wohin?” des<br />

Menschen fragen.<br />

Lieber <strong>Markus</strong>, Du bist ein Künstler, dem die kritische Auseinandersetzung<br />

mit Kunstwerken aus der Tradition wichtig ist und der den Dialog<br />

zwischen zeitgenössischer Kunst und Leben sucht. Wir kennen uns jetzt<br />

schon über 15 Jahre.<br />

Ich wünsche Dir weiterhin die notwendige „Fortune” und mir, daß ich<br />

Dich als Freund noch einige Jahre begleiten darf.<br />

Heilbronn, im Mai 1998<br />

Dr. Andreas Pfeiffer<br />

Direktor der Städtischen Museen Heilbronn


Amphora –<br />

Gedanken zu einer Skulptur <strong>von</strong> <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong><br />

Seit Wochen begegne ich ihr mehrmals täglich. Morgens, wenn ich den<br />

Raum betrete, in dem sie steht, wird mein Blick <strong>von</strong> ihr magisch<br />

angezogen; abends, wenn ich komme, das Licht zu löschen, fasziniert<br />

mich das Verblassen ihrer Erscheinung, ihr Eintauchen ins Dunkel, dem<br />

sie ebenso selbstbewußt und gleichmütig zu begegnen scheint wie dem<br />

tagsüber unbarmherzig kalt herabstrahlenden Neonlicht. „Amphora” –<br />

die lebensgroße Skulptur und jüngste Schöpfung des Bildhauers <strong>Markus</strong><br />

<strong>Daum</strong> verfügt zweifellos über eine Ausstrahlung, der man sich nicht<br />

entziehen kann.<br />

Hoch aufgerichtet behauptet sie dreibeinig ihre herausragende Position,<br />

das Kompakt-Elementare ihres Körpers wirkt wie Schild und Schutz, der<br />

Kopf zeigt sich helmartig verschlossen. Ihr stilles, aber bestimmtes<br />

Stehen beherrscht den Raum, strahlt in diesen aus und zieht zugleich alle<br />

<strong>von</strong> außen kommenden Energien magnetartig auf sich. Graugold<br />

schimmert ihr Leib und verlockt unwillkürlich zur Berührung. Doch kaum<br />

wagt man, der Figur zu nahe zu kommen, ihre Aura zu verletzen, um mit<br />

den Händen die rauhe, schrundige, dann wieder glatte, metallisch<br />

glänzende Oberfläche zu ertasten, mit den Fingern den Kerbungen und<br />

Höhlungen nachzufahren, die wie Narben den Korpus überziehen.<br />

„Amphora” – der Titel als poetische Paraphrase zur plastischen Formfindung<br />

ist wesentlicher Teil des Kunstwerks. Tatsächlich besitzt die<br />

Skulptur eine unübersehbare formale Ähnlichkeit mit jenen in der Antike<br />

verbreiteten zweihenkligen Tonkrügen – Amphoren – , die als Vorratsund<br />

Transportgefäß dienten und, so es sich um eine Spitz-Amphore<br />

handelte, keinen Fuß als Standfläche besaßen, sondern im Sand oder in<br />

einer ringförmigen Halterung steckend, gelagert wurden.<br />

8<br />

“Himmeloffen der Tonkrug. Berühr‘ ihn, es birgt seine Höhle<br />

Süß der Jahrtausende Heut, bitter das Meersalz Vorbei”<br />

(Aus: Albrecht Goes „Südlicher Garten”)


Es war ein dreibeiniger Schemel, der <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong> an jene Amphoren-<br />

Ständer erinnerte und inspirierte, daraus eine Figur erwachsen zu lassen.<br />

Aufbauend auf dem konstruktiven Gerüst des Möbels entstand der aus<br />

Gips geformte Körper, bildete sich schichtweise die Gestalt, die in einem<br />

zweiten Arbeitsgang in Messing gegossen wurde. So wurde es möglich,<br />

die Spontaneität und Unmittelbarkeit, die das Arbeiten mit dem zerbrechlichen,<br />

aber ästhetisch wenig reizvollen Material charakterisiert,<br />

zu bewahren, aber in einen<br />

beständigen und transformierten<br />

Seinszustand zu überführen.<br />

Idolhaft, archaisch mutet die<br />

„Amphora” an. Rund ist die Partie<br />

bis zur „Hüfte”, die sich trotz ihres<br />

Volumens schwerelos emporstreckt<br />

und eine stabile Basis für den<br />

„Oberkörper” abgibt. Wie ein<br />

Bienenschwarm, der sich um seine<br />

Königin schart, scheint dagegen<br />

das untere Ende der Figur.<br />

Klumpig, amorph hängt dieser Teil<br />

herab, strebt zwischen den Beinen<br />

des Schemels dem Boden entgegen,<br />

ohne diesen jedoch zu berühren. Deutlich zerklüftet zeigt sich dagegen<br />

der „Oberkörper”, merklich abstrahiert vom figurativen Vorbild. Kaum<br />

definierbar, wo die „Brüste” enden, die „Armstümpfe” beginnen.<br />

Auffallend die rechte Körperhälfte. Hier formieren sich, seitlich gesehen,<br />

hochgezogene „Schulter” und das, was man als Arm bezeichnen könnte,<br />

zu einer schildartigen Fläche. Die Frontalansicht dagegen offenbart bei<br />

genauem Hinschauen das formal spannungsvoll angelegte Verhältnis der


10<br />

Amphora, 1997/98<br />

Messingguß, 190 x 64 x 53 cm<br />

beiden Teile zueinander: ihr Zustand<br />

der erstrebten und doch nicht<br />

vollzogenen Vereinigung hat etwas<br />

latent Erregendes, beinhaltet<br />

Versprechen und Enttäuschung in<br />

einem. Merkwürdig fremd schließlich<br />

der Kopf, der, kantig verschlossen,<br />

jede physiognomische<br />

Ähnlichkeit verweigert.<br />

Abweisend – das ist der erste,<br />

dominierende Eindruck, den die<br />

„Amphora” vermittelt. Ihr Körper<br />

scheint eine Festung, uneinnehmbar,<br />

unerschütterbar. Obwohl die<br />

Skulptur auf einen Sockel im<br />

herkömmlichen Sinn verzichtet,<br />

wächst dem dreibeinigen Schemel<br />

Piedestalfunktion zu: er ist es, der<br />

die Figur isoliert, heraushebt aus<br />

der Wirklichkeit. Der Schemel ist<br />

ein Gebilde, das seine eigene Bedeutung hat, das als Fremdkörper<br />

erscheint und doch integrierter Teil der Skulptur ist. Er sorgt für ihren<br />

Halt, ihre Standfestigkeit, er ersetzt gleich dreifach die fehlenden Beine.<br />

Ihre Erscheinung ist auf Allansichtigkeit angelegt, und doch besitzt die<br />

„Amphora” eine ausgeprägte Schauseite, die nicht zuletzt durch jene<br />

große, vulvaförmige Höhlung vorgegeben ist, die ihren Körper vom<br />

Hüftbereich abwärts spaltet. An dieser einen Stelle öffnet sich die<br />

Skulptur, gibt den Blick in ihr Inneres frei, wird ihre Verletzlichkeit ahnbar<br />

– und ihre existentielle Einsamkeit.


<strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong>s „Amphora” ist ein Werk, das vorsichtiger, einfühlsamer<br />

Annäherung bedarf. Ihre stolze Haltung dient als Schutz, sucht den<br />

abzuwehren, der nicht willens ist zu sehen, zu be-greifen, daß der<br />

fragmentarische Charakter ihrer Gestalt Abbild des vielschichtigen Seins<br />

schlechthin ist. Eingebunden in den Prozeß des Werdens und Vergehens<br />

gerät die Figur zum Symbol jener fragilen Spanne zwischen Leben und<br />

Tod, zwischen Sein und Nichtsein, stellt sie die immer wiederkehrende<br />

und über alles hinausweisende Frage des Woher, Wohin, Wozu. Keine<br />

glatte, perfekte Oberfläche begrenzt ihren Körper; uneben, rauh, durchbrochen<br />

ist ihre Haut, jene Stelle, in der sich Körperform und umgebender<br />

Raum, Innen und Außen, Zeit und Ewigkeit begegnen und damit an<br />

Aspekte des Transzendenten rühren. Jede Wölbung und Vertiefung,<br />

jeder Grat und jede Kante ihres Leibs spricht <strong>von</strong> ihrem Werden und <strong>von</strong><br />

der Sinnlichkeit und Lebendigkeit der Hände ihres Erschaffers, dem die<br />

Auflösung und Verfremdung der menschlichen Gestalt nicht künstlerisches<br />

Ziel ist, sondern Station auf dem Weg zu einer „Wiederauferstehung”<br />

eines irdisch gebundenen Menschenbildes, das ebenso eindringlich wie<br />

poetisch Antwort auf jene letzten und ersten Rätsel zu geben sucht. Ein<br />

künstlerisch gefaßtes Menschenbild, dem man schlußendlich nur mit<br />

ahnender Sprachlosigkeit begegnen kann, denn hinter dem Sichtbaren<br />

scheint stets eine noch tiefer gehende vitale Dimension auf, als in der<br />

Benennung faßbar wäre. „Amphora” – bergendes und gebendes,<br />

nehmendes und schützendes Gefäß, Anfang und Ende der Welt.<br />

12<br />

Barbara Stark


Amphora, 1997<br />

Tusche, 62 x 48 cm


14<br />

Meine Arbeiten entstehen im <strong>nebenher</strong><br />

– im <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>.<br />

Mein Antrieb – das ist unser Ballast, der Tod.<br />

Er ist es, der mir Geschwindigkeit verleiht.<br />

Was da<strong>von</strong> übrigbleibt – schlußendlich wird alles<br />

daran gemessen.<br />

<strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong>


<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>, 1997<br />

Radierung, 45,5 x 33 cm


<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>, 1997<br />

Radierung, 45,5 x 33 cm<br />

16


<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>, 1997<br />

Radierung, 45,5 x 33 cm


<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong><br />

Eine kunstphilosophische Spurenlese<br />

Verfolgt man gleich einem Detektiv die mittlerweile unübersehbaren<br />

Spuren, die das stetig wachsende Werk des Künstlers <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong> in<br />

den letzten Jahren hinterlassen hat, dann tritt das Ziel seines Schaffens<br />

– die künstlerische Darstellung der menschlichen Existenz – ihre mit<br />

kollektiver Zeit aufgeladenen Detailansichten – unverkennbar zutage.<br />

Verblüffend und bemerkenswert sind allerdings die Wege, die Lösungen<br />

und Methoden, mit denen <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong> dieses Ziel immer wieder<br />

erreicht. Seine individuelle “Handschrift”, seine schöpferische Kraft und<br />

der ungebrochene Schaffensdrang lassen schon jetzt – in “jungen Jahren” –<br />

erahnen, welche potentiellen Möglichkeiten diesem Werk in Zukunft<br />

noch beschieden sein werden.<br />

Wer ‘im <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>’ seine Wege und Pfade findet, geht deshalb<br />

noch keinesfalls auf Umwegen voran, sondern verläßt zuweilen eine<br />

allzu bevölkerte Hauptstraße, um im “Dickicht der Geschichte” seinen<br />

eigenen Weg zu suchen. Wie sehr sich dieses Vorgehen in den unterschiedlichsten<br />

Bereichen zu einer erfolgreichen Methodik entwickelt hat,<br />

wird sich im folgenden noch zeigen. Auf der Fährte des Künstlers<br />

werden uns dabei “Personen” begegnen, die stellvertretend für eine<br />

bestimmte Methode, ein bestimmtes Denken stehen. So abwegig diese<br />

“Begegnungen” auf den ersten Blick auch scheinen mögen, das Vorgehen,<br />

die Methoden – nicht die Motive – sind <strong>allem</strong>al verwandt.<br />

18<br />

“Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg;<br />

was wir Weg nennen, ist Zögern.”<br />

Franz Kafka


Was der Fall ist<br />

“Ein außergewöhnliches Verbrechen ist an sich fast schon eine Spur. Je<br />

alltäglicher ein Verbrechen, desto schwieriger ist es aufzuklären”, wußte<br />

schon Sherlock Holmes seinem Chronisten Watson zu berichten.<br />

Wie sehr sich seit den populären Anfängen der Kriminalistik, der<br />

Psychoanalyse, aber auch der<br />

wissenschaftlichen “Kunstbetrachtung”<br />

rationale Analyse<br />

und einfühlsame Intuition zu<br />

Arbeitsmethoden verdichtet haben,<br />

die auch der Modernen Kunst<br />

nicht fremd geblieben sind, zeigt<br />

schon dieser erste Fall.<br />

Bei den Arbeiten im Bannkreis des<br />

Zyklus “Der Fall” handelt es sich<br />

augenscheinlich um jene simplen<br />

Fälle, die so außerordentlich<br />

schwierig sind. Die Tuschen lassen schemenhafte Gestalten erkennen<br />

– ob männlich oder weiblich ist kaum zu ergründen – die entweder<br />

kopfüber oder mit dem Rücken voraus ins Bodenlose fallen. Und es ist<br />

beileibe kein abwegiger Einfall, in diesen “Fallbeispielen” alles zu erblicken,<br />

was der Sprache an verwandten Nominalkompositionen zur<br />

Verfügung steht, vom Kriminalfall über den Unfall bis zum symbolischen<br />

Sündenfall des Menschen. Auf alle Fälle ist die stilisierte, ausgelieferte<br />

Haltung dieser Gestalten kein Zufall. Denn angesichts der Todesverfallenheit<br />

des Individuums verstummen für einen kurzen Augenblick die<br />

Fragen nach dem wer, wie oder warum. Und genau diesen zutiefst<br />

erschreckenden Moment, den Übergang vom Sein in die Transzendenz,


20<br />

fixiert der Künstler mit sicherem<br />

Gespür. Kein Horizont, an den sich<br />

der Betrachter halten könnte, kein<br />

Boden, der entweder tödliche<br />

Gewißheit oder aufkeimende<br />

Hoffnung des Überlebens verspricht.<br />

Der freie Fall gerät so zur<br />

existentiellen Metapher, zu einer<br />

künstlerischen “Dialektik im Stillstand”.<br />

Gerade noch in distanzierter,<br />

kontemplativer Haltung begriffen,<br />

wird der Betrachter plötzlich<br />

mitgerissen, spürt hautnah die<br />

existentielle Bedrohung am eigenen<br />

Leib. – Ein kurzes Schütteln, das Standbein wechseln, und der Spuk ist<br />

vorbei. Dem aufmerksamen Beobachter stellt sich dann allerdings die<br />

Frage, warum diese schemenhaften, zum Teil skurril anmutenden Körper<br />

einen solchen Sog <strong>von</strong> Authentizität entwickeln können.<br />

Daß Sigmund Freud beispielsweise den Träumen vom Fallen häufig einen<br />

Angstcharakter attestiert, deren Ursprung jedoch im lustvoll ausgelassenen<br />

Kinderspiel ansiedelt, hilft hier kaum weiter. Man nähert sich dem<br />

Phänomen eher über ein typisches Qualitätsmerkmal des <strong>Daum</strong>schen<br />

Schaffens, nämlich der Abwesenheit jeglicher “Erzählperspektive”.<br />

Die reine Faktizität des Fallens, das nuancierte Gleichgewicht zwischen<br />

Abstraktion und Realismus ermöglicht erst unsere temporäre Identifikation.


Dagegen erzeugen die alltäglichen, erschreckend realistischen Bilder<br />

unserer Massenmedien durch die dem Bild innewohnende und auf<br />

Konsum ausgerichtete “Erzählperspektive” beim Betrachter eine<br />

unüberbrückbare Distanz.<br />

Wir sind zwar – je nach Gemütsverfassung – betroffen oder auch<br />

unberührt, aber wir identifizieren uns nicht mit den abgebildeten<br />

Menschen. Das, was ihnen widerfährt – ob Mord, tödlicher Unfall oder<br />

Naturkatastrophe – wird letztlich unter dem Begriff Zufall abgelegt. Da<br />

der Tod als “natürliche Tatsache”, als Teil des Lebens, in den modernen<br />

Technokratien immer mehr zum Skandal avanciert – wie Baudrillard<br />

bemerkte – erfährt auch die Kategorie des Zufalls eine neue, besser<br />

primitive Dimension.


22<br />

Hinter <strong>allem</strong>, was uns zufällig<br />

zustößt, steckt ein feindlicher<br />

Wille, ein Anschlag auf die<br />

ansonsten so gut funktionierende<br />

gesellschaftliche Ordnung. Dagegen<br />

führt Octavio Paz in seiner Theorie<br />

über den Zufall aus:<br />

“Der Zufall ist ein Bestandteil<br />

unseres alltäglichen Lebens und<br />

sein Bild schreckt unsere schlaflosen<br />

Nächte [...] Der Zufall ist weder<br />

eine Ausnahme noch eine Krankheit<br />

[...], auch ist er kein korrigierbarer<br />

Mangel unserer Zivilisation:<br />

er ist die natürliche Konsequenz<br />

unserer Wissenschaft, unserer Politik und unserer Moral. Der Zufall ist ein<br />

Teil unserer Fortschrittsidee [...] Die Katastrophe wird banal und lächerlich,<br />

da der Zufall letztendlich nur ein Unfall ist.”<br />

Durch die tägliche Informationsflut einer weltweit vernetzten Kommunikation<br />

wird uns der Boden unter den Füßen also nicht entzogen, tappen<br />

wir nicht in die Falle der Identifikation mit den Opfern, solange nicht, bis<br />

uns selbst der Zufall als Unfall oder Katastrophe ereilt. Erst wenn dieser<br />

Notfall eingetreten ist, erkennen wir, daß alle beruhigenden Wahrscheinlichkeitsrechnungen<br />

uns genauso schutzlos zurücklassen wie das vielbeschworene<br />

Amulett am Armaturenbrett. Dergestalt verkommt aber<br />

der Zufall zum Ab-fall unserer Fortschrittsgläubigkeit, zur Rückkehr des<br />

Mythos.


Die mitgelieferten Interpretationsansätze der ‘brandaktuellen’ Sensationsbilder<br />

frönen einer Ästhetik des Verschwindens, die darüber hinwegtäuscht,<br />

daß der Zufall eben doch ein fester Bestandteil des Systems ist, oder –<br />

wie Benjamin es formuliert hat, “[...] daß der ‘Ausnahmezustand’, in<br />

dem wir leben, die Regel ist.”<br />

Während die Kunst eines <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong> sich durchaus programmatisch<br />

bemüht, immer wieder auf das Wesentliche zurückzukommen, Leben<br />

und Tod, Werden und Vergehen als natürliche Einheit zu begreifen, um<br />

diese dann in einer dialektischen Stillstellung als Rätselfigur darzustellen,<br />

fallen uns die digitalisierten Schreckensbilder via Satellit immer schneller<br />

ins Haus. Diese “Grimassen des Realen” deklarieren auf inflationäre<br />

Weise, ‘was der Fall ist’, indem sie den jeweils vorgelegten Fall als<br />

außergewöhnlich, als regelwidrig präsentieren. Eine derartige Logik des<br />

“Fallens” “[...] vom Geschichtsbewußtsein in Historismus; <strong>von</strong> der<br />

Wiederholung als Stillstand in Nostalgie [...]” bedingt, so Slavoj ˇZi ˇzek,<br />

“[...] daß wir aus dem Prozeß ausgeschlossen werden, eine äußere<br />

Distanz zu ihm einnehmen.”


<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong><br />

Wer einer Spur folgen will – und das ist eine archaische Erkenntnis –<br />

sollte seiner Wahrnehmung, seinem Empfinden und Fühlen eine Methode<br />

zur Seite stellen. Wie sehr die Sprache diesen Sachverhalt konserviert<br />

hat, zeigt ein Blick auf die Etymologie: Seit dem 13. Jahrhundert wird<br />

“eine Spur suchen, ihr folgen” im Sinne <strong>von</strong> “wahrnehmen” gebraucht,<br />

und schon sehr früh wird die Spur in einer übertragenen Bedeutung zum<br />

“hinterlassenen Zeichen”, das sich mit dem Begriff des Geringen, kaum<br />

Merkbaren verbindet.<br />

Spontane Notizen, flüchtig niedergeschriebene Bemerkungen entpuppen<br />

sich bei rechter Lesart häufig als ‘heiße Spur’. So notierte <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong><br />

vor Jahren: “Meine Arbeiten entstehen im <strong>nebenher</strong> – im <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>allem</strong>.” – oder – “<strong>Im</strong> Flüchtigen sind Dinge, die mich umtreiben.” Und in<br />

der Tat erweisen sich diese scheinbar lapidaren Sätze als stichhaltige<br />

Indizien für eine Methode, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts<br />

mit Vehemenz ins Kollektive Bewußtsein der Menschen eingeschrieben<br />

hat, deren Wurzeln allerdings bis zu den Anfängen der Menschheit, in<br />

die Jagd, die damit verbundene Spurenlese, die Naturdeutung und<br />

Divination zurückreichen. Ein paar Hinweise, wie sehr die angedeutete<br />

Methode – nicht die jeweiligen Sujets – zur Kristallisation zahlreicher<br />

moderner Disziplinen beigetragen hat, verdeutlichen den Sachverhalt. So<br />

führt beispielsweise Sigmund Freud in seinem Essay “Der Moses des<br />

Michelangelo” (1914) aus:<br />

24


<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>, 1997<br />

Radierung, 45,5 x 33 cm


“Lange bevor ich etwas <strong>von</strong> der<br />

Psychoanalyse hören konnte,<br />

erfuhr ich, daß ein russischer<br />

Kunstkenner, Ivan Lermolieff [...]<br />

eine Umwälzung in den Galerien<br />

Europas hervorgerufen hatte,<br />

indem er die Zuteilung vieler Bilder<br />

an die einzelnen Maler revidierte,<br />

Kopien <strong>von</strong> Originalen mit Sicherheit<br />

unterscheiden lehrte und aus<br />

den [...] frei gewordenen Werken<br />

neue Künstlerindividualitäten<br />

konstruierte. Er brachte dies<br />

zustande, indem er vom Gesamteindruck<br />

und <strong>von</strong> den großen<br />

Zügen eines Gemäldes absehen<br />

hieß und die charakteristische<br />

Bedeutung <strong>von</strong> untergeordneten Details hervorhob [...] Es hat mich dann<br />

sehr interessiert zu erfahren, daß sich hinter dem russischen Pseudonym<br />

ein italienischer Arzt, namens Morelli, verborgen hatte. [...] Ich glaube,<br />

sein Verfahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe<br />

verwandt. Auch diese ist gewöhnt, aus geringgeschätzten oder nicht<br />

beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ‘refuse’ – der Beobachtung,<br />

Geheimes und Verborgenes zu erraten.”<br />

26


Für Carlo Ginzburg stellen die<br />

Schriften des Kunstkenners<br />

Giovanni Morelli einen “[...] direkten<br />

Beitrag zur Kristallisation der Psychoanalyse<br />

[...]” dar. Auch einem berühmten<br />

“Vorläufer” der modernen<br />

Kriminalistik begegnet man in<br />

diesem Umfeld wieder. Einer Äußerung<br />

Sergeij Konstantinowitsch<br />

Pankejew (dem “Wolfsmann”)<br />

zufolge, interessierte sich Freud<br />

durchaus für Sherlock Holmes:<br />

“Einmal kamen wir auch auf Conan<br />

Doyle und auf die <strong>von</strong> ihm geschaffene<br />

Figur des Sherlock<br />

Holmes zu sprechen. Ich dachte,<br />

daß Freud diese Art leichter Lektüre<br />

überhaupt ablehne, und war daher überrascht, daß dies keineswegs der<br />

Fall war und daß Freud auch diesen Schriftsteller recht aufmerksam<br />

gelesen hatte. Da ja auch in der Psychoanalyse die Rekonstruktion einer<br />

Kindheitsgeschichte ‘Indizienbeweise’ heranziehen muß, interessierte<br />

sich Freud offenbar auch für diese Art Literatur.”<br />

Conan Doyle – selbst mit der ärztlichen Diagnostik vertraut – stattete<br />

seinen Sherlock Holmes mit einem genialen Blick für Kleinigkeiten und<br />

Details aus und trug so zur methodischen Ausrichtung der modernen<br />

Kriminalistik bei. Durch seinen Onkel, den Maler und Kunsthistoriker<br />

Henry Doyle, der als Direktor der Dubliner Kunstgalerie persönlichen<br />

Kontakt mit Morelli hatte, mag Conan Doyle auch mit dessen Methoden<br />

vertraut gewesen sein.


Von den europäischen Kunstgalerien über die psychoanalytische Couch,<br />

quer durch die spurensichernden Kriminallabors zurück ins Atelier des<br />

Künstlers <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong>. Auch dort entwickelt sich also die Arbeit im<br />

<strong>nebenher</strong> – im <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>, worunter aber keinesfalls ein leichtes<br />

Zufallen, sozusagen nebenbei, zu verstehen ist. Auch dort wird der<br />

akribische Spurenleser <strong>Daum</strong> umgetrieben <strong>von</strong> flüchtigen Details, die<br />

sich durch einen konzentrierten, über lange Zeit erstreckenden<br />

Schöpfungsprozeß zu Formanlässen und Farbkompositionen verdichten.<br />

Bücher, Fotos, Zeitungsausschnitte, Fundstücke aus verschiedensten<br />

Materialien, Mixturen, eigene Erinnerungen und Gedanken sind das<br />

methodische Rüstzeug für diesen Schöpfungsprozeß, dessen Ziel<br />

ebenfalls die Rekonstruktion der Wahrheit, ihres Wesens, ihrer Gestalt,<br />

ihrer Form ist. Und immer wieder konzentriert sich der Künstler wie ein<br />

Pathologe auf die menschliche Physiognomie. Kopf und Körper, die alten<br />

Streithähne par excellence, gehören – ob als Plastik oder Bild – zu den<br />

häufigsten Motiven.<br />

So präsentiert auch der große Zyklus “<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>” das<br />

menschliche Haupt in zumeist abstrakter Darstellung. Auch diese<br />

Radierungen verdeutlichen die analytische Methode des Künstlers; in<br />

ihnen wird das Zerlegen, die Auflösung, das Fragmentarische zur<br />

Voraussetzung für das individuelle, imaginäre Zusammenfügen durch<br />

den Betrachter.<br />

28


<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>, 1997<br />

Radierung, 45,5 x 33 cm


Auf der anderen Seite beeinflußt die immense Bilderflut unserer Tage,<br />

ihr rasanter Ansturm auf alle Lebens- und Erfahrungsbereiche unser<br />

Wahrnehmungsvermögen und damit unser Denken. Wenn jemand dem<br />

Beeindruckenden, der Echtheit eines persönlichen Erlebnisses gebührenden<br />

Ausdruck verleihen will, fällt immer häufiger der Satz: “Das war wie im<br />

Film!” Doch wie sollte eine kommerzielle Filmindustrie trotz <strong>allem</strong><br />

monumentalen Perfektionismus mehr Authentizität, mehr Wahrheitsgehalt<br />

zutage fördern als ihr Sujet, das Leben selbst? Die Determination<br />

solcher Vor-stellungen läßt dem Betrachter immer weniger Raum und<br />

Zeit für eigene Gedanken, eigene Phantasien und degradiert ihn zum<br />

konsumierenden Zuschauer.<br />

Wer wie Benjamin ein Bewußtsein dafür entwickelt, daß das verheerende<br />

Kontinuum der Geschichte(n) zuerst aufgesprengt werden muß, um aus<br />

den Realitätstrümmern die Wahrheit einer befreiten Menschheit zu lesen,<br />

der fühlt sich im Bereich der Kunst dem Fragmentarischen verpflichtet.<br />

Dieses Spurenlesen ‘im <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>’ ist ein wichtiges Charakteristikum<br />

für die Arbeiten des Künstlers <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong>. Daß dabei auch<br />

der Teufel im Detail stecken kann, zeigt, welcher Schulung und Meisterschaft<br />

es bedarf, die Spreu vom Weizen zu trennen.<br />

30


<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>, 1997<br />

Radierung, 45,5 x 33 cm


Um monströse, ins Abstrakte gleitende “Köpfe” handelt es sich auch bei<br />

einem gleichnamigen Zyklus aus Tuschen, Tempera und Collagen. Ein<br />

markantes Detail dieser Arbeiten sind die besonders groß proportionierten<br />

Ohren, die zum Teil über den Bildrand hinausweisen. Augenhöhlen,<br />

Mund- und Nasenpartie sind allenfalls schemenhaft zu erkennen oder<br />

fehlen ganz.<br />

Und noch einmal sei an den Kunstkenner<br />

Morelli und Sherlock<br />

Holmes erinnert, die durch das<br />

scheinbar unwesentliche Studium<br />

der Ohren Fälschungen entlarvten<br />

bzw. Kriminalfälle lösten. Auch für<br />

den Beginn einer psychoanalytischen<br />

Sitzung wäre die humoreske<br />

Wendung des Analytikers “Ich bin<br />

ganz Ohr” absolut treffend.<br />

Ohren und Augen sind die<br />

wichtigsten Sinnesorgane des<br />

Menschen, um die Welt außerhalb<br />

seiner selbst zu verstehen. In den<br />

Jahrtausenden vor aller Schriftsprache,<br />

da nur das gesprochene<br />

Wort zu hören war, vollzog sich das kommunikative Verstehen hauptsächlich<br />

über die Ohren. Erst mit der Ausbildung der Schriftkultur, bis hin<br />

zum Primat des Visuellen in unseren Tagen, des Sich-nicht-satt-sehen-<br />

Könnens, hat das Ohr den Konkurrenzkampf mit dem Auge verloren.<br />

Während die Augen als “Fenster der Seele” durchaus in der Lage sind,<br />

sich durch böse, vernichtende Blicke zu wehren, ist das Ohr ängstlich<br />

und wehrlos <strong>allem</strong> ausgeliefert, was es zu hören bekommt.<br />

32


Kopf, 1997<br />

Tusche, 44 x 37 cm


34<br />

Unsere Ohren sind im Gegensatz<br />

zu den Augen <strong>von</strong> der Geburt bis<br />

zum Tode immer offen und müssen<br />

auch das hören, was sie nicht hören<br />

wollen: den Lärm des Chaos, der<br />

Bedrohung, des Außergewöhnlichen,<br />

aber auch die erschreckende<br />

Stille, die stumme Gefahr, die<br />

Ruhe vor dem Sturm und das<br />

Schweigen der Opfer.<br />

Utz Jeggle hat in seiner volkskundlichen<br />

Anatomie “Der Kopf<br />

des Körpers” diese Entwicklung<br />

der menschlichen Organe nachgezeichnet. Auch er verweist im Rahmen<br />

der Wächterfunktion des Hörens auf den Kriminalroman. Wie häufig<br />

beginnt eine solche Erzählung mit einem Geräusch, das das Opfer aus<br />

nächtlichem Schlaf reißt. “Der Autor spielt mit der Angst des Lesers, der<br />

das schauderhafte Gefühl kennt, wenn in absoluter Ruhe unbekannte<br />

Geräusche ihr Spiel mit der Phantasie treiben.”<br />

Die sich verändernden Geräuschkulissen, mit denen wir uns umgeben<br />

– sei es bei der Arbeit oder in der Freizeit – schreiben sich nicht nur ins<br />

Kollektive Unbewußte ein, sondern auch in die Organe selbst.<br />

Symptomatische Äußerungen über die unterschiedliche Akzeptanz <strong>von</strong><br />

Geräuschen – etwa bei urbaner und ländlicher Bevölkerung oder zwischen<br />

verschiedenen Nationen und Kulturen – wären Indizien für diese eingreifenden<br />

Veränderungen, für die partiellen Fixierungen kollektiver Zeit<br />

oder für das “Gedächtnis der Ohren”.


<strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong> gelingt mit<br />

seinen “Köpfen” ein<br />

Paradoxon, nämlich den<br />

“gequälten Aufschrei”<br />

unserer Ohren zu visualisieren.<br />

Damit einher geht<br />

eine Sensibilisierung, trotz<br />

Lärm und Todesstille auf das<br />

Hoffnungsvolle in der Welt<br />

zu lauschen.<br />

Die künstlerische Spurenlese,<br />

die <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong> in seinen<br />

Körperlandschaften vollführt,<br />

ließe sich auch an Werken wie “Der Pfahl” (Bronzeguß),<br />

“Krümmung” (Eisenguß), “La femme” (Tusche), “Leib” (Tusche),<br />

“Liegende” (Mischtechnik) oder “Mann und Frau” (Tusche) aufzeigen.<br />

<strong>Im</strong> Laufe der Jahre konnte der Künstler diese Methode, diese Suche en<br />

detail zu einer Meisterschaft ausbilden, die seinen Werken über alle<br />

regionalen Grenzen hinweg große Anerkennung verschafft hat.


Der Pfahl, 1996<br />

Bronzeguß, 190 x 14 x 26 cm


Schauplätze<br />

Zu den neuen Arbeiten des Künstlers zählen unter anderem vier “Platz”-<br />

Plastiken, die man mit dem Oberbegriff “Schauplätze” charakterisieren<br />

könnte. Es handelt sich dabei um drei Messinggüsse – “Aufbruch”,<br />

“Abbuchtung” und “Zwischenspiel” (1998) – sowie um den Eisenguß<br />

“Zwischen den Schatten” (1995).<br />

Und wie bei der kriminalistischen Spurenlese ist das Vertrautwerden mit<br />

Schauplätzen immer auch ein Vertrautwerden mit Tatorten. “Die<br />

Rekonstruktion der Spur des Unerzählten geschieht mit Hilfe der topographischen<br />

Durchdringung”, so Helmut Heißenbüttel in einer um die<br />

Spur erweiterten Ausführung <strong>von</strong> Ernst Bloch.<br />

Freilich darf man schon zu Beginn der Untersuchung vermuten, daß auch<br />

diese Schauplätze keine eigentliche, individuelle “Erzählperspektive”<br />

verfolgen, keine wie auch immer geartete Einzelgeschichte erzählen.<br />

Aber sie enthalten zahlreiche Spuren der Tat, des künstlerischen Schaffens,<br />

die sich zu einer Indizienkette verdichten lassen, denn auch diese Tat-<br />

Orte erscheinen als “typologisch geprägter Lebensraum”.<br />

Beim Schauplatz “Aufbruch”, der wie die drei anderen Plastiken die<br />

unverkennbare Handschrift des Künstlers trägt, plaziert <strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong><br />

vier fragmentarische “Figuren” auf einer mit Niveauunterschieden<br />

ausgestatteten Plattform. Drei der Figuren stehen aufrecht – eine da<strong>von</strong><br />

auf einem Podest – die vierte Figur liegt auf einem unterbrochenen<br />

Vorsprung. Ähnliche Konstellationen, allerdings mit drei bzw. zwei<br />

Fragmenten, finden sich auch bei den anderen Schauplätzen. Die auf<br />

einem Podest oder Sockel positionierte Figur, Parallelen lassen sich bei<br />

der “Abbuchtung” oder “Zwischen den Schatten” ausmachen, erinnert<br />

an das <strong>Daum</strong>sche Motiv des “Fährmanns” und seine zahlreichen<br />

38


Aufbruch, 1997<br />

Messingguß, 41,5 x 71,5 x 58 cm


plastischen Studien zur verblüffenden Verteilung <strong>von</strong> Gewicht und<br />

Proportion. Eine scheinbar fragile Statik fordert es geradezu heraus,<br />

durch eine Schau – was auch “prüfender Blick” bedeutet – die Standfestigkeit<br />

dieser Fragmente zu untersuchen. Daß das Fährmann-Motiv<br />

etwas mit “Aufbruch” zu tun hat, sei es nun zu neuen Horizonten oder<br />

zur klassichen Überfahrt in den Hades, mag nur ein Indiz – im wahrsten<br />

Sinne des Wortes – “am Rande” sein. Die einst als Brunnenfigur konzipierte<br />

Großplastik “Fährmann” und ihre Vorstufen haben im Laufe der Jahre<br />

ein Eigenleben entwickelt und fügen sich nahtlos in die Konstellationen<br />

der neuen Schauplätze ein. Diese plastischen Metamorphosen strukturieren<br />

längst nicht mehr nur den Raum, sondern vielmehr den Zeit-Raum<br />

ihrer Umgebung. Ihre Erscheinung läßt sich nicht mehr auf eine Zeitform<br />

festlegen; sie sind mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der<br />

Zukunft im Bunde.<br />

Gleiches ließe sich auch aus den Motivketten der liegenden Fragmente<br />

erarbeiten, vom frühen “Leib Christi” bis hin zu allen vier Schauplätzen.<br />

Doch trotz aller Reminiszenzen an vertraute Motivkomplexe hat man es<br />

bei diesen Arbeiten mit einem beeindruckenden Novum des <strong>Daum</strong>schen<br />

Schaffens zu tun. Zum ersten Mal treten mehrere Einzelfragmente auf<br />

einem Feld, einem Platz in Beziehung zueinander, wie ein Ensemble, das<br />

die Bühne des Lebens betritt. Einige Figuren stehen aufrecht, andere<br />

scheinbar auf der Kippe, wieder andere sind gefallen oder abgestürzt.<br />

Dieses Beziehungsgeflecht, das mehr als die Summe seiner Einzelaspekte<br />

ist, eröffnet neue Ausdrucksmöglichkeiten, neue Horizonte und Perspektiven,<br />

die durch die einzelnen Komponenten allein nicht zu realisieren<br />

wären. Aber auch auf dieser neuen “Ebene” lassen sich keine eindeutigen<br />

Zäsuren zwischen Leben und Tod, zwischen Werden und Vergehen<br />

ziehen; alles ist “<strong>Im</strong> Fluß”, im Wandel begriffen, wenn auch durch die<br />

Hand des Künstlers für einen Augenblick stillgestellt, um dem Betrachter<br />

40


Zwischen den Schatten, 1995<br />

Eisenguß, 28 x 57 x 42 cm<br />

das Wiedererkennen zu ermöglichen. Diese Offenheit in der Stillstellung,<br />

diese Schwingungen der Zeiten und Geschlechter sind die künstlerische<br />

Lösung eines Rätsels, um dessen Lösung wir uns alle tagtäglich <strong>von</strong><br />

neuem bemühen: nämlich das Leben, das Dasein des Menschen in<br />

seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu verstehen.<br />

Die Schwierigkeiten einer jeden Spurenlese betreffen daher – wie es das<br />

Motto <strong>von</strong> Kafka schon andeutete – weniger das Ziel, sondern vielmehr<br />

den Weg, um dieses Ziel zu erreichen.<br />

Jörg Freiberg


Abbuchtung, 1998<br />

Messingguß, 61,5 x 57 x 89,5 cm


Zwischenspiel, 1998<br />

Messingguß, 41 x 75 x 51cm


Großer Aufbruch, 1998<br />

Eisenguß, 200 x 100 x 100 cm


Krümmung, 1995/96<br />

Eisenguß, 41 x 119 x 78 cm<br />

48


Krümmung, 1995<br />

Collage auf Holz, 30 x 47,5 cm


50<br />

Amphora,<br />

1997<br />

Radierung,<br />

198 x 98 cm


Schwelle,<br />

1997<br />

Radierung,<br />

198 x 98 cm


Via, 1995<br />

Mischtechnik, 57 x 48 cm<br />

52


Via, 1998<br />

Mischtechnik, 63 x 48 cm


Mann und Frau, 1997<br />

Tusche, 62 x 48 cm<br />

54


Les Femmes, 1997<br />

Tusche, 62 x 48 cm


Liegende, 1998<br />

Mischtechnik, 48 x 62 cm<br />

56


Passage, 1997<br />

Mischtechnik, 296 x 120 cm


58<br />

Weib, 1997<br />

Collage auf<br />

Holz,<br />

181,5 x 98 cm


<strong>Markus</strong> <strong>Daum</strong><br />

1959 geboren in Säckingen<br />

1979-81 Steinmetz- und Steinbildhauerlehre in Ravensburg<br />

1982-86 Studium der Bildhauerei<br />

an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in<br />

Stuttgart bei Prof. Alfred Hrdlicka<br />

1986-90 Studium der Bildhauerei<br />

an der Hochschule der Künste Berlin<br />

bei Prof. Rolf Szymanski<br />

1992 Villa Serpentara Stipendium der Akademie der Künste, Berlin<br />

in Olevano / Romano, Italien<br />

lebt und arbeitet in Radolfzell am Bodensee und in Berlin


Einzelausstellungen (Auswahl)<br />

1985 Zehntscheuer Rottenburg, Kunstverein<br />

1986 Augustinermuseum Freiburg i. Br.<br />

1990 Städtisches Museum Engen + Galerie<br />

1992 Galerie Schmücking, Basel<br />

1993 Galerie Schmücking, Braunschweig<br />

1994 Städtische Museen Heilbronn<br />

60<br />

Galerie Schmücking, Basel<br />

1995 Städtische Galerie Cavazzen, Lindau<br />

Städtisches Kunstmuseum Singen<br />

1996 Kunstverein Konstanz, Wessenberghaus<br />

1997 B-W-Bank Stuttgart/Singen<br />

1998 galerie parterre, Berlin<br />

Otto-Galerie, München<br />

Galerie Sebastianskapelle, Ulm


Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl)<br />

1990 “Altarbild, Geist und Körper”,<br />

Berlin, Köln, Hamburg, München und Nürnberg<br />

1991 “Figuren”, Städtische Galerie Fähre, Saulgau<br />

1992 Skulpturenweg Engen<br />

Landesbank Karlsruhe<br />

“Köpfe”, Pfalzgalerie Kaiserslautern,<br />

Städtische Museen Heilbronn<br />

1993 “Akademie 1993”, Akademie der Künste, Berlin<br />

1994 “Hier!”, Städtisches Kunstmuseum Singen<br />

“Lob der Graphik”, Städtische Galerie Fähre, Saulgau<br />

1995/96 “Objekt und Plastik”, Städtische Galerie Fähre, Saulgau<br />

1992-1997 ständige Teilnahme an der Art Cologne,<br />

Galerie Schmücking, Braunschweig<br />

1996 Große Kunstausstellung, Haus der Kunst, München<br />

“Plätze und Platzzeichen”, Städtische Museen Heilbronn<br />

1997 “Bronzeplastik heute“, Archäolog. Landesmuseum Konstanz<br />

“Via crucis”, Dominikanermuseum Rottweil<br />

1997/98 “send me an angel”, ACC Galerie, Weimar<br />

1998 Große Kunstausstellung, Haus der Kunst, München<br />

“See-Blick” - Deutsche Künstler am Bodensee,<br />

Städt. Wessenberg-Galerie Konstanz


Das Projekt “<strong>Im</strong> <strong>nebenher</strong> <strong>von</strong> <strong>allem</strong>” erfuhr großzügige Förderung<br />

durch Geld- und Sachspenden.<br />

Unser herzlicher Dank gilt vor <strong>allem</strong> folgenden Institutionen,<br />

Privatpersonen und Firmen:<br />

62<br />

Walter Bauer, Konstanz<br />

Gießerei Karl Casper KG, Remchingen<br />

Leni und Gerhard Drauz, Heilbronn<br />

Dörte und Dirk Hoffmann, Heilbronn<br />

Helga und Helmut Mattes, Heilbronn<br />

Hedi Opdenhoff und Wolfgang Durchlaub, Düsseldorf<br />

Karl-Heinz Otto, Lage-Lippe<br />

Joachim Rissmann, Hotel Bogota, Berlin<br />

Sparkasse Engen<br />

Sparkasse Radolfzell<br />

Barbara Stark, Konstanz<br />

Taube Photoproduction, Heilbronn<br />

Wagner, Radolfzell<br />

sowie Privatpersonen, die ungenannt bleiben wollen.


Abwicklung, 1998<br />

Radierung, 199 x 197 cm

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