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Nynphne im Portus

PORTUS Phase II Die Türe, die Pforte, Porta, die Schwester des Portus, öffnet sich, wir treten ein, werden eingelassen und werden empfangen und gefangen von dieser Skulptur. Sie erhebt sich, richtet sich auf, strebt empor, dort, vor der nördlichen Giebelwand: Nynphne! Sie beeindruckt, beeinflusst, verändert den Raum spürbar. Die Gewichtungen sind anders geworden, das Raumgefüge hat sich neu justiert. Ein anderer Fokus, ein anderes Feuer, brennt. Es ist diese Skulptur. Eine Herrscherin, eine Göttin, eine Tänzerin, eine Geschichtenerzählerin? Scheherazade etwa? Oder George Sand, die, wenn sie nicht, Hosen tragend, Zigarren rauchend, zeigt, wie unabhängig sie ist, in der Kartause von Valldemossa, selig dem Regentropfen-Prélude von Frédéric Chopin lauscht? Oder Kleopatra, bereit eine Schlange an ihre bloße Brust zu setzen, um zu sterben, um der Liebe willen und um erniedrigender Knechtschaft zu entgehen? Oder Klytämnestra, barbusig auch sie, die Agamemnon, den großen Heerführer der Achaier vor Troja, in seinem häuslichen Baderaum mordete? Oder die später so unglückliche, zerstörte Camille Claudel, die Rodin lehrte ein großer, ein größerer und für sie der größte Künstler zu sein? Oder ist sie verschwistert mit den uralten Venusgestalten, der von Willendorf und der von Laussel? Ist sie die Protagonistin der Mysterien von Eleusis, Ceres? Ist sie der minoischen Schlangengöttin anverwandt, gar verwandelte Göttin? Oder eine wilde, unzähmbare Göttin, Leben gebend und nehmend, Artemis, die hundertbrüstige Artemis Ephesia? Ist sie etwa die Göttin des Sieges, Tochter des Kriegsgottes Ares, Nike? Oder ist sie die Freiheit, aus dem Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ auf den Barrikaden von Paris, die Eugéne Delacroix uns zeigt? Wir müssen uns nähern!

PORTUS
Phase II
Die Türe, die Pforte, Porta, die Schwester des Portus, öffnet sich, wir treten ein, werden eingelassen und
werden empfangen und gefangen von dieser Skulptur. Sie erhebt sich, richtet sich auf, strebt empor, dort,
vor der nördlichen Giebelwand: Nynphne! Sie beeindruckt, beeinflusst, verändert den Raum spürbar. Die
Gewichtungen sind anders geworden, das Raumgefüge hat sich neu justiert. Ein anderer Fokus, ein anderes
Feuer, brennt. Es ist diese Skulptur. Eine Herrscherin, eine Göttin, eine Tänzerin, eine Geschichtenerzählerin?
Scheherazade etwa? Oder George Sand, die, wenn sie nicht, Hosen tragend, Zigarren rauchend,
zeigt, wie unabhängig sie ist, in der Kartause von Valldemossa, selig dem Regentropfen-Prélude
von Frédéric Chopin lauscht? Oder Kleopatra, bereit eine Schlange an ihre bloße Brust zu setzen, um zu
sterben, um der Liebe willen und um erniedrigender Knechtschaft zu entgehen? Oder Klytämnestra, barbusig
auch sie, die Agamemnon, den großen Heerführer der Achaier vor Troja, in seinem häuslichen Baderaum
mordete? Oder die später so unglückliche, zerstörte Camille Claudel, die Rodin lehrte ein großer, ein
größerer und für sie der größte Künstler zu sein? Oder ist sie verschwistert mit den uralten Venusgestalten,
der von Willendorf und der von Laussel? Ist sie die Protagonistin der Mysterien von Eleusis, Ceres? Ist sie
der minoischen Schlangengöttin anverwandt, gar verwandelte Göttin? Oder eine wilde, unzähmbare Göttin,
Leben gebend und nehmend, Artemis, die hundertbrüstige Artemis Ephesia? Ist sie etwa die Göttin
des Sieges, Tochter des Kriegsgottes Ares, Nike? Oder ist sie die Freiheit, aus dem Gemälde „Die Freiheit
führt das Volk“ auf den Barrikaden von Paris, die Eugéne Delacroix uns zeigt? Wir müssen uns nähern!

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Dietrich Klinge

Nynphne im Portus



Dietrich Klinge

Nynphne im Portus

Mit einem Text

von Alfred Meyerhuber








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PORTUS

Phase II

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Die Türe, die Pforte, Porta, die Schwester des Portus, öffnet sich, wir treten ein, werden eingelassen und

werden empfangen und gefangen von dieser Skulptur. Sie erhebt sich, richtet sich auf, strebt empor, dort,

vor der nördlichen Giebelwand: Nynphne! Sie beeindruckt, beeinflusst, verändert den Raum spürbar. Die

Gewichtungen sind anders geworden, das Raumgefüge hat sich neu justiert. Ein anderer Fokus, ein anderes

Feuer, brennt. Es ist diese Skulptur. Eine Herrscherin, eine Göttin, eine Tänzerin, eine Geschichtenerzählerin?

Scheherazade etwa? Oder George Sand, die, wenn sie nicht, Hosen tragend, Zigarren rauchend,

zeigt, wie unabhängig sie ist, in der Kartause von Valldemossa, selig dem Regentropfen-Prélude

von Frédéric Chopin lauscht? Oder Kleopatra, bereit eine Schlange an ihre bloße Brust zu setzen, um zu

sterben, um der Liebe willen und um erniedrigender Knechtschaft zu entgehen? Oder Klytämnestra, barbusig

auch sie, die Agamemnon, den großen Heerführer der Achaier vor Troja, in seinem häuslichen Baderaum

mordete? Oder die später so unglückliche, zerstörte Camille Claudel, die Rodin lehrte ein großer, ein

größerer und für sie der größte Künstler zu sein? Oder ist sie verschwistert mit den uralten Venusgestalten,

der von Willendorf und der von Laussel? Ist sie die Protagonistin der Mysterien von Eleusis, Ceres? Ist sie

der minoischen Schlangengöttin anverwandt, gar verwandelte Göttin? Oder eine wilde, unzähmbare Göttin,

Leben gebend und nehmend, Artemis, die hundertbrüstige Artemis Ephesia? Ist sie etwa die Göttin

des Sieges, Tochter des Kriegsgottes Ares, Nike? Oder ist sie die Freiheit, aus dem Gemälde „Die Freiheit

führt das Volk“ auf den Barrikaden von Paris, die Eugéne Delacroix uns zeigt? Wir müssen uns nähern!

Erste Annäherung: GEWESEN ODER GEWORDEN ?

Der erste Blick, so sagt man, entscheidet, obwohl er nur einen Wimpernschlag dauern mag. Einhundert

Millisekunden lang. Doch was entscheiden wir und wie, nach diesem ersten Augen-Blick auf diese Skulptur?

Die einen werden sagen, da steht ein Baum! Da ist Rinde, da sind Äste. Oben ist der Stamm zersplittert.

Das war so und ist jetzt im Kunstwerk auch so. Das alles ist ein objet trouvé. So etwas, wie Marcel

Duchamps Fahrrad-Rad, nur aus der Natur. Ein gefundener Gegenstand, aus der Natur stammend, ein

Baum eben, der durch Dietrich Klinge zum Kunstwerk erklärt wurde, zum Kunstwerk gemacht wurde, in

dem er diesen einzigartigen Baum sah und fand und ihn als Kunstwerk behandelte. „Ich suche nicht,

ich finde“, sagte Pablo Picasso! Und dann entnahm der Künstler Dietrich Klinge diese große Pflanze aus

ihrem in langen Jahren gewachsenen und für sie gewachsenen Bedeutungszusammenhang, denn sie war

aus ihrem lebendigen Funktionszusammenhang ausgeschieden und konnte und durfte respektvoll entnommen

werden. Und er entkleidete den Baum und verwandelte ihn kraft seines künstlerischen Sehens

und Wollens in ein Werk, in sein Werk. So einfach? Nein, freilich nicht! Denn wir erblicken Hände und


Finger an den Enden dieser vorgeblichen Äste, keine Zweige. Ja, es sind zwar Verzweigungen, jedoch keine

pflanzlichen, sondern Verzweigungen aus einer menschlichen Hand in die Form menschlicher Finger. Aber

auch der elisabethanische Kragen (oder sind es Flügel, Flügel der Nike?), aufstrebend aus dem Rücken

der Figur, kleidungstechnisch und historisch gewissermaßen korrekt, kann kein zufälliges Ergebnis sein.

Zumal der Künstler durch die Absenz des Kopfes gerade diesen in der Vorstellungskraft des Betrachtenden

kraftvoll evoziert. Vor allem aber die Brüste, hervorquellend, hervorberstend und hervorbrechend aus

dem gewaltigen Oberleib. Nein, nein! Doppelte Verneinung ist Bestärkung und Bejahung: Dies ist kein

objet trouvé, sondern ein sorgsam gestaltetes, tiefes Kunstwerk!

Zweite Annäherung: TOT ODER LEBEND ?

Wenn der uralte

heilige Vater

mit gelassener Hand

segnende Blitze

über die Erde sät

..................

Höchst lyrische Worte aus „Grenzen der Menschheit“. Goethe! Wer sonst? Hat ein segnender Blitz, mit

gelassener Hand geschleudert, den Kopf dieser Skulptur vernichtet, ihn zu zwei auseinanderstrebenden

Fetzen zerrissen, als ob es ein riesiger Tudor-Stehkragen wäre? Oder war es ein zuckender Blitz aus Feindeshand

aus Feindesland? Und hat das gute oder böse Feuer eine Frau getötet? Hat ihr diese Macht das

Leben entrissen, zerstört, vernichtet? War dieses Wesen denn jemals lebendig? Konnte es Atem schöpfen

über Lunge oder Blattwerk, war es Mensch, war es Baum, ist es Mensch, ist es Baum? Aber: steht sie nicht

unerschüttert und kerzengerade? Unbeugbar! Nichts kann sie umwerfen, kann sie fällen! Diese starke

Frau überdauert auch den Einschlag eines göttlichen oder teuflischen Feuerblitzes! Lebend! Wir sehen die

Zeichen: die Äste, die Arme sind stark und anmutig zugleich. Sie bewegen sich, werden bewegt. Der linke

Arm aus dem Schwung der Schulter und des Schulterblattes sanft nach außen gleitend, klingt in einer

weichen Bewegung aus. Der rechte Arm ist weit zurückgenommen, die Handfläche wie im Willkommensgruß

zum Betrachtenden gewendet. Bereit zur freundschaftlichen Umarmung. Bereit zu einer Umarmung

lebendiger Wesen. Und wieder die Brüste, Zeichen des Lebens, des Leben-Schenkens, Zeichen des den

Menschen innewohnenden Willens und Triebs zur Fortpflanzung, zum Überleben.

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Dritte Annäherung: HOLZ ODER FLEISCH ?

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Ein Zwitterwesen? Ein Sowohl-als-auch-Wesen? Ein Wesen sui generis, also ganz eigener und eigenwilliger

Art? Wir sehen das Holz und wir sehen das Fleisch an der Skulptur. Und wir sehen auch das Holz, das zum

Fleisch wird und Fleisch zum Holz. Die Arme, die Hände, die Finger sind beides zugleich, sind geformt,

wie Gliedmaßen aus Muskeln, Fleisch und Knochen, zwar nicht bedeckt mit Haut aus Rinde, dennoch

geprägt durch die Strukturen von Holz; geschnittenem, beschnitztem, gebrochenem Holz. Der Unterleib

birgt seine Körperteile unter einem Rindengewand, das aufgrund seiner Textur als „Bekleidung“ eines

Kirschbaumes erkannt werden kann. Und schließlich die Brüste. Ausgeformt und gestaltet von der Hand

des Künstlers. Geglättet wie zarte Menschenhaut. Das Modell der Skulptur, die Vorform der Bronzeskulptur

(die erst das Original des fertigen Werkes darstellt) also, zeigt aus Wachs sorgsam geformte Brüste.

Aber diese zwängen sich aus dem Oberkörper, aus dem harten Holz. Als ob sie sich einen Weg aus einer

Engstelle, ja aus einem Kerker bahnen müssten. Die rechte Brust ist deutlich höher situiert, als die linke.

Dies ist wohl überlegte Gestaltung des Künstlers, die die schiere und scheinbare Ausweglosigkeit eines

nach außen drängenden, lebendigen Körpers zeigt, den innewohnenden und auch im Inneren wohnenden

Drang und Zwang eines fleischlichen Leibes, sich gegen das umschließende, einschließende Holz

zur Wehr zu setzen, zur Wehr setzen zu müssen. Es ist wie der Ausbruch von Knospen und Blättern in den

Tagen des Frühlings, wenn aus dem toten, dem totgeglaubten Holz, den Ästen und Zweigen des Winters,

das Leben der Pflanze aufschwillt, sich wölbt und drängt und sich stolz, aufblätternd und aufblühend,

zeigt. Die nährenden Brüste der Frau. Lust- und lebensspendend, geliebt, ersehnt, begehrt und begiert.

Fleischliche Lust. Liebe zum Leben. Erhebender und aber auch redlicher Gesang auf das weibliche Geschlecht,

dessen aufrichtige Identität und Schönheit.

Vierte Annäherung: BEKLEIDET ODER NACKT ?

Jeder Mensch weiß, und es muss ihm nicht bedeutet und erklärt werden, wann er nackt ist, wenn und

wann er ohne Kleidung ist. Das war nicht immer so. Erst als die Frau, Eva, gesehen hatte, „dass von dem

Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte“

und sie und der Mann, Adam, „von den Früchten des Baumes mitten im Garten“ gegessen hatten, „da

wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten sich

Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“. So berichtet und sagt es das erste Buch Mose, das

ist das erste Buch des jüdischen Tanach und der christlichen Bibel, die Genesis. Wann aber ist ein Baum

nackt, wann ist er ohne Bekleidung? Dann, wenn er ohne sein Rindenkleid ist, wenn ihm seine schützende

Hülle genommen ist, wenn er sie verloren hat. Ob wir aber in dieser Skulptur ein menschliches oder

ein pflanzliches Wesen oder ein Mischwesen, eine Art von Chimäre, erblicken, kann und muss vielleicht

sogar unsagbar und unbenennbar bleiben. Denn die Arme dieser Figur sind ohne Rinde, sind unbekleidet.


Auf der rechten Körperhälfte, von der Achselhöhle bis hin zu dem Bereich des gedachten Oberschenkels

klafft ein breiter, sich nach unten schließender Spalt, so als ob ein Blick auf den nackten Körper der Frau,

gar ein begehrlicher Blick, provoziert werden soll. Die linke Körperhälfte ist ebenso großflächig auf der

Rückenseite ohne Überkleid. Und schließlich sind die Brüste bei genauer Betrachtung nackt in doppelter

Hinsicht, denn aus dem nackten Holz des Baumes wächst die nackte Haut des Fleisches und zeigt die

tiefe wechselseitige Durchdringung der beiden Charaktere, der beiden ursprünglichen Prägestempel, als

menschliches und als pflanzliches Wesen, zugleich!

Fünfte Annäherung: TANZEND ODER STEHEND ?

Wie kommt man auf diese Frage? Ist es nicht offenkundig und, ganz im Wortsinne, ersichtlich, also sehbar,

dass Nynphne steht? Wenn auch die Beine, wenn es denn ein menschliches Wesen ist, unter dem

Rindenrock verborgen sind. Die Beine bewegen sich nicht! Nicht einmal die Differenzierung in Standbein

und Spielbein ist zu erkennen, nicht einmal zu erahnen. Und wenn es ein Baumwesen ist, dann ist dessen

Stamm eingewurzelt und fest. Soweit, so gut! Aber, die Arme, die Hände, die Finger! Offen, ausgebreitet,

nicht nur zur Umarmung, auch zum Tanz. Wo aber haben wir diese Körperhaltung, diese Armhaltung denn

schon gesehen, déjà-vu? Denken wir an Nikos Kazantzakis, den großen griechischen Schriftsteller und

seinen Alexis Sorbas. Kazantzakis und sein Freund Georgios Sorbas waren – im wirklichen Leben – mit

einem Bergbauprojekt auf der Halbinsel Mani im Süden der Peloponnes, kläglich, wie man sagt, gescheitert.

Und dieses Scheitern schenkte ihm die Geschichte und war Vorlage für seinen berühmten Roman

und der noch bekannteren, weltbekannten Verfilmung. Blicken wir auf die Schluss- und Schlüsselszene:

Das Gerüst der Seilbahn, mit der Baumstämme – für den Bergbau erforderlich – ins Tal gebracht werden

sollen, ist bei der versuchten Inbetriebnahme zersplittert und völlig zerstört worden. Sorbas sagt zu Basil:

„Hey Boss, hast du jemals erlebt, wie etwas so schön zusammen kracht?“ Und dann dieser Sirtaki von

Mikis Theodorakis! Anthony Quinn alias Alexis Sorbas breitet sein Arme aus, als wären sie Flügel, als wäre

er der glücklichste Mensch auf Erden, seine Augen strahlen, die Falten, die das Lachen in sein Gesicht

gegraben hat, sind tiefer noch als sonst. Nicht er ist gescheitert, nur, nur, nur sein Projekt. Das ist die

Botschaft! Diese aber verkündet auch die Klingesche Skulptur. Ein Wesen zwischen Hoffen und Bangen,

zwischen Leben und Tod. Wie wir alle.

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Ein weiteres Zitat von Alexis Sorbas: „ Ja, mein Lieber, wie tief ist doch die Menschheit gesunken, hol's

der Teufel! Man hat den Körper zum Schweigen gebracht, und nur der Mund redet noch. Aber, was kann

der Mund sagen?“ Ja, und auch dieser Gedanke ist in diesem Werk des Bildhauers Dietrich Klinge implementiert.

Wir verspüren dies in unserem Körper, herüberfließend aus dem Körper von Nynphne. D. H. Lawrence

schrieb in sein Tagebuch: „Meine Religion ist es, dass ich fest davon überzeugt bin, dass das Fleisch

und das Blut eines jeden Menschen klüger sind als sein Intellekt. Unser Kopf kann sich irren. Doch was


unser Blut fühlt und sagen will, das ist immer wahr“. Und wir sind in der Lage zu fühlen, wenn wir dazu

bereit sind, dass diese Gestalt in ihrem beängstigend schweren Kampf aufrichtig und wahr ist. Nikos Kazantzakis,

dessen zentrale Themen die animalische Vitalität des Lebens und die Frage nach dessen Sinn

waren, ist durchaus ein Bruder im Geiste zu dem bildenden Künstler Dietrich Klinge. „Das Leben lieben

und den Tod nicht fürchten“, sagte der Dichter. In Iraklio auf Kreta lesen wir auf dem Grabstein von Nikos

Kazantzakis die sehr berührenden Worte: „Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.“ Und deshalb,

deshalb tanzt Nynphne, auch wenn sie (vielleicht, wer weiß?) keinen Schritt tut. Denn das Scheitern, das

erlebte und das mögliche Scheitern im Leben, mit einem Tanz zu erwidern ist Purgatorium, ist Befreiung,

ist Reinwaschung, ist Kunst!

Sechste Annäherung: LACHEND ODER WEINEND ?

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Diese Frage fordert alle Betrachtenden auf und heraus, zwingt sie zu einer Antwort oder zur Gleichgültigkeit,

denn die Heimat des Lachens und des Weinens, das Gesicht, ist nicht vorhanden. Den Kopf dieser

Skulptur, die Torso ist, wie die große Nike von Samothrake, gibt es nicht, hat es vielleicht, anders als bei

der Samothrakerin, nie gegeben. Aber braucht diese starke Frauenfigur ein Antlitz, ein Madonnengesicht

etwa oder ein Medusenhaupt? Muss sie an ihren Zügen wiedererkennbar, identifizierbar sein? Oder ist

das zerfetzte Flügelpaar nicht vollauf genügend? Hätte sie ein Gesicht, würde sie dann milde lächeln, wie

der Engel im nördlichen Gewände des nördlichen Portals der Kathedrale zu Reims, nachsichtig, freundschaftlich,

heiter, aber auch ein wenig verhalten? Oder würde sie grimmig, schmerzvoll, sardonisch oder

gar sarkastisch ihre Lippen schürzen und verziehen? Wäre sie tränenüberströmt in unnennbarem Leid

gefangen, wie Niobe, deren sieben Töchter und sieben Söhne von Apollon und Artemis getötet worden

waren und die, zu Stein verwandelt, ihre Tränen nicht und den abgrundtiefen Kummer stillen konnte?

Und vielleicht ist in besonderer Weise bei dieser so besonderen Skulptur beides zugleich möglich! Denn

das Mögliche des Möglichen bedeutet gerade nicht ein Alles-oder-nichts, im Gegenteil, es ist das Zugleich

des „mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ (Ambrose Bierce), der ersten Worte des eindrücklichen,

gregorianischen Chorals „media in vita in morte sumus“. Das Zugleich, das Rainer Maria Rilke so unnachahmlich

in seinem „Schlussstück“ in die Welt der Worte bringt:

Der Tod ist groß.

Wir sind die Seinen

lachenden Munds.

Wenn wir uns mitten

im Leben meinen

wagt er zu weinen

mitten in uns.


Siebte Annäherung: LOCKEND ODER DROHEND ?

Syrinx, die Nymphe, von Pan verfolgt, flieht. An den Ufern des Flusses Ladon hält sie inne. Das Gewässer

kann sie nicht überwinden. Pan wähnt sich am Ziel. Er greift gierig nach ihr, nach ihrem Leib und hält nur

Schilfrohr in seinen Händen. Der Wind streicht durch das Schilf und erzeugt sehnsuchtsvolle Töne. Syrinx,

die lockende Nymphe hat sich verwandelt, in ein im Wasser wurzelndes, im Winde wiegendes Wesen. Hat

ihren menschlichen Leib mit einem pflanzlichen Leib getauscht. Röhricht am Ufer eines Flusses. So berichtet

uns Ovid in seinen Metamorphosen (I, 689 – 712), der auch von Daphne, der jungfräulichen Jägerin

und Nymphe, und deren Verwandlung in ein Baumwesen erzählt. Über dieses Thema hat Dietrich Klinge

einen tiefen und sensiblen, künstlerisch wertvollen Zyklus mit seinen Daphne-Skulpturen geschaffen. Das

Bild vom „ewig lockenden Weib“, der femme fatale, der verhängnisvollen Frau wird in den Metamorphosen

evoziert. Der arme Mann, der seinen zügellosen Trieb nicht verantworten muss (in beiden Fällen geht

es juristisch um nicht anderes als versuchte Vergewaltigungen!) und sogar noch als hehrer Held in Erinnerung

bleibt, weil der eine, Apollon, den Lorbeerbaum, zu dem Daphne wird, heiligt, der andere, Pan, aus

dem Röhricht die Panflöte, die Syrinx, erschafft und Klagelieder kunstvoll bläst! Der Mann ist demzufolge,

das ist überkommenes Gemeingut (besser Gefahrgut), kein Täter, sondern er ist Opfer. Opfer der lüsternen

Frau. Der Frau, die „nymphoman“ ist (sic!), eine Nymphe, eine Braut, die der „mania“, dem Wahnsinn,

der Raserei nach Sex verfallen ist. So einfach ist das! Und damit einher geht die Bedrohung des Mannes

durch die Frau, gesteigert hin bis zur Freudschen „vagina dentata“, die Pablo Picasso so häufig und erschreckend

ins Bild gesetzt hat. Welchen Anteil am Wesen von Nynphne die Sexualität hat und ob sie

lockend oder drohend ist, ist wahrhaft keine bloß akademische Frage. Aber eine Jede und ein Jeder mag

sie sich selbst beantworten!

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Achte Annäherung: GELIEBT ODER MISSACHTET ?

Daphne, verfolgt, flieht. Die Szene kommt uns bekannt vor? Ja, freilich, in den Ovidschen Metamorphosen

ist sie, die zu schöne Nymphe, mit ihrer Schicksalsschwester Syrinx das gleiche Los teilend, gierig begehrt.

Sie fleht:„Hilf, Vater,…durch Verwandlung verdirb die Gestalt, die zu sehr gefiel“. Und wird zum Baum,

„unter der neuen Rinde die zitternde Brust“. Ihre Schönheit wird ihr zum Verhängnis. Anstatt Bewunderung

und Verehrung wird ihr Gier und Geilheit zuteil. Und so ist das von Apollon zur Schau getragene Gefühl,

eben Show und nicht nur nicht Liebe, sondern Missachtung einer integren, selbstbestimmten Frau!

Nynphne, die in einem transitorischen Moment der Verwandlung festgehaltene Frau: Wird sie geliebt,

wird sie missachtet werden, wird sie eine schöne Frau oder ein Wesen, das sich dem Begriff menschlicher

Schönheit vollständig entzieht und dennoch schön ist, weil sie ist, was sie ist? Arthur Schopenhauer, der

freilich gar kein ausgewogenes Verhältnis zu Frauen hatte, schreibt über diesen ewigen Zwist der Geschlechter,

kühl, ja unterkühlt und schnoddrig-schroff in „Die Welt als Wille und Vorstellung“: „Wenn man


nun die wichtige Rolle betrachtet, welche die Geschlechtsliebe in allen ihren Abstufungen und Nuancen

spielt, da wird man veranlaßt auszurufen: wozu der Lerm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die

Noth? Es handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grethe findet“. Ach, wenn die Welt doch so

einfach zu erklären wäre, lieber Herr Schopenhauer! Da ist das „Föhnlied“ von Alfred Georg Hermann

Henschke (1890 – 1928), der sich Klabund nannte, Klabautermann und Vagabund, deutlicher und aber

auch schlichter: „Der Sturm schweißt uns zu einem Sein/ Und mischt uns mit den Wettern./ Im Nächtegraus

im Morgenschein/ Wird zwei zu eins und eins zu zwein.“ Die Natur trennt, die große Meisterin,

oder führt zusammen. Und wir alle haben zu gehorchen und zu staunen und zu respektieren, wie auch

Nynphne!

Neunte Annäherung: HERRSCHERIN ODER DIENERIN ?

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Demütig, anpassungsfähig, subaltern, dienstbeflissen, scheu, unterwürfig, widerspruchslos, kniefällig,

gottergeben, devot, flehentlich, willfährig, duckmäuserisch. Attribute! Sie können eine Person umschreiben,

sind Mosaiksteine, die, zusammengesetzt, ein Bild ergeben. Sicherlich kein umfassendes und vollständiges,

aber dennoch erkennbares. Diese Worte, die Eigenschaften beschreiben, zielen sämtlich in

eine Richtung. Gewissermaßen auf eine knieende Figur. Nun steht aber Nynphne frei und stolz, mit weit

gebreiteten Armen, als flöge sie davon oder wäre gerade, geflügelt, bereit sich auf die Erde herabzusenken.

Als Siegerin! Sich selbst bezwingend und besiegend, jedoch ebenso alle anderen Wesen. Stark und

herausfordernd. Kampferprobt. Zeigt doch ihr Rücken im Bereich des linken Schulterblattes eine herbe

Wunde. Eine Wunde aber, die ihrer Vitalität keinerlei Abbruch tut. Denn gerade diese Körperpartie fügt

sich in harmonischem Schwung ein, von der Hüfte über den Achsel- und Schulterbogen hinausgleitend

in den linken Arm. Keine Dienerin also? Doch, auch! Bereit zu dienen. Ihren mythischen Gottheiten. Ihren

hohen Idealen, dem Leben und dem Tod sich zu unterwerfen. Keine Gewissheiten, keine Sicherheiten (am

besten mit Wertsicherungsklauseln und Ewigkeitsgarantie!) fordernd. Nein, das genaue Gegenteil davon:

ein Leben mit Höhen und Tiefen, mit Momenten des Glücks und Phasen der Trauer, tiefer Trauer. Und vor

allem mit der gelebten Erkenntnis, dass Leben, das Leben eines Jeden, auch das eigene, endlich ist!

Zehnte Annäherung: DREI NAMEN ODER EIN NAME ?

Nynphne heißt sie, diese Frau. Nynphne hat sie der Künstler Dietrich Klinge benannt, hat ihr einen Namen

gegeben. Einen Namen für eine Skulptur, für eine Person, für ein Wesen. Doch dieser eine Name

enthält drei Namen, Namen von drei Frauen, von drei mythologischen Frauengestalten. Zunächst fallen

die letzten vier Buchstaben des Namens ins Auge. Eine ungewöhnliche Abfolge: „phne“. Wenn wir diese


Lettern isoliert sehen, fällt uns der Name der Nymphe Daphne ein. Jene Daphne, mit der wir uns im Laufe

der Annäherungen schon gedanklich auseinandersetzten. Jene Daphne, die von Apollon verfolgt, zum

Baumwesen wird. Eine Metamorphose vom Wesen Mensch zum Wesen Pflanze. Dietrich Klinge hat viele

beeindruckende Daphnen geschaffen, die in dem transitorischen Moment des Verwandelt-werdens, nicht

mehr Mensch, noch nicht Baum, festgehalten sind. Und in diesem Zustand, in diesem Schwebezustand

zwischen den Welten, in diesem Bereich des Sowohl-als-auch, steht Nynphne vor uns. Der Künstler legt

aber die Entwicklung von Nynphne nicht fest, er gibt den Ablauf nicht vor, er zeigt nicht einen einzigen

Weg, der beschritten werden muss, er zeigt uns jedoch die Möglichkeiten, die in dieser Verwandlung, wie

in einem Gefäß befindlich, aber verborgen sind. Wird sie Baum, wird sie Mensch? Bleibt sie Baum, bleibt

sie Mensch? Ist es der Vorgang, den Daphne durchlebt oder sehen wir ein pflanzliches Geschöpf, das aus

seiner Rindenhaut schlüpft, sich häutet und als Mensch weiterlebt? Oder ist es gerade kein Geschehen,

sondern ein Zustand, ein immerwährender, gleichbleibender. Ein Wesen zwischen den Welten von Flora

und Fauna, oder ein Wesen, beide Welten gar vereinend? Die zweite Frauengestalt, die mit den Anfangsbuchstaben

ihrer Bezeichnung, im Namen enthalten ist, heißt Nymphe, ist Nymphe. Naturgeister, weibliche

Gottheiten, wohltätige Geister, Verkörperungen von Quellen, Wiesen, Grotten oder eben Bäumen,

das sind Nymphen. Fast unsterblich, nahezu immer jung. Und jungfräulich, etwa als Begleiterinnen der

großen Artemis.

Und schließlich eine dritte und letzte mythologische Gestalt ist in diesem Namen verborgen, die Siegesgöttin

Nike. Wer denkt nicht an die Nike von Samothrake des Louvre in Paris? Wenn wir vor ihr stehen, vor

diesem erhabenen Torso, dann sehen wir ihre Flügel nach hinten gedrückt, mit Lüften erfüllt. Zwischen

den Flügeln kein Kopf. Verschollen in den verstrichenen Jahrtausenden. Ebenso das Paar der Arme. Weit

ausgebreitet einst. Armlos ist Nike jetzt. Und ihr Gewand ist so vom Wind an den Körper gepresst, dass er,

besonders um die Körpermitte, wie unbekleidet, wie nackt wirkt. Und wir blicken auf Nynphne, auf ihre

vorhandenen ausgebreiteten Arme, ihre schlagenden Flügel, das Gewand, das auch teilweise Nacktheit

suggeriert. Ohne Kopf auch sie. Zwei und einen halben Meter, knapp, groß: Nike. Zwei und etwas mehr als

einen halben Meter groß: Nynphne. Und Schwestern auch im Geiste!

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ANNÄHERUNGEN ?

Was sind, was bedeuten Annäherungen? Nähe, dieses Wort prägt den Begriff. Heranwagen. Jedoch an

wen und wie nahe? Ja, wieviel Nähe vertragen wir, ertragen wir, mit, bei und zu anderen Wesen? Wie nahe

wollen wir kommen, können wir kommen, kommen wir? Aber wird das andere Wesen diese versuchte

Nähe wollen und zulassen? Noch drängender: Wie nahe kommen wir uns selbst, an unser Selbst? Eine

Katalysatorin ist Nynphne! Sie drängt, sie bringt uns weiter, weiter zu dem was wir sind, nicht zu dem,

was wir sein sollen. Nynphne kämpft, sie leidet, erleidet, strebt, lechzt danach, in sich ruhen zu dürfen.

Erlebt das Glück in seltenen Momenten. Dürstet danach den Kampf des Lebens, jenen mit sich selbst, vor


dessen unvermeidlichem Ende, ausgekämpft zu haben, mit sich selbst und den Seelen in ihrer Brust eins

zu werden. Und wir erkennen, Nynphne ist unsere Schwester. Verschwistert sind wir mit einem Wesen,

das unentschlossen, unperfekt ist. Ein Wesen, das sich quält, sich sehnt, zu sein, was es ist, im tiefsten

Inneren ist. Aber auch Hoffnung in sich trägt. Glühende Hoffnung, wie jeder Mensch. Die glühendste Hoffnung

aber, die wir fühlen dürfen, die außerhalb unseres Selbst geboren wird, ist die Kunst. Und das ist

die Kunst von Dietrich Klinge, die ein Werk gebiert, wie Nynphne, jenem Wesen, das jeder von uns auch

sein könnte. Solche Kraft aber ist von Kunst, von großer Kunst zu fordern! Daniel Spoerri formuliert in

„Der Zufall als Meister“ treffend: „Darum erfahren wir die Geschichte der Welt nur fragmentarisch. Darum

eröffnet sich uns das Geheimnis des Lebens nur in Bruchstücken. Immer haben wir es mit Teilen zu tun,

die schlecht zueinander passen. Ein Ganzes zu schaffen ist uns verwehrt, im Leben und auch in der Kunst.

Nur der Versuch lässt sich darstellen. Mit ihm verbunden bleibt die Hoffnung, dass er, stetig wiederholt,

einmal doch an sein Ziel gelangen könnte“.

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Dietrich Klinge stellt in und mit dieser Skulptur, wie so oft in seinem Werk, die existentielle Frage des

Seins. Unerbittlich fragt er, weil er fragen muss. Und er befragt diese mater lactans, eingekerkert in einen

Körper, den man/frau/divers nicht will, aus dem sie/er/es sich befreien will mit der Wucht eines Urknalls.

Wer, was ist das? Nichts? Alles? Ein Wesen, ein Gewesenes? Die Fragen stellen Fallen! Ja, es ist Alles. Es

ist eine Antwort. Nein, keine Antwort, sondern als Antwort wieder eine Frage, nach dem Woher und Wohin

des Lebens, allen Seins.

Alfred Meyerhuber


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Nynphne

2020, Bronze,

H. 258,5 cm, 6 Ex.


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Impressum

© 2021

Freshup! publishing, Alfred Meyerhuber, Dietrich Klinge

Vorspann Junk 283, 2020

Text

Alfed Meyerhuber

Fotografie

Frontispitz und letztes Bild

Christina Roederer

alle anderen Dietrich Klinge

Typographie, Gestaltung, Reproduktion

Dietrich Klinge, Rica Bock, Martin Frischauf

Schwabenrepro GmbH

Druck

naberDruck GmbH

ISBN

978-3-96697-008-2



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