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Eulenspiegel

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Freier Tag für<br />

Seit Freddy mit dem Rad zur Arbeit kommt, fühlt<br />

er sich wie ein anderer Mensch. Sein Leben sei<br />

nicht mehr das, was es einmal war, ächzt der 64-<br />

Jährige zufrieden, während ihm zwei Arbeitskollegen<br />

aus dem Sattel helfen. Das Beste aber: Freddy<br />

bekommt dafür einen freien Tag geschenkt. Als<br />

erste Firma im Land setzt sein Arbeitgeber den<br />

Vorschlag des grünen Bundestagsabgeordneten<br />

Stefan Gelbhaar (nicht zu verwechseln mit dem<br />

gelben Grünhaar!) um und belohnt neuerdings alle<br />

radelnden Angestellten mit einem Extra-Urlaubstag.<br />

Dieser Bonus ist mehr als fair, schließlich<br />

leben Radfahrer durch ihre Bewegung gesünder<br />

und lassen sich daher auch seltener krankschreiben.<br />

Die grüne Kernidee dahinter: Gesundheit<br />

soll sich in diesem Land endlich wieder lohnen!<br />

Freddy heißt eigentlich gar nicht Freddy, sondern<br />

Hubert, doch weil er eh so gut wie nichts<br />

mehr hört, nennen ihn auf Arbeit alle Freddy. Freddy<br />

möchte eigentlich anonym bleiben und seinen<br />

Namen in keiner Zeitung lesen. Muss er auch<br />

nicht. Er hat Grauen Star. Nach seiner Ankunft<br />

zwängt sich der gelernte Getriebebauer erst mal<br />

aus seinen nassen Sachen. Noch kam die Geschäftsleitung<br />

nicht dazu, die versprochenen Spinde<br />

einzurichten. Bis es so weit ist, dürfen die Angestellten<br />

ihre schweißtriefende Fahrradbekleidung<br />

in der Abteilung aufhängen. An den verwesungsähnlichen<br />

Geruch habe man sich erst gewöhnen<br />

müssen, sagt Freddy. »Inzwischen möchte<br />

ich ihn aber nicht mehr missen.« Von seinen<br />

beiden hilfsbereiten Kollegen lässt er sich entkleidet<br />

in die Autowäsche führen. Der Personalchef<br />

hat »möglichst zeitnah« den Einbau einer Duschkabine<br />

zugesagt. Bis dahin machen sich Freddy<br />

und die anderen Firmenradler mit dem betriebseigenen<br />

Dampfstrahler frisch. Das spart Nebenkosten<br />

und fördert die Durchblutung.<br />

Seit Freddy vor zwei Wochen aufs Rad umsattelte,<br />

hatte er noch keinen einzigen Krankheitstag.<br />

Nur ein einziges Mal kam er morgens ein paar Minuten<br />

zu spät, weil ihn ein Sattelschlepper übersah<br />

und die behandelnde Ärztin in der Notaufnahme<br />

sich anstellte, als wäre ein Schädelbasisbruch<br />

etwas Dramatisches. Sie gab erst Ruhe, nachdem<br />

Freddy ihr klar gemacht hatte, was für ihn auf dem<br />

Spiel steht: ein Urlaubstag extra! Nach diesem<br />

Vorfall fing Freddy an, Helm zu tragen, und er<br />

wechselte die Route. Anstelle der A5 benutzt er<br />

nun einen Forstweg. Dieser hat den Vorteil, weniger<br />

stark befahren zu sein, führt allerdings über<br />

einen Mittelgebirgskamm. »Höhentraining ist gut<br />

für die Bronchien und blauweißen Blutkörperchen«,<br />

habe ihm der Betriebsarzt gesagt.<br />

Wegen der neuen Strecke muss Freddy morgens<br />

einen Ticken früher raus. Genau genommen<br />

ist es, wenn er aufsteht, noch nachts. Seine Frau<br />

sieht er meist nur noch schlafend. Der Beziehung<br />

habe das aber nicht geschadet, versichert Freddy,<br />

»ganz im Gegenteil«.<br />

Eigentlich hatte ihm der Hausarzt nach seinem<br />

ersten Schlaganfall von körperlichen Belastungen<br />

im Alltag dringend abgeraten,<br />

erzählt Freddy. »Aber das war<br />

lange bevor bei uns der Bonusurlaubstag<br />

eingeführt wurde.«<br />

Er könne förmlich spüren, wie<br />

sein Körper von der Quälerei<br />

profitiere. »In nur zwei Wochen habe ich schon ein<br />

ganzes halbes Kilo abgenommen. Bei einem Meter<br />

sechzig ist das nicht von schlechten Eltern«,<br />

sagt der Zweizentnermann.<br />

Freddy wischt sich den Kaltschweiß von der<br />

Stirn, Geschäftsführer Schimansky kommt zur<br />

täglichen Kontrolle. Der Boss sieht sich den Tachostand<br />

an, der Betriebsarzt sticht zu Laktattestzwecken<br />

mit einer Nadel in Freddys Ohrläppchen.<br />

Der grüne Visionär Gelbhaar hatte sich zwar ausdrücklich<br />

gegen betriebliche Überwachung ausgesprochen<br />

und in einem Taz-Artikel noch einmal<br />

betont, dass Vertrauen »vollauf« genüge. Doch in<br />

30 10/19

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