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Nynphne im Portus

PORTUS Phase II Die Türe, die Pforte, Porta, die Schwester des Portus, öffnet sich, wir treten ein, werden eingelassen und werden empfangen und gefangen von dieser Skulptur. Sie erhebt sich, richtet sich auf, strebt empor, dort, vor der nördlichen Giebelwand: Nynphne! Sie beeindruckt, beeinflusst, verändert den Raum spürbar. Die Gewichtungen sind anders geworden, das Raumgefüge hat sich neu justiert. Ein anderer Fokus, ein anderes Feuer, brennt. Es ist diese Skulptur. Eine Herrscherin, eine Göttin, eine Tänzerin, eine Geschichtenerzählerin? Scheherazade etwa? Oder George Sand, die, wenn sie nicht, Hosen tragend, Zigarren rauchend, zeigt, wie unabhängig sie ist, in der Kartause von Valldemossa, selig dem Regentropfen-Prélude von Frédéric Chopin lauscht? Oder Kleopatra, bereit eine Schlange an ihre bloße Brust zu setzen, um zu sterben, um der Liebe willen und um erniedrigender Knechtschaft zu entgehen? Oder Klytämnestra, barbusig auch sie, die Agamemnon, den großen Heerführer der Achaier vor Troja, in seinem häuslichen Baderaum mordete? Oder die später so unglückliche, zerstörte Camille Claudel, die Rodin lehrte ein großer, ein größerer und für sie der größte Künstler zu sein? Oder ist sie verschwistert mit den uralten Venusgestalten, der von Willendorf und der von Laussel? Ist sie die Protagonistin der Mysterien von Eleusis, Ceres? Ist sie der minoischen Schlangengöttin anverwandt, gar verwandelte Göttin? Oder eine wilde, unzähmbare Göttin, Leben gebend und nehmend, Artemis, die hundertbrüstige Artemis Ephesia? Ist sie etwa die Göttin des Sieges, Tochter des Kriegsgottes Ares, Nike? Oder ist sie die Freiheit, aus dem Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ auf den Barrikaden von Paris, die Eugéne Delacroix uns zeigt? Wir müssen uns nähern!

PORTUS
Phase II
Die Türe, die Pforte, Porta, die Schwester des Portus, öffnet sich, wir treten ein, werden eingelassen und
werden empfangen und gefangen von dieser Skulptur. Sie erhebt sich, richtet sich auf, strebt empor, dort,
vor der nördlichen Giebelwand: Nynphne! Sie beeindruckt, beeinflusst, verändert den Raum spürbar. Die
Gewichtungen sind anders geworden, das Raumgefüge hat sich neu justiert. Ein anderer Fokus, ein anderes
Feuer, brennt. Es ist diese Skulptur. Eine Herrscherin, eine Göttin, eine Tänzerin, eine Geschichtenerzählerin?
Scheherazade etwa? Oder George Sand, die, wenn sie nicht, Hosen tragend, Zigarren rauchend,
zeigt, wie unabhängig sie ist, in der Kartause von Valldemossa, selig dem Regentropfen-Prélude
von Frédéric Chopin lauscht? Oder Kleopatra, bereit eine Schlange an ihre bloße Brust zu setzen, um zu
sterben, um der Liebe willen und um erniedrigender Knechtschaft zu entgehen? Oder Klytämnestra, barbusig
auch sie, die Agamemnon, den großen Heerführer der Achaier vor Troja, in seinem häuslichen Baderaum
mordete? Oder die später so unglückliche, zerstörte Camille Claudel, die Rodin lehrte ein großer, ein
größerer und für sie der größte Künstler zu sein? Oder ist sie verschwistert mit den uralten Venusgestalten,
der von Willendorf und der von Laussel? Ist sie die Protagonistin der Mysterien von Eleusis, Ceres? Ist sie
der minoischen Schlangengöttin anverwandt, gar verwandelte Göttin? Oder eine wilde, unzähmbare Göttin,
Leben gebend und nehmend, Artemis, die hundertbrüstige Artemis Ephesia? Ist sie etwa die Göttin
des Sieges, Tochter des Kriegsgottes Ares, Nike? Oder ist sie die Freiheit, aus dem Gemälde „Die Freiheit
führt das Volk“ auf den Barrikaden von Paris, die Eugéne Delacroix uns zeigt? Wir müssen uns nähern!

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Auf der rechten Körperhälfte, von der Achselhöhle bis hin zu dem Bereich des gedachten Oberschenkels

klafft ein breiter, sich nach unten schließender Spalt, so als ob ein Blick auf den nackten Körper der Frau,

gar ein begehrlicher Blick, provoziert werden soll. Die linke Körperhälfte ist ebenso großflächig auf der

Rückenseite ohne Überkleid. Und schließlich sind die Brüste bei genauer Betrachtung nackt in doppelter

Hinsicht, denn aus dem nackten Holz des Baumes wächst die nackte Haut des Fleisches und zeigt die

tiefe wechselseitige Durchdringung der beiden Charaktere, der beiden ursprünglichen Prägestempel, als

menschliches und als pflanzliches Wesen, zugleich!

Fünfte Annäherung: TANZEND ODER STEHEND ?

Wie kommt man auf diese Frage? Ist es nicht offenkundig und, ganz im Wortsinne, ersichtlich, also sehbar,

dass Nynphne steht? Wenn auch die Beine, wenn es denn ein menschliches Wesen ist, unter dem

Rindenrock verborgen sind. Die Beine bewegen sich nicht! Nicht einmal die Differenzierung in Standbein

und Spielbein ist zu erkennen, nicht einmal zu erahnen. Und wenn es ein Baumwesen ist, dann ist dessen

Stamm eingewurzelt und fest. Soweit, so gut! Aber, die Arme, die Hände, die Finger! Offen, ausgebreitet,

nicht nur zur Umarmung, auch zum Tanz. Wo aber haben wir diese Körperhaltung, diese Armhaltung denn

schon gesehen, déjà-vu? Denken wir an Nikos Kazantzakis, den großen griechischen Schriftsteller und

seinen Alexis Sorbas. Kazantzakis und sein Freund Georgios Sorbas waren – im wirklichen Leben – mit

einem Bergbauprojekt auf der Halbinsel Mani im Süden der Peloponnes, kläglich, wie man sagt, gescheitert.

Und dieses Scheitern schenkte ihm die Geschichte und war Vorlage für seinen berühmten Roman

und der noch bekannteren, weltbekannten Verfilmung. Blicken wir auf die Schluss- und Schlüsselszene:

Das Gerüst der Seilbahn, mit der Baumstämme – für den Bergbau erforderlich – ins Tal gebracht werden

sollen, ist bei der versuchten Inbetriebnahme zersplittert und völlig zerstört worden. Sorbas sagt zu Basil:

„Hey Boss, hast du jemals erlebt, wie etwas so schön zusammen kracht?“ Und dann dieser Sirtaki von

Mikis Theodorakis! Anthony Quinn alias Alexis Sorbas breitet sein Arme aus, als wären sie Flügel, als wäre

er der glücklichste Mensch auf Erden, seine Augen strahlen, die Falten, die das Lachen in sein Gesicht

gegraben hat, sind tiefer noch als sonst. Nicht er ist gescheitert, nur, nur, nur sein Projekt. Das ist die

Botschaft! Diese aber verkündet auch die Klingesche Skulptur. Ein Wesen zwischen Hoffen und Bangen,

zwischen Leben und Tod. Wie wir alle.

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Ein weiteres Zitat von Alexis Sorbas: „ Ja, mein Lieber, wie tief ist doch die Menschheit gesunken, hol's

der Teufel! Man hat den Körper zum Schweigen gebracht, und nur der Mund redet noch. Aber, was kann

der Mund sagen?“ Ja, und auch dieser Gedanke ist in diesem Werk des Bildhauers Dietrich Klinge implementiert.

Wir verspüren dies in unserem Körper, herüberfließend aus dem Körper von Nynphne. D. H. Lawrence

schrieb in sein Tagebuch: „Meine Religion ist es, dass ich fest davon überzeugt bin, dass das Fleisch

und das Blut eines jeden Menschen klüger sind als sein Intellekt. Unser Kopf kann sich irren. Doch was

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