Tourismusforschung in Bayern
Tourismusforschung in Bayern
Tourismusforschung in Bayern
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<strong>Tourismusforschung</strong> <strong>in</strong> <strong>Bayern</strong><br />
Aktuelle sozialwissenschaftliche Beiträge<br />
Herausgeben von<br />
PD Dr. Arm<strong>in</strong> GÜNTHER<br />
Prof. Dr. Hans HOPFINGER<br />
Dr. H. Jürgen KAGELMANN<br />
Dr. Walter KIEFL<br />
Profil Verlag München/ Wien
Die Deutsche Bibliothek - CIP-E<strong>in</strong>heitsaufnahme<br />
E<strong>in</strong> Titeldatensatz für diese Publikation ist bei<br />
Der Deutschen Bibliothek erhältlich.<br />
© 2006 Profil Verlag GmbH München Wien<br />
Gestaltung: Alexandra Kaiser, Ingolstadt<br />
Druck und Herstellung: PBtisk s. r. o., Príbram/ Czech Republic<br />
Pr<strong>in</strong>ted and bound <strong>in</strong> the E. U.<br />
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig<br />
und strafbar. Dies gilt <strong>in</strong>sbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />
und Verarbeitung <strong>in</strong> elektronischen Systemen.<br />
ISBN 3-89019-592-X
Der Studienkreis für Tourismus <strong>in</strong> Starnberg<br />
Der Studienkreis für Tourismus <strong>in</strong> Starnberg:<br />
Die Institutionalisierung der sozialwissenschaftlichen<br />
<strong>Tourismusforschung</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />
Axel Schrand, München<br />
1 Der Studienkreis für Tourismus e.V. <strong>in</strong> Starnberg<br />
1.1 He<strong>in</strong>z Hahn – Nestor der sozialwissenschaftlichen <strong>Tourismusforschung</strong><br />
<strong>in</strong> Deutschland<br />
Wenn man an die Anfänge der sozialwissenschaftlichen <strong>Tourismusforschung</strong> <strong>in</strong><br />
Deutschland zurückdenkt, muss man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Atemzug den Diplom-Psychologen<br />
He<strong>in</strong>z Hahn (Abb. 1) nennen. Schon <strong>in</strong> den 1960er-Jahren hatte Hahn, der am 7.<br />
April 1930 <strong>in</strong> Kitz<strong>in</strong>gen geboren wurde, <strong>in</strong> Bonn Sozial- und Völkerpsychologie<br />
studierte und sich aktiv <strong>in</strong> der Bewegung „Europäische Förderalisten“ engagierte,<br />
die Idee von der Institutionalisierung e<strong>in</strong>er transdiszipl<strong>in</strong>ären <strong>Tourismusforschung</strong><br />
entwickelt. In der Tat bestand e<strong>in</strong> großes Forschungsdefizit und e<strong>in</strong> ebenso hoher<br />
Forschungsbedarf für den Tourismus, der sich <strong>in</strong> den 1960er-Jahren u. a. aufgrund<br />
e<strong>in</strong>er stark wachsenden wirtschaftlichen Prosperität zum Massenphänomen entwickelte.<br />
Hahn schwebte „e<strong>in</strong>e Analyse der soziologischen, psychologischen, pädagogischen<br />
und mediz<strong>in</strong>ischen Problematik des Reisens“ vor, wie er es selbst e<strong>in</strong>mal<br />
postulierte.<br />
He<strong>in</strong>z Hahns Traum g<strong>in</strong>g 1961 mit der Gründung des „Studienkreis für Tourismus<br />
e.V.“ <strong>in</strong> Erfüllung, wie es Walter Kahn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Laudatio zu se<strong>in</strong>em 60. Geburtstag<br />
konstatierte:<br />
„Welche Berge an Unverständnis, Gleichgültigkeit und Widerstand mußte He<strong>in</strong>z<br />
Hahn bewegen! Se<strong>in</strong> Wissen, se<strong>in</strong>e Ausdauer haben sie bewegt! Er bekam von e<strong>in</strong>igen<br />
Firmen und Organisationen den Auftrag, die Gründung e<strong>in</strong>er Institution<br />
für umfassende Reiseforschung vorzubereiten, den Studienkreis für Tourismus.<br />
Was ist heute daraus geworden? He<strong>in</strong>z Hahn kann auf e<strong>in</strong>e Institution zurückblicken,<br />
die im wesentlichen se<strong>in</strong> Werk und e<strong>in</strong>zigartig <strong>in</strong> der Welt ist. Er hat<br />
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Axel Schrand<br />
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es verstanden, e<strong>in</strong>e Brücke zu schlagen zwischen der Theorie des Tourismus, den<br />
Wissenschaftlern mit ihren Erkenntnissen und der touristischen Praxis. He<strong>in</strong>z<br />
Hahn hat nicht vergessen, daß es der Mensch ist, der mit se<strong>in</strong>em Erleben, Denken<br />
und Fühlen im Mittelpunkt des Tourismus steht. Die Tourismusbranche <strong>in</strong><br />
all ihren Zweigen profitiert von He<strong>in</strong>z Hahns unermüdlichen Eifer und Fleiß,<br />
der sich <strong>in</strong> allen Untersuchungen des Studienkreises zeigt“ (vgl. Kahn 1990).<br />
Abb. 1: He<strong>in</strong>z Hahn (l<strong>in</strong>ks) im Gespräch mit Thorsten Eberle, Europa-Haus<br />
Schliersee, Ende der 50er Jahre. Foto: Eberle, Augsburg<br />
Die beruflichen Aktivitäten von He<strong>in</strong>z Hahn waren für die sich stürmisch entwickelnde<br />
Tourismusbranche und e<strong>in</strong>er sich gerade zaghaft konstituierenden Tourismuswissenschaft<br />
äußerst vielfältig und fruchtbar.<br />
So war He<strong>in</strong>z Hahn maßgeblich an der Entwicklung der „Reiseanalyse“ beteiligt,<br />
der führenden bevölkerungsrepräsentativen und kont<strong>in</strong>uierlichen Untersuchung<br />
zum Reiseverhalten der Deutschen.<br />
Neben se<strong>in</strong>er jahrzehntelangen hauptberuflichen Tätigkeit als Geschäftsführer des<br />
Studienkreises für Tourismus <strong>in</strong> Starnberg war er als Berater für Tourismusunter-
Der Studienkreis für Tourismus <strong>in</strong> Starnberg<br />
nehmen (u. a. für den Rob<strong>in</strong>son Club) tätig, Moderator bei zahlreichen Tagungen<br />
und Kongressen, Mitglied von vielen Beiräten und Jurys. Als Dozent lehrte He<strong>in</strong>z<br />
Hahn auch an Hochschulen (u. a. an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt)<br />
und ist zusammen mit Hans-Jürgen Kagelmann Mitherausgeber des Standardwerkes<br />
„Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. E<strong>in</strong> Handbuch zur<br />
Tourismuswissenschaft“ (Hahn & Kagelmann 1993).<br />
Für se<strong>in</strong>e Verdienste um die deutsche <strong>Tourismusforschung</strong> wurde He<strong>in</strong>z Hahn<br />
1982 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.<br />
1.2 Selbstverständnis und Leitziele des Studienkreis für Tourismus e.V.<br />
Der Studienkreis für Tourismus war nie e<strong>in</strong> willfähriges Sprachrohr der aufstrebenden<br />
Tourismusbranche, sondern eher deren kritischer Begleiter: „Wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong><br />
sozialwissenschaftliches Institut, ke<strong>in</strong>es für die Wirtschaft“, formulierte auch die<br />
stellvertretende Geschäftsführer<strong>in</strong> Heidi Hahn, und der damalige bayerische Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister<br />
Anton Jaumann würdigte 1982 den Studienkreis als „das Gewissen<br />
des deutschen Tourismus“. Der Studienkreis für Tourismus mit se<strong>in</strong>em idyllisch gelegenen<br />
Domizil <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er alten Villa <strong>in</strong> der Dampfschiffstraße 2 direkt am Ufer des<br />
Starnberger Sees geriet sehr schnell zum Inbegriff der non-kommerziellen, neuen<br />
und anderen <strong>Tourismusforschung</strong> <strong>in</strong> Deutschland. Die „Starnberger“, wie man sie<br />
auch nannte, wurden bald zum Markenzeichen e<strong>in</strong>er <strong>Tourismusforschung</strong>, deren<br />
erkenntnisleitende Interessen nicht primär mit denen der Entscheidungsträger der<br />
Tourismuswirtschaft kongruent waren.<br />
He<strong>in</strong>z Hahn bezeichnete den Studienkreis treffend als „Clear<strong>in</strong>gstelle“, „Mehrzweck<strong>in</strong>stitut“<br />
oder auch „bunte Kuh“ – Zuschreibungen, aus denen der pluralistische<br />
Charakter der Institution ersichtlich wird. Unabhängigkeit, Offenheit,<br />
Internationalität, Interdiszipl<strong>in</strong>arität, Professionalität, Umweltbewahrung und<br />
vorausschauendes Denken s<strong>in</strong>d die Leitmotive des Studienkreises. Se<strong>in</strong>e wichtigsten<br />
Arbeitsziele waren<br />
– Wissenstransfer zwischen Forschung und Praxis<br />
– Sammlung, Aufbereitung und Verbreitung von Informationen<br />
– Publikationen wissenschaftlicher Arbeiten<br />
– Aufdecken und Erklären von Zusammenhängen im Tourismus<br />
– Diskussionsplattform für den Tourismus.<br />
31
Axel Schrand<br />
1.3 Organisation und Mitglieder<br />
Der Studienkreis für Tourismus war e<strong>in</strong> als geme<strong>in</strong>nützig anerkannter „e<strong>in</strong>getragener<br />
Vere<strong>in</strong>“ (e.V.). Er f<strong>in</strong>anzierte sich typischerweise aus<br />
– ca. 10% Mitgliedsbeiträge<br />
– ca. 25% Zuschüsse von Bundesm<strong>in</strong>isterien (Ferntourismus, Jugendreisen)<br />
– ca. 65% E<strong>in</strong>nahmen aus Forschung, Beratungen, Tagungen und Publikationen.<br />
Der Studienkreis hatte etwa 180 Mitglieder, die zwei Gruppen angehörten: a) rund<br />
50 <strong>in</strong>dividuelle Mitglieder, darunter vor allem Professoren aus relevanten Fakultäten<br />
der Tourismuswissenschaft wie Geographie, Kulturwissenschaft, Ökonomie,<br />
Pädagogik, Psychologie und Soziologie, und b) rund 130 Organisationen und Unternehmen<br />
als korporative Mitgliedern (TUI, NUR Touristic, Studiosus, Deutsches<br />
Reisebüro, Deutsche Lufthansa, LTU, ADAC, DRV, DZT, DFV u.a.).<br />
Die Arbeitsfelder des Studienkreises waren <strong>in</strong> vier Referaten organisiert:<br />
– Marktforschung („Reiseanalyse [RA]“, wissenschaftliche Beratung)<br />
– Ferntourismus („Sympathie-Magaz<strong>in</strong>e“, Fernreiseleiter-Sem<strong>in</strong>are)<br />
– Jugendtourismus (Jahrbuch für Jugendreisen, Ferienpädagogik)<br />
– Regionalentwicklung und Umweltfragen (Planung, „Sanfter Tourismus“).<br />
1.4 Gründungs-, Wachstums- und F<strong>in</strong>alphase<br />
Der Studienkreis für Tourismus wurde 1961 <strong>in</strong> Bonn gegründet, residierte kurzfristig<br />
<strong>in</strong> München, bevor er dann se<strong>in</strong> endgültiges Domizil <strong>in</strong> Starnberg fand. Zu<br />
den 13 Gründungsmitgliedern aus <strong>Tourismusforschung</strong> und Tourismuswirtschaft<br />
zählten<br />
– He<strong>in</strong>z Hahn, Studienkreis für <strong>in</strong>ternationale Probleme, München<br />
– Paul Rieger, Pfarrer an der Evangelischen Akademie Tutz<strong>in</strong>g<br />
– Anton Hittmaier, Prof. an der Mediz<strong>in</strong>ischen Universitätskl<strong>in</strong>ik Innsbruck<br />
– Walter Kahn, Geschäftsführer der Scharnow-Reisen, Hannover<br />
– Herbert Degener, Geschäftsführer der Touropa-Reisen, München<br />
– Hubert Tigges, Geschäftsführer der Dr.Tigges-Fahrten, Wuppertal.<br />
Mit dem schnellen Wachstums des Tourismus <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> den 70er und<br />
80er Jahren erweiterten sich auch die Arbeitsfelder des Studienkreises, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Blütezeit 18 Mitarbeiter beschäftigte. Neue Herausforderungen des Tourismus ver-<br />
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Der Studienkreis für Tourismus <strong>in</strong> Starnberg<br />
langten auch die Errichtung neuer Referate, wie z.B. das für „Regionalentwicklung<br />
und Umweltfragen“. Die zunehmende Auftragsforschung führte auch zu e<strong>in</strong>er verstärkten<br />
Delegierung der Forschung an <strong>in</strong>stitutsexterne Tourismusforscher wie z.B.<br />
Wolfgang Meyer (München) und Klaus Hartmann (Ma<strong>in</strong>z).<br />
Ende der 80er Jahre zeigte der Studienkreis für Tourismus erstmals Krisensymptome,<br />
die vor allem <strong>in</strong> Liquiditätsengpässen Anfang der 1990er Jahre (ca. 250.000 DM)<br />
sichtbar wurden und zur Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit führten.<br />
Die Gründe für den unausweichlichen Konkurs des Studienkreises im Jahre 1993<br />
waren <strong>in</strong>sbesondere<br />
– rückläufige Auftragse<strong>in</strong>gänge, u. a. durch Konkurrenz<strong>in</strong>stitutionen<br />
(DWIF, IPK)<br />
– chronische Unterf<strong>in</strong>anzierung, u. a. durch (zu) niedrige Mitgliedsbeiträge<br />
– Führungsprobleme, u. a. durch häufiges Replacement von Führungskräften<br />
– fehlgeschlagene Sanierungsversuche, u. a. durch Interim-Geschäftsführer<br />
– Interessenskonflikte mit Mitgliedern, u. a. mit solchen aus der Tourismuswirtschaft<br />
– fehlende Management-Methoden, u. a. Profit Center, Projektmanagement<br />
– defizitäre Ablauforganisation, u. a. ke<strong>in</strong>e Ausstattung mit Computern.<br />
Die vielfältigen Rettungsversuche für den Studienkreis waren alle erfolglos. E<strong>in</strong><br />
Konzept zur E<strong>in</strong>führung moderner Management-Methoden, das der Forschungsreferent<br />
Jörn Mundt 1990 vorlegte, fand nur wenig Resonanz bei den Entscheidungs-<br />
und Verantwortungsträgern. 1991 übernahm die Münchner Fachhochschul-Professor<strong>in</strong><br />
Felizitas Romeiß-Stracke die Geschäftsführung des Studienkreises, die sie<br />
jedoch bereits nach wenigen Wochen wegen der desolaten F<strong>in</strong>anzsituation wieder<br />
abgab. Ludwig Wegele war dann Vorsitzender der „Struktur und Sanierungskommission“,<br />
deren Arbeit auch nicht zum gewünschten Erfolg führte. Diese personelle<br />
Besetzung war <strong>in</strong>sofern sehr außergewöhnlich und verwunderlich, da Wegeles Unternehmen<br />
„Tourproject Wegele KG“ <strong>in</strong> direkter Konkurrenz mit dem Studienkreis<br />
im Consult<strong>in</strong>g-Bereich stand. Auch der DRV-Vorschlag e<strong>in</strong>er Reorganisation fand<br />
beim Studienkreis ke<strong>in</strong>en Anklang: Der DRV wollte e<strong>in</strong>e kommerzielle Tochter des<br />
Studienkreises gründen, bei der die jährlich durchgeführte Reiseanalyse angesiedelt<br />
se<strong>in</strong> sollte. Durch diese Konstruktion hätte der DRV e<strong>in</strong>en dom<strong>in</strong>ierenden E<strong>in</strong>fluss<br />
auf die Reiseanalyse gewonnen und sich auch gleichzeitig unliebsamer Mitarbeiter<br />
des Studienkreises entledigt. Schließlich wurde <strong>in</strong> der F<strong>in</strong>alphase des Studienkreises<br />
der Wirtschafts<strong>in</strong>genieur Thomas Bausch vom Generalsanierer Ludwig Wegele am<br />
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Axel Schrand<br />
01.01.1993 zum letzten Geschäftsführer des Studienkreises bestimmt, dem als letzte<br />
Handlung dann nur der Gang zum Konkursgericht am 23.09.1993 übrig blieb.<br />
Ehemalige Mitarbeiter haben sich mit dem „Erbe“ des Studienkreises neue Berufsfelder<br />
erschlossenen, wie z.B.:<br />
– Forschungsreferent Mart<strong>in</strong> Lohmann, der mit der „Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
Urlaub und Reisen“ (F.U.R.) am „Norddeutschen Institut für Bäder- und <strong>Tourismusforschung</strong>“<br />
(N.I.T.) <strong>in</strong> Kiel seit 1993 die „Reiseanalyse“ fortführt.<br />
– Projektreferent Jörn Mundt, der als Professor an der Berufsakademie Ravensburg<br />
den Studiengang „Reiseverkehrsmanagement“ leitet.<br />
– Umweltreferent Herbert Hamele, der ECOTRANS, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Datenbank<br />
zum Thema Tourismus und Umwelt <strong>in</strong> Saarbrücken weiterführt<br />
– Ferntourismusreferent Arm<strong>in</strong> Vielhaber, der mit dem besonders „<strong>in</strong>novativen<br />
und unverwechselbaren“ Namen den „Studienkreis für Tourismus und Entwicklung“<br />
<strong>in</strong> Ammerland/Starnberger See gegründet hat und weiterh<strong>in</strong> die<br />
„Sympathie-Magaz<strong>in</strong>e“ herausgibt.<br />
2 Arbeitsfelder des Studienkreis für Tourismus<br />
2.1 Referatsübergreifende Arbeitsfelder<br />
Bibliothek und Archiv. Die Bibliothek des Studienkreises galt lange Zeit als die Dokumentationsstelle<br />
für <strong>Tourismusforschung</strong> <strong>in</strong> Deutschland schlechth<strong>in</strong>. Mit tausenden<br />
von tourismuswissenschaftlichen Mediene<strong>in</strong>heiten war sie bevorzugt e<strong>in</strong>e<br />
Fundgrube für hunderte von Tourismus-Studenten, die aus ganz Deutschland für<br />
ihre Diplomarbeiten und Dissertationen die Starnberger Bibliothek aufsuchten.<br />
Heute bef<strong>in</strong>den sich die Bibliotheksbestände beim Institut für Verkehr und Tourismus<br />
der Technischen Universität Dresden, stehen aber leider der öffentlichen<br />
Benutzung noch nicht zur Verfügung. Bestandteile dieser e<strong>in</strong>zigartigen, <strong>in</strong>zwischen<br />
auch tourismushistorischen Bibliothek, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere<br />
– Stichwort- und Verfasser-Katalog zu über 5.000 tourismuswissenschaftlichen<br />
Publikationen<br />
– über 3.000 Monographien und Reader zur transdiszipl<strong>in</strong>ären <strong>Tourismusforschung</strong><br />
– über 300 Leitz-Ordner mit Aufsätzen, kle<strong>in</strong>eren Veröffentlichungen und grauer<br />
Tourismus-Literatur<br />
– über 60 Zeitschriften mit tourismuswissenschaftlichem Bezug<br />
– über 200 Kataloge von Reiseveranstaltern und Jugendreise-Organisationen<br />
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Der Studienkreis für Tourismus <strong>in</strong> Starnberg<br />
Publikationen und Literaturlisten. Der Studienkreis war auch selbst als Verleger im<br />
Eigenverlag als Herausgeber folgender Publikationen aktiv:<br />
– Materialien zur <strong>Tourismusforschung</strong> (Beobachtungsstudien)<br />
– Schriftenreihe zur <strong>Tourismusforschung</strong> (Diplomarbeiten, Dissertationen)<br />
– Kurzfassungen der „Reiseanalyse“<br />
– Kongressberichte der ITB (Market<strong>in</strong>g im Tourismus)<br />
– Sympathie-Magaz<strong>in</strong>e (Broschüren zum Tourismus <strong>in</strong> Entwicklungsländern)<br />
– Informationsbroschüren zu <strong>in</strong>ternationalen Begegnungen für Jugendliche<br />
– Literaturlisten zu Neuersche<strong>in</strong>ungen und Themenbereichen des Tourismus<br />
Information und Beratung. E<strong>in</strong> wichtiges Arbeitsfeld des Studienkreises war die<br />
Wissenschafts-, Organisations-, Unternehmens-, Politik- und Medienberatung.<br />
Tausende von Beratungen wurden <strong>in</strong> den über 30 Jahren der Existenz des Studienkreises<br />
als anerkanntes Kompetenz-Center durchgeführt, wie z.B.<br />
– Beratung von Tourismus-Studenten und Tourismuswissenschaftlern<br />
– Beratung von Organisationen <strong>in</strong> Tourismusfragen, wie z.B. Kirchen<br />
– Beratung von Tourismusunternehmen, wie z.B. Reiseveranstalter<br />
– Beratung von Kommunen und M<strong>in</strong>isterien <strong>in</strong> Tourismusfragen<br />
– Beratung von Reisejournalisten<br />
Tagungen und Kongresse. Der Studienkreis hat, oft <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit anderen<br />
Organisationen, e<strong>in</strong>e Vielzahl von Tagungen zu nahezu allen Themenbereichen des<br />
Tourismus durchgeführt. Darüber h<strong>in</strong>aus hat er die Kongresse zur ITB organisiert,<br />
u. a. mit den Schwerpunkt-Themen<br />
– „Market<strong>in</strong>g im Tourismus“ (1970-1975; Marktforschung, Angebotsplanung,<br />
Public Relations, Werbung)<br />
– „Gesellschaftliche Aspekte des Tourismus“ (1976-1981; Konsumentenaufklärung,<br />
Gesellschaftspolitik, Massenmedien)<br />
2.2 Referatsspezifische Arbeitsfelder<br />
Jugendreisen und Ferienpädagogik. Arbeitsziel war die Verbesserung des touristischen<br />
Angebotes für spezifische Zielgruppen wie Jugendliche, Senioren, Familien und Beh<strong>in</strong>derte.<br />
Dazu gehörten die Durchführung der Wettbewerbe „Jugend reist und<br />
lernt Europa kennen“ und „Familienferien <strong>in</strong> Deutschland“ sowie die Modellsem<strong>in</strong>are<br />
für Jugendreisen und <strong>in</strong>ternationale Begegnungen zu den Bereichen des<br />
Lehrens und Lernens, Stadt- und Landerkundung, Praxis der Animation.<br />
35
Axel Schrand<br />
Regionalentwicklung und Umweltfragen. Arbeitsziel dieses Referates war die Erarbeitung<br />
und Verbreitung von Wissen zum Thema Tourismus und Umwelt sowie<br />
die Förderung e<strong>in</strong>er umweltverträglichen und sozialverantwortlichen Tourismusentwicklung.<br />
Projekte hierzu waren „Ecotrans“, der Aufbau e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternationalen<br />
Datenbank zum Thema „Tourismus und Umwelt“ und „Ecoletter“, die Herausgabe<br />
e<strong>in</strong>er Zeitschrift für touristische Umweltfragen.<br />
Ferntourismus und Sympathie-Magaz<strong>in</strong>e. Arbeitsziel dieses Referates war die Förderung<br />
des Interesses und des Verständnisses für Reiseländer <strong>in</strong> der Dritten Welt und<br />
deren Menschen, Abbau von Vorurteilen und Klischees, Informationsvermittlung<br />
über politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verhältnisse <strong>in</strong> den Reiseländern,<br />
Verständlichmachung des Alltags der Bereisten. Dazu wurde e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />
von Aktivitäten entwickelt, wie die Herausgabe von „Sympathie-Magaz<strong>in</strong>en“, e<strong>in</strong>er<br />
e<strong>in</strong>fühlsamen und <strong>in</strong>formativen Reihe zur E<strong>in</strong>stimmung der Reisenden auf andere<br />
Länder und Menschen; die Produktion von „Blickwechsel-Filmen“ zur Verdeutlichung<br />
von touristischem Fehlverhalten und zur Anregung e<strong>in</strong>es verantwortungsvollen<br />
Reisens im Gastland; die Durchführung von „Motivationssem<strong>in</strong>aren für<br />
Dritte-Welt-Reiseleiter“ zur Erlangung der Qualifikation „Interkultureller Lehrer“;<br />
Veranstaltung des <strong>in</strong>ternationalen Filmwettbewerbes „Toura d’Or“ zur Verbesserung<br />
touristischer Informations- und Werbefilme im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es sozial- und umweltverträglichen<br />
Tourismus.<br />
<strong>Tourismusforschung</strong> und „Reiseanalyse“. Der Studienkreis ist vor allem durch die<br />
„Reiseanalyse“ bekannt geworden. Weniger bekannt ist jedoch, dass beim Studienkreis<br />
schon seit den frühen 1960er-Jahren qualitative Methoden und Techniken der<br />
empirischen Sozialforschung für die Tourismus-Studien zur Anwendung kamen.<br />
Wichtig <strong>in</strong> diesem Zusammenhang ist die Vielzahl (39) von Studien der teilnehmenden<br />
Beobachtung zum Verhalten von Touristen (vgl. Hahn 1998, 181 ff.). Pionierarbeit<br />
leistete der Studienkreis auch mit se<strong>in</strong>en psychologischen Leitstudien,<br />
bei denen Tiefen<strong>in</strong>terviews und Gruppendiskussionen zum E<strong>in</strong>satz kamen. Die<br />
psychologischen Leitstudien wurden weitergehenden Untersuchungen vorgeschaltet,<br />
wie z.B. Vorstellungen über Begriffssysteme und Phänomene des Tourismus,<br />
die dann u. a. im Schwerpunkt-Frageprogramm der „Reiseanalyse“ aufgenommen<br />
wurden.<br />
Die sich seit den 1960er-Jahren stürmisch entwickelnde Tourismusbranche verlangte<br />
immer mehr nach e<strong>in</strong>em Instrumentarium, mit dem aussagefähige Untersuchungen<br />
zum Reiseverhalten der Deutschen durchgeführt werden konnten. Dieser<br />
Herausforderung stellte sich der Studienkreis und <strong>in</strong>itiierte im Herbst 1970 mit<br />
36
Der Studienkreis für Tourismus <strong>in</strong> Starnberg<br />
Vertretern der deutschen Tourismuswirtschaft die Gründung der „Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
Reiseanalyse“ (AGRA). Bereits im Frühjahr 1971 lagen die durch „Infratest“<br />
erhobenen ersten repräsentativen Untersuchungsergebnisse zum Reiseverhalten der<br />
Deutschen im Jahr 1970 vor. Das war die Geburtsstunde der „Reiseanalyse“.<br />
Nach dem Konkurs des Studienkreises im Jahre 1993 erwarb der Kopenhagener<br />
Tourismusexperte Peter Aderhold die weiteren Nutzungsrechte an der „Reiseanalyse“,<br />
die heute beim Kieler „Institut für Tourismus und Bäderforschung <strong>in</strong> Nordeuropa“<br />
(N.I.T.) angesiedelt ist. Träger der „Reiseanalyse“ ist die „Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
Urlaub und Reisen e.V.“ (F.U.R.), e<strong>in</strong>e Zweckgeme<strong>in</strong>schaft aus Vertretern<br />
der deutschen und europäischen Tourismuswirtschaft, die primär e<strong>in</strong> kommerzielles<br />
Interesse an der Nutzung der Erhebungsergebnisse der „Reiseanalyse“ hat und<br />
diesen die Daten exklusiv zur Verfügung stellt. Die ca. 35 Mitglieder der F.U.R.<br />
kommen aus deutschen Tourismusverbänden, nationalen Tourismusorganisationen<br />
(NTO), Reiseveranstaltern, Airl<strong>in</strong>es, Medienverlagen und Instituten. Die „Reiseanalyse“<br />
eröffnet den Nutzern weitgehende <strong>in</strong>dividuelle Wahlmöglichkeiten für ihre<br />
jeweiligen organisationsspezifischen Informationsbedürfnisse. So können die Mitglieder<br />
neben der Grundbeteiligung (Daten zur Haupt-Urlaubsreise) noch e<strong>in</strong>zelne<br />
Module gegen Aufpreise erwerben, z.B. Kurz- und Städtereisen, Geschäftsreisen<br />
oder die Erhebung und Auswertung organisations<strong>in</strong>dividueller Exklusiv- und Sonderfragen.<br />
Bei der Entwicklung und Durchführung der „Reiseanalyse“ hat man sich von folgenden<br />
Grundpr<strong>in</strong>zipien leiten lassen:<br />
– jährlich gleicher Erhebungszeitpunkt (Januar / Februar)<br />
– gleiche Anzahl von Befragten (ca. 7.800)<br />
– gleiches Auswahlverfahren (Zufall-Stichprobe)<br />
– gleiche Befragungsart (face to face-survey)<br />
– gleiches Grund-Frageprogramm (Reiseverhalten, Sozio-Demographie)<br />
– wechselndes Schwerpunkt-Frageprogramm (u. a. aktuelle Themen).<br />
Befragt werden Personen ab 14 Jahren, die m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Urlaubsreise ab fünf<br />
Tagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahr unternommen haben. Die Feldarbeit wird dabei im Rahmen<br />
der Delegationsforschung von Marktforschungs<strong>in</strong>stituten durchgeführt.<br />
Das Frageprogramm der Reiseanalyse enthält ca. 100 E<strong>in</strong>zelfragen zum<br />
– Reiseverhalten des Vorjahres (Reiseziel, Reisezeitpunkt, Reisedauer, Reiseorganisationsform,<br />
Verkehrsmittel, Beherbergung, Informations- und Buchungsverhalten,<br />
Reiseausgaben, Reisebegleitung, Reisemotive, Aktivitäten am Urlaubsort)<br />
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Axel Schrand<br />
– Reiseverhalten der Zukunft (Reiseabsichten für das laufende Jahr, Interesse an<br />
Reisearten, Reisezielen)<br />
– zu den soziodemographischen Merkmalen der Reisenden (Alter, Geschlecht,<br />
Familienstand, Bildung, Beruf, E<strong>in</strong>kommen, Lebensstil).<br />
Aufgrund der hohen Anzahl der Befragten und der komplexen Fragestellung der<br />
Reiseanalyse lassen sich e<strong>in</strong>e Vielzahl (ca. 200) von Zielgruppen bilden, zu denen<br />
durch Sonderzählungen ganz konkrete Aussagen über ihr spezifisches Reiseverhalten<br />
gemacht werden können. So gibt es z.B. Sonderstudien über das Reiseverhalten<br />
der Jugendlichen, Senioren, Familien und S<strong>in</strong>gles; andererseits kann man mit den<br />
Daten der Reiseanalyse das Reiseverhalten z.B. der Berl<strong>in</strong>er oder Sachsen analysieren,<br />
wie auch beispielsweise das soziodemographische und psychodemographische<br />
Profil z.B. der deutschen Griechenland-Reisenden bestimmt werden kann.<br />
Insofern hat die Reiseanalyse auch e<strong>in</strong>e große Praxisrelevanz für das Tourismus-<br />
Market<strong>in</strong>g, da mit der Vielzahl der Daten Tourismusanbieter wie Verkehrsträger,<br />
Beherbergungsunternehmen, Dest<strong>in</strong>ationsorganisationen und Reiseveranstalter ihr<br />
Strategisches Market<strong>in</strong>g (Marktsegmentierungs-, Marktfeld- und Marktimpulstrategien)<br />
und Operatives Market<strong>in</strong>g (Angebots-, Distributions- und Kommunikationspolitik)<br />
zielgruppengenauer planen können.<br />
Die ersten Ergebnisse der Reiseanalyse über das Reiseverhalten der Deutschen im<br />
Vorjahr werden traditionsgemäß zur ITB <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> im März e<strong>in</strong>es jeden Jahres vorgestellt<br />
und f<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>e weite Verbreitung <strong>in</strong> den Publikums- und Fachmedien.<br />
E<strong>in</strong>e Kurzfassung (ca. 120 Seiten) der Reiseanalyse ist für circa 100 Euro erhältlich.<br />
Das „Zentralarchiv für empirische Sozialforschung“ (ZA) an der Universität Köln<br />
stellt die Datensätze sämtlicher Reiseanalysen zur öffentlichen Nutzung bereit (Z.T.<br />
auch im Internet!). Gegen Zahlung e<strong>in</strong>er Gebühr können hier Interessenten Sekundäranalysen<br />
zum Reiseverhalten der Deutschen durchführen lassen.<br />
Literaturverzeichnis<br />
Hahn, H. & Kagelmann, H. J. (1993) (Hg.). Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie.<br />
E<strong>in</strong> Handbuch zur Tourismuswissenschaft. München: Profil.<br />
Hahn, H. (1998). Beobachtungs- und Befragungsstudien am Urlaubsort. In R. Bachleitner,<br />
H. J. Kagelmann & A. Keul (Hg.), Der durchschaute Tourist. Arbeiten zur <strong>Tourismusforschung</strong>.<br />
München: Profil S. 181-186.<br />
Kahn, W. (1990). Walter Kahn zum 60. Geburtstag von He<strong>in</strong>z Hahn. Fremdenverkehrswirtschaft<br />
International, 27.03.1990, S. 5.<br />
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