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STURZ EINES
SIEGERS
Thomas Plum
20. MAI 2020
1 TAG / 1 SEITE
Ringstraße 10a, 52538 Gangelt
Siedepunkt
Der Siedepunkt, Verdampfungspunkt oder auch Kochpunkt eines
Reinstoffes ist ein Wertepaar in dessen Phasendiagramm und
besteht aus zwei Größen: der Sättigungstemperatur und dem
Sättigungsdampfdruck an der Phasengrenzlinie zwischen Gas und
Flüssigkeit.
Quelle: Wikipedia
Wenn Menschen sehr wütend werden, dann „kocht ihr Blut“ oder
sie erreichen den „Siedepunkt“. Wenn die Wut zu intensiv wird,
dann gehen Menschen „in die Luft“, „lassen Dampf ab“, „drehen
durch“, „brechen aus“, „knallen durch“, „gehen an die Decke“ oder
„gehen durchs Dach“. Um eine Explosion zu verhindern, wird
Menschen nahegelegt, „ihren Dampf abzulassen“, „es rauszulassen“
oder „es sich von der Seele zu reden“.
Quelle: Die Wutprobe – Wie man Ärger bewältigt
von Brad Bushman & Roy Baumeister
übersetzt von Octavia Harrison & Dr. Alana Krix
-
„Wir sind hier fertig.“, seufzte Mark, während er den
Kofferraumdeckel seines neuen SUV zuschlug.
Natürlich musste es ein SUV sein, wenn wir schon in ein Dorf ziehen, dachte
sich Mark und ließ damit seinen missmutigen Gedanken freien Lauf.
Teresa sprang die Treppenstufen der Kölner Wohnung ein
vermutlich letztes Mal herunter. Sie sah bezaubernd aus. Wie immer,
dachte Mark und schämte sich bereits über seine dunklen
Gedanken. Trotzdem, er konnte nicht aus seiner Haut.
Falsch, ich WILL nicht aus meiner Haut, korrigierte er seinen eigenen
Gedankengang, manchmal will ich einfach nur argumentlos beleidigt sein.
Er nahm sich dennoch vor, auf seine (zugegeben) kindische Art der
Stellungnahme zu verzichten und sich zusammen zu reißen. Es war
entschieden. Punkt. Mehr noch, die Entscheidungsphase war längst
überschritten und die Familie Sieger befand sich unlängst mitten in
der Ausführungsphase. Sie zogen raus aus Köln, rauf aufs Land.
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Waldesruh. Ein Kuhdorf, knapp eine Stunde entfernt. Irgendwo in
der Nähe der holländischen Grenze.
Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, dachte Mark und ertappte sich
umgehend dabei, seinen eigenen Vorsatz, der nicht mal zwei
Sekunden zuvor aufgefrischt worden war, über Bord zu werfen.
„Guck nicht so, das wird super“, strahlte Teresa ihrem
zerknirschten Mann entgegen.
Sie wurde nicht müde, Mark den Umzug so schmackhaft wie
möglich zu machen. Insgeheim bewunderte Mark die unablässige
Frohnatur seiner Frau, das „enttäuschte Kind“ in ihm, erlaubte aber
kein Nachgeben, kein Entgegenkommen und auch keine Einsicht.
Wenn es seine Stimmung erlaubte und er die Gelegenheit bekam,
die Sinnhaftigkeit des Umzugs ehrlich zu analysieren, so kam er
schnell zu dem Entschluss, dass an diesem Umzug schlichtweg kein
Weg vorbeiführte.
Dani, eigentlich Daniela, die gemeinsame Tochter von Mark und
Teresa hatte eine chronische Lungenerkrankung mit asthmatischen
Anfällen. Doktor Lennert, der Hausarzt von Familie Sieger hatte
den Ortswechsel in eine ländliche Gegend vorgeschlagen. Die
Landluft, so versicherte er ihnen, täte Dani gut und würde ihrer
geschundenen Lunge Abhilfe schaffen. Zudem hätten alle
Familienmitglieder dort eine bessere Lebensqualität, im Vergleich
zur schmutzigen, luftverpesteten Stadt. Teresa war sofort
einverstanden, fühlte sie sich doch ohnehin nicht so wohl in Köln.
Vor einiger Zeit hatte es sogar hin und wieder heftigen Streit
gegeben, weil sie am liebsten an jedem Wochenende zu ihren Eltern
fahren wollte und es ihr offenbar herzlich egal war, ob er lieber mit
seinen Freunden in Köln etwas unternehmen wollte.
Das mit Dani kommt ihr wirklich gelegen, dachte Mark sich wiederholt
und schalt sich umgehend, auch wiederholt. Er neigte dazu in
seinem Gram und Selbstmitleid, unfair zu werden. Natürlich kam
Danis Krankheit niemandem gelegen, er schämte sich für seine
Gedanken. Trotzdem. Dass die Entscheidung so „übers Knie
gebrochen“ wurde, hielt Mark auch nicht für fair. Er hatte hier
seinen Job, seine Freunde, seine Vereine.
„Vereine und Freunde findest Du auch in Waldesruh.“, versicherte
Teresa ihm, als sie vor gerade mal drei Monaten den Umzug „in
Betracht zogen“.
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In Betracht zogen, dachte Mark und lachte humorlos, das alles
wurde nicht in Betracht gezogen. Es war beschlossen. Einseitig
beschlossen.
Mark prüfte ein letztes Mal, ob die Wohnungstür verschlossen war.
Er schlenderte den Eingang zu ihrer Wohnung (Ex-Wohnung,
ermahnte er sich zerknirscht) entlang und rüttelte an der Haustür.
Der Schließzylinder war nach all den Jahren der Existenz des Hauses
merklich in Leidenschaft gezogen und schloss nicht zuverlässig.
Man musste immer einmal extra rütteln, um sicher zu gehen, dass
die Wohnung abgeschlossen war.
„Darüber müssen wir uns dann auch nicht mehr ärgern.“, war eine
von vielen „Punch Lines“ in Teresas Argumentationssuchen.
„Alles verschlossen?“ Teresa strahlte ihren Mann vom Beifahrersitz
aus an. Diese Augen, dieses Strahlen? Als hätte er jemals eine
Chance gehabt, ihr auch nur einen Wunsch zu verwehren. Vor
allem, wenn es ein Wunsch war, der ihr so viel bedeutete.
„Ja, alles dicht.“ Frank stieg ins Auto. Er richtete den Rückspiegel,
blickte durch den Spiegel noch einmal zur Wohnung und seufzte.
Selbst für ihn klang der Seufzer ein wenig zu theatralisch.
-
„Dann wäre da noch die Auszugsgebühr,“ sagte Heribert Fritsch,
der Vermieter der Kölner Wohnung. Der von Mark überreichte
Schlüssel wippte in der Hand von Fritsche. „Die steht mir zu.“
„Was für eine Gebühr?“ Mark fühlte sich vor dem Kopf gestoßen.
Herr Fritsche war vor ein paar Wochen doch so verständnisvoll
gewesen, er hatte sogar Dani über den Kopf gestrichen und
gesprochen von „Familie geht vor“ und „die Wohnung werd’ ich
schon los“, sogar von seinem Enkel als möglicher Nachmieter war
die Rede gewesen.
„Herr Fritsche, ich verstehe nicht“, begann Mark mit einer
vorsichtigen Nachfrage.
„Steht mir aber zu“, unterbrach Fritsche ihn gleich.
„Ja, Herr Fritsche, das habe ich soweit akustisch verstanden. Aber Sie
haben uns das vorher nicht mitgeteilt.“ Marks Adern begannen am
Hals bereits zu schwellen. Er spürte es. Außerdem spürte er eine
Hitze, die zähflüssig seinen Kopf wie warme Butter zu füllen schien.
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„Sie haben uns doch gesagt…“, begann Mark erneut nachdem er
drei Mal tief durchgeatmet hatte.
„Komm lass“, unterbrach ihn nun Teresa. Und zu Fritsche gewandt:
„Wir überweisen Ihnen die Gebühr, Herr Fritsche. Wir haben das
Geld natürlich jetzt nicht mit.“
„Teresa“, ermahnte Mark seine Frau. Er konnte es nicht fassen. Seit
wann gab ausgerechnet SIE so schnell nach? Und völlig zu Unrecht.
„Lass gut sein, Mark“, entschied Teresa und stieg bereits in der
Beifahrertür des SUV ein. „Wir müssen weiter. Kommst du?“
Mark drehte sich nochmal kurz zu seinem ehemaligen Vermieter:
„Und Ihr Enkel, Herr Fritsche? Wollte der nicht hier einziehen?“
Fritsche zuckte mit den Schultern und ließ kurz ein hämisches
Grinsen aufflackern. Fritsche kam einen Schritt auf Mark zu und
flüsterte: „Wer weiß? Vielleicht wird mein Enkel gleich nächste
Woche einziehen, vielleicht bleibe ich auch drei Monate auf einer
leeren Wohnung sitzen?“, er zwinkerte „Das Internet! Eine wirklich
tolle Erfindung, Herr Sieger.“ Er lachte und schloss die Tür.
Er hat mir seinen Betrug frech ins Gesicht gestanden und niemand hat es
mitbekommen, dachte Mark.
In seinem Magen rumorte es. Es blubberte und schwappte, wie
kochendes Wasser. Zudem bemerkte Mark das Zucken wieder.
Dieses Zucken, das er immer dann verspürte, wenn er nervös
wurde. Es verlief vom linken Mundwinkel, bis zu seinem linken
Auge. Ein Zittern, welches praktisch seine linke Gesichtshälfte
zucken ließ.
Als er vor ein paar Monaten Ärger mit einem Kunden im Baumarkt
hatte, musste er beim Geschäftsführer vorstellig werden. Natürlich
hatte Mark nichts zu dem Streit beigetragen, aber so war das nun
mal im Einzelhandel. Der Kunde verbockt irgendeine Installation,
irgendeinen Anstrich oder irgendeine Reparatur und tobt sich dann
im Baumarkt wütend aus. So war es, so ist es und so wird es immer
sein.
An diesem Tag, als er vor dem Büro seines Geschäftsführers warten
musste, eines der Zermürbungstaktiken von David Bergmann,
spürte er dieses Zucken besonders deutlich. In dem Flur stand ein
mannshoher Spiegel, „So sieht Sie der Kunde“ klebte in schreiend,
orangenen Farben auf der Spiegelfläche. Als Mark nähertrat,
entdeckte er verwundert, dass sein Zucken nicht sichtbar war.
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Seit diesem Tag vermutete Mark, dass dieses Zucken nur Einbildung
war und bei nächster Gelegenheit mal vor Doktor Lennert
angesprochen werden sollte.
„Kommst Du?“ Teresa reckte ihren Kopf aus der Beifahrerseite und
lächelte Mark an.
Mal wieder in Gedanken versunken, dachte Mark und richtete sich zum
Abschied an Fritsche. Er starrte nur auf die Haustür.
Der Penner hat mir die Tür vor die Nase zugeschlagen und ich habe es noch
nicht mal bemerkt. Von düsteren Gedanken begleitet trat Mark seinen
Rückweg zum Auto an.
Na, ich muss ja eine bedeutungsvolle Person sein, wenn man so mit mir
umspringen kann, dachte Mark kopfschüttelnd, während er einstieg.
„Ist nicht schlimm, Schatz.“, beruhigte Teresa ihren Mann „Wir
haben noch genug Geld von unserem Kredit übrig. Die
Sanierungskosten waren doch bei weitem nicht so hoch, wie wir…“
„Darum geht es doch gar nicht.“, unterbrach Mark seine Frau
genervt. „Wie lange war Fritsche unser Vermieter?“
„Das müssten ungefähr…“, begann Teresa nachzurechnen.
„Zwölf Jahre.“, erlöste Mark seine Frau aus ihren Gedankengängen.
„Das kommt ungefähr hin.“, sinnierte Teresa.
Sie weiß, dass es stimmt. Mark biss sich auf die Unterlippe, während er
den SUV zurück auf die Straße bugsierte.
„Wir haben uns immer verstanden,“ fuhr Mark fort „Es war ein
perfektes Mieter- Vermieterverhältnis. Und jetzt? Kaum, dass wir
ausziehen, zieht er uns ab. Was stimmt nur mit den Menschen
nicht?“
„Du darfst das nicht immer alles persönlich nehmen,“ versuchte
Teresa ihren Mann zu beruhigen „er erkennt eine Chance und
ergreift sie. Das ist leider so und rechtlich können wir ihm da gar
nichts anhaben.“
„Du verstehst mich nicht. Ich bin nicht rechtlich von Fritsche
enttäuscht. Ich bin menschlich enttäuscht. Zwölf Jahre, Teresa. Zwölf
Jahre und wir gehen so eklig auseinander. Das ist einfach
verwerflich.“
Teresa legte behutsam ihre Hand auf Marks Nacken und begann mit
ihrem „Zauber“. Wenn sie mit ihrer Hand seinen Nacken streichelte
und dabei leicht massierte, beruhigte Mark sich umgehend.
„Lass dich doch nicht davon unterkriegen, Schatz. Du trägst mal
wieder den ganzen Schmerz und die ganze Last der Welt auf deinen
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Schultern. Du musst dich mal nur auf dich konzentrieren, maximal
auf uns. Wir stehen jetzt an erster Stelle und wir werden das schon
hinbekommen.“ Teresa fuhr mit ihrem „Zauber“ fort.
Sie schaffte es sogar, wenn am nächsten Tag irgendetwas Wichtiges
anstand und Mark nicht einschlafen konnte, ihn mit dieser
Nackenliebkosung umgehend zum Einschlafen zu bringen.
Mark atmete in einem langen Seufzer aus, er begann sich zu
beruhigen.
„Genau Dad! Fick die Mietschwuchtel!“, drang es von der
Rückbank des SUV nach vorne.
„Mama!“, empörte sich die zweite Stimme von der Rückbank.
„DENNIS!“, schrien Mark und Teresa gleichzeitig.
Dennis, der Sohn von Mark und Teresa, zuckte zusammen und
duckte sich unter dem lauten Wortschwall, den die restlichen Sieger
über seinen Kopf zusammenbrechen ließen.
Dennis, der große Bruder von Dani. Dennis, der Erstgeborene.
Dennis, die Rap-Nervensäge.
Dennis, oder „Dan the D“ wie er sich nannte, war der definitive und
einzig richtige Grund für Mark aus der Stadt zu ziehen.
Der Freundeskreis von Dennis bestand seit der letzten Zeit nämlich
nur noch aus schludrigen Ghettokids, die nichts anderes in ihren
entleerten Hirnen hatten als diese beschissene Rap-Musik.
Ein wenig amüsiert stellte er fest, dass er offensichtlich dasselbe
Verständnis zu der Musik seines Sohnes hatte, wie damals seine
Eltern zu seinem „Gejaule“, wie sein Vater zu sagen pflegte.
Witzigerweise war es (im weitesten Sinne) sogar dieselbe
Musikrichtung, die angeklagt wurde.
„Das ist kein Rap.“, belehrte Mark seinen Sohn penetrant und
permanent. „Das ist eine taktlose Beleidigung von Ohr und Hirn.
Von diesen Ottos, die du so hörst, kann wirklich niemand rappen.
Die reden oder besser gesagt quengeln nur über ihr Geld, das sie mit
Sicherheit nicht haben. Das kannst du mir glauben. Und wenn sie
nicht übers Geld reden, dann wie man eine Frau schnell und
gründlich erniedrigt.“
„Boah Papa, chill’ doch mal. Das ist nur Musik.“, war dann immer,
oder zumindest so ähnlich, die Reaktion seines Sprösslings.
Die Musik war auch nicht das, was Mark so störte. Es war mehr die
Art der Veränderung in Dennis, die ihm zu schaffen machte. Mit
jedem bisschen Coolness, die Dennis sich durch seine Freunde und
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seiner Musik zulegte, verlor er zu gleichen Teilen seine zuvor
vorhandene Empathie.
Er erinnerte sich noch so gut daran, dass Dennis weinend in den
Armen Teresas lag, weil er Angst um Dani hatte, wenn sie wieder
einen ihrer Krupphustenanfälle hatte. Die damalige Panik in den
Augen seines Sohnes, sah Mark auch nach all der Zeit immer noch.
Jetzt ist er sogar von seiner Schwester genervt, weil sie ihn mit ihrem Husten
störte. So kann’s gehen, dachte Mark.
„Ja, was denn? Ihr regt euch doch auch über den Spast auf. Aber bei
mir eine Welle machen.“, wehrte sich Dennis und beendete den
weisesten Satz der Welt, wie sein Sohn es mit Sicherheit sah, noch
mit einem „Guck nicht so bescheuert, du Zecke“ in Danis Richtung.
„Das Problem liegt nicht darin, was du gesagt hast, Dennis. Das
Problem liegt darin, wie du ständig etwas sagst. Das ist ein
Benehmen, welches ich dir so nicht beigebracht habe und auch
weiterhin nicht dulden werde. Deine Playstation bleibt auf jeden Fall
als längstes in den Umzugskartons.“, erklärte Mark seinem Sohn
und bog auf die A61.
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„Herzlich willkommen in der Nachbarschaft.“ Begrüßend streckte
der kräftige Mann von nebenan Mark seine Hand entgegen.
Er ist schon drei Mal an Teresa vorbeimarschiert und hat sie nicht begrüßt, zu
mir kommt er aber. Was ist das denn für ein Typ? dachte Mark und
nahm, recht widerwillig die angebotene Hand entgegen.
„Guten Tag. Mein Name ist Sieger. Mark Sieger. Das hier ist meine
Frau Teresa und dies,“ er rückte Dani in den Vordergrund „ist
meine Tochter Dani. Also, eigentlich Daniela. Mein Sohn Dennis
ist schon im Haus, wahrscheinlich baut er sich gerade ein Nest im
Heizungskeller.“ Mark lachte, als würde jeder sofort den Witz
verstehen. Niemand sonst lachte. Mehr noch, Teresa stupste Mark
ermahnend mit ihrem Ellenbogen in die Seite.
„Verstehe ich nicht,“ sagte sein mutmaßlicher Nachbar und
bestätigte somit das Unverständnis von Marks Witz.
„Schon gut,“ versicherte Mark seinem Gegenüber. Sein Nachbar
war schwer, sehr schwer. Mindestens 120 kg Kilo, schätzte Mark.
Schweiß perlte auf der Stirn des Mannes, obwohl es nicht
sonderlich warm war. Er trug eine blaue Latzhose, aus der ein
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Zollstock ragte. Gliedermaßstab, ermahnte Mark sich. Darüber trug
er eine Strickweste, welche ihm unförmig von den Schultern
schlabberte. Seine Füße steckten in Gummistiefeln mit
Stahlkappen, selten, aber in seinem Baumarkt gab es diese
Schutzbekleidung auch.
Er arbeitet in seinem Garten, dachte Mark. In Anbetracht der
Tatsache, dass es Mittwoch war, musste sich sein Nachbar
entweder im Urlaub befinden oder er war bereits Rentner. Und das
mit seinen knapp 50 Jahren?
„Freut mich, dich kennen zu lernen. Wir hier in Waldesruh duzen
uns alle. Ich denke, damit sollten wir auch umgehend beginnen.“,
stellte sich sein Nachbar vor und erwartete keinen Protest
aufgrund der „Du-Ausgangslage“. „Ich bin Dietmar. Dietmar
Husenkamp. Ich bin der Bürgermeister von Waldesruh und euer
Nachbar. Ich bin mir sicher, wir werden uns verstehen.“
Oder er ist weder im Urlaub noch Rentner, sondern einfach nur der
Bürgermeister, korrigierte Mark seine falsche Einschätzung des
brandneuen Nachbarn.
Teresa übernahm den Verlauf der Vorstellrunde: „Was mein Mann
mit dem wirklich unlustigen Kellerwitz andeuten wollte, ist, dass
unser Großer sich momentan ausgiebig seiner „Stinkstiefel-Zeit“
widmet. Sie, Verzeihung, du weißt schon.“, sie äffte, zugegeben gut
stand Mark sich ein, Dennis nach „Eltern sind doof, Schule ist
doof, meine kleine Schwester ist doof. Ich will in Köln bleiben,
muss aber ins doofe Waldesruh.“, unterbrach sie ihre Intonierung.
Teresa schaute ihrem Mann tief in die Augen. Schweiß begann sich
auf Marks Händeflächen zu bilden. Seine linke Gesichtshälfte regte
sich. Es war noch nicht das zuckende Gefühl, stellte er fest, aber
es wird jeden Augenblick beginnen.
„Naja, zumindest im letzten Punkt sind Vater und Sohn sich nicht
ganz so unähnlich. Auch wenn der Papa,“ sie stupste Mark
neckisch an „das nicht so gerne zugibt.“
Dietmar lachte: „Ja, von der Stadt aufs Land. Ich verstehe Euch.
Die meisten Menschen, die sich zu diesem Schritt entschließen,
machen es aus Überzeugung und freuen sich darauf.“ Er sah Mark
intensiv an, ein süffisantes, aber nicht unsympathisches Lächeln
umspielte seine Lippen. Er sprach weiter, mehr so als würde er mit
sich reden: „Hin und wieder, und auch das ist keine Seltenheit,
zieht man allerdings nicht aus freien Stücken um. Man wehrt sich
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und schließlich arrangiert man sich, damit es den Menschen, die
man liebt, besser geht.“
Wie kommt er darauf? Haben er und Teresa schon miteinander gesprochen?
Als sie hier war und schon ein paar Kartons gebracht hat? Mark dachte
nach.
Dietmar unterbrach die Gedanken Marks, indem er ihm
freundschaftlich einen Klaps auf die Schultern gab: „Habe ich alles
schon erlebt. Als Bürgermeister pflege ich unsere neuen Anwohner
persönlich zu begrüßen. Klingt jetzt aufopferungsvoller, als es ist.
Bei einem knapp 1000 Seelen Dorf, ist Zuwachs und Abschied
relativ überschaubar.“
Dietmar löste sich aus der Vierer-Gruppe. Nach ein paar Schritten
auf seinem Zaun zu blieb er stehen und drehte sich nochmal zu
Mark.
„Keine Sorge Mark, du wirst dich hier wohlfühlen. Das
bekommen wir schon hin. Darauf kannst du dich verlassen.“
„…darauf können Sie sich verlassen. Das wird ein Nachspiel
haben.“ Ein Speichelregen flog Mark entgegen und benetzte die
Schultern seines Hemdes. David Bergmann, Marks Chef und
Geschäftsführer des Baumarktes „Schrauben-Manny“ hatte sich
mal wieder in Rage gesprochen.
Schon seit geraumer Zeit hatte Mark den Verdacht, irgendwie auf
eine Zielscheibe seines Chefs gelandet zu sein. Mark fühlte sich
schon länger beobachtet und verfolgt. Nicht wie in den
Kriminalromanen, die Teresa so liebte, sondern so, als ob sein
Chef auf aktiver Fehlersuche bei ihm sei. Es gab keinen Grund,
das stand fest. Er hatte seine Abteilung im Griff, verbuchte gute
Zahlen. Zahlen, die in der derzeitigen Wirtschaftslage
außerordentlich gut waren. Immerhin schadete der Netzhandel
nach wie vor dem Einzelhandel, erst recht dem kleingewerblichen
Einzelhandel.
„Schrauben-Manny“ war kein Kleingewerbe per se, dennoch
konnte dieser Baumarkt einfach nicht mit den Großen mithalten.
Es gab nur diese eine Niederlassung und ein OBI in 10 km
Luftlinie weiter.
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Nahm man diese Fakten alle zusammen, so konnte Mark stolz auf
seine Abteilung sein, kein Zweifel.
Dennoch, irgendetwas hat sich in der letzten Zeit verändert.
Bergmann hatte sich auf Mark eingeschossen, auch da gab es
keinen Zweifel.
„Herr Bergmann,“ begann Mark mit seiner Erklärung. Seine
Handflächen waren wieder durchnässt von seinem Schweiß. In
den letzten Kilometern vor der Ankunft an seinem Arbeitsplatz
hatte Mark begonnen, sich eine Entschuldigung zurecht zu legen.
Alles weg, sämtliche Argumente und es waren gute dabei gewesen,
wusste Mark. Er wusste nur nicht mehr, welche Argumente es
waren.
„Ich bin jetzt schon über 10 Jahre bei Ihnen und ich habe mich
heute zum ersten Mal verspätet. Es tut mir leid, aber ich finde,
dass Ihre Reaktion doch ein wenig…“, setzte Mark erneut an und
wurde gleich von seinem Chef unterbrochen.
„Ihre Abteilung ist nicht besetzt.“, stellte Bergmann mit
Nachdruck fest.
Mark seufzte: „Ja, ich weiß. Ich beeile mich.“
„Unterbrechen Sie mich nicht, ich muss doch sehr bitten.“,
herrschte Bergmann Mark an „Ihre Abteilung ist nicht besetzt.
Eine dreiviertel Stunde lang. Wollen wir das gemeinsam auf
Kundenzahlen runterbrechen? Ich habe mir, die Zeit Ihrer
Abwesenheit ausnutzend, die Mühe gemacht und eine Statistik
ihrer Kundenfrequenz erstellt. Statistiken, Sieger. Das habe ich
Ihnen schon oft nahegelegt, arbeiten sie mit Statistiken.“
Mark biss die Zähne zusammen. Er wusste, dass ab jetzt jeglicher
Einwand zu einem noch unangenehmeren Gespräch führen würde
als das bereits begonnene. Er nickte zur Bestätigung.
Bergmann fuhr fort: „Nun, vielleicht werden wir den Tag einmal
erleben, an dem Sie mir tatsächlich mal eine Statistik vorlegen,
kombiniert mit einem aussagekräftigen Plan, um Ihre
Verkaufszahlen deutlich nach oben zu korrigieren. Wo war ich?
Ach ja. Ihre Zahlen berücksichtigend, haben Sie in den 45 Minuten
Ihrer Abwesenheit. UNENTSCHULDIGTEN Abwesenheit,
möchte ich nebenbei erwähnen...“
Geh halt an dein scheiß Handy, du Wichser, dachte Mark und biss auf
seine Zunge, um diese im Zaum zu halten.
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„...In diesen 45 Minuten haben Sie 5 Kunden um ihre Beratung
gebracht. Eine weitere Statistik zeigt mir, dass jeder Kunde in Ihrer
Abteilung ungefähr einen Bon-Wert von 35 € verursacht. Das ist
nicht weiter verwunderlich, da Sie ja der Abteilungsleiter von
Maschinen und Zubehör sind. Also? 5 mal 35 €. Sie haben also
Ihrem Arbeitgebern 175 € verwehrt. Ich finde, das ist eine Menge
Geld. Zudem dürfen Sie nicht vergessen, dass Sie hier für eine
Vollzeitstelle eingestellt wurden. Wir starten pünktlich um 8:00
Uhr und enden um 19:00 Uhr. Das dürfte Ihnen bewusst sein.“
Stille breitete sich im Flur aus. Bergmann hatte Mark gleich im
Flur, zwei Schritte vor der Tür von Bergmanns Büro, zur Rede
gestellt. Mindestens fünf seiner Kollegen huschten unterdessen an
den beiden vorbei und blickten Mark mit einer Mischung aus
Mitleid und unverhohlener Häme an.
„Ist Ihnen das nicht bewusst, Herr Sieger?“, durchbrach Bergmann
nun die Stille.
Mark zügelte seine Zunge, dennoch quetschte sich ein Hauch
Sarkasmus mit dem folgenden Satz durch seine Zähne: „Mir war
nicht bewusst, dass ich jetzt sprechen darf, Herr Bergmann.“
Bergmann stutzte nur kurz.
„Herr Sieger, wenn Sie glauben, dass Sie mit Sarkasmus bei mir
weiterkommen, möchte ich Sie gerne auf den Boden der Tatsachen
zurückholen. Kommen Sie um 12:00 Uhr in mein Büro. Verspäten
Sie sich nicht. Zudem erwarte ich, heute kein Ausstempeln zur
Mittagspause entdecken zu müssen. Die haben Sie nämlich bereits
zu Beginn Ihres Arbeitstages gemacht. Habe ich Recht?“ Ohne
eine Antwort zu erwarten, drehte sich Bergmann von Mark weg
und betrat sein Büro. Einen kurzen Augenblick später, stand Mark
allein auf dem Flur. Aus dem Büro neben dem des
Geschäftsführers erklangen zaghaft Tastaturgeräusche, welche sich
nun allmählich beschleunigten.
Die dämlichen Tippsen haben jedes Wort gehört, dachte Mark und presste
seine Zähne zusammen.
„Sie haben gesagt, dass dieser Bohrer auch durch Metall bohrt.“,
empörte sich ein Kunde und fuchtelte mit einem Bohrer vor der
Nase Marks herum.
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„Das ist ein Holzbohrer. Holzbohrer bohren durch Holz und
manche durch Kunststoff. Für Metall benötigen Sie einen
Metallbohrer, wie der Name schon verspricht.“
„Haben Sie mir nicht so gesagt. Sie haben mir diesen Bohrer
verkauft und wussten, dass ich AUCH in Metall bohren möchte.“,
klagte der Kunde. Die Brille des Kunden saß schief auf der Nase.
Aus der Nase lugte ein Popel hervor. Mark musste immer wieder
darauf starren.
Er rollte mit seinen Augen. Es war immer dasselbe. Wie war das
Zitat nochmal in „The Last Boy-Scout“ von Bruce Willis?
„Das Wasser ist nass, der Himmel ist blau, Frauen haben
Geheimnisse“ hieß es im Film. Mark möchte nur einen Fakt
hinzufügen und die Weisheit des Lebens ist vollendet.
„Das Wasser ist nass, der Himmel ist blau, Frauen haben
Geheimnisse und Kunden haben immer Recht!“
Mark räusperte sich, er musste jetzt vorsichtig sein. Ein falsches
Wort und der Kunde würde sich bei der Geschäftsleitung
beschweren. Er sah es dem Mann an.
„Entschuldigen Sie, aber ich erinnere mich nicht daran, dass wir
uns unterhalten haben. WENN wir uns unterhalten hätten, hätte
ich Ihnen dasselbe gesagt, wie jetzt.“ Er hat nicht nur ein falsches
Wort gesagt, die ganze Antwort war falsch. Mark bemerkte es
sofort. An dem Blick des ohnehin schon auf Konfrontation
eingestellten Kunden und auch an den Worten an sich.
Du Idiot, es geht nur um einen Bohrer von 2 € und es wird so oder so
umgetauscht, dachte er noch, da ging der ganze Spaß richtig los.
„Verstehe ich Sie richtig?“, begann der Kunde und funkelte Mark
an. „Sie behaupten, dass ich lüge?“
Nein, dachte Mark.
„Ja.“, sagte Mark.
„Das ist eine absolute Unverschämtheit. Ich will sofort Ihren Chef
sprechen.“, schrie der Kunde Mark an. Der Kopf des Kunden
wurde rot und sah aus, als würde er jeden Moment zerbersten.
Während der Kunde immer lauter wurde, fing er an sich
unkontrolliert zu bewegen. Er fuchtelte mit den Armen und
schleuderte seinen Kopf in alle Richtungen. Dabei, das sah Mark
wie in Zeitlupe, löste sich der Popel, der schon die ganze Zeit an
der Nasenöffnung des Kunden ausharrte und flog im hohen
Bogen zu den Meißeln.
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Ein Glück, endlich ist das Maurerbonbon weg, dachte Mark.
„Entschuldigung?“ Mark und sein Kunde drehten sich synchron
zu der Geräuschquelle. Hasan Borat stand lächelnd vor den
Beiden.
Hasan richtete seinen Kragen, rückte sein Namenschild zurecht
und sagte: „Kann ich Ihnen helfen? Stimmt etwas nicht?“
Der Kunde starrte nun auf Hasan, seine Augen weiteten sich.
„Wie gesagt, ich möchte Ihren Chef sprechen!“, sagte er und
wischte sich mit dem Handrücken über sein verschwitztes Gesicht.
Hasan lächelte: „Möchten Sie meinen Chef sprechen oder seinen?“
Hasan deutete mit seinem Daumen auf Mark.
Mark stutzte, der Kunde stutzte.
Hasan fuhr fort: „Wenn Sie meinen Chef sprechen möchten,
müssten wir mal schauen, ob wir ihn in München erreichen
können. Wenn Sie seinen Chef sprechen möchten, dann wäre das
wohl meine Wenigkeit.“ Hasan grinste sein breitestes Lächeln.
Der Kunde schaute Hasan unverhohlen an. Die Skepsis war
deutlich in seinem Gesichtsausdruck eingemeißelt.
„Sie?“, fragte der Kunde und versuchte sein freundlichstes Lächeln
aus der Schublade zu holen.
„Ja, ich. Kann ich Ihnen denn nun weiterhelfen? Welches Problem
haben wir denn? Herr Sieger?“ Hasan starrte Mark streng an. Mark
wurde unruhig.
„Der Herr hat sich einen Holzbohrer gekauft und ihn auf Metall
verwendet. Nun möchte er diesen Bohrer reklamieren.“,
antwortete Mark.
Hasan lächelte beide an: „Nun, da sehe ich keine Problematik.
Herr Sieger, geben Sie dem Herrn einen passenden Metallbohrer,
bitte. Den defekten Holzbohrer reklamieren wir beim Zulieferer.“
Bevor Mark zu einem Protest starten konnte, richtete sich Hasan
erneut an den Kunden: „Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich
sein?“
„Ihr Mitarbeiter hat mich der Lüge bezichtigt. Darum wollte ich
mich an Sie richten, Herr…“ Der Kunde blickte auf das
Namensschild.
Hasan wurde nervös und antwortete übereilt: „Bergmann! David
Bergmann. Geschäftsführer von „Schrauben-Manny“. Mein
Großvater hieß Manfred Bergmann, daher der Name. Und was
Ihren Vorwurf angeht.“ Hasan verschränkte seine Arme und
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bedeckte dadurch das Namensschild, an dessen Entzifferung der
Kunde immer noch arbeitete. „Ich habe das alles mitbekommen
und bin zutiefst erschüttert.“, sagte Hasan und richtete sich nun
erneut an Mark: „Hierbei handelt es sich ganz klar um einen
Beratungsfehler, Herr Sieger. Ich kann und werde es nicht weiter
dulden, dass Sie Ihre Verfehlungen auf dem Rücken unserer
Kundschaft austragen. Das ist inakzeptabel. Ich bitte Sie daher
darum, sich in 10 Minuten in meinem Büro einzufinden.“
Der Kunde verkniff sich nicht einmal das hämische Grinsen,
welches er Mark nun präsentierte.
Hasan kam in Fahrt: „Herr Sieger, begleiten Sie den Herrn nun
bitte zur Kasse und beenden sie den Umtausch. Ich erwarte Sie
gleich in meinem Büro.“ Er nickte dem Kunden zu: „Auf
Wiedersehen, der Herr. Beehren Sie uns bald wieder.“
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„Beratungsfehler? In zehn Minuten in deinem Büro? Glatter
Umtausch? Bist du eigentlich wahnsinnig, Hasan?“ Marks Gesicht
sah besorgt aus, als er knapp zehn Minuten später zu Hasan Borat
zurückkam.
Hasan grinste Mark an: „Hab‘ ich gern gemacht mein Freund.
Kannst mir in der Mittagspause das Essen ausgeben.“
Eigentlich fühlte sich Mark nicht zum Lachen, aber das feixende
Gesicht seines Kollegen und Freundes hatte diesen Zauber. Egal,
wie schlecht Mark sich fühlte, sein Freund Hasan schaffte es
immer, dass er den Ernst der momentanen Situation kurz mal
vergessen konnte. Das funktionierte nur bei Hasan. Trotzdem.
Das, was Hasan da gerade gemacht hatte, war so brandgefährlich,
dass es Mark heiß und kalt zugleich wurde, sobald er daran dachte.
„Stell Dir mal vor, der Alte wäre in dem Moment nach unten
gekommen.“, sagte Mark, seine Augen von der Vorstellung
aufgerissen.
Der „Alte“, dachte Mark, ist ungefähr fünf Jahre jünger als ich und genauso
alt wie Hasan.
„Ja, stell dir vor, wie er mit seiner Gehhilfe die Treppe
herunterhumpelt, um uns auf frischer Tat zu ertappen, wie wir hier
Identitätsdiebstahl zelebrieren.“, lachte Hasan und verriet damit,
dass auch er sich über die Bezeichnung „der Alte“ amüsierte.
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Somit stand wieder einmal fest, dass Hasan und er sich die
Gedanken teilten. Hasan pflegte stets zu sagen: „Wir teilen uns
einen Kopf… Meiner sieht nur besser aus.“
Die Absurdität dieser Feststellung hat Mark schon immer lachen
lassen und Mark war sich sicher, dass dies den Zauber der
Freundschaft und Kollegialität ausmachte. Das Lachen. Die beiden
lachten über alles und waren somit auf alles vorbereitet, was am
Tag auf sie zukam.
Vor fünf Jahren, hatten Hasan und Mark versetzt Urlaub gemacht.
Hasan in den ersten beiden Wochen der Sommerferien und Mark
in den letzten beiden Wochen. Das ist danach nie wieder
geschehen. Sie haben vor David Bergmann gekämpft wie Löwen,
um gemeinsam in Urlaub gehen zu können. Sie behaupteten,
gemeinsam gebucht zu haben, was allerdings nicht stimmte. Es
ging nie darum, gemeinsam Urlaub zu haben. Es ging darum, das
einer nicht ohne den anderen auf der Arbeit sein wollte.
Hasan schlug Mark freundschaftlich auf die Schulter: „Komm
schon. Freu dich einfach, dass ich dir den Arsch gerettet habe. Der
Typ hat seinen richtigen Bohrer und ist weg. Was willst du noch
mehr? Der Alte hat dich sowieso auf dem Kieker, was glaubst du,
was er mit dir macht, wenn ein Kunde sich über deine Anmache
beschwert?“
„Ja, du hast Recht. Danke Hasan.“, antwortete Mark und stellte
dabei fest, dass er tatsächlich jetzt zum ersten Mal heute lächelte.
Hasan umarmte Mark kurz: „Hey, kein Ding mein Freund. Komm
schon, wir haben zwei Paletten Eisenwaren bekommen, lass uns
den Scheiß zusammen einräumen. Dann ist Bergmann zufrieden,
wenn er durch seine Kameras auf uns glotzt, weil wir was zu tun
haben und du kannst mir mal sagen, was mit dir los ist. Du gefällst
mir gar nicht, arkadaş.“
Mark blieb abrupt auf dem Weg zum Lager stehen. Er schaute zu
Hasan: „Was meinst du? Ist alles okay.“
Hasan drehte sich zu Mark und lächelte ihn schief an: „Erzähl das
dem Kunden, der da grade raus gewankt ist, Alter.“
Mark lachte: „Hast du seinen ekelhaften Popel gesehen?“
„Hallo? Wie lange arbeiten wir hier? Das ist unser Job, sowas zu
sehen. Rotz in der Nase, welcher sich gefährlich in Richtung Mund
bewegt. Brillen, die schief sitzen.“, Hasan lachte laut auf „Und
erinnerst du dich an den Typen, der seine Brille falsch herum
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aufhatte? Oder der, der seine Brille gesucht hat und sie die ganze
Zeit in den Haaren hatte?“
Mark lachte: „Ja stimmt! Als er sie dann entdeckte, war er super
wütend, weil wir ihm nichts gesagt haben.“
Hasan wieherte vor Lachen: „Genau! Und du ganz trocken: Ach
diese Brille meinten sie. Entschuldigen Sie, ich konnte doch nun
wirklich nicht wissen, dass Sie genau diese meinen.“
Beide lachten und schluckten ihr Lachen umgehend wieder runter,
weil Kollege Feist aus der Sanitärabteilung kopfschüttelnd an
ihnen vorbeilief.
Hasan lachte nochmal kurz und rief Feist hinterher: „Was los,
Feist? Das nennt man Lachen, Mann. Falls du mal deinen rektalen
Besenstiel wieder los werden solltest, kannst du dich mal darin
üben. Ich stehe dir zur Verfügung.“ Zu Mark gewandt sprach
Hasan weiter: „Ich schwöre dir Mark, es macht diesen Spinner
fertig, dass ein Türke einen größeren Wortschatz als er hat.“
Mark lachte: „Auf jeden Fall. Aber jetzt lass uns loslegen. Ich muss
um 12:00 Uhr zum Chef. Der ist noch nicht fertig mit mir und ich
möchte dich nicht mit so viel Ware zu lange alleine lassen.“
„Kein Problem, der ganze Kram läuft uns nicht weg.“, sagte Hasan
und riss bereits den ersten Karton auf. Erzähl, wie ist es in
Waldhausen?“
„Waldesruh.“, korrigierte Mark. „Ist ganz nett. Aber ich komme
mir halt vor, wie am Arsch der Welt. Ich habe heute eine Stunde
und fünfundvierzig Minuten bis hier gebraucht. Scheiß auf Google
Maps, stimmt alles gar nicht. Laut Maps brauch ich von zuhause
bis hier 45 Minuten und ich habe mir extra noch 15 Minuten
einkalkuliert. Eine dreiviertel Stunde Verspätung. Kein Wunder,
dass der Alte im Dreieck springt.“
„Ruf halt beim nächsten Mal an.“, antwortete Hasan und räumte
dabei schon den zehnten Karton mit SPAX Schrauben ein. Mark
bemerkte jetzt, dass er noch gar nichts eingeräumt hat, weil er
damit beschäftigt war, sich bei seinem Freund auszuheulen. Er
griff sich den erstbesten Karton und suchte das Fach, um die
Holzschrauben einzuräumen.
„Willst du mich verarschen?“, fragte Mark während er am
Schraubenregal entlanglief. „Mindestens fünf Mal habe ich bei
Bergmann durchklingeln lassen. Festnetz und Handy. Ich sage dir,
der ist extra nicht drangegangen. Der wollte, dass mir so etwas
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passiert. Damit ich aufhöre, ihn wegen der Stelle zum
stellvertretenen Marktleiter, zu nerven. Wie lange bettle ich schon
darum?“
Hasan ließ seine Hand sinken und sah Mark an: „Also erstens
meinte ich damit, du sollst MICH beim nächsten Mal anrufen.
Natürlich hat er deinen Anruf gesehen. Wenn du aber mich
anrufst, kann ich ihm Bescheid geben und dann weiß ich, dass er
es auf jeden Fall weiß. Und du kannst dir dann auch sicher sein,
dass Bergmann über deine Verspätung informiert ist.“
„Wird sowieso nicht mehr passieren. Ab morgen fahr ich um
sieben Uhr los damit ich um neun hier bin. Sowas mache ich nicht
nochmal mit.“, antwortete Mark und fand endlich die Lücke in
dem Fach für 3x40er Holzschrauben. „Und zweitens?“
Hasan dachte kurz nach, dann erhellte sich seine Miene:
„Zweitens: Du bettelst um diese Position schon mindestens zwei
Jahre. Du lässt dich verarschen mein Freund. Der alte Alte hat dir
die Stelle zugesagt. Das haben wir alle auf der Weihnachtsfeier
mitbekommen.“
Mark lachte. „Der alte Alte“ war auch so ein interner Gag
zwischen Hasan und Mark. Damit war der Vater von David
Bergmann bekannt. Harald Bergmann hatte sich, schweren
Herzens, letztes Jahr zur Ruhe gesetzt und seinem Sohn die Firma
überlassen. David Bergmann war den Mitarbeitern von
„Schrauben-Manny“ nur durch sporadisches Auftauchen an
Feierlichkeiten bekannt und somit waren alle überrascht, dass
ausgerechnet er die Firma weiterleitete. Mark zuckte resigniert mit
den Schultern: „Offenbar hat der alte Alte es seinem Sohn nicht
mitgeteilt.“
„Mag sein. Aber du hast es mitgeteilt, ich auch und zwei der
Kassenhilfen auch. Jeder weiß, dass dir die Position zugesprochen
wurde. Hast du ihm das jemals so mitgeteilt?“, fragte Hasan.
Mark schnaubte: „Jemals? Ich habe ihm gefühlt hunderte Mal
damit in den Ohren gelegen.“
Hasan klopfte die Metallspäne, welche immer aus den Schachteln
der Schrauben rieselten, von der Hose. Er deutete auf seine
Armbanduhr und sah Mark auffordernd an: „Dann sag es ihm jetzt
gleich zum hundert und ersten Mal. Es ist fünf vor zwölf. Viel
Glück.“
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-
„Eine Abmahnung?“ Mark konnte es immer noch nicht fassen.
Zugegeben, er hatte bereits im Flur festgestellt, dass sein
bevorstehendes Gespräch keine gute Ausgangslage hatte, als ihm
der Kunde von vor knapp zwanzig Minuten entgegenkam. Das
Grinsen auf dem Gesicht des Kunden machte diesen Eindruck nur
noch sicherer. Aber mit einer Abmahnung hatte nun wirklich nicht
gerechnet.
„Für diese Verständnislosigkeit müsste ich Ihnen gleich noch eine
Abmahnung aushändigen, Herr Sieger.“, schnauzte David
Bergmann Mark an. „Das beweist mir nämlich, dass von einer
Einsicht Ihrerseits nichts zu verbuchen ist. Zudem beweist es mir
auch, dass Sie mir in den letzten Minuten entweder gar nicht oder
nur halbherzig zugehört haben.“
Mark schluckte. Bergmann hatte tatsächlich Recht, Mark war zwar
ins Büro gegangen, hatte sich aber die Vorwürfe seines Chefs
wirklich nur halbherzig angehört. Gedanklich war er bereits wieder
auf der Verkaufsfläche und überlegte, was er heute noch zu tun
hatte. Zudem dachte er noch an den Streit mit Teresa. Gestern
Abend hatte Mark sich nicht von seiner besten Seite gezeigt, hatte
einmal den „Ich-will-das-nicht-Bengel“ heraushängen lassen und
es seiner Frau richtig schwer gemacht.
Er hatte, zu seiner Verteidigung, aber auch wirklich nur damit
gerechnet, seine Verspätung nochmal als Vorwurf präsentiert zu
bekommen. Dass der Kunde von eben tatsächlich beim Chef war,
konnte er sich zu Beginn des Gespräches einfach nicht vorstellen.
Doch genau das war offenbar geschehen.
„Wissen Sie, ich fasse Ihre Vergehen gerne nochmal für Sie
zusammen. Sie werden schnell feststellen, dass Sie mit einer
Abmahnung gut davongekommen sind. Eine fristlose Kündigung
wäre einer adäquaten Reaktion dieser Frechheit naheliegender. Ihre
Verspätung ist schon Grund genug, das können Sie mir glauben.
Aber dann sorgen Sie auch noch dafür, dass Herr Borat sich für
mich ausgibt.“ Herr Bergmann hielt in seiner Ansprache an, um
auf eine Reaktion von Mark zu warten.
Marks Magen krampfte sich zusammen. Er steckte in einer
Zwickmühle. Egal, was passieren würde, er würde Hasan nicht ans
Messer liefern.
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Ich wusste, es war eine blöde Idee dachte er und versuchte seine Mimik
im Zaum zu halten.
Bergmann schien nicht die gewünschte Reaktion in Marks Gesicht
zu entdecken, also sprach er weiter: „Urkundenfälschung?
Identitätsdiebstahl? Schon mal gehört?“
Mark traute seinen Ohren nicht. Er wehrte sich: „Also bitte, Herr
Bergmann. Wir wollten Sie nicht mit dieser Lappalie belästigen
und haben uns diesen Scherz erlaubt. Das war harmlos.“
„Ach so? Meinen Schwager der Lüge bezichtigen und dann den
Kollegen Borat dazu anstiften meine Identität anzunehmen ist also
eine Lappalie und außerdem harmlos?“ Man sah den Triumph
förmlich im Gesicht seines Chefs. Er feierte sich für diese
Offenbarung, das konnte Mark deutlich erkennen. Ihm kam eine
zündende Idee: „Ja natürlich.“
David Bergmann stutzte: „Wie bitte?“
Im Büro herrschte für einen Bruchteil einer Sekunde absolute
Stille.
Marks Gedankten kreisten, formierten sich und schossen ins
Sprachzentrum: „Ja glauben Sie, das hätten wir mit einem Kunden
gemacht, den wir nicht kennen? Wir kennen Ihren Schwager doch
von der letzten Jubiläumsfeier.“
„Weihnachtsfeier.“, korrigierte Bergmann und erkannte im selben
Moment seinen Fehler. Er hatte hiermit praktisch Marks Versuch
angenommen.
Mark strahlte seinen Chef an.
Eigentlich ist das Gespräch jetzt beendet, dachte er, aber lass mich die
Geschichte doch ein wenig aufhübschen.
„Ja genau. Und da war er doch so lustig, Ihr Schwager. Er hat uns
von seinen Streichen erzählt und da haben wir gedacht, er macht
unseren Spaß auch mit.“, erklärte Mark mit Unschuldsmine. „War
das etwas kein Spaß? Hat er wirklich einen Holzbohrer für Metall
benutzt? Ich dachte, er wollte uns einen Streich spielen. Er ist
doch Ingenieur oder was war es nochmal?“
Bergmann hüstelte: „Doch, ist schon richtig. Nun, Herr Sieger. Ich
muss Ihnen das wohl glauben. Dennoch möchte ich Ihnen ins
Gewissen reden. Meine Identität anzunehmen ist kein
Kavaliersdelikt.“
„Ich verstehe das, Herr Bergmann. Ich wäre auch vollkommen
Ihrer Meinung, wenn ich mich als Sie ausgegeben hätte. Aber es
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war eindeutig ein Scherz. Ich mein, Hasan Borat sieht nicht aus
wie David Bergmann, oder?“
Mark wusste nicht, was ihm besser gefiel, das Schweigen oder das
überforderte Gesicht seines Chefs.
-
Marks Laune war ohnehin nicht vielversprechend, als er seinen
Golf auf die Einfahrt seines Hauses fuhr. Als er jedoch feststellte,
dass sein Nachbar mit seiner Frau Kathrin schon wieder im
Wohnzimmer saß und sich mit Teresa unterhielt, sank die
Stimmung Marks noch ein ganzes Stück nach unten.
Was sollte das immer? Es verging kaum ein Abend, an dem die
beiden nicht hier ein- und ausgingen.
Haben die kein Zuhause oder andere Nachbarn, dachte Mark verbissen
und betrat das Wohnzimmer.
„Guten Abend Herr Nachbar, so spät erst zu Hause?“, rief
Dietmar, sprang auf und kam mit ausgestreckter Hand auf Mark
zu.
Mark wechselte seine Arbeitstasche schnell von seiner linken Hand
zu seiner rechten und ließ damit die angebotene Hand Dietmars
„verhungern“.
Nimm dies, dachte Mark und grinste innerlich.
„Hallo zusammen. Tja, was soll ich sagen? Dieselbe Uhrzeit wie
gestern und vorgestern. Öffnungszeiten, was will man machen?“,
antwortete Mark, schlängelte an seinem Nachbarn vorbei und
setzte seine Tasche ab.
Der giftige Blick Teresas hielt Mark nicht davon ab, ihr einen
Begrüßungskuss zu geben. Allerdings war er sich im Klaren, dass
es für diese schroffe Art noch im Anschluss Ärger geben würde.
Man sah Teresa an, dass ihr sein Verhalten unangenehm und
peinlich war.
Selbst schuld, dachte Mark, sie braucht ja nicht ständig Tür und Tor für die
Nachbarn offenhalten. Irgendwann möchte ich mal meine Ruhe haben.
Sollte Dietmar von der verwehrten Hand enttäuscht gewesen sein,
sah man es ihm nicht an. Er ließ seine Hand unverrichteter Dinge
sinken, schlenderte wieder zurück zum Esstisch und setzte sich zu
seiner Frau und Teresa. Mark stand nun wie Trottel im Raum und
ärgerte sich.
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„Tja, wie drück ich mich da immer aus, Kathrin-Maus? Augen auf,
bei der Berufswahl.“, rief Dietmar nun vom Esstisch aus Mark zu.
Und außerdem noch: „Ein Bierchen, Herr Nachbar?“
Bot sein lästiger Nachbar ihm gerade tatsächlich sein Bier an?
Frechheit!
„Nee, lasst mal. Ich geh mal nach den Kindern schauen.“,
antwortete Mark und verließ die „Dreieinigkeit des Dorfes“.
Er musste jetzt den genauen Zeitpunkt abpassen. Teresa war jetzt
schon außerordentlich sauer, das sah er ihrer Mimik an. Wenn er
nun bei den Kindern blieb, bis sich seine Nachbarn
verabschiedeten, würde es richtig Ärger geben.
Er musste es also so abpassen, dass er sich kurz vor dem Aufbruch
der Nachbarn wieder zu ihnen gesellen würde. Das könnte ihn
glimpflich davonkommen lassen. Ein wenig Gemeckere hier, weil
er mit einer miesen Laune nach Hause kam und ein wenig Vorwurf
da, weil er Dietmar so rigoros hatte stehen lassen. Dann wäre es
genug gewesen und Mark könnte damit beginnen, seine
Abmahnung zu beichten. Im oberen Stockwerk angekommen,
öffnete er vorsichtig die Tür zu Danis Schlafzimmer. Das Zimmer
lag im Dunkeln, nur das Licht der seltsamen Katzenlampe erhellte
den Raum spärlich.
Das Dani diese Lampe so liebt, dachte Mark und fröstelte. Es war
eines dieser japanischen Katzen, die ihre Augen so gruselig
aufrissen und permanent winkten. Unheimlich.
Dani hat vor allem und jedem Angst, aber diese Psychokatze lässt sie nicht
nur kalt, nein, sie hängt förmlich an diesem Teil. Mark schloss die Tür
wieder vorsichtig und wendete sich zur Tür von Dennis’ Zimmer.
Dumpf klang ihm bereits auf halbem Weg der Bass eines der
Songs von diesen „durchnummerierten Rappern“ entgegen. Das
sagte Mark immer, um seinen Sohn zu ärgern, „durchnummeriert“.
„Ali471“, „Ufo361“, „Apache 207“ und „Corus 86“ waren solche
Typen. Bevor er in die Höhle seines pubertierenden Sohnes
eintrat, ermahnte sich Mark noch, dieses Mal auf seine Sticheleien
zu verzichten. Zum einen führte das zu nichts und zum anderen
kam Mark sich alt vor, wenn er über den „fehlenden
Musikverstand“ seines Sohnes argumentierte. Marks Vater hatte
ihm nämlich immer Ähnliches vorgeworfen. Mit dieser Erinnerung
im Hinterkopf vergaß er zu klopfen, trat ein und glaubte seinen
Augen nicht zu trauen. Er musste dämlich ausgesehen haben, als
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er mit offenem Mund starrend die nächsten Worte überlegte und
unbeholfen sagte: „Ist das etwa Gras?“
-
Als Teresa bemerkte, dass oben etwas nicht stimmte, musste sie
sich beeilen Dietmar und Kathrin zu verabschieden. Es klang so,
als würde ein Sturm in Dennis‘ Zimmer toben.
Was ist jetzt schon wieder, dachte sie und sendete übelste
Verwünschungen in Marks Richtung. Nicht nur, dass er wiederholt
mit schlechter Laune nach Hause kam und ihre neuen Nachbarn
abweisend behandelte. Nein, er musste natürlich das ganz große
Geschütz auffahren und sich lauthals mit Dennis streiten.
„Möchtest du nicht mal nachsehen, Teresa Süße?“, fragte Kathrin
nun mit Sicherheit zum dritten Mal.
Teresa atmete tief durch und lächelte den beiden entgegen: „Ja, das
mache ich gleich. Das hat auch noch Zeit, wenn ich euch
verabschiedet habe.“
Kapiert es endlich. VERSTEHT MEINE WORTE, schrie sie
gedanklich ihre begriffsstutzigen Nachbarn an.
„Kathrin-Maus, lass uns mal heimwärts gehen.“ Dietmar richtete
sich auf, Teresa seufzte erleichtert. Kathrin blickte noch ein wenig
irritiert, schien im nächsten Moment aber die mehr als deutliche
Situation endlich zu begreifen und stand auf.
„Darf ich dir noch beim Aufräumen helfen, Teresa Süße?“, fragte
Kathrin und verharrte unentschlossen.
„Ich bitte dich, die paar Gläser räume ich später weg.“ Teresa
lächelte Kathrin entgegen und die Verzweiflung wuchs in ihr.
Offenbar beruhigte sich der Streit zwischen Mark und Dennis
nicht, mehr noch, die Lautstärke schien noch zu steigen. Teresa
kam der Verdacht, dass Kathrin nicht darauf bedacht war, Teresa
bei den drei Gläsern zu helfen. Sie schien eher zu befürchten, dass
sie etwas Wichtiges verpassen könnte.
„Komm, mein Schatz.“ Dietmar streckte seine Hand zu Kathrin
aus. „Ich muss morgen früh raus. Sitzung mit der Stadt, du weißt
schon.“
Dietmar wendete sich an Teresa: „Komm doch morgen mal zu
uns rüber. Dann kannst du zur Abwechslung mal unser Gast sein
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und dir auch mal ein wenig Ruhe gönnen. Auch du brauchst mal
Pause von all dem Lärm und Chaos. Bis morgen.“
Dietmar und Kathrin gingen durch die Haustür der Siegers und
ließen Teresa verdutzt stehen.
Das hat er jetzt nicht gesagt, dachte sie, schnaubte entrüstet und eilte
danach zur Treppe nach oben.
-
„Jetzt chill‘ mal, Dad. Das ist das natürlichste, was es gibt und es
beruhigt mich.“ Dennis sagte es zu Mark in einer so
unerträglichen, besserwisserischen Art, dass Mark nach Jahren
nochmal eine Tracht Prügel in Betracht zog. Dabei war es stets bei
dem „in Betracht ziehen“ geblieben. Mark war kein Mensch, der
Streitigkeiten körperlich ausfocht. Aber gerade dieser Moment ließ
ihn erneut bedauern, es nicht einmal mit einem Klaps auf dem
Hintern versucht zu haben.
Er hatte seinen Vater immer für seine Sprüche gedanklich
verwünscht, wenn er sowas sagte wie: „Eine ordentliche Tracht
Prügel hat mir nicht geschadet und dir auch nicht. Du wirst schon
sehen, Mark. In ein paar Jahren tanzen dir beide auf der Nase
herum.“
Hatte er Recht? Niemals. Oder?
Er besann sich eines Besseren und stieg erneut in den verbalen
Kampf: „Komm mir nicht mit deiner belehrenden,
klugscheißerischen Art hier an. Du brauchst mir nicht erklären,
was Marihuana ist und es in den Himmel loben. Es ist illegal, du
bist 14 Jahre und dafür zu jung und dies hier ist ein
Nichtraucherhaushalt. Punkt!“
Dennis sah Mark mit halb geöffneten Augen an.
Der Rapperblick, dachte Mark und biss seine Zähne zusammen.
Seine linke Gesichtshälfte pulsierte. Diesen Blick fuhr Dennis
immer auf, wenn er es auf Provokation anlegte. Darin waren alle,
von Dennis so geschätzten, Rapper gleich. Sie glotzten wie
grenzdebile Vollidioten.
Noch bevor Dennis etwas erwidern oder Mark zu einer weiteren
Argumentation ausholen konnte, flog die Tür auf und Teresa stand
plötzlich im Zimmer.
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„Sagt mal, seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Ihr habt sie
doch nicht mehr alle, so einen Lärm zu machen. Dani schläft
nebenan und wir hatten bis gerade Besuch.“ Nur Teresa, so war
sich Mark sicher, schaffte es flüsternd zu schreien. Obwohl sie
akustisch kaum merkbar sprach, war es als würde sie das ganze
Haus zusammenbrüllen. Eine Kombination von Druck in der
Stimme und ihrer unübersehbaren Wut, die ihr ins Gesicht
geschrieben stand, führte zu diesem Phänomen.
Dieser Abend ist komplett im Eimer dachte Mark noch, bevor er sich
zur Verteidigung rüstete.
Dennis kam ihm zuvor: „Papa kommt einfach so in mein Zimmer
und brüllt mich an. Das ist MEIN Zimmer.“
„Dennis raucht Gras in seinem Zimmer, in MEINEM Haus.“,
verteidigte sich Mark und verfluchte den Zustand, dass er sich
generell verteidigen musste und zudem, dass sich diese Situation
merklich zu einer kindischen Farce entwickelte.
Als ob sich zwei Kinder um ein geklautes Förmchen streiten und Teresa ist die
Mutter, die den Streit gleich beurteilen muss. Unfassbar. Mark fühlte sich
nicht mehr wohl in seiner Haut.
Von dem Moment an, an dem er den Joint bei Dennis bemerkt
hatte, hatte Mark sich vorgenommen Dennis zwar die Leviten zu
lesen, ihn aber nicht bei Teresa anzuschwärzen. Ein „Gentlemen
Agreement“ sollte es werden. Eine stille Vereinbarung, dass dieses
Kapitel geschlossen wird, WENN Dennis sich diesen Fauxpas
nicht nochmal erlauben würde UND er zusätzlich sich wieder ein
wenig mehr innerhalb der Familie einbinden würde.
Der Unterschied war nämlich, dass Mark, so sehr er auch das
Konsumieren illegaler Substanzen ablehnte und verurteilte, ein
wenig mehr Toleranz für solche Experimente entgegenbrachte als
Teresa. Teresa war in dieser Hinsicht intolerant und hochgradig
urteilsbereit. Sie würde Dennis niemals verzeihen, dass er Gras mit
nach Hause brachte und hier rauchen würde.
Und jetzt hatte Mark diese Taktik verschossen, indem er sich auf
das Niveau eines Teenagers einließ. Idiot schimpfte Mark sich
noch, bevor Teresa endlich antwortete und alles, was Mark zu
wissen glaubte, mit Füßen trat. Triumphal mit Füßen trat, musste
Mark sich eingestehen.
„Naja, besser er raucht es hier als irgendwo auf der Straße.“, sagte
Teresa, schaute Mark mit einer Mischung aus Vorwurf und
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Herausforderung an und verließ das Zimmer ihres Sohnes mit
einem genervten Seufzer.
-
Mein Sohn raucht, mehr oder weniger heimlich, Gras in unserem Haus und
ich bekomme es ab, dachte Mark, während er sich sämtliche Vorwürfe
Teresas anhörte. Es schien sich einiges bei Teresa angesammelt zu
haben und sie verstand es, einen Spannungsbogen von Lappalien,
über die schlechte Laune Marks (welche Teresa nervte) bis zur
heutigen Spitze aufzubauen. Die Spitze bestand aus Marks
peinlichem Auftritt seinen Nachbarn gegenüber, gefolgt von dem
lauthalsen Streit zwischen ihm und seinem Sohn, bei dem selbige
Nachbarn ungewollt Zeuge wurden und jetzt auch noch Marks
Geständnis.
„Weißt du eigentlich, was das bedeutet? Eine Abmahnung?“, fragte
Teresa und sie schaffte es wieder, dass Mark sich wie ein
Schuljunge fühlte, der von seiner Klassenlehrerin zum Rapport
gerufen wurde.
Mark wehrte sich: „Entschuldige mal bitte. Ja, natürlich weiß ich,
was es bedeutet eine Abmahnung zu bekommen. Ich bin ja nicht
erst seit gestern berufstätig. Der Bergmann ist ein Arschloch, er
hatte es von Anfang an auf mich abgesehen. Das habe ich dir
schon ein paar Mal gesagt.“
„Ja, hast du, und die einzige Reaktion auf seine Art einzugehen, ist
natürlich ihm fleißig Futter zu liefern und zur Arbeit zu trödeln“,
schnaubte Teresa und schaute Mark herausfordernd an.
Mark seufzte: „Ich habe nicht getrödelt, ich stand im Stau. Aber
bitte, wenn Du meinst.“
Mark drehte sich weg, um sich dem Kühlschrank zu widmen. Er
öffnete die Kühlschranktür und inspizierte den schwindend
geringen Inhalt.
„Das wars?“. Teresa folgte Mark. Offenbar war sie noch nicht
zufrieden.
Mark hielt ein. Verwundert sah er Teresa an.
„Was meinst du? Das wars? Was möchtest du hören?“ Mark
schloss den Kühlschrank unverrichteter Dinge und setzte sich an
den Esstisch. Es bahnte sich ein Streit an, das spürte Mark. Und
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beim ersten Signal von Streit, benahm er sich fahrig und unruhig.
Das mit dem Kühlschrank war nur eine von vielen unnütz
aussehenden Aktionen, die er dann zu tun pflegte. Egal, was er bei
einem Streitgespräch tat, er musste in Bewegung bleiben. Er konnte
nichts dagegen tun.
Teresa nahm sich gar nicht erst die Zeit, um lange zu überlegen.
Sie fuhr gleich die Lautstärke hoch, nicht in Dezibel also nicht
akustisch lauter, sondern in Marks Kopf. Es war wieder dieses „im
Flüsterton schreien“, was Teresa so gut beherrschte.
„Immer dann, wenn es brenzlich wird, gibst du klein bei und lässt
mich wie eine Furie stehen.“, warf sie ihm vor.
„Ich gebe dir Recht, das möchtest du doch?“, hielt Mark dagegen.
Teresa schnappte empört nach Luft: „Ja, das möchte ich. Aber du
gibst mir nicht Recht. Du ziehst dich zurück und lässt meinen
Vorwurf oder mein Argument in der Luft verhungern. Das ist
deine Taktik, Mark. Und diese Taktik ist unfair und gehört sich
nicht.“
Mark stand wieder auf, schritt zum Kühlschrank, um ihn erneut zu
öffnen. Er starrte ins Innere und antwortete ohne Teresa
anzusehen.
„Schön. Und ich finde es unfair in einen Streit einzusteigen,
obwohl ich von Beginn an weiß, dass ich verliere.“ Er schloss die
Kühlschranktür, nachdem er sich eine halbvolle Tüte Orangensaft
geschnappt hatte. Seine erneute Übersprungshandlung wurde ihm
beim erneuten Öffnen der Kühlschranktür und dem Starren
bewusst. Deswegen nahm er sich den Saft, den er nicht mochte, als
Alibi. Um sein Alibi zu unterstreichen, nahm er sich aus dem
Hängeschrank ein Glas und schenkte es halb mit Orangensaft voll.
Er trank in kleinen Schlucken, um die Streitfortsetzung, so gut es
ging, hinauszuzögern.
Teresa sah ihn mit großen Augen an. Sie hatte seine Masche
durchschaut. Trotzdem wurde es ihr nach einer Weile zu
langatmig.
„Und?“, forderte sie Mark auf weiterzusprechen.
„Was und? Also dachte ich mir, ich gebe dir Recht und habe meine
Ruhe. So, wie immer. So, wie bei allen Entscheidungen, die WIR
gefällt haben.“ Mark bereute umgehend den letzten Satz.
Teresa stürzte sich kampfbereit auf seine letzten Worte, wie ein
Raubtier auf seine Beute: „Das habe ich mir gedacht! Ich wusste,
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dass du diesen Umzug nochmal auf den Tisch bringst. Bis zum
Schluss hast du dich dagegen gewehrt. Du weißt genauso gut wie
ich, warum wir das gemacht haben.“
Mark war hin und her gerissen. Er wollte diesen Streit nicht. Nicht
nur aus dem Grund, weil er sich ohnehin ungern stritt, sondern
hauptsächlich, weil er jetzt schon sah, dass dieser Streit ihm keinen
Vorteil brachte. Am Ende des Streites, und es war wirklich nicht
schwer sich davon ein Bild zu machen, stände er als schlechterer
Mensch vor seiner Frau als jetzt.
Was aber stattdessen tun? Wieder zurückrudern? Auch das würde
Teresa durchschauen, wie sie es vor ein paar Minuten schon
bewiesen hat, als es drum ging, dass er Streitgesprächen
ausweichen würde. Er befand sich wortwörtlich ein einer
Sackgasse. Es gab keine Chance, sich heil aus dieser Affäre zu
ziehen. Worte sind gesprochen worden, es gab keinen
Radiergummi oder Tintenkiller, der seine letzten Worte
ungeschehen machen konnte. Es gab nur einen Ausweg, und es tat
ihm beinahe körperlich weh, sich dies einzugestehen. Eine einzige
Möglichkeit.
Er biss gedanklich seine Zähne zusammen und tat das einzig
„Richtige“: „Es tut mir leid, Schatz. Das war dumm. Ich wollte dir
einen Dämpfer geben und habe zu unfairen Mitteln gegriffen.
Natürlich weiß ich, warum wir das gemacht haben und dass es das
Beste für Dani ist.“
Er hasste sich dafür.
„Ui, na, da hast du deiner Frau aber mal die Meinung gesagt. Bin
stolz auf dich.“ Hasan tätschelte Marks Schulter, um seine Häme
gestenreich zu unterstreichen.
Bei jedem anderen, wäre Mark der Kragen geplatzt, aber Hasan
entlockte Mark selbst bei offensichtlichem Sarkasmus und Spott
ein Lächeln.
„Halt die Klappe, du Blödmann“, antwortete Mark und boxte ein
wenig unbeholfen in der Luft.
Hasan hatte heute offenbar richtig gute Laune und ließ seinem
inneren Schelm freien Lauf: „Blödmann? Ui, jetzt hast du mir aber
mal die Meinung gesagt. Nichts hält dich mehr auf, du Fighter!“
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„Mann, jetzt hör schon auf oder möchtest du mich die ganze
Mittagspause lang aufziehen? Da habe ich keinen Bock drauf.
Oder ich erzähle dir so etwas einfach nicht mehr.“ Mark stocherte
lustlos mit seinem Strohhalm im Milchshake herum.
Hasan bedachte Mark noch einmal mit seinem siegessicheren
Lächeln, beugte sich dann aber vor, so dass sich beide
Nasenspitzen beinahe berührten und flüsterte ihm verschwörerisch
zu: „Hey, arkadaş! Als ob du mir nichts mehr erzählen würdest. Du
weißt es, ich weiß es. Ich bin deine einzige Hoffnung in dieser
trostlosen Welt.“
Bevor Hasan den Satz beendet hatte, riss er die Arme nach oben,
sprang in die Höhe und drehte eine theatralische Pirouette, um „in
dieser trostlosen Welt“ angemessen zu unterstreichen.
Gott, er hat verdammt gute Laune dachte Mark und sank peinlich
berührt tiefer in seinem Plastikstuhl.
Das „Subway“ war heute nur spärlich besucht. Die wenigen
Menschen in und um das Schnellrestaurant drehten sich neugierig
zu ihnen um, angezogen von Hasans Laiendarstellung.
Es gab Tage, an denen Mark und Hasan kaum Platz bekamen. Sie
verbrachten immer ihre Mittagspausen hier. Am Anfang holten sie
sich noch Einkäufe vom Supermarkt, und machten dann
gemeinsam Pause im Aufenthaltsraum. Als sich aber die störenden
Anrufe häuften, entschlossen sie sich, die Pause außerhäusig zu
verbringen.
Natürlich, es waren immer nur kurze Anrufe. Jedoch zogen sie
unendlich scheinende Folgedialoge nach sich. Zum Beispiel:
Kasse: „Kannst du mir mal den Preis von dem Akkubohrer
nennen?“
Mark: „Tschuldige Lisa, wir haben mehr als einen Akkubohrer.“
Kasse (mit Stolz in der Stimme): „Es ist ein BOSCH Akkubohrer.“
Mark: „Wir haben auch mehrere Akkubohrer von Bosch. Ruf
doch mal den Feist an.“
Kasse (jetzt im Tonfall maximaler Gereiztheit): „Geht nicht ran!“
Mark: „Dann ruf ihn aus.“
Kasse (jetzt kurz angebunden und schnippisch): „Hab’ ich!“
Mark: „Hast du nicht, ich sitze im Pausenraum. Ich würde das
hören.“
Es endete dann immer damit, dass aufgelegt wurde und knapp eine
Sekunde später das Mobiltelefon von Hasan klingelte.
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Weil Hasan aber ein absoluter Charmeur war und nicht zu einem
Streitgespräch wie Mark bereit war, gab er immer nach und verließ
den Pausenraum, um der Kassendame preislich aushelfen zu
können. Das war dann auch meistens das Ende der Pause, denn
Hasan schaffte es meistens nicht, nochmal zurückzukommen.
Deswegen: Auswärtige Mittagspause.
Mark schaute sich das lächelnde Gesicht seines Gegenübers noch
ein wenig an. Hasan schien lächelnd eingeeist zu sein. Man sah
deutlich, dass Hasan seinen eigenen Gedanken nachhing und diese
recht vielversprechend waren.
„Raus damit!“, forderte Mark nun Hasan auf, ein wenig lauter und
genervter als beabsichtigt. Mark schob schnell sein eigenes Lächeln
nach, um keinen falschen Eindruck zu hinterlassen.
Hasans Blick wurde umgehend klar, er war jetzt wieder ganz bei
Mark.
Begleitet von einem noch breiteren Grinsen, spielte Hasan den
Unwissenden: „Was denn?“
„Komm schon, jetzt tu nicht so. Was ist dir heute Großartiges
widerfahren, dass du so abnormal gute Laune hast? Das Essen
geht doch wohl nicht auf mich heute?“ Mark überlegte einen
Moment, war sich aber sicher, dass nichts dergleichen anlag.
Hasan lachte kurz auf: „Och du, wehren würde ich mich da nicht
sonderlich. Dann bestelle ich mir wohl noch etwas nach.“
„Vergiss es.“, zwinkerte Mark ihm zu. „Dann mal raus mit der
Sprache. Worüber freust du dich so?“
Hasan lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter seinem
Kopf und sinnierte schelmisch in die Ferne: „Türkei!“
„Kenn ich!“, sagte Mark und verbarg durch seine saloppe Antwort
die Ahnung, sich wie eine dunkle Wolke über seine Stimmung
schob.
„Ich auch“, spielte Hasan das Spiel weiter „und genau da werde ich
hinfliegen, mein Bester. Es hat geklappt. Hab den Urlaub doch
zwischenschieben dürfen und kann zur Hochzeit meines Cousins.“
Mark wusste es zwar besser, aber wollte nicht die Hoffnung völlig
aufgeben: „Hast du den Freitag bekommen? Damit du ein langes
Wochenende hast?“
Hasan stutzte, sah Mark lange an und seine Augen verrieten, dass
er Marks Frage durchschaut hatte. Er lächelte, nun
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verständnisvoller und lehnte sich zu Mark: „Arkadaş, ich bleibe
zwei Wochen. Das lohnt sich nicht für ein Wochenende, auch
nicht, wenn es ein langes Wochenende ist.“
Mark rang sich ein Lächeln ab: „Freut mich für dich, wann geht’s
los?“
Hasan zwinkerte ihm zu: „In drei Wochen. Und keine Sorge, die
zwei Wochen gehen um wie im Flug, versprochen.“
Mark lachte kurz auf, er gestand sich ein, dass sein Lachen bitterer
als geplant klang.
Schnell blickte er auf seine Armbanduhr, um der peinlichen Stille
zu entkommen, die unausweichlich auf sie zu schlich.
„Oh Shit, wir müssen noch zahlen. Es ist schon viertel vor zwei.
Wenn wir um Punkt 14:00 Uhr nicht in der Abteilung sind, kann
ich gleich wieder beim Bergmann antanzen.“ Mark sprang auf.
Hasan schaute Mark verständnisvoll an und stand gelassen auf,
schob seinen Stuhl zurück unterm Stuhl und griff nach seiner
Jacke.
„Ist schon bezahlt, mein Freund.“, sagte er und warf sich die Jacke
über. „Ich hab’ dich eingeladen, weil ich wusste, dass meine
Neuigkeiten dich ein wenig aus der Fassung bringen würden.“
Er legte seinen Arm freundschaftlich im Marks Schultern: „Komm
schon, ab in die Drachenhöhle.“
-
Ein paar Tage später saßen Mark und Hasan wieder auf der
Terrasse vom „Subway“, als völlig unerwartet das Handy von
Mark klingelte. Es war Teresa und Mark befürchtete vom ersten
Moment an, dass etwas vorgefallen sein musste, Teresa klang
beunruhigt.
Mark hatte seine Schwierigkeiten, überhaupt irgendetwas aus dem
Wortschwall heraushören zu können.
Wenn er irgendetwas verstehen wollte, musste er ihren Monolog
beenden: „Teresa. Schatz. Ich verstehe wirklich kein Wort. Was ist
passiert?“
Jetzt konnte Mark verstehen, was Teresa sagte. Er lauschte den
hitzigen Worten seiner Frau und blickte sich dabei an dem
fragenden Gesicht Hasans fest. Hasan konnte sehen, wie Marks
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Gesichtsfarbe sich erhellte und sekündlich mehr und mehr einer
Blässe wich.
Nach knapp zwei Minuten legte Mark sein Handy zur Seite und
starrte in den Verkehr, welcher sich auf Schrittgeschwindigkeit in
der City fortbewegte.
Hasan wusste, es muss etwas wirklich Schlimmes passiert sein.
Trotzdem fasste er sich ein Herz und fragte: „Hey mein Freund?
Was ist los?“
„Mein Sohn hat einen Schulverweis.“, antwortete Mark trocken.
Seine Stimme schien zu bröckeln, es war kaum anzuhören.
„Trink einen Schluck, arkadaş.“ Hasan schob ihm seinen halben
Becher Cola zu. Mark hatte seinen schon geleert.
Wie aus weiter Ferne, schien Mark wieder ins Hier und Jetzt
zurück zu kommen.
Er nahm sich Hasans Becher und zog gierig am Strohhalm. Seine
Kehle schien aus Sandpapier zu bestehen.
Nachdem Mark ein paar kräftige Schlucke getrunken hatte, ging es
ihm bereits besser und er konnte wieder einigermaßen sprechen.
„Er hat sich auf dem Schulhof geprügelt.“, sagte Mark und sah
seinem Kollegen traurig in die Augen.
Hasan lachte: „Alter! Na und? Wer prügelt sich nicht in der
Schule? Und dafür gleich einen Verweis? Was ist denn das für eine
Schule bitte?“
Mark besah Hasan mit einem falschen Lächeln: „Er hat sich mit
einem Lehrer geprügelt.“
Hasan war kurz vor dem Kopf gestoßen, dachte kurz nach und
versuchte seinen Humor wieder zu finden.
Bevor ihm das gelang, fügte Mark noch einen weiteren Satz hinzu,
um Hasan zum Schweigen zu bringen: „Er hat sich mit dem
Lehrer geprügelt, weil der ihm sein Gras weggenommen hat.“
-
Mark wusste, als er nach Hause kam, dass es jetzt doppelten Ärger
geben würde. Einmal grundsätzlich wegen Dennis und einmal, weil
er seinen Arbeitstag ganz normal wie üblich beendet hatte.
„Wow,“ kam es gleich vom Flur aus Teresas Richtung „du hast dir
ja ein Bein ausgerissen, um schnell hier zu sein.“
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Sie stand mit verschränkten Armen und blassem Gesicht am Fuß
der Treppe und würdigte Mark keines Blickes.
Doch, es gab hin und wieder einen Blick von ihr, stellte Mark fest
und wünschte sich gleichzeitig, dass sie ihn doch lieber weiterhin
mit Nichtbeachtung strafen sollte. Ihre Blicke waren vorwurfsvoll
und eisig.
Mark dachte nach. Vorsichtig setzte er zu einer Erklärung an:
„Teresa. Schatz. Ich habe vor ein paar Tagen eine Abmahnung
erhalten. Erinnerst du dich?“ Er ging auf sie zu. „Da kann ich doch
nicht gleich für einen halben Tag Urlaub fragen. Das musst du doch
verstehen.“
Teresa blickte ihn kurz an: „Hast du es wenigstens mal versucht?“
Mark war dran, zweifellos.
„Versucht?“, Mark riss seine Arme hoch um seine folgende
Erklärung gestenreich zu unterstützen. „Schatz, da gibt es keinen
Versuch. Wie soll ich es denn versuchen einen halben Tag frei zu
bekommen? Entweder man fragt danach oder man fragt nicht. Ich
habe nicht für einen halben Tag gefragt. Ich möchte nämlich lieber
beim Alten unterm Radar bleiben.“
Teresa verdrehte ihre Augen: „Wie kann man nur so einen Schiss
vor seinem Chef haben. Ehrlich Mark, wir sind deine Familie und
hätten dich heute gebraucht.“
„Ich weiß, Schatz.“, log Mark. In Wirklichkeit hatte Mark kein
Verständnis für Teresas Anschuldigungen. Sie war zu Hause, er war
eine Stunde entfernt auf der Arbeit. Sie hatte keinen Arbeitgeber, sie
war nämlich als Webtrainerin für Marktanalyse ihr eigener Chef. Er
hatte einen Arbeitgeber, der momentan nicht sonderlich gut auf
Mark zu sprechen war. Vielleicht tat er seiner Frau unrecht, aber er
fand, dass, wenn Teresa temporär kein Webtraining abhalten musste,
sie sich sehr wohl um das Wohlergehen von Dani und Dennis
kümmern konnte und auch sollte. Und wenn es Diskussionsbedarf
gab, konnte das auch sicherlich bis zum Abend nach seiner Arbeit
warten.
Die Streitzeremonie der Siegers stellte sich auch dieses Mal als
routiniert heraus. Mark gab nach und sagte Sachen wie „Ich weiß,
Schatz“ und eigentlich signalisierte eine Aussage wie diese die
Resignation Marks. Teresa aber, und darin war sie Meisterin ihres
Faches, lokalisierte in dieses verbale Entgegenkommen Marks gleich
die nächste Angriffsstelle.
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„Na, das ist ja toll. Du weißt es und kommst trotzdem erst abends.
Tja, dann danke ich Dir doch mal von ganzem Herzen.“, sprach
Teresa und schritt energisch zur Küche.
Mit drei großen Schritten war Mark bei ihr. Er versuchte seinen Arm
um sie zu legen, sie schüttelte den Arm ab. Mark kannte das Ritual.
Wie erwähnt, war es eine Zeremonie des Streites, beinahe ein Tanz,
dessen Schritte Mark nach den Jahren der Partnerschaft zu Teresa
studiert hatte.
- Erster Schritt: Umarmungsversuch 1 – Wird abgewiesen
- Zweiter Schritt: Schritt zurück, was sagen – Wird ignoriert
- Dritter Schritt: Umarmungsversuch 2 – Wird rigoros
abgewiesen
- Vierter Schritt: Gegenfeuerversuch 1 (Selbst beleidigt
spielen) – wird vollkommen ignoriert Versuch Abbruch!
- Fünfter Schritt: Entschuldigung 1 – Wird blockiert mit
Aussagen wie „Sagst du jetzt nur, weil…“
- Sechster Schritt: Umarmungsversuch 3 – Wird zaghaft
angenommen
- Siebter Schritt: Auf Teresa einreden während Umarmung 3
noch erfolgreich ist.
Wenn der siebte Schritt vollzogen war, ging es individuell weiter,
aber zumeist mit einer positiven Kapitulation von beiden.
So gut Mark diese Tanzschritte auch kannte und auch wenn sie ihm
so vertraut waren, nutzte ihm dieses Studium an diesem Tag nichts.
Teresa erhöhte ihr Tempo, erreichte die Küche vor Mark und
schloss die Tür, sowohl physisch als auch symbolisch. Hier war
nichts mehr zu holen, der Tanz würde nicht stattfinden.
Mark entschied sich dazu, Teresa zunächst abreagieren zu lassen
und sich seinem Sohn zu widmen, welcher sicherlich in seinem
Zimmer saß und entweder schon bestraft wurde oder auf seine
Bestrafung wartete.
Auf dem Weg zur Treppe spielte Mark mehrere Situationen, die ihn
erwarten würden, durch. Entweder Dennis erwartete Mark mit
vorgestrecktem Kinn, gefeit auf alles, was auf ihn zukommen möge
oder er saß wie ein Häufchen Elend, das Gesicht in seinen Händen
geschützt und am Boden zerstört.
Zweitere Vorstellung wurde von Mark umgehend wieder aus der
Vorstellung gelöscht. Der „neue“ Dennis würde sich nie diese Blöße
geben.
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Wann ist das passiert? Wann haben wir unseren Sohn verloren, dachte Mark
zum wiederholten Male, als er den Fuß der Treppe erreichte.
Es reichte noch zu einem weiteren flüchtigen Gedanken (Dennis
mit Joint in seinem Schreibtischstuhl chillend und seinem Vater die
allumfassende Frage stellend, was denn wohl so gehen würde.)
bevor Mark alle Gedanken, wie die Hoffnung, fahren ließ. Auf
halber Treppe kam ihm Dietmar entgegen, strahlend und
gestikulierend, Mark sollte leise sein. Mit beiden Händen machte er
wischende Bewegungen, die Mark signalisieren sollten, den Rückzug
Trepp abwärts anzutreten.
Mark gehorchte, was ihn später noch mehr ärgerte als jetzt, und
starrte Dietmar mit offenem Mund an.
Dietmar und Mark erreichten das untere Stockwerk und Dietmar
legte seinen kräftigen Arm um Marks schmale Schulter. Väterlich
nahm er Mark ins Gebet: „Der arme Junge ist völlig fertig. Er schläft
jetzt. Kopf hoch, Mark. Ich bin hier der Bürgermeister. Wir
bekommen das schon wieder hin. Kümmere dich mal lieber um
Teresa, es scheint sie mitzunehmen. Und beim nächsten Mal,“ er
schlug Mark freundschaftlich auf sie Schulter „komm einfach etwas
eher nach Hause, okay?“
Sprachs und verschwand durch die Haustür, als wäre er nie
dagewesen.
Mark stand immer noch im Flur, starrend, mit geöffnetem Mund
und völlig überrumpelt.
Nun fand Mark sich im Flur, am Ende der Treppe und lauschte in
die Stille. Wo sollte er hin? In die Küche? Dort saß Teresa und
kochte sicherlich immer noch vor Wut. Mark sah sie förmlich am
Küchentisch sitzen mit einer Tasse Hagebuttentee. Den brühte sich
Teresa immer auf, wenn es ihr nicht gut ging. Zwar war die Teesorte
nicht für seelische oder emotionale Auswirkungen bekannt, aber
trotzdem war es immer dieser Tee, zu dem Teresa griff. Bei Mark
rief der Duft des Tees ein gegensätzliches Gefühl auf. Der Duft
beruhigte ihn keineswegs. Er erinnerte Mark an seine Klassenfahrt
zu einem abgelegenen Ort im Osten, an dem er mit seiner
Schulklasse direkt nach der Wende gefahren war. Diese
Klassenfahrt ist, gelinde gesagt, suboptimal in seiner Erinnerung
verblieben und er fühlte sich durch den Geruch des Tees an die
knapp 10 Tage „Jugendarrest“ ungewollt erinnert.
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Nach oben? Sollte er stattdessen besser Dennis aufsuchen und den
Tag und die Vorfälle besprechen? Was hat Dietmar alles mit Dennis
besprochen? Hatte sein Sohn sein Herz bereits dem Nachbarn
ausgeschüttet und sich damit „leergesprochen“? Dann wäre jetzt
nichts mehr aus Dennis rauszuholen, oder?
Mehr um sich abzulenken entschied Mark sich dazu in Danis
Zimmer zu gehen. Er überlegte, ob er den Tag einfach damit
beenden sollte, indem er sich einfach zu seiner Tochter legt.
Morgen ist ein neuer Tag und der wird frisch besser zu bestreiten sein als heute.
Heute ist alles geschehen und lässt sich nicht mehr reparieren, dachte Mark.
Er zog sich seine Schuhe aus und schlich die Treppe nach oben,
damit weder Teresa noch Dennis hörten, dass er im Haus
umherwanderte.
Vielleicht ist es trotzdem falsch und vielleicht ist es genau diese Art von mir, die
Teresa letztens andeutete, gestand Mark sich ein, als er im oberen
Stockwerk ankam. Vielleicht wartete Teresa just in diesem
Augenblick darauf, dass sie endlich mal zu einem echten Streit kamen.
Ein vor und zurück, ohne Abbruch aber dafür mit einer Aussprache
und einer anschließenden Versöhnung. Mark wusste, dass das
besser wäre, als sich mal wieder aus der Affäre ziehen zu wollen,
aber zeitglich war ihm auch bewusst, dass er sich nicht dazu
durchringen würde.
Mark mochte keinen Streit, das war leider Fakt und ließ sich nicht
leugnen.
Vorsichtig öffnete er die Tür zu Danis Zimmer und hörte sie bereits
im Türspalt ruhig atmen. Mit diesem Geräusch stahl sich umgehend
ein Lächeln auf Marks Gesicht.
Auch wenn es ihm im Alltag nicht bewusst war, war das Geräusch
seines schlafenden Kindes das schönste Geräusch dieser Welt.
Sein selig schlummerndes Kind. Keine Sorgen, keine Probleme.
Einfach nur schlafen, um am nächsten Tag wieder kindliche
Abenteuer zu erleben.
Er tappte auf den Zehenspitzen zum Bett seiner Tochter und sah
sie an. Sie sah aus wie ein Engel.
Er beneidete sie um ihre Sorglosigkeit und zeitgleich beneidete er
auch sich um diesen Moment, der morgen schon wieder vergessen
sein würde. Morgen hätte er wieder seine Sorgen. Seinen Job. Seine
definitive Auseinandersetzung mit Dennis. Morgen würde er nicht
mehr an diesen friedlichen Moment denken.
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Mark wusste das, und der Mark von morgen beneidete den Mark
von jetzt.
Ist schon ganz schön albern, dachte er. Zur selben Zeit fasste er den
Entschluss, sich nicht zu seiner Tochter zu legen.
Er strich Dani ihre Haare aus dem Gesicht, drückte ihr einen sanften
Kuss auf ihre Stirn und verließ genauso leise das Zimmer, wie er es
betreten hatte.
Mark hatte sich entschieden. Er schloss von außen die Tür zu Danis
Zimmer, atmete tief durch und schritt der Küche entgegen.
Auf in den Kampf, dachte Mark bitter und schritt, zum gefühlt ersten
Mal bewusst, einem Streit entgegen.
-
„Und jetzt müssen wir jedes Mal einen Streit vom Zaun brechen?“,
fragte Teresa und zwinkerte Mark an. Sie lehnte ihr Kinn auf
Marks Brust, es tat ein wenig weh, weil ihr Kinn so spitz war.
Trotzdem wagte Mark es nicht, sie darauf aufmerksam zu machen.
Er wollte diesen Moment so lange wie möglich festhalten, niemand
sollte sich bewegen.
Mark lachte als Antwort: „Lieber nicht. Ich wäre dafür, dass wir
immer gleich zur Versöhnung übergehen, statt einen Streit als
Vorspiel zu missbrauchen.“ Mark küsste Teresas Stirn.
Beide schwiegen und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Mark
hatte jetzt, obwohl er den Sex genossen hatte, das Gefühl, dass der
Sex trotzdem nicht das Ende des Streites eingeläutet hatte, sondern
eher eine Art Unterbrechung war, eine Pause. Beide mussten
Dampf ablassen und hatten sich gemeinsam für eine schöne
Auszeit entschieden, da war er sich sicher. Damit das Ende der
Pause auch zeitgleich das Ende des ganzen Streites wäre und er
sich wirklich gut fühlen könnte, wollte er nun einen Schritt weiter
gehen und das Ruder übernehmen.
Kaum vorstellbar, dass es gleich weiter gehen würde oder
bestenfalls morgen.
„Schatz, es tut mir leid. Ehrlich.“, sagte Mark und meinte es
ehrlich. „Ich habe die Situation mit Dennis‘ Verweis nicht richtig
erfasst.“
Teresa schwieg.
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Immerhin liegt ihr Kinn noch auf meiner Brust dachte Mark und
versuchte, seine Brust einen Millimeter weiter zu drehen.
Sie sollte bleiben, wo sie war, aber bitte nur einen Millimeter weiter.
Teresa richtete sich auf.
Verdammt, dachte Mark, zu hoch gepokert.
Teresa sah Mark in die Augen, dieses Mal ohne Wut und Vorwurf,
sondern verständnisvoll.
„Schon gut,“ sagte sie „Du hast ja auch deine eigenen Baustellen.
Mir tut es auch leid, dass ich dich noch zu deinem ganzen anderen
Kram mit häuslichem Scheiß belästige. Der Bergmann hat es auf
dich abgesehen und verweigert deine Beförderung. Und dann
komme ich dir noch mit so einer Geschichte.“
Marks Erleichterung war kaum in Worte zu fassen. Endlich
tauschten sie sich mal aus und siehe da, beide hatten nach wie vor
Verständnis füreinander. Auch wenn Teresa ihm soeben sehr stark
entgegenkam, konnte er es trotzdem nicht so ganz hinnehmen.
„Ja, teilweise hast du Recht, aber ihr seid meine Familie und
kommt an erster Stelle. Ich neige nur leider dazu, das immer
wieder zu vergessen oder es auf zweite Stelle zu schieben.“ Er
setzte sich auf, legte seine rechte Hand auf die Brust und sprach
feierlich: „Ich schwöre, dass ich den jungen Alten von der Arbeit
nie wieder vor euch stelle.“
Teresa lachte: „Du Spinner.“ Sie gab Mark einen Kuss und
schlüpfte aus dem Bett. Mark sah sie verwundert an.
Als sie sich Jeans und Bluse überstreifte, fragte er verwundert:
„Was tust du? Willst du nochmal weg? Es ist schon zehn Uhr
abends.“
„Nur kurz rüber zu Dietmar und Kathrin. Dietmar möchte mit mir
besprechen, wie wir unseren Trottel von Sohn da wieder
rausholen.“ Sie umrundete das Ehebett und gab Mark einen Kuss.
„Bleib nur hier und ruhe dich aus. Vielleicht möchte ich gleich
noch eine zweite Versöhnung.“ Teresa zwinkerte Mark zu und
legte ihre Hand bereits auf der Türklinke.
„Hey, Moment mal!“, rief Mark und starrte Teresa fassungslos an.
Teresa sah Mark groß an: „Was ist?“
Fassungslos versuchte Mark die nächsten Worte zu finden: „Ist das
nicht ein wenig übertrieben, so spät abends noch ein „Kriegsrat“
beim Nachbarn abzuhalten?“
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„Je eher, desto besser.“ Teresa war nur kurz angebunden. Wenn
sie eines überhaupt nicht mochte, dann war es, sich rechtfertigen
zu müssen. Mark wusste das, aber verdammt nochmal, er hatte doch
auch ein Mitspracherecht.
Mark sprach nun vorsichtig, trotzdem musste er was loswerden:
„Dennis ist auch mein Sohn. Sollte ich da nicht mitentscheiden,
wie wir was machen?“
„Das hättest du machen können. Heute Nachmittag. Ich bin in
höchstens einer Stunde wieder da. Bis gleich, Schatz.“ Teresa
verließ das Schlafzimmer.
Mark lauschte den Schritten auf der Treppe nach unten, der
Haustür, die sich öffnete und schloss und der darauffolgenden
Stille.
Eine weitere Geheimwaffe Teresas hatte sich ihm soeben wieder
offenbart: Vorwurf getarnt als Gag.
Und der hatte gesessen.
-
Mark hatte keine Ahnung, wann Teresa von der abendlichen- eher
nächtlichen- Krisensitzung der Familie Husenkamp
zurückgekommen war. Es musste deutlich länger als eine Stunde
gedauert haben, denn Mark hatte sich letzte Nacht im Bett noch
lange unruhig hin und her gewälzt, bevor er endlich einschlief.
Nun saßen alle schweigend am Küchentisch und aßen, jeder
scheinbar in seine eigenen Gedanken vertieft.
Dani schien die Stille deutlich zuzusetzen, weswegen sie zu einer
ihrer Fantasy-Diskussionen griff, welche sie liebte.
„Was will Gargamel eigentlich mit den Schlümpfen?“, fragte sie
und sah jeden nacheinander groß an.
Mark fühlte sich überrumpelt, aber da von Teresa nichts kam und
von Dennis nur ein genervtes Schnauben, entschied Mark, sich auf
die neueste Frage aus Danis kindlichem Kopf einzulassen.
„Was meinst du, Liebes?“, fragte Mark und lächelte seine Tochter
an.
Sie sieht wirklich besser aus. Hat mehr Farbe im Gesicht bekommen. Vielleicht
hatte der Pillendreher doch recht, dachte er beiläufig, während er
versuchte Danis Frage zuzuordnen.
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Dani schien vorab schon zufrieden zu sein, dass sich überhaupt
jemand um ihre Frage kümmerte, Mark konnte es an ihrem eifrigen
Gesichtsausdruck feststellen und freute sich.
Sie schob sich noch eine Gabel Rührei in den Mund, kaute
bedächtig, blickte zur Decke und dachte nach, wie sie ihre Frage
besser ausdrücken konnte. All dies konnte Mark in ihrem Gesicht
lesen. Es ist faszinierend, wie offen eine Kindermimik ist, fand Mark, und
sein Lächeln wurde breiter.
„Naja, Gargamel rennt immer hinter den Schlümpfen her und ist
immer gemein. Die Katze auch.“ Dani blickte Mark erwartungsvoll
an.
„Ja, Anatoll.“, sagte Mark.
„Azrael.“, korrigierte Teresa und grinste. Mark grinste zwinkernd
zurück, signalisierte damit, dass er es extra falsch gesagt hatte, um
Dani aus der Reserve zu locken. Teresa nickte und lächelte ihr
schiefes „Sorry“ Lächeln.
„Du, Schatz. Gargamel ist einfach ein ekliger Zauberer und will die
Schlümpfe fangen, mehr nicht.“, sagte Mark und stand auf, um sich
einen weiteren Kaffee nachzuschenken.
Dani dachte nach: „Was würde er denn machen, wenn er es mal
schaffen würde?“
„Mein Schatz, ich bin mir sicher, dass er es nicht schafft.“ Mark
setzte sich wieder hin und trank einen kräftigen Schluck. Zehn
Minuten noch, dann müsste er los. Sollte er noch versuchen mit
Dennis zu sprechen? Oder lieber heute Abend? Was hatte das
Nachbarskollektiv eigentlich ausgetüftelt? Sollte er sich nicht lieber
vorab darüber informieren?
Was geht das eigentlich diesen Dietmar an?, fragte er sich zum
wiederholten Mal.
Dani war nicht zufrieden: „Aber wenn doch, Papa? Was würde er
dann machen?“
Mark zwinkerte seiner Tochter zu: „Na schön. Wenn Kargamel…“
Dani unterbrach lachend: „PAPA! Der heißt Gargamel.“
„Okay, okay. Also, wenn Gargamel wirklich mal einen Schlumpf
fangen würde, was ich aber nicht glaube, denn dafür ist er zu
dumm...“, sprach Mark weiter und achtete auf eine wohlportionierte
Prise Humor. Dani sollte lachen, aber es nicht zu albern finden und
dadurch aufgeben.
Dani lachte wieder: „PAPA!“
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„Schon gut, schon gut. Also ich bin mir sicher, dass wenn Gargamel
einen Schlumpf fangen würde, dann wüsste er auch nicht, was er jetzt
damit machen sollte.“ Mark lachte Dani an und streichelte über ihre
Haare.
„Sind wir jetzt fertig mit dieser Kinderkacke?“, schnauzte Dennis
über den Tisch.
Stimmt, da war ja noch was, dachte Mark, sah seinen Sohn an und
schaltete auf Krawall. Er entschied kurzfristig.
„Ja, wir sind fertig mit der Kinderkacke.“ Mark stand auf, ging zur
Garderobe und holte seine Jacke. Über seine Schulter sah er zu
Teresa, sie stand kurz vorm Weinen. Dies galt es zu verhindern. Er
nahm seine und Dennis Jacke.
„Hier,“ Mark warf Dennis seine Jacke entgegen. „Mein lieber Mister
Schulverweis, du kommst jetzt mit.“
Alle sahen Mark überrascht an.
„Wohin?“, fragte Dennis mit der größtmöglichen Abneigung in
seiner Stimme. Mark hörte, wie Dennis sich anstrengte, seine
Neugierde zu überspielen, es gelang ihm nicht.
„Na, zu Schrauben-Manny. Zur Arbeit.“, strahlte Mark seinen Sohn
an. „Dachtest du, du kannst dir ein paar Tage Urlaub gönnen? Das
kannst du vergessen. Und auf dem Weg dahin unterhalten wir uns
mal.“
-
„Wo hast du das Zeug her?“ Mark verlor sich gar nicht erst in
großzügigen Startfloskeln, sondern fragte direkt das, was er wissen
wollte.
„Sag ich nicht.“, sagte Dennis und verschränkte seine Arme bockig
auf der Brust. „Ich bin doch kein Snitch.“
Mark verdrehte seine Augen: „Rede nicht so bescheuert, wie diese
dämlichen Rapper, die du pausenlos hörst. Davon bekomme ich
Kopfschmerzen.“
Beruhige dich und bleib mal locker, das hilft nichts, versuchte sich Mark
gedanklich auf den Boden zu holen.
„Snitch heißt Verräter, Papa.“, belehrte ihn Dennis und er klang
dabei wieder furchtbar altklug.
„Ich weiß, was das bedeutet, Dennis. Das ist nicht der Punkt und
das weißt du auch. Du sollst dich einfach nicht permanent so
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benehmen, wie diese Scharlatane, die sich Rapper nennen und vor
allem sollst du dir nicht so eine dämliche Gangsta-Attitüde
zulegen.“ Mark sah Dennis nur kurz an und konzentrierte sich
dann wieder auf die Straße. „Du bist so ein cleverer Kerl, Dennis.
Guck nicht so, ich meine das ernst. Du kannst deine
Klassenkameraden und deine Freunde dreimal in die Tasche
stecken, aber was machst du? Du stufst dich runter und redest und
benimmst dich so dumm wie alle anderen. Das ist falsch und das
weißt du genau.“
Dennis wurde laut: „Du hast keine Ahnung. Du weißt nichts über
mich.“
„Ich weiß alles über dich, Sohnemann. Tut mir leid, dass das nicht
dem Ghettorap-Image entspricht, welches dir immer vorgespielt
wird, aber ich weiß einfach alles über dich. Warum? Weil ich dein
Vater bin und du mein Sohn. Du bist nicht im Milieu
aufgewachsen, du hast ein intaktes Elternhaus und Menschen um
dich herum, die dich lieben. Du machst es einem sehr schwer, aber
wir lieben dich. Das ist zwar schlecht für „Dan the D“, aber
definitiv gut für dich, Dennis.“
Dennis wusste darauf nichts mehr zu erwidern und auch Mark
schien den richtigen Moment verpasst zu haben, um das, was Mark
von Dennis wissen wollte, nein, wissen musste,
herauszubekommen. Der Rest der Fahrt zu „Schrauben-Manny“
wurde deswegen in einvernehmlichem Schweigen zurückgelegt.
-
„Sie können nicht einfach ihren Sohn mit zur Arbeit nehmen, Herr
Sieger.“ David Bergmann schien zu gleichen Teilen amüsiert, wie
auch schockiert zu sein. Mark war unsicher und ärgerlich auf sich,
weil er so kurzentschlossen diese Lektion für seinen Sohn erdacht
hat, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, dass dies beim
Arbeitgeber nicht gut ankommen könnte.
„Kann ich verstehen, Herr Bergmann.“, Marks Gedanken kreisten,
wirbelten und überschlugen sich. Er musste eine geeignete Lösung
finden. Wenn Dennis jetzt den ganzen Tag im Pausenraum sitzen
würde, weil sein Chef es nicht zuließ, dass er einen Tag im
„Schrauben-Manny“ aushelfen durfte, würde sein Sohn sich ins
Fäustchen lachen. Er hätte zwar den langweiligsten Tag seit
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Ewigkeiten, weil er kein Handy, keine Konsole und kein
Comicheft dabeihätte, trotzdem wäre es sein Triumph.
„Können wir ihn nicht einen Tag als Aushilfe betrachten? Ohne
Bezahlung natürlich, das würde ich übernehmen.“, fragte Mark
vorsichtig.
David Bergmann lachte auf: „Wie stellen Sie sich das vor? Das
muss alles versichert werden. Ich muss jeden Praktikanten, jeden
Auszubildenden und auch jede Aushilfe versichern. Das geht nicht
so abrupt.“
Mark versuchte weiter sein Glück: „Und wenn ich ihn nur im
Lager einsetzen würde? Kartons zerkleinern und entsorgen?
Außerdem könnte das Lager mal aufgeräumt werden.“
David Bergmann grinste widerlich: „Hat er Scheiße gebaut, Ihr
Sohnemann?“
Mark antwortete zerknirscht: „Könnte man so sagen.“
„Passen Sie auf: Auch im Lager muss Ihr Filius mit einem Messer
die Kartons zerkleinern. Ich kann das so nicht verantworten.“
Bergmann sah Mark eindringlich an. „Aaaaber, Sie haben Recht.
Das Lager sollte tatsächlich aufgeräumt werden. Da sammeln sich
Rückgaben und Defektware von Wochen. Also, ich lasse Ihren
Sohn das machen, okay?“
Mark strahlte: „Danke, Herr Bergmann, das hilft mir wirklich
weiter.“
Bergmanns Grinsen wurde breiter: „Mit Ihnen, Herr Sieger.“
Mark war sich nicht sicher, ob er das richtig verstanden hatte. Das
konnte unmöglich Bergmanns Ernst sein.
„Ich verstehe nicht.“ Mark schaute seinen Chef unsicher an.
„Sie sagen jetzt Ihrem Kollegen, Herrn Borat, Bescheid. Er soll
sich heute um Ihre beiden Abteilungen kümmern. Sie sind heute
für die Organisation des Lagers verantwortlich. Schauen Sie nicht
so. Das nennt man „Win – Win“. Sie haben Ihren Sohn im Griff
und auch unter Beobachtung und ich habe heute Abend ein gut
organisiertes Lager.“ David Bergmann wendete sich zum Gehen,
eine letzte bissige Bemerkung konnte er sich aber dennoch nicht
verkneifen. „Zumindest hoffe ich, dass ich heute Abend ein gut
organisiertes Lager habe. So, und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich
habe noch wichtige Telefonate zu führen.“ Bergmann ging. Das
hämische Grinsen konnte Mark im letzten Moment dennoch
sehen und er kochte vor Wut.
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-
„Jetzt lass mich das doch einfach machen.“, sagte Hasan, als Mark
ihm den Tagesplan, welcher exklusiv von Bergmann persönlich
erdacht worden war, erklärte.
Mark wusste, dass Hasan so reagieren würde, aber sein Entschluss
stand fest.
„Erstens musst du schonmal nicht meine Schwachsinns-Ideen
ausbaden und zweitens möchte ich mir gar nicht ausmalen, was der
Alte dazu sagen würde, wenn du die Organisation des Lagers gegen
seinen Befehl übernimmst.“ Mark gestikulierte das Wort
„Organisation“ mit in der Luft schwebenden Gänsefüßchen.
Hasan nickte verständnisvoll: „Ja, da bin ich komplett bei dir. Aber
wie willst du dich denn mit deinem Sohn unterhalten? Deine „Du
lernst heute mal zu arbeiten“ – Strategie soll doch ein Ziel haben,
oder?“
Mark dachte nach: „Du hast Recht. Er lässt nichts und niemanden
an sich heran. Ich habe es auf der Hinfahrt schon ein paar Mal
probiert.“
Stimmt nicht, dachte Mark.
„Aber er wollte einfach nichts sagen.“
Das stimmt, dachte Mark.
Hasan sah Mark erwartungsvoll an. Mark sah zurück und wusste
nicht, worauf Hasan hinauswollte.
„Also spricht doch einiges dafür, dass ich mit deinem Sohn
abhänge. Ich bin ein Türke.“, sagte Hasan und grinste sein
breitestes Grinsen.
Mark stand auf dem Schlauch: „Ja? Und?“
„Na der denkt doch krass, dass ich auch Gangsta bin, oder? Real
recognize Real, Digger!“ Hasan klang so bescheuert, dass Mark
losprusten musste. Natürlich kam in diesem Moment wieder
Kollege Feist vorbei und schüttelte den Kopf.
Als würde er es ahnen, dass wir Spaß machen, dachte Mark noch, da
legte Hasan richtig los.
„Hey Feist, Alter. Was guckst du so schräg, Mann. Soll isch disch
heute Abend mal besuchen? Isch bring auch Freundin mit. Die
heißt Kalaschnikow, du Opfer!“ Hasan konnte sich kaum noch
beruhigen und schüttelte sich vor unterdrücktem Lachen. Mark
ging es nicht besser. Er platzte beinahe innerlich vor Lachen, legte
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sich aber als Tarnung eine Miene auf, die eher nach „Biss in die
Zitrone“ aussah.
Feist blieb stehen, sah ungläubig zu den beiden rüber, dachte nach
und kam dann tatsächlich zu den beiden gelaufen.
Zuerst mit zaghaften Schritten, die sich aber immer mehr
verfestigten.
Oh nein, bitte nicht, dachte Mark noch, da stand Feist bereits vor
ihnen.
Kurz angebunden und unfreundlich fragte er: „Was war das?“
Hasan hielt für ein paar Sekunden seinen Blick mit Feist stand,
dann brach es aus ihm raus. Er lachte laut und schlug Feist auf die
Schulter.
„Sorry, Mann. Ehrlich. Wir wollten nur was ausprobieren. Hast du
mir den Gangsta abgenommen? Hast du es geglaubt?“ Hasan
beruhigte sich und sah Feist erwartungsvoll an.
Feist schien nachzudenken. Marks Augen wanderten von Feist zu
Hasan zu Feist, wie ein Schiedsrichter im Tennismatch.
Feist zog eine hässliche Grimasse, die wohl mal ein Lächeln
werden sollte: „Ich dachte, was ist das für ein Idiot. Das habe ich
gedacht. Und weißt du was?“
„Was?“ Hasan lächelte.
Feist verzog sein Gesicht angewidert: „Das denke ich jedes Mal,
wenn ich dich sehe. Egal wann, egal wo!“
Damit drehte er sich weg und schlenderte wieder in seine
Abteilung.
Hasan dachte kurz nach, dann wandte er sich an Mark: „Ich
schlage dir einen Deal vor. Du lagerst heute ein wenig mit deinem
Sohn durch die Gegend, dafür mache ich mit ihm Mittag und
versuche mal etwas herauszufinden.“
„Klingt gut.“, sagte Mark und deutete bereits an zu gehen, um
seinen Sohn aus dem Pausenraum zu „befreien“ und ihn ins Lager
zu begleiten.
Hasan hielt ihn auf: „Das war nicht der ganze Deal.“
Mark hielt überrascht inne und zuckte mit den Schultern: „Okay?
Dann mal her mit dem Rest des Deals.“
„Dafür, dass ich den Tiefen der menschlichen Psyche deines
Sohnes herumbohre, tust du mir einen Gefallen.“ Hasan wartete
ein paar Sekunden, wahrscheinlich der Dramatik zugunsten. Da
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nichts mehr kam und Hasan wohlmöglich eine Art Spannung von
Mark erwartete, kam Mark ihm entgegen.
„Dann mal raus mit der Sprache.“, sagte er „Was soll ich
machen?“
Hasan trat einen Schritt näher und sprach so leise, dass es beinahe
wie ein Flüstern bei Mark ankam: „Komm morgen Abend zu mir.
Wir statten unserem Kollegen Feist einen Besuch ab.“
Mark musste sehr erschrocken ausgesehen haben, denn Hasan
fügte noch rasch hinzu: „Ohne Kalaschnikow, natürlich.“
-
Mark schlug den Kragen seiner Jacke hoch.
Wo bleibt Hasan? fragte er sich nun schon zum wiederholten Mal.
Mark war nicht sonderlich guter Dinge. Der Nachmittag war nicht
so toll verlaufen, gestand er sich ein. Nach der Mittagspause, die
Mark allein verbracht hatte, weil Hasan mit Dennis unterwegs war,
kam Dennis schweigend ins Lager zurück und es wurde auch
weiterhin schweigend aufgeräumt. Kein Wort kam von Dennis
über seine Unterredung mit Hasan. Mark zweifelte streckenweise,
ob es überhaupt ein Gespräch zwischen den beiden gegeben hatte,
wären da nicht die Blicke von Dennis zwischendurch gewesen.
Hin und wieder, wenn sich ihre Blicke trafen, erwischte Mark
seinen Sohn dabei, wie er schuldbewusst zu Boden blickte. Etliche
Male stand Mark kurz davor, das Gespräch zu seinem Sohn zu
suchen, verschob es aber immer wieder. Einerseits wollte er sich
unbedingt mit seinem Sohn austauschen, andererseits befürchtete
er, er könnte dadurch Sachen erfahren, die er eigentlich nicht
wissen wollte und all dies würde zu einem Streit führen, welchen er
heute nicht haben wollte. Seine ganzen Überlegungen führten
letztendlich dazu, dass schneller Feierabend war als erhofft und er
sich in der Situation wiederfand, die Rückfahrt für ein klärendes
Gespräch zu nutzen.
Auch die Rückfahrt stellte sich Minuten später als Sackgasse
heraus. Nach einem kläglichen Versuch Marks fuhr sein Sohn ihm
ins Wort, indem er Mark versicherte, dass er kaum einen
kläglicheren Versuch als den, seinen Kollegen auf ihn zu hetzten,
kennengelernt hatte und er sich seine gewünschten Informationen
doch bitteschön bei Hasan abholen solle. Besiegelt wurde das
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Ende des Gesprächs, indem Dennis sich seine Kopfhörer
(AirPods von Oma geschenkt… einfach so) in die Ohren stopfte
und damit seinem neuesten Idol „UFO361“ das Wort überließ und
zwar so laut, dass Mark jedes grenzdebile Wort des Rappers hören
musste.
Zuhause angekommen stand der nächste Streit schon geduldig
wartend bereit. Teresa freundete sich nicht mit der Idee an, dass
Mark am selben Abend schon wieder nach Köln fahren würde, um
seinem Kollegen bei einer „Sache“ zu helfen. Sie fand es
(vorsichtig ausgedrückt) schade, dass Mark lieber den Abend mit
einem Kollegen verbringen wollte, den er den ganzen Tag lang sah,
statt bei seiner Familie zu sein. Das Mark statt mit dem seinem
„Arbeits-Golf“ mit dem neuen SUV fahren wollte, konnte und
wollte sie auch nicht begreifen. Allerdings räumte sie Mark auch
ein, dass er ja bereits “ein großer Junge” sei und er sich sicherlich
darüber im Klaren sei, was für ihn das Beste wäre. Eine Antwort
hatte sie nicht mehr abgewartet, sondern sich ihrem Handy
gewidmet und Mark stehen lassen.
Und jetzt?
Jetzt stand Mark seit einer halben Stunde auf dem Parkplatz von
„Schrauben-Manny“ und wartete auf Hasan. Sie hatten sich für 20
Uhr verabredet. Hier.
Seufzend griff Mark zu seinem Handy.
Es läutete, doch niemand nahm den Anruf in Empfang. Mark legte
auf, um es direkt danach nochmal zu versuchen. Das Ergebnis war
gleich, niemand nahm ab. Beim dritten Versuch stellte Mark
jedoch fest, dass er nicht nur das Läuten in seinem Lautsprecher
hörte, er hörte auch ein Handy klingeln, ganz in der Nähe. Die
Mailbox von Hasan meldete sich und in dem Moment hörte das
Handy in der Nähe auf zu klingeln.
Mit vorsichtigen Schritten begann Mark. sich dem Klingeln von
vorhin zu nähern. Er wählte erneut Hasans Nummer, hielt sich
jedoch nicht sein Handy ans Ohr. Das andere Handy erwachte
wieder zum Leben, lauter als vorhin. Mark musste sich also dem
Handy nähern.
Was ist da los? Ist Hasan schon hier und versteckt sich, dachte Mark und
ging weiter auf die Geräuschquelle zu. Mit jedem weiteren Schritt
stieg das Unbehagen. Es war Herbst und bereits dunkel und es
gefiel ihm gar nicht, dass er nun im Dunkeln auf dem Parkplatz
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seines Arbeitgebers eine akustische Schnitzeljagd nach einem
Handy nachgehen musste. Hasans Handy korrigierte Mark sich,
denn dass es Hasans Handy war, stand mittlerweile außer Frage.
Er näherte sich der Ecke zum Außenlager von „Schrauben-
Manny“, das Klingeln des Handys war mittlerweile so laut, dass
Mark sich sicher war, dass es sich unmittelbar hinter der Ecke
befinden musste. Hasan zog Mark auf, die Gewissheit überkam
Mark plötzlich und brachte sowohl Erleichterung, als auch Wut
mit sich.
Der lässt mich hier auf dem Parkplatz warten, damit er mit mir so einen
Lausbubenstreich aushecken kann dachte Mark, sprang um die Ecke
und schrie: „Was soll der Scheiß, Du A…“
Es stand keiner hinter der Ecke, kein Hasan und auch niemand
sonst. Auch von einem Handy war keine Spur zu sehen. Auf dem
Boden vor dem großen Tor zum Außenlager stand eine kleine,
schwarze Lautsprecherbox. Sie gab keinen Ton von sich, trotzdem
konnte Mark das statische Rauschen aus dem Lautsprecher
summen hören. Die Lautsprecher waren eingeschaltet. Sie
übertrugen nur momentan nichts.
Mark hielt sich sein Handy ans Ohr.
„…ihr wisst, was zu tun ist, Leute. Sprecht auf die Mailbox oder
nicht und ich ruf zurück oder nicht und zwar sofort.“
Typisch Hasan. Mark legte auf und wählte erneut.
Aus den Lautsprecherboxen erklang wieder das Klingeln von
Hasans Handy.
Was zur Hölle sollte das? Mark legte auf (das Klingeln erstarb aus
den Lautsprechern) und starrte ratlos auf die Lautsprecher. Was
sollte er mit dieser Entdeckung anfangen? Was hatte das zu
bedeuten?
„Wenn Sie Ihren Kollegen wiederhaben wollen, sagen Sie: Ja, ich
will!“ Mark schreckte zusammen, als er die verzerrte Stimme aus
den Boxen vernahm. Gleichzeitig musste er auch widerwillig
lachen.
„Was soll das, Du Arsch!“, lachte Mark und deutete an, gegen die
Lautsprecher zu treten.
Aus den Boxen erklang dieselbe Stimme erneut: „Hey. Ich habe
gesagt, Du sollst JA, ICH WILL sagen.“
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„Komm jetzt raus bitte oder ich mach die Dinger platt. Was soll
das eigentlich?“ Mark drehte sich einmal im Kreis um zu sehen,
wo Hasan sich versteckt hielt.
Hinter den Büschen, die das Außengelände von „Schrauben-
Manny“ und der Straße trennte, schraubte sich Hasan plötzlich in
die Höhe. Er keuchte, streckte seinen Rücken durch, Mark hörte
es deutlich knacken und Hasan schlenderte nun auf Mark zu.
„Ohne Scheiß? Du stehst hier eine halbe Stunde lang herum, bevor
du anrufst?“ Hasan grinste ihn an und Mark sah wieder das
altbekannte Blitzen in Hasans Augen, was immer dann
aufleuchtete, wenn Hasan eine „wirklich gute Idee“ hatte.
Oh Mann, was auch immer Hasan vorhat, es wird auf jeden Fall verrückt
werden, dachte Mark und ging Hasan grinsend entgegen.
-
„Und er hat dir nichts von unserem Gespräch erzählt?“ Hasan sah
Mark immer noch ungläubig an.
Mark biss die Zähne zusammen. Er fand es ja selber peinlich, dass
sein Sohn sich ihm offenbar nicht anvertrauen wollte, musste
Hasan jetzt darauf herumreiten?
„Nichts. Gar nichts. Würdest du mich denn bitte jetzt aufklären?“,
sagte Mark, während er mit dem Lautsprecher bepackt hinter
Hasan hertrottete.
Sie erreichten das Haus von Feist, dem Kollegen, dem Hasan
offenbar einen Streich spielen wollte. Hasan hatte Mark darum
gebeten, ein paar Häuser zurück zu parken, damit Feist niemanden
parken sah.
„Pssst.“ Hasan sah über seine Schulter zurück zu Mark. Als würde
sein Zischen nicht reichen, hob er zusätzlich noch seinen
Zeigefinger an die Lippen.
Mark rollte die Augen und versuchte mit seinen Händen die Frage
zu stellen, wann Hasan ihm denn vom Gespräch mit Dennis
erzählen würde. Es sah eher wie ein epileptischer Anfall, als
gestikulieren, aus.
Trotzdem schien Hasan seine vorgetanzte Frage deuten zu
können.
„Gleich. Versprochen.“, raunte er Mark zu. „Jetzt gib mir die
Lautsprecher.“
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Mark ging in der Hocke auf Hasan zu, fragte sich selber zum
hundertsten Mal, wie alt er sei und überreichte ihm den
Lautsprecher. Hasan unterdrückte ein Prusten, offenbar stellte er
sich schon vor, wie Feist auf seine Planung reagieren würde. Mark
hoffte, dass es wirklich so lustig würde wie in Hasans Vorstellung
und nicht zu einer Katastrophe, die zu jeder Menge Ärger ausufern
könnte.
Er versuchte zu lächeln: „Komm, mach schnell!“
Hasan pirschte vorsichtig Richtung Haustür. Irrte Mark sich oder
summte Hasan tatsächlich die Melodie von „Mission: Impossible“
vor sich hin?
So ein Trottel, dachte Mark, konnte sich ein Grinsen aber nicht
verkneifen. Mark sah, wie Hasan sich umsah, einen Zierbusch
gegenüber der Haustür entdeckte und darin seine Lautsprecher
verstaute. Hasan blickte über seine Schulter zu Mark, grinste und
streckte seinen Daumen hoch.
Er huschte auf demselben Weg wieder zurück und summte
tatsächlich die Melodie des Films.
„Komm weg hier“, raunte er Mark zu und beide zogen sich
zurück.
Sie huschten über die Straße und versteckten sich hinter der
Bushaltestelle, von wo aus sie einen perfekten Blick zur Einfahrt
von Feist hatten.
„Sagst du mir jetzt endlich, was du vorhast? Übertreib es nicht.“
Mark wollte sich nicht ausmalen, was er für einen Ärger
bekommen würde, falls das heute Abend schieflief.
Hasan sah Mark mit einem Augenzwinkern an: „Keine Sorge. Das
wird einfach nur lustig. Feist fährt einen 3er BMW. Weißt du
eigentlich, wie schwierig es war, den Alarmton eines 3er BMW im
Netz zu finden?“
Während Mark noch versuchte, die Worte Hasans zu verstehen,
betätigte dieser einen Button auf seinem Smartphone.
Umgehend wurde die Einfahrt von Feist zu einem akustischen
Höllenfeuer. Ein Alarmsignal schrill so laut, dass es Mark teilweise
in den Ohren schmerzte. Und das alles von diesem kleinen
Bluetooth Lautsprechern.
Hasan schien seine Gedanken zu lesen: „Bose, einfach die Besten.
Mein Schwager arbeitet für die. Bluetooth 3.0, mega Reichweite.
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Wenn du mal was brauchst, sagst du Bescheid.“ Er knuffte Mark
in die Seite und zwinkerte.
In dem Moment erhellte sich das Haus von Feist. Zuerst das
Wohnzimmer, dann der Flur.
Die Haustür wurde energisch aufgerissen und in dem Moment
drückte Hasan erneut auf sein Handy.
Der Ton erstarb. Feist stand auf der Einfahrt. Im Pyjama. Er sah
verschlafen aus und trug eine Art Brett oder Holzleiste mit sich.
Er ging vorsichtig zu seinem BMW, schaute sich um und
umrundete sein Auto ein paar Mal. Unverrichteter Dinge und sich
am Kopf kratzend, schlenderte Feist wieder ins Haus, lugte
nochmal kurz aus der Haustür und schloss sie dann zügig.
Mark vernahm ein Zischen neben sich.
„Cola?“ Hasan streckte ihm eine Büchse entgegen, hockte sich im
Schneidersitz und öffnete eine eigene Büchse. Er trank einen
großen Schluck, machte einen erbärmlichen Rülpser und sah Mark
groß an: „Wir lassen Feist jetzt 10 Minuten in Ruhe, dann wird’s
lustig. Wir haben also genug Zeit für etwas Ernstes. Wir
unterhalten uns jetzt mal über Dennis.“
Mark sank zu Boden, seine zittrigen Hände führten seine Büchse
an seine Lippen. Er nippte. Danach brach seine Welt zusammen.
-
Mark wusste, dass Dennis in irgendwelchen Schwierigkeiten
stecken würde. Allerdings rechnete Mark eher mit Schwierigkeiten
wie „Ärger mit den Eltern“ und „Ärger mit der Schule“ und vor
allem „Ärger mit einer möglichen Anzeige“, weil Dennis einen
Lehrer auf dem Schulhof angegriffen hatte. Dass zu all diesem
offensichtlichen Ärger auch ein Problem außerhalb von „Gesetz
und Ordnung“ inner- sowie außerhäuslich hinzukommen könnte,
lag bis jetzt nicht in Marks Erwartungen und damit fühlte er sich
nun gnadenlos konfrontiert.
„Das kann nicht sein. Wir sind hier doch nicht bei „4 Blocks“ oder
einer anderen Gangverfilmung.“ Mark hatte noch ein wenig
Hoffnung, dass es sich um einen Scherz von Hasan handeln
würde. Gleichzeitig wusste er natürlich, dass Hasans Humor nicht
so grenzüberschreitend funktionierte, wie Mark es sich momentan
erhoffte.
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„Tut mir leid, Mann“, zerschlug Hasan nun verbal die vage
Hoffnung, klickte auf sein Handy und drehte sich schnell zur
Einfahrt zurück. „Runter!“
Mark duckte sich wieder. Die Boxen heulten auf und Sekunden
später stand Feist wieder in der Einfahrt, dieses Mal wieder
angezogen. Offenbar hatte Feist sich vorausschauend wieder aus
seinem Pyjama geschält.
Hat er mit einem weiteren Alarm gerechnet? Weiß er, dass es ein Streich ist?
Marks Gedanken überschlugen sich. Er wollte jetzt seinem
nervenden Kollegen keine Streiche mehr spielen. Er musste mit
Hasan reden und danach dringend mit Dennis.
„Hasan. Lass uns abhauen. Wir müssen über Dennis reden. Ich
hab’ da jetzt keinen Bock mehr drauf.“ Mark richtete sich bereits
auf.
Hasan hielt ihm am Ärmel fest. Er sah Mark eindringlich an.
„Glaubst du, ich lass dich heute Abend hier auftauchen, nur damit
wir diesem Idioten da vorne eins auswischen?“ Hasan hatte noch
nie so ernst ausgesehen. Er sprach weiter: „Wir müssen nicht mehr
über Dennis reden, Mark. Wir müssen etwas unternehmen. Jetzt
gleich. Das hier,“ er deutete mit seinem Kopf in Richtung Einfahrt
„war nur, damit wir vorher noch ein bisschen Spaß haben. Denn
gleich haben wir keinen Spaß mehr.“
Er blickte nochmal zur Einfahrt, in der Feist sicherlich die fünfte
Runde um sein BMW drehte, lächelte noch einmal dünn, wie zu
einem Alibi, und stand auf, als Feist erneut in der Haustür
verschwand.
„Komm, lass uns zu Deinem Auto gehen.“ Hasan schlenderte vor.
-
Es war genau diese „4 Blocks Geschichte“ in die Dennis da wohl
reingeraten war. Mark fuhr und Hasan erzählte.
„Viktor ist einer der schlimmsten Gangster in Köln. Dein Sohn
hat sich an die falschen Typen gerichtet und ist bei ihm gelandet.“
Hasan war ernst, kein Lächeln kam über seine Lippen.
Er fuhr fort: „Viktor Romanov. So heißt er wirklich. Naja, so nennt
er sich wirklich. Mittlerweile gibt es im Kölner Untergrund das
Gerücht, dass Viktor nur vorgibt ein Russe zu sein. In Wirklichkeit
soll er ein Deutscher sein. Wer weiß das schon. Ist auch eigentlich
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egal, denn gefährlich ist er auf jeden Fall. Einer seiner loyalsten
Freunde, praktisch seine rechte Hand, ist Arda Borat.“
Hasan pausierte und schielte zu Mark, nach ein paar Sekunden
nickte er, als hätte Mark etwas gesagt: „Genau Mann. Arda ist
mein Cousin. Deswegen glaube ich, wir haben noch eine Chance.
Wenn ich ihm sage, dass du mein kardeş, also mein Bruder im
Geiste bist, kommt er uns vielleicht entgegen.“
Mark wurde das alles zu viel: „Kölner Untergrund? Sowas gibt es?
Hat dieser Viktor etwas gegen meinen Sohn? Hat Dennis ihm
etwas geklaut? Ist das Zeug von Viktor?“
„Ja!“ Hasan sah Mark unverwandt an. „Zu allem „JA“ mein
Freund. Ja, es gibt einen Kölner Untergrund. Ja, Viktor hat etwas
gegen Dennis. Ja, Viktor fühlt sich von Dennis bestohlen und ja,
das ganze Zeug ist von Viktor. Wenn ich sage „Das ganze Zeug“,
will ich dir gleichzeitig auch mitteilen, dass das bisschen im
Rucksack nur ein klitzekleiner Teil des Stoffes ist. Wir müssen
nochmal zu eurer alten Wohnung. Da liegt der Rest.“
Mark fühlte sich schwindelig, er hatte Mühe das Steuer gerade zu
halten. Er brachte nur gebrochen ein: „Was?“ heraus.
Hasan versuchte zu erklären: „Ja Mann. Dennis wollte sich
scheinbar ein wenig Kohle dazuverdienen. Er und seine Kumpel
haben daraus eine Art Wettstreit gemacht. Wer kann am meisten
Dope und Pillen verkaufen. Koks war da auch bei. Sie haben sich
hochgepusht und irgendwann hat Dennis wohl den Deal
gewonnen.“
Mark versuchte sich zu sammeln: „Gewonnen ist gut.“
„Ja Mann.“ Hasan sah Mark schuldbewusst an.
Als hätte ich ihm das zu verdanken, dachte Mark und war einerseits
voller Angst und Panik und andererseits unheimlich dankbar,
Hasan an seiner Seite zu haben.
Hasan erzählte weiter: „Jetzt ist es so, dass Dennis offenbar einen
riesigen Vorrat von Drogen in eurer alten Wohnung verstaut hat,
aber nicht mehr rankommt, weil ihr umgezogen seid. Und Viktor
denkt, dass Dennis sich mit dem Zeug aus dem Staub gemacht hat.
Er hat Dennis mit Drohanrufen konfrontiert, weswegen dein Sohn
panisch versucht hat, den geringen Teil loszuwerden.“ Hasan
lehnte sich seufzend zurück: „Mein Plan ist jetzt folgender: Wir
fahren zu eurer alten Wohnung. Dennis sagte, das Zeug liegt hinter
einem losen Paneel in seinem Zimmer. Schnappen uns den Scheiß,
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fahren damit zu Arda und Viktor und geben alles zurück. Eine
Tüte fehlt ja, die versuchen wir auszugleichen und dann dürften
wir aus dem gröbsten raus sein.“
„Danke Hasan.“ Mark versuchte sich zu beruhigen, er atmete tief
durch, verließ sich auf die Worte seines Kollegen und Freundes
und plante bereits den Einstieg in die alte Wohnung.
„Dank mir erst, wenn es vorbei ist, akradaş.“
-
„Sie können nicht einfach nochmal in Ihre Wohnung. Es ist nicht
mehr Ihre Wohnung.“ Fritsche sah Mark mit kleinen Augen an.
Offenbar hatte er schon geschlafen oder war kurz davor gewesen.
Skeptisch lauerte er von Mark zu Hasan zu Mark zurück.
Krächzend fügte er noch hinzu: „Erst recht nicht, zu so einer
späten Stunde… und mit dem da.“ Er machte bereits die Anstalten,
seine Haustür wieder zu schließen, als Mark seinen Fuß in den
Türspalt schob. Marks Herz hämmerte. Das sah blöd aus. Das mit
dem Fuß in die Tür machte man einfach nicht. Warum tat er das?
Offenbar dachte das auch sein alter Vermieter, denn er riss
ungläubig seine Augen auf und sah ängstlich auf die beiden späten
Besucher.
Mark beeilte sich mit seiner Entschuldigung: „Tut mir leid, Herr
Fritsche. Ehrlich. Sowohl mein spätes Erscheinen als auch das mit
dem Fuß jetzt. Es ist nur so, dass ich wirklich etwas Wichtiges in
der Wohnung vergessen habe. Ich brauche das heute noch. Ich
wäre nicht hier, wenn es nicht drängen würde.“
Mark sah zu seiner Erleichterung, dass der ängstliche
Gesichtsausdruck aus Fritsches Gesicht verschwand. Die neue
Mimik gefiel Mark aber auch nicht sonderlich, denn Fritsche kniff
seine Augen zu einem skeptischen Blick und fixierte Mark damit.
„Ich war heute noch mit einem potentiellen Nachmieter in Ihrer
ehemaligen Wohnung, Herr Sieger.“, sagte er mit einem prüfenden
Ton.
„Sie meinen wohl mit Ihrem Enkel!“, korrigierte Mark und konnte
sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.
Hasan mischte sich ein: „Ist egal jetzt, arkadaş!“ Hasan richtete
sich zudem gleich an Fritsche: „Herr Fritsche. Mein Name ist
Hasan Borat. Ich bin ein Freund und Kollege von Mark Sieger. Ich
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verspreche ihnen, dass wir nur die vergessenen Sachen abholen
und ihnen den Schlüssel heute Nacht noch einwerfen.“
Fritsche wurde langsam lauter: „Da ist nichts mehr in der
Wohnung! Jedes Zimmer ist komplett geleert.“ Er setzte noch
einen drauf und dieses Mal war es Fritsche, der ein schiefes
Grinsen zur Schau stellte: „Außerdem mussten wir alles nochmal
neu streichen, Herr Sieger. Ihre Adresse ist noch korrekt? Die in
Waldhausen?“
Mark antwortete unwirsch: „Waldesruh!“
Fritsche nickte: „Ja, stimmt. Waldesruh. Ich sende Ihnen
spätestens am Freitag eine Rechnung zu.“
„Herr Fritsche, ich habe alle Räume weiß gestrichen, wie
vereinbart. Ich verstehe nicht.“, sagte Mark, während Hasan
ungeduldig an seinem Ärmel zupfte.
Fritsche zuckte mit den Schultern: „Dann müssen Sie eine andere
Vereinbarung gelesen haben, als die, die ich Ihnen überreicht habe.
Antiallergische weiße Farbe, Herr Sieger. Keine 0815 Baumarkt
Farbe. Und jetzt entschuldigen Sie mich, morgen wird es früh
Tag.“
Er begann die Tür zu schließen und knallte sie vollends zu, als er
sah, dass Mark im Begriff stand, die Tür erneut mit seinem Fuß zu
blockieren.
„Ich werde dir jetzt nicht vorwerfen, dass ich es dir doch gleich
gesagt habe, aber ich hab’ es dir doch gleich gesagt.“ Hasan
schlenderte bereits zurück zum SUV der Siegers.
Wenn wir dieses übertriebene Auto nicht noch abbezahlen müssten, könnte ich
es verkaufen und Dennis freikaufen, dachte Mark, als er Hasan
schweigend folgte.
Hasan stand bereits an der Beifahrerseite und rief ihm entgegen:
„Welche Straße? Mach doch mal auf, jetzt!“
Mark klickte auf seinen Schlüssel, der Wagen blinkte auf, und
antwortete: „Marienplatz 17. Warum?“ Er stieg ein.
Hasan schaute Mark groß an: „Naja. Das Zeug brauchen wir
immer noch, oder? Wir hätten uns die Fahrt hierhin sparen sollen.
Wenn wir jetzt Spuren hinterlassen, weiß der alte Sack da direkt,
wohin er die Anzeige schicken muss.“
„Du willst da einsteigen?“ Mark traute seinen Ohren nicht.
Hasan sah ihn überrascht an: „Nein Mann. Was ist bloß los mit
dir?“
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Mark seufzte erleichtert auf.
„DU steigst ein. Deine alte Wohnung, dein Sohn. Ich steh
Schmiere.“ Hasan konnte sich sein Lachen kaum verkneifen. Und
trotzdem sah Mark, dass es Hasan ernst war.
Mark startete einen kläglichen Versuch: „Dein Cousin?!“
„Netter Versuch, aber vergiss es. Jetzt mach dir nicht ins Hemd.
Ich pass auf, versprochen.“ Hasan schnallte sich an, sah dass Mark
unverrichteter Dinge hinterm Steuer saß, in seinen Bewegungen
erstarrt. „Worauf wartest du?“
-
Es ist ein komisches Gefühl, wieder hier zu sein und zu wissen, dass es nicht
mehr deine Wohnung ist, dachte Mark und blickte die Fassade hoch,
die im Dunklen lag.
Es gab eine Nachbarin, Frau Wessel, die immer einen
Zweitschlüssel im dritten Blumenkasten von links deponierte.
Jeder im Haus wusste das. Als Fritsche davon eines Tages erfuhr,
gab es offenbar mächtigen Ärger und Frau Wessel sah davon ab,
den Schlüssel an gewohnter Stelle zu verstecken.
Mark versuchte trotzdem sein Glück. Wenn der Schlüssel noch
dort liegen würde, wäre er zumindest im Hausflur und könnte sich
dann überlegen, wie er in die Wohnung kam.
Eine Tür nach der anderen, dachte er und wühlte bereits in der
Blumenerde.
Fehlanzeige. Frau Wessel schien immer noch ausreichend
eingeschüchtert von Fritsche zu sein. Mark ärgerte sich. Er sah auf
seine Uhr. 21:35 Uhr. Es ist viel zu spät, um bei irgendjemanden
zu klingeln. Er schlenderte an der Fassade entlang. Einerseits, um
nach eventuellen Möglichkeiten Ausschau zu halten und
andererseits, damit es nicht so auffällig aussah, wenn jemand aus
dem Fenster schauen würde. Ein sich bewegender Mensch im
Dunklen sah weniger verdächtig aus, als jemand der still und starr
am Eingang stand, fand er.
Er schaute hoch zum zweiten Stock, dort wo die ehemalige
Wohnung seiner Familie war.
Wir waren so glücklich in dieser Wohnung und dennoch hat Dennis hier mit
diesem ganzen Mist angefangen. Er konnte es sich immer noch nicht
vorstellen. Dieser ganze Mist, dieses illegale Treiben. Alles unter
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dem Radar von ihm und Teresa? Wie hat er das so durchführen
können? Wann hat er das „Paket“ unter dem Paneel verstecken
können? Als Teresa und Mark schliefen? Unmöglich. Mark schlief
tief und fest, Teresa versicherte ihm einmal, dass ein Flugzeug
neben ihm starten und landen könnte ohne das Mark davon wach
werden würde. Aber Teresa hatte einen sehr leichten Schlaf. Als
Dani noch klein war und ihre Kruppanfälle bekam, wurde Teresa
schon vom ersten schwachen Röcheln wach.
Er hatte es also nicht nachts gemacht. Also…
Mark riss seine Augen auf, er griff sofort zu seinem Handy. Es gab
nur eine Möglichkeit.
„Papa?! Was willst Du?“ Die barsche Stimme seines Sohnes ließ
Mark direkt wieder sein Vorhaben überdenken. Da waren zwei
erwachsene Männer, er und Hasan, die in ein Haus einbrechen,
Drogen aus der Wohnung nehmen wollten, um diese einem
deutschen Gangsterboss, der sich selber einen russischen Namen
gegeben hat, auszuhändigen. Ein völlig wahnwitziges Unterfangen.
Und dann ist da ein 14-jähriger Möchtegern-Gangster, der den
Schneid hat, seinen Vater am Telefon blöd anzumachen.
Bist Du eigentlich bescheuert, fragte sich Mark zum wiederholten Mal.
„Komm mir nicht so rotzig um die Ecke, du Dreikäsehoch, ja?
Hasan und ich versuchen die Scheiße, die du da gebaut hast,
wieder rauszuhauen. Okay? Da ist eine anständige Begrüßung ja
wohl drin.“ Mark hätte ihm den Satz am liebsten in voller
Lautstärke entgegengeschmettert, musste sich aber beherrschen,
weil er immer noch vor der Mehrparteienwohnung lungerte.
Dennis schnappte nach Luft: „Was macht ihr? Papa, halt dich da
raus. Bitte. Du weißt nicht, mit wem du dich da anlegst.“ Dennis
Stimme schien zu versagen. Sie drang nur brüchig und beinahe
jämmerlich durchs Telefon.
Sieh mal an, er ist doch noch ein Kind, dachte Mark und sein
Beschützerinstinkt wurde wider Willen aktiviert. Er riss sich
zusammen und versuchte souverän zu antworten.
„Sagt mein 14 Jahre alter Sohn. Zu mir. Du hättest es dir selber
sagen sollen, als du auf die schwachsinnige Idee kamst, auf diese
Art des Umgangs einzugehen, mein Lieber. Und nur damit das klar
ist, ich lege mich mit niemanden an. Wir bringen diesem Viktor
jetzt das Zeug zurück und gleichen das Fehlende aus. Punkt.“
Mark machte eine kurze Pause. Er hörte Dennis schwer atmen.
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„Papa. Du kannst dem das Zeug nicht einfach so zurückgeben. Es
muss verkauft werden. Das Zeug ist für ihn weg, jetzt braucht er
das dazu passende Geld. Der macht dich fertig, wenn du ihm sein
Zeug wiedergeben willst.“ Dennis begann zu schluchzen. Mitleid
überkam Mark. Er musste ihn wohl oder übel ein bisschen
beruhigen. Nur ein bisschen, die Schuldgefühle sollten ihn trotz
allem noch eine Weile begleiten.
„Hasan kennt diesen Arda. Er ist sein Cousin. Uns passiert schon
nichts. Warum ich anrufe: Hattest du das Zeug tagsüber bei uns
verstecken können? Darüber werden wir uns übrigens noch
unterhalten.“ Mark blinzelte zum Auto zurück, Hasan streckte
seinen Daumen hoch. Alles in Ordnung. Die Luft ist rein.
Dennis stimme drang dünn durchs Telefon: „Ja. Ich habe mir
einen Zweitschlüssel machen lassen.“
„Wann?“ Mark versuchte sich das Wundern abzugewöhnen, es
gelang ihm nicht.
„Als Mama ihren Schlüssel verlegt hatte.“ Dennis klang kleinlaut.
„Hast du ihn hier irgendwo versteckt?“ Mark kniff die Augen
zusammen und lauschte. Er zwang sich, keine Reaktion auf das
rotzfreche Geständnis zu zeigen. Fürs Erste.
„Ja, unterm Tonesel. Papa… Bitte, ich…“ Mark legte auf und
schnitt Dennis das Wort ab. Es fühlte sich gut an. Eine stumme
Bestrafung. Dennis sollte darüber nachdenken, wozu er seinen
Vater gerade treibt.
Der Tonesel also. Mark schlenderte zurück zum Törchen, welches
den Bürgersteig vom Vorgarten des Mehrfamilienhauses trennte.
Irgendwo hier vorne hat dieser Esel immer gestanden. Mittlerweile
war es schon dunkel und Mark wagte es nicht, die Taschenlampe
seines Smartphones zu aktivieren. Da der Tonesel (Mark war sich
nicht mal sicher, ob der Esel aus Ton war) grau war, erschwerte
das die Suche, dennoch hatte Mark nach ein paar Schritten Erfolg.
Es knirschte plötzlich verdächtig unter den Schuhsohlen und das
war der Zeitpunkt, als Mark sich sicher war den Esel gefunden zu
haben.
Mark bückte sich und hob die Scherben aus Ton auf.
Jahrelang hat er hier gestanden. Eine Schande. Ein wenig betrübt schaute
sich Mark die Bruchstücke in seinen Händen an. Dann erinnerte er
sich daran, wie oft dieser Esel aus grauem Ton seine kleine Dani
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geängstigt hatte und empfand das plötzliche Ableben der Figur als
gerechte Strafe.
Zudem, so stellte er erleichtert fest, offenbarte die Zerstörung der
kleinen Skulptur das Innere. Ein Schlüsselring mit zwei Schlüsseln.
Ein Schlüssel für die Haustür und einer für die Wohnungstür.
Mark ging sofort zur Haustür. Einer der beiden Schlüssel passte
und ließ sich drehen. Mark stand im Hausflur, erleichtert. Er zog
seine Schuhe aus, platzierte sie neben der Haustür und schlich in
den zweiten Stock. Seine jahrelange Erfahrung als Mieter in diesem
Haus hatte ihn gelehrt, dass der Hausflur hellhörig war. Er konnte
abends immer hören, wenn und wann jemand nach Hause kam,
jeden Schritt konnte er hören.
Im zweiten Stock angekommen, hielt Mark die Luft an, kniff seine
Augen zu und erwartete, an dieser Stelle nicht weiterzukommen.
Das lief bis jetzt zu glatt. Er war sich sicher, dass Feist die
Schlösser getauschte hatte. Stand das nicht sogar im Vertrag?
Während Mark darüber nachdachte, probierte er allen
Vorahnungen zum Trotz sein Glück. Der andere Schlüssel glitt in
das Schloss, wie ein heißes Messer in Butter. Mark drehte
vorsichtig den Schlüssel und die Tür sprang auf. Unfassbar!
Er beeilte sich, die Wohnung zu betreten und schloss hastig die
Tür. Unvorstellbar, wenn er doch noch von Anwohnern erwischt
werden würde, nur weil er wie ein Reh im Fernlicht vor seiner
ehemaligen Wohnung verweilen würde. Nicht nach dieser
Glückssträhne.
Kurz nach der Freude, kam der Ärger. Das erste, was Mark in
seiner alten Wohnung feststellte war der Geruch.
Strenggenommen, der fehlende Geruch. Er roch nämlich nichts.
Keine frische Farbe. Fritsche würde ihm also eine Rechnung über
Malerarbeiten schicken, die nicht stattgefunden hatten.
Und ich kann es ihm noch nicht mal beweisen, weil ich nicht zugeben darf,
dass ich hier war, dachte er und hätte vor Wut am liebsten geschrien.
Er steuerte gezielt Dennis’ ehemaliges Zimmer an. Die leere
Wohnung stimmte ihn kurz melancholisch, aber er lenkte sich
damit ab, dass er sich ins Gedächtnis rief, etwas zu tun zu haben.
Angekommen im damaligen Zimmer seines Sohnes, begann er
gleich die Wandpaneele abzuklopfen. Nach ein paar
Klopfversuchen begannen wieder Zweifel in Mark
hochzukommen.
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Scheiße, hier klingt ALLES hohl. Wie soll ich genau DIE Paneele finden,
hinter der Dennis das Zeug versteckt hatte? Mark bewegte sich schneller,
klopfte mal hier, mal da. Alles klang gleich. Als er sich dem Fenster
näherte, stutzte er. Er ging drei Schritte zurück. Klopfte.
Natürlich! Die Paneele, die NICHT hohl klingt ist es. Er versuchte die
Paneele, vor der er stand, zu lösen. Es war nicht so leicht, weil die
Wandpaneele ineinander verkeilt waren. Nach ein paar Versuchen
hatte er sie gelöst. Mit dieser Paneele lösten sich gleich vier weitere
und Mark stand nun vor einem beachtlichen Loch inmitten der
Wand des Jugendzimmers. Ein braungrauer Karton, etwas größer
als ein Schuhkarton steckte in einer Art Nische und wartete nur
darauf, abgeholt zu werden.
Ungeduldig öffnete Mark den Karton. Er wusste, dass die Zeit
drängte und das Hasan mit Sicherheit schon ungeduldig im Auto
auf Marks Rückkehr wartete. Trotzdem, er musste es sehen. Ein
bekannter Geruch kam ihm bereits entgegen, als er den Karton
entfaltete. Gras. Hastig öffnete er die Laschen und starrte kurz
darauf auf den Inhalt des Kartons.
Es sah aus, wie ein „Rundum-Sorglos-Paket“ für Junkies. Er
entdeckte eine große, transparente Tüte mit Marihuana. Daneben
lag ein Beutelchen mit weißen, kleinen Pillen. Mark vermutete, es
handelte sich um Speed oder Ecstasy, er kannte sich damit nicht
sonderlich aus. Irgendeine Partydroge, da war er sich einigermaßen
sicher. Dann noch zwei verschiedene Klarsichttüten mit Pulver.
Eines reinweiß, das andere etwas dunkler. Keiner der Beutel und
Tütchen hatte Beschreibungen oder Markierungen.
Mark gefiel der Gedanke gar nicht, dass sein Sohn offenbar diese
Kennzeichnungen nicht nötig hatte. Kannte Dennis sich so gut
damit aus? Mark fuhr es eisig den Rücken hinab bei der
Vorstellung, seinen eigenen Sohn so wenig zu kennen, wie es
offenbar der Fall war.
Er schloss den Karton, klemmte ihn unter den Arm und verließ
die Wohnung so leise, wie er sie betreten hatte.
An der Haustür angekommen, stellte Mark fest, dass seine Schuhe
nicht mehr neben der Haustür standen.
Ulf Rübel. Das muss Rübel gewesen sein. Mark ärgerte sich. Sein
Nachbar, Herr Rübel, war von allen Anwohnern des Hauses
derjenige, der es auch spät abends nicht lassen konnte, für „Recht
und Ordnung“ innerhalb des Hauses zu sorgen. Sei es, dass er
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nachts und lautstark den vergessenen Mülleimer eines Nachbarn
an den Straßenrand zu setzen, oder aber vergessene oder
zurückgelassene Objekte aus dem Flur „sicherzustellen“. Eines
Tages hatte Rübel Danis Lieblingspuppe im Treppenhaus
gefunden und in seine Wohnung mitgenommen. Teresa war das
erst am Abend aufgefallen, und nur weil es Dani auffiel. Es war
eine lange, sehr unruhige Nacht, erinnerte sich Mark. Dani hat
Teresa und ihn um den Schlaf gebracht, weil sie in einer Tour
geweint und gewütet hatte. Als Teresa am nächsten Morgen bei
Rübel klingelte, nur um zu fragen, ob er die Puppe zufällig
irgendwo gesehen hätte, händigte er ihr mit einer Unschuldsmiene
die Puppe aus und versicherte Teresa, dass er es nur gemacht
hätte, damit sie nicht wegkommt. Teresa verkniff sich die
Anmerkung, dass er die Puppe ja auch hätte abliefern können,
bedankte sich nur und ging.
Heute hatte Rübel also offenbar Marks Schuhe „sichergestellt“.
Marks Wut war riesig und sie steigerte sich sogar noch, als er
feststellte, dass seine Wut zu nichts führen würde. Was sollte er
tun? Er konnte nicht bei Rübel läuten. Die Uhrzeit war das eine,
die Nachfragen waren das andere. Mark konnte nicht seinem
ehemaligen Nachbarn Rede und Antwort stehen. Er musste sich
hier und jetzt geistig von seinen Schuhen verabschieden.
Zähneknirschend huschte Mark zu seinem Auto zurück, den
Karton fest unter seinem Arm geklemmt.
„Arkadaş! Das hat aber ganz schön lange gedauert.“, grinste Hasan
ihm vom Beifahrersitz entgegen. Er sah Mark fragend an: „Alter,
wo sind deine Schuhe. Was hast du da oben gemacht?“
Mark starrte Hasan ungläubig an: „Erstens: Es hat gar nicht lange
gedauert, du Depp. Es lief ja wohl wie geschmiert. Das ist immer
noch dieselbe Kippe, die du rauchst und im Auto wird nicht geraucht!“
„Das ist meine dritte Kippe!“
„Echt?“
„Nö!“
Mark schüttelte seinen Kopf, Hasan lachte. Hasans Stärke war es
stets, in den unpassendsten Augenblicken einen Witz zu machen.
Mark stieg ins Lachen ein.
„Aber jetzt mal ohne Quatsch, arkadaş. Warum läufst du auf
deinen Socken herum? Wo sind deine Schuhe?“, fragte Hasan,
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nachdem er sich zu einer erforderlichen Ernsthaftigkeit gezwungen
hatte.
Mark startete den Motor: „Wohin jetzt? Ich erzähle es dir,
während wir fahren.“
-
„Oh Mann, was für eine Gegend. Bist du sicher, dass wir hier
richtig sind?“ Mark schaute skeptisch aus seinem Fenster.
Hasan schnaubte kurz: „Gegenfrage: Sieht es für dich hier falsch
aus?“
Mark sah sich noch ein wenig intensiver um. Sie parkten in einem
Teil von Köln Meschenich. „Der Kölnberg“, so wurde es hier
genannt. Offenbar passierte hier gewerkschaftlich gar nichts.
Entweder, weil es Nacht war und damit alles geschlossen hatte
oder (und das hielt Mark für wahrscheinlicher) weil hier alles
stillgelegt wurde.
Mark kam es vor, wie in einem dieser Krimis oder Thriller, die
Teresa so gern schaute. Die meisten der Straßenlaternen
funktionierten gar nicht, ein paar flackerten und nur hier und da
fiel spärliches Licht von den wenigen funktionierenden
Lichtmasten. Mark kniff seine Augen enger, um besser sehen zu
können. Die Straße war nicht leer, definitiv nicht. Dafür, dass die
Gegend suggerierte, dass hier eigentlich nichts los war, schien ein
emsiges Treiben vonstatten zu gehen. Mehrere Trauben von
Meschen, lungerten an Mauern, sprachen miteinander. Mal laut,
mal leise.
Er entdeckte einen Menschen, der mitten auf dem Bürgersteig lag.
Offenbar reglos. Entweder betrunken, zugedröhnt oder
bewusstlos.
Es ist dieselbe Stadt, in der ich jahrelang gelebt habe. Nur ein paar Kilometer
weiter und trotzdem ist es eine ganz andere Welt. Mark erschauderte.
Er sah Hasan an: „Nein Mann. Leider sieht es hier verdammt
richtig aus.“
Eine kleine Gruppe von Jugendlichen, Mark schätzte sie auf
ungefähr 16 Jahre, näherte sich dem Wagen und starrte ungeniert
ins Innere. Einer aus der Gruppe griff in seine Hosentasche,
entfaltete wirbelnd ein Butterfly-Messer und setzte die
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Messerspitze mit einem herausfordernden Grinsen an der
Motorhaube an.
Hasan raunte: „Bleib ruhig.“
Mark schluckte: „Was machen wir hier, Hasan?“
Die Spitze des Messers fuhr kreischend durch den Lack der
Motorhaube.
Mark riss entsetzt die Augen auf: „Fuck! Was soll das?“
„Bleib jetzt ruhig, arkadaş. Arda, mein Cousin, weiß dass wir hier
sind. Er holt uns ab. Alles wird gut, mein Freund.“
Mark Atem begann zu rasen, er spürte den Puls in seiner
Halsschlagader pochen. Seine linke Gesichtshälfte begann im
Rhythmus seines Herzschlages zu zucken.
Als das Messer am oberen Ende der Motorhaube ankam, hob der
Junge das Messer an und schlenderte hämisch grinsend zur
anderen Wagenseite. Einfallslos und trotzdem überraschend
wirkungsvoll, wiederholte er dort angekommen seine Tätigkeit und
zog sein Messer wieder über den Lack.
Wenn wir heute mit heiler Haut davon kommen, bringt Teresa mich
spätestens morgen um, dachte Mark, als hinter dem Jungen mit dem
Messer plötzlich ein Hüne auftauchte und dem ritzenden
Jugendlichen eine Ohrfeige verpasste.
Der Begriff „Ohrfeige“ ist einerseits richtig (Schlag mit geöffneter
Hand), andererseits verharmloste dieser Begriff das, was Mark
vom Inneren des Wagens zu sehen bekam. Diese Ohrfeige wurde
mit solch einer Wucht ausgeführt, dass der Jugendliche vom einen
zum anderen Moment nicht mehr zu sehen war. Der Rest der
Jugendbande erstarrte.
„Arda iyki burdasın seni gördüğüme mutlu oldum.“ Hasan klang
erleichtert und lächelte den Hünen an.
Der Hüne, offenbar Hasans Cousin Arda, beugte sich über die
Motorhaube und stierte ins Innere.
Seine Stimme war tief: „Kommt raus!“ Er richtete sich wieder auf
und schaute wortlos den Rest der Gruppe von Jugendlichen an.
In die Gruppe kam Bewegung. Als Mark mit Hasan aus dem
Wagen stieg, sah er, wie zwei der Jugendlichen den stark
benommenen „Messerkünstler“ vom Bürgersteig aufhoben und
zusammen mit dem Rest der Bande das Weite suchten.
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„Was wollt ihr hier?!“ Arda richtete sich nun an Mark und Hasan.
Dafür, dass sie verwandt waren, klang die Stimme Ardas kein
bisschen herzlich. Noch nicht mal freundschaftlich.
Hasan lachte, allerdings klang sein Lachen nervös, stellte Mark fest:
„Arda. Kuzenim. Seni görmek için bir nedene ihtiyacım var mı?“
Arda starrte Hasan an: „Sprich deutsch mit mir! Hier sind alle
Sprachen, alle Länder und Herkünfte versammelt. Außerdem
brauchst du nicht zu glauben, dass ich gnädig mit dir bin, nur weil
du mich in meiner Muttersprache ansprichst, Hasan.“
Mark wusste nicht, ob und wie er etwas sagen sollte. Gedanklich
ging er einige Gesprächsmöglichkeiten durch, doch ließ alle
Varianten augenblicklich fallen und entschied sich dazu, erstmal im
Hintergrund zu bleiben.
Läuft doch gut, redete er sich ein und stellte fest, wie dämlich das
klang.
„Arda, warum sprichst du so mit mir? Habe ich dir etwas getan?“
Hasan ging ein paar Schritte auf Arda zu, Arda verlagerte seine
Haltung und sah aggressiv aus. Hasan blieb stehen: „Meine Fresse!
Was ist los mit dir? Ich bin’s Hasan. Ich versteh gar nichts mehr.“
Ardas riesige Hand fuhr plötzlich zu Hasans Kragen, Mark konnte
es nicht fassen, dass so ein Koloss sich so schnell bewegen konnte.
Mark schnappte nach Luft, er öffnete die Hintertür seines Wagens
und nahm den Karton vom Rücksitz. In dem Moment, als Mark
den Karton als „Ablenkung“ zwischen Hasan und Arda platzieren
wollte, schrie Arda Hasan ins Gesicht, welches nur knapp zwei
Zentimeter von Ardas Gesicht entfernt war.
„Du hast mir meine DJ BOBO CD nicht zurückgegeben, du
Arsch!“
Während Mark noch versuchte, das Gehörte zu sortieren, lagen
Arda und Hasan sich bereits in den Armen und lachten. Mark
stellte fest, dass Hasans Lachen durchaus hysterisch klang. Hasan
benahm sich zwar so, als wäre es das übliche und typische
Begrüßungsritual, was sie schon immer so zelebrieren würden,
aber sein Lachen verriet ihn. Er hatte nicht die geringste Ahnung,
was das eben war. Mit dieser Erkenntnis verringerte sich Marks
Nervosität kaum.
„Also, was macht ihr hier? Wer ist das?“ Arda klang nun
tatsächlich weniger aggressiv und nahm auch eine lockere Haltung
an. Mark atmete auf.
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Hasan sprach ruhig: „Wir müssen Viktor sehen, Arda. Wir müssen
ihm etwas zurückgeben. Kannst du uns zu ihm bringen?“
Arda riss seine Augen auf: „Bist du verrückt? Niemand Fremdes
fragt einfach so nach Viktor. Wenn ich zu ihm gehe und sage, dass
da zwei Typen sind, die nach ihm fragen, was glaubst du, was er
dann denkt? Zivilbullen, natürlich.“
Hasan starrte seinen Cousin fassungslos an: „Du sagst ihm
natürlich, dass einer davon dein Cousin ist.“
„Einen Teufel werde ich. Wer weiß, was du für Schwierigkeiten
mitbringst? Ich kenne dich, hala kızı. Du bringst Ärger.“ Arda
zwinkerte Hasan trotz seiner harten Worte zu.
Mark ging einen Schritt nach vorne: „Sag ihm, Dennis Vater ist
hier und bringt das Zeug zurück!“
Überrascht sah Arda Mark an. Seine Blicke wanderten von oben
nach unten.
„Verstehe. Sieger Senior ist da und hat seine Schuhe unter seinem
Bett vergessen.“
-
„Also nochmal,“ Arda drehte sich zu den beiden, während sie
einen Flur in irgendeinem der riesigen Gebäude entlangliefen. „Am
besten redet ihr so wenig wie möglich. Den Grund eures Besuches,
so bescheuert er auch ist, kann man ja ein einem Satz erklären. Es
ist nur so… Viel Gelaber, als viel „blabla“ macht Viktor wütend
und ihr wollt keinen wütenden Viktor sprechen, das garantiere ich
euch.“
„Ich danke Dir, hala kızı.“ Hasan sah eingeschüchtert aus, fand
Mark. Seltsamerweise spürte er in sich mehr eine Art Neugierde,
statt Angst. Natürlich, auch er war nervös und aufgeregt, zudem
hatte er das Gefühl, dass er noch nie zuvor so kalte Füße gehabt
zu haben. Nasskalt, korrigierte sich Mark gedanklich. Es gab auf
der ganzen Straße nur eine einzige Pfütze, Mark hatte das
(nachdem er in genau diese Pfütze getreten war) nur zu seiner
Bestätigung überprüft.
Arda hielt vor einer Wohnungstür: „Dank mir nicht, Hasan. Das
ist Wahnsinn, was du hier tust. Sieh dich vor, ich warne dich. Halte
bitte deine lockere Zunge in deiner Kontrolle, hala kızı. Das ist
mein letzter, guter Rat.“
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Arda wand sich ab und schlenderte den Flur zurück.
„Kommst du am Wochenende zum Grillen? Alle Borats
kommen.“, rief Hasan seinem Cousin hinterher.
Arda drehte sich um. Er grinste: „Worauf du einen lassen kannst,
mein Lieber. Danach Shisha-Bar?“
Hasan schien erleichtert und das konnte Mark gut verstehen: „Söz!
Auf jeden Fall!“
Als Arda aus dem Flur verschwunden war, richtete sich Hasan an
Mark: „Pass auf, mein Freund. Am besten sagst du gar nichts und
lässt mich reden, okay?“
Mark atmete tief durch: „Ich werde jetzt sprechen, Hasan.“ Er
legte seine Hand kurz auf Hasans Schulter und zwinkerte
aufmunternd. Mark hatte nicht die geringste Ahnung, woher diese
plötzliche Zuversicht kam, aber sie war da. Mark war nervös, da
gab es keinen Zweifel. Aber Angst? Nein, Angst war nicht zu
spüren.
Er klopfte kräftig an die Wohnungstür. Nach einer Weile hörte
Mark eine Stimme, die desinteressiert, ja beinahe gelangweilt klang:
„Komm rein.“ Mark drückte die Klinke nach unten und trat ein,
dicht gefolgt von Hasan.
Das Innere der „zweckentfremdeten Wohnung“ entsprach
komplett dem, was Mark aus Filmen und Serien kannte. Sie sah
verranzt aus, teilweise. Eine Tapete suchte man in dieser Wohnung
vergebens, hier und da zeugten Fetzen davon, dass es mal so etwas
wie Tapeten in dieser Wohnung gegeben hatte. Die Wände hatten
Löcher, aus denen der Putz rieselte. Der Boden, wenn man
zwischen all den Pizzaschachteln und anderem Überbleibsel
überhaupt einen Boden erblicken konnte, war alt, modrig und
verlebt. Zum Kontrast zu der verlotterten Wohnung, erblickte
Mark in sämtlichen Räumen, an deren Türen er vorbeiging,
Fernsehgeräte, Konsolen und Sofas auf denen Kids, Jugendliche
und Erwachsene herumlungerten und zockten oder mit ihrem
Handy beschäftig waren.
Dennis war auch hier gewesen! Diese Gewissheit gab ihm einen Schlag
in die Magengrube. Er wird sich hier nie wieder blicken lassen, dachte er
und richtete nun seine Aufmerksamkeit auf einen Mann, der
mitten in dem größten Raum der Wohnung saß. Wahrscheinlich
war es das ehemalige Wohnzimmer.
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Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, welcher mit Sitzkissen
und Teppichen in einem Kreis ausgelegt war. Vor sich hatte er eine
Shisha stehen, aus der permanent Dampf entstieg.
Auf dem aus Kissen und Teppichen hergestellten Kreis saßen und
/ oder lungerten noch ein paar Leute. Alle zogen und pafften
abwechselnd an der Wasserpfeife und starrten wort- und
regungslos auf ihre Smartphones.
Der Mann im Schneidersitz, den Mark als Viktor vermutete,
schaute nur kurz auf, um danach mit seinen Augen wieder in den
Tiefen seines Handys zu verschwinden. Unwirsch hing Mark für
den Bruchteil einer Sekunde seinen Gedanken nach.
Was mag so ein „Drogenboss“ wohl für einen Accountnamen bei Instagram
haben? „kaufeDrogen@Viktor“?
„Du hast keine Schuhe an!“ Diese Feststellung kam von dem
Mann im Schneidersitz.
„Das stimmt!“ Mark freute sich über seine feste Stimme. Er hatte
weder Angst, noch fühlte er sich Adrenalin-getränkt. Er fühlte
sich, wie sollte er es nennen, souverän und, ja, unbeeindruckt. Er
hielt das ganze Szenario für nichts weiter als eine Farce.
Der junge Mann im Schneidersitz blickte auf: „Warum nicht?“
Mark schnaubte: “Weil ich sie in meiner ehemaligen Wohnung
verloren habe. Du willst jetzt auch sicherlich wissen, warum ich
dort war, in meiner ehemaligen Wohnung.“ Mark drehte auf, Wut
mischte sich in seine Worte. „Ich war dort, um das hier
abzuholen.“ Mit diesen Worten warf Mark den Karton in den
Kreis. Um ein Haar hätte er die Shisha getroffen. Hasan begann an
Marks Jacke zu zupfen, doch Mark ließ sich nicht beirren. Er war
zu tief drin in seiner Wut. Er schien das ganze Szenario auf der
Straße, die Jungs, die mit einem Messer Marks Auto traktiert
hatten, die offene Brutalität Ardas, vergessen zu haben. Mark fuhr
fort: „Das ist das Zeug, das du meinem Jungen mitgegeben hast.
Er sollte es für dich verkaufen. Nun, Überraschung: Das wird er
nicht tun. Warum? Weil ich es sage. Ich bin sein Vater und erlaube
es nicht, verstanden? Ich komme dir entgegen. Ich gebe dir den
ganzen Scheiß zurück und du sagst mir, was fehlt und wieviel du
dafür haben willst. Das zahle ich dir aus und dann werden wir uns
nie wiedersehen. Okay? Die Alternative, also falls du nicht in
meinen Deal einsteigen möchtest sieht so aus, dass ich mir den
Karton wieder nehme…“
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„Welchen Karton?“ Die Stimme kam von der Seite, aus einer Ecke
des Zimmers, die Mark zuvor nicht beachtet hatte.
In der Ecke stand eine Sitzgruppe aus Leder. Aus dem mittleren
Sessel schraubte sich in diesem Moment ein Mann in die Höhe,
der in Anbetracht der anderen „Bewohner“ der Wohnung
deplatziert aussah.
Er war groß, breit und muskulös. Das sah Mark sogar durch das
silbrige Sakko, welches der Mann trug. Er ließ sein Feuerzeug
aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.
Mark erkannte seinen Fehler sofort. Das war Viktor!
Mark blickte zurück zum Mann an der Shisha. Mark stellte
zweierlei fest. Erstens, der Mann an der Shisha grinste und
zweitens: Der Karton war weg.
„Also? Was kann ich für dich tun?“ Der (echte) Viktor streckte
Mark seine Hand entgegen. Mark nahm sie, er hatte einen festen
Druck. Mark schielte zu Hasan, in der Hoffnung, dass er eine
zündende Idee habe. Hasan zuckte mit den Schultern.
Mark räusperte sich: „Nun, ich bin hier, weil ich dir den Karton
mit deinem Zeug zurückgeben muss.“
Viktor bedachte Mark mit einem triumphalen Grinsen: „Welchen
Karton?“
Mark wusste nicht, was der Auslöser war. War es das
wiederkehrende Zucken in seiner linken Gesichtshälfte, was ihn
mittlerweile rasend machte? Waren es die fehlenden Schuhe, die
neben der Peinlichkeit und der Blöße, auch dafür sorgten, dass
Mark eisige Füße bekam? War es die späte Uhrzeit, kombiniert mit
dem Wissen, dass er morgen schon wieder früh raus musste, um
sich nicht erneut zu verspäten? Vielleicht war es auch nur der
Geduldsfaden, der gerissen war, weil Dennis’ Verhalten und
dessen Konsequenzen Mark gehörig gegen den Strich ging?
Irgendetwas in Mark schien sich dafür entschieden zu haben,
jegliche Angst und jegliche Vorsicht abzulegen und „Nägel mit
Köpfen“ zu machen.
„Er stand da!“ Mark schritt hinüber zum Sitzkreis und deutete auf
die Mitte. „Genau hier und das weißt du ganz genau. Du kannst
vielleicht deine ganzen Lakaien mit deinen Taschenspieler-Tricks
beeindrucken, mich aber nicht.“
Mark hört Hasan scharf die Luft einziehen und für den Bruchteil
einer Sekunde schien Hasans Panik auf ihn überzugehen. Mark
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richtete sich auf und streckte seinen Rücken. Er wollte sich damit
ein wenig Zeit verschaffen, um danach mit gut gezielten Worten
fortzufahren und nebenbei verlor er auch wieder die
aufkommende Panik. Danach fühlte er sich besser. Seine Panik
zog sich zurück. Sie war nicht verschwunden, das spürte Mark. Sie
lauerte irgendwo tief in ihm, um jederzeit nach vorne zu schießen.
„Also, ich wette, Mister Wasserpfeife…“ Mark deutete auf den
Typen im Schneidersitz „…hat den Karton irgendwo hingeschafft.
Wie dem auch sei, ist nicht mein Problem. In dem Karton ist fast
alles, was ihr meinem Sohn zum Weiterverkauf ausgehändigt habt.
Ohne meine Einwilligung, möchte ich hier mal betonen. Es fehlt
nur eine Tüte Gras. Marihuana, meine ich. Das hat Dennis
versucht zu verkaufen und ist auch gleich erwischt worden.“
Mark machte eine kurze Pause und beobachtete sein Publikum.
Mittlerweile waren alle Nischen und alle Zimmer in der verfallenen
Wohnung leer und alle versammelten sich in dem ehemaligen
Wohnzimmer. Einige machten Drohgebärden und spielten sich
auf, aber die meisten schauten neugierig zu. Hasan hatte sich
mittlerweile zu ihm gesellt. Er zupfte an Marks Jacke.
„Ich habe eine Frage, arkadaş.“, flüsterte er. „Bist du eigentlich
total bescheuert, so mit ihm zu reden?“
„Halt dich einfach bedeckt, ich mach das schon.“, raunte Mark
zurück. Mark wand sich an Viktor: „Hast du eine Zwischenfrage,
einen Kommentar oder soll ich einfach fortfahren?“
Viktor grinste: „Sprich weiter.“ Er ließ sein Feuerzeug aufflammen
und löschen. Aufflammen und löschen.
„Okay. Also hier mein Vorschlag: Ihr nehmt den Karton zurück,
überprüft den Inhalt und sagt mir, was fehlt. Keine Verarsche,
okay? Ich weiß, dass Dennis nur die Tüte Gras versucht hat zu
verkaufen, also braucht ihr mir nichts von anderen Suchtstoffen zu
erzählen. Das, was fehlt, werde ich euch auszahlen und das wars.“
Viktor schlenderte zu Mark hinüber und strich dabei unentwegt
über sein Kinn. Es sollte wohl grüblerisch aussehen, aber Mark
stellte fest, dass es äußerst dämlich wirkte.
„Nun, ich muss schon sagen, du hast Mut, Herr Sieger.“ Viktor
sah Mark herausfordernd an. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen
und löschen. Aufflammen und löschen.
Mark lächelte matt: „Mark reicht vollkommen. Ich denke, wir
können uns jegliche Formalität sparen.“
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Viktor lachte: „Gut, gut, Mark also. Nun, ich muss dich
enttäuschen, Mark. Dein Sohn war ein blendender Verkäufer,
zumindest als er noch in Köln unterwegs war. Jetzt lässt seine
Euphorie zu wünschen übrig.“
Etwas Großes bahnte sich an, Mark spürte es. Sein Hals begann
trocken zu werden, er schluckte. Seine innere Panik hielt sich
bereit, wie ein Raubtier, das seine Beute entdeckte.
„Dieser Karton.“ Viktor unterbrach sich und richtete sich an den
Typen an der Wasserpfeife. „Gib ihn mir.“ Er ließ sein Feuerzeug
aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.
„Welchen Karton, Boss?“, grinste der Typ Viktor an.
Mark wusste nicht, wie er richtig darauf hätte reagieren sollen, was
sich nun vor seinen Augen abspielte.
Mark hatte schon unzählige Actionfilme gesehen. Filme, in denen
Gewalt und Brutalität in epischen Bildern zelebriert wurden und in
denen es immer cool aussah, wenn jemand erschossen oder
verprügelt wurde. Die Realität jedoch…
Viktor machte nur einen Schritt zu dem Typen vor der Shisha. Er
trat dem auf dem Boden sitzenden Menschen von der Seite gegen
den Kopf.
Der dumpfe Schlag und das begleitende Knirschen waren das
hässlichste Geräusch, das Mark jemals gehört hatte. Marks Magen
schien sich in dem Moment um die eigene Achse zu drehen.
Der junge Mann verdrehte seine Augen, ließ das Mundstück der
Shisha fallen und kippte ohne ein weiteres Wort zur Seite.
Die Stille, die sich in der Wohnung verbreitete, gesellte sich zu
dem dumpfen Schlag und dem Knirschen in dieser gesamten
Kombination zum Repertoire der „hässlichsten Geräusche“.
Viktor sprach zu dem reglosen Mann, als ob er sicher wäre, dass er
es noch hören könnte: „Du willst mich verarschen, Torben? Mich?
Da musst du früher aufstehen.“ Er ließ sein Feuerzeug
aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.
Viktor bückte sich und griff unter das Sitzkissen, das bis eben
noch von dem Typen, offenbar Torben, besetzt war. Er holte den
Karton von Mark hervor.
Er starrte Mark an, nachdem er den Inhalt des Kartons inspiziert
hatte: „Das ist einer von vier Kartons, Mark. EINER von
VIEREN. Wo sind die anderen Kartons oder noch besser: Wo ist
mein Geld?“
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-
„WO IST DAS GELD?!“, brüllte Mark in sein Handy, während er
mit Hasan und Torben durch die Innenstadt Kölns jagte.
Torben lag bewusstlos auf der Rückbank. Hasan, blass wie ein
Eimer voller Kalk, saß auf dem Beifahrersitz, den Blick
abwechselnd auf Torben und zur Straße gerichtet. Mark fuhr
schnell, zu schnell. Aber es ging schließlich um Leben und Tod,
oder?
Viktor hatte ihnen erlaubt zu verschwinden, um nach den
restlichen drei Kartons zu suchen. Noch lieber wäre es Viktor
gewesen, dass sie nicht die Kartons, sondern das Geld, also den
Erlös finden und ausliefern würden.
Nebenbei hatte er auch von Mark und Hasan verlangt, den
„hoffentlich-nur-bewusstlosen“ Torben mitzunehmen und ihn
irgendwo abzuliefern.
Mark hatte einen Puls gefühlt, aber nur schwach und Mark kannte
sich auch nicht mit der Intensität, wie ein Puls zu schlagen hat, aus.
Am Telefon war nun sein selten dämlicher Sohn und auf ihn war
Mark besonders schlecht zu sprechen. Aber er musste mit ihm
sprechen.
„Was? Hey, Alter, es ist mitten in der Nacht. Was los mit dir?“,
rotzte Dennis in seiner unnachahmlichen, pubertierenden Stimme
Mark entgegen.
„WAG ES NICHT!“, brüllte Mark. „Wag es nicht, so mit mir zu
reden. Hasan und ich hatten bisher die mieseste Nacht unseres
Lebens. Und warum? Weil du, du Möchtegern Tony Montana,
meinst, mit Drogen handeln zu müssen. Wir waren bei Viktor,
weißt du? Viktor hat den Karton, von dem du uns erzählt hast,
angenommen. Aber er sagte mir auch, dass es nur einer von vieren
ist. Du lügst uns an und erzählst uns nur von einem Karton? Bist
du eigentlich völlig bescheuert? Was denkst du, hätte der mit uns
machen können?“
Am anderen Ende der Leitung schien die Gangster-Fassade seines
Sohnes zu bröckeln. Hörte Mark tatsächlich ein Schluchzen? Ein
leises, leichtes Weinen?
Hasan meldet sich zu Wort: „Mark. Wir sind fast da. Hier links
runter ist die Uni-Klinik.“
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Mark nickte Hasan zu und bog ab.
„Dennis? Sprich jetzt!“, forderte Mark seinen Sohn auf, während
er sein Auto der Zufahrt entgegensteuerte.
Dennis schluchzte und klang jämmerlich: „Papa… ich…“
Mark unterbrach ihn: „Bleib in der Nähe des Telefons. Ich muss
etwas erledigen und ruf dich in fünf Minuten zurück.“
Mark bremste abrupt vor der Uni-Klinik und sah Hasan
entschlossen an: „Du musst jetzt etwas tun, was dir nicht gefallen
wird.“
-
„Bana yardım et!“ Hasan taumelte in den Eingang mit Torben in
den Armen. Torbens Kopf schlackerte von einer Schulter, zur
anderen. Die Panik in seiner Stimme gestattete keinen Zweifel.
„Yaralandı. Bir kaza geçirdi. YARDIM!“ Hasan rollte mit seinen
Augen und drohte in der Eingangshalle zusammenzubrechen.
Drei Pfleger stürmten auf Hasan und Torben zu. Sie nahmen
Torben aus den Armen von Hasan, welcher sich umgehend auf
seine Knie fallen ließ und die Hände vors Gesicht schlug.
„Was ist passiert?“ Ein Pfleger legte behutsam seine Hand auf
Hasans Gesicht. „Sind sie ein Verwandter oder ein Freund?“
Hasan sah mit leidendem Gesichtsausdruck zum Pfleger auf und
schien seine Worte abschätzen zu wollen.
„Ben anlamıyorum.“, sagte er und klang verzweifelt.
Der Pfleger stutzte: „Was?“
Hasan zuckte mit den Schultern und deutete auf seine Ohren:
„Almanca konuşamıyorum.“
Der Pfleger seufzte und blickte sich hilflos um. „Gottfried“ stand
auf seinem Namensschild und Hasan musste sich anstrengen nicht
zu grinsen und in seiner Rolle zu bleiben. Die Kombination aus
dem Namen und das jugendliche Aussehen des Pflegers machte es
Hasan sehr schwer.
Nachdem Gottfried sich verzweifelt und ergebnislos vergewissert
hatte, dass keine Hilfe zu erwarten war und auch kein Wörterbuch
„Türkisch – Deutsch / Deutsch – Türkisch“ plötzlich von der
Decke der Klinik fiel, griff er zu seinem Handy.
„Ja… Ja, ich bin‘s Frieda.“, sagte der Pfleger und Hasan krümmte
sich. Er ließ es so aussehen, als würde er sich aus Übelkeit
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krümmen, jedoch in Wirklichkeit schüttelte er sich innerlich vor
Lachen, als er die Offenbarung des Spitznamens vom Pfleger
hörte.
„Kann mal jemand kommen, bitte? Der Typ, der den Verletzten
hierhergebracht hat, spricht offenbar nur arabisch und ich verstehe
ihn nicht.“ Der Pfleger begann ungeniert in der Nase zu bohren.
Offenbar fühlte sich Gottfried ob der Sprachbarriere nun völlig
unbeobachtet.
Leute gibt’s, dachte Hasan. Trotzdem war er erleichtert. Wenn
Gottfried, Gott möge sich seines Kleingeists erbarmen, sein
Türkisch mit Arabisch verwechselte, standen die Chancen gut, dass
Gottfried einen marokkanischen oder einen arabischen Kollegen
zu Hilfe kommen ließ. Das würde ihm die Zeit verschaffen, um im
Trubel dann zu verschwinden.
„Entschuldigen Sie“, erklang es nun plötzlich hinter Hasan und
das tiefe Timbre in der Stimme des Neuankömmlings ließ Hasans
Hoffnung fahren.
Der Pfleger sah auf und blickte zu dem Mann hinter Hasan. Er
war groß und hager, seine grauen Locken standen wirr von seinem
Kopf ab.
„Ja bitte?“, sagte der Pfleger und schob sein Handy zurück in seine
Tasche.
„Das, was der junge Mann da spricht, ist Türkisch, nicht Arabisch
und er sagte, dass er nicht Deutsch sprechen kann.“ Der Mann
schlenderte vorsichtig zu Hasan, der immer noch auf seinen Knien
inmitten der Eingangshalle hockte, und legte sachte beide Hände
um Hasans Schulter. „Alles wird gut. Her şey iyi olacak.“
Eine Mischung aus Angst, dass er nun auffliegen würde, und
schlechtem Gewissen legte sich wie eine kratzige Decke über
Hasan und ein Notfallplan nahm nur schleppend Gestalt an.
Gottfried, der Pfleger mit dem für Hasan ältesten Vornamen der
Welt, seufzte erleichtert: „Vielen Dank. Können Sie mir beim
Übersetzen helfen? Ich muss immerhin später der Polizei erzählen,
was mit dem Verletzten passiert ist und wo er überhaupt
herkommt.“
„Kein Problem, ich kümmere mich um den jungen Mann.“, sagte
der alte Mann und sah Hasan liebevoll an. „Benimle gel. Kommen
Sie, mein Freund.“
Es gab für Hasan nur eine Chance.
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Plötzlich krümmte Hasan sich und presste einen unterdrückten
Schmerzensschrei durch seine zusammengekniffenen Lippen. Um
seine Gefühlslage noch deutlicher auszudrücken, schlug er seine
Hände vor seinen Mund und riss die Augen auf.
Gottfried sprang reflexartig nach hinten: „Iiiiih, muss der kotzen?“
Er stellte dem alten Türken die Frage und schien dabei zu
vergessen, dass er der Pfleger war und nicht sein Ansprechpartner.
Toller Pfleger, dachte Hasan und fuhr mit seiner Schmierenkomödie
fort. Er sprang von seiner knieenden Position in eine stehende,
wankte ein wenig und rannte ziellos umher, stets darauf bedacht,
seine vor den Mund gepressten Hände dort zu halten. Er eilte den
Flur auf und ab, presste würgende Geräusche durch seinen doppelt
und dreifach versiegelten Mund und tat, als ob er etwas suchen
würde.
Hoffentlich kapieren die endlich, was ich hier veranstalte, dachte er und
steigerte seine gepressten Geräusche.
Der alte türkische Mann richtete sich mit einer Ruhe, die Hasan
insgeheim bewunderte, auf, während er selbst weiterhin die Rolle
seines Lebens spielte: „Entschuldigen Sie, junger Mann. Ich
befürchte, dass er sich übergeben muss. Wo haben Sie denn eine
Toilette?“
In dem Moment, als Gottfried den Flur entlang deutete und
dadurch Hasan aus seinem Blick entließ, rannte Hasan zum
Ausgang, immer noch würgend, damit er nicht noch kurz vor dem
Ziel aufgehalten würde.
Es gelang: „Hey, nicht vor dem Eingang kotzen. Das bekommen
wir nie wieder weg.“ Gottfried klang verzweifelt.
Der alte Mann sah Hasan hinterher. Er sprach immer noch ruhig,
doch Hasan verstand jedes Wort und es traf ihn wie ein
Faustschlag im Magen, als er aus der Klinik flüchtete: „Bana ihanet
ettin. Tanrı seni cezalandıracak.“
Du hast mich betrogen. Gott wird dich bestrafen., waren die Worte ins
Deutsche übersetzt und Hasan glaubte jedes einzelne davon.
Mark parkte ein paar Straßen weiter, sie hatten sich auf den
Standort vorab geeinigt.
Als Hasan ins Auto einstieg, plagte ihn sein schlechtes Gewissen,
wenn er an den freundlichen, alten Mann dachte, und Mark sprach
bereits aufgebracht mit Dennis am Telefon. Dennis, der Sohn
seines Lieblingskollegen. Dennis, der dumme, verzogene Teenie.
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Dennis, der Junge, der alles begonnen hatte, was nun noch auf sie
wartete. Hasan setzte sich auf den Beifahrersitz, lehnte sich zurück
und seufzte. Mark stand offenbar im Begriff, das Gespräch zu
beenden. Hasan hörte nur noch, dass Mark seine Enttäuschung
gegenüber Dennis erwähnte und danach auflegte.
Er hatte ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Geschichte. Ein sehr
schlechtes Gefühl.
-
„Ich bring dich jetzt nach Hause, mein Lieber. Es ist schon 4 Uhr
und morgen müssen wir beide arbeiten.“ Mark startete den Motor.
„Hat alles geklappt? Gab es Schwierigkeiten?“
Hasan reagierte überrascht: „Jetzt plötzlich? Was ist mit den
anderen drei Kartons?“
Mark sah Hasan an und Hasan zuckte zusammen: „Alter, wie
krass.“
„Was ist?!“ Mark klappte seine Sonnenschutzblende herab und sah
in den Spiegel.
Hasan sprach weiter: „In den paar Stunden hast du solche dunklen
Augenringe bekommen? Das ist krass, willst du nicht lieber bei mir
schlafen, statt nochmal eine Stunde zu fahren?“
Mark seufzte: „Wäre eigentlich das Beste. Aber ich kann nicht
einfach bei dir übernachten. Teresa würde sich sorgen, aber
einfach nachts anrufen will ich auch nicht. Außerdem muss ich
nach Hause, damit ich die drei Kartons morgen mitnehmen kann.“
Hasan reagierte so, wie Mark es erwartet und (zugegeben) auch
erhofft hatte. Ihm fiel praktisch die Kinnlade herab.
„Die drei Kartons? Weißt du etwa, wo die sind?“ Hasans
Gesichtsausdruck wechselte zwischen absolutem Unverständnis
und riesiger Freude. Mark grinste und ließ sich gerne von Hasans
Euphorie mitnehmen. Er gestand sich selber auch ein, dass er
mehr Erlösung als Wut empfand.
„Ja, ich weiß es. Sie sind zu Hause, in Waldesruh. Mein Sohn, der
Aushilfsgangster hat sie einfach kaltschnäuzig in seinem großen
Umzugskarton verstaut. Nur dieser eine Karton hat scheinbar
nicht mehr gepasst. Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung, ob
das jetzt tatsächlich die ganze Wahrheit ist, aber die drei Kartons
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habe ich jetzt theoretisch.“ Mark lächelte Hasan müde an und
zwinkerte ihm erleichtert zu.
Hasan stutzte: „Wir! Wir haben die drei Kartons, meinst du
wohl…“
„Hasan, ich“, Mark versuchte seine Gedanken zu erklären, wurde
aber sofort von seinem Lieblingskollegen unterbrochen.
„Du kannst da nicht allein hinfahren. Keine Ahnung, was du heute
Abend erlebt hast. Wenn du dasselbe wie ich gesehen, gehört und
gefühlt haben solltest, wüsstest du, dass du da niemals allein
hinfahren kannst. Also vergiss alles. Du bringst die Kartons mit
zur Arbeit und wir fahren nach Feierabend direkt dorthin, geben
den Scheiß ab und das wars.“
Mark seufzte, teilweise um seinen Protest zu äußern, aber mehr aus
Erleichterung: „Na schön, danke mein Freund.“
Mark startete den Motor und fuhr los.
-
Mark kam sich vor, wie ein Teenie, der seine „Party-Zeit“ deutlich
überschritten hat und sich in tiefster Nacht nach Hause ins Bett
schlich. Strenggenommen traf auch beinahe alles zu. Bis auf Teenie
und Party. Er wollte soeben seine Schuhe ausziehen, um sich im
Flur lautloser bewegen zu können, als er bemerkte, dass er nach
wie vor keine Schuhe trug. Er setzte sich auf die unterste Stufe der
Treppe und zog die schmutzigen und klatschnassen Socken aus. Er
betrachtete beinahe ehrfürchtig seine pechschwarzen Füße und
seine schnuddeligen, durchlöcherten Strümpfe und entschied sich,
seine Füße im Bad zu waschen und seine Socken unehrenhaft aus
ihrem Dienst zu entlassen. Zweiteres erledigte er sofort, ging zur
Küche und warf die Socken naserümpfend in den Hausmüll. Ein
Blick auf den Backofen ließ ihn zusammenzucken und schlagartig
ermüden. Die digitale Anzeigetafel zeigte „05:17“ an. Somit hatte
er noch eine Nettoschlafzeit von 73 Minuten, bevor sein Wecker
klingeln würde. Mark befand sich irgendwo zwischen absurder
Wut und tiefster Verzweiflung. Schlafmangel. Das war etwas, mit
dem Mark nie zurechtkam. Er war immer der erste, der Partys,
Weihnachtsfeierlichkeiten oder Betriebsfeiern verließ. Zu wenig
Schlaf war Marks Achillesferse.
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Dann verzichte ich lieber ganz drauf, dachte Mark und entschied sich zu
einem Vollbad statt eines Fußbades. Barfuß, ignorierte man die
Schmutzschicht, die schon unter Marks Fußsohlen zu bröckeln
begann, stieg er die Treppe empor, öffnete leise die Tür ins
Badezimmer und stellte augenblicklich fest, dass bereits Licht im
Badezimmer brannte. Kein Bad für Mark, soviel stand fest.
„Kannst du mir mal sagen, was in dich gefahren ist? Du kommst
jetzt erst nach Hause und musst gleich wieder los.“ Teresa streckte
ihren Kopf aus der Duschkabine. Mark stellte erleichtert fest, dass
ihr Gesichtsausdruck milder aussah, als ihre Stimme klang. Mark
setzte sein berühmtes, verlegenes Lächeln auf. Er fand immer, er
sah dann aus wie Kevin Costner, Teresa fand, er sah mit dem
Lächeln aus wie ein süßer Dackelwelpe. Auch gut.
„Es tut mir leid, Teresa. Ehrlich. Du weißt, ich hasse es, zu wenig
zu schlafen. Aber es ging nicht anders. Es war wirklich wichtig.“
Teresa schaute Mark von oben nach unten an. Ein Wassertropfen
wanderte seinen Weg von ihrem Scheitel über den Nasenrücken
und fiel beinahe in Zeitlupe zum Boden.
„Also das, mein Lieber,“ ihr Blick blieb an den Füßen von Mark
hängen „sind die schmutzigsten Füße, die ich je im Leben gesehen
habe.“ Sie öffnete die Tür zur Duschkabine und trat einen Schritt
zurück. „Komm rein, du Schmutzfink.“ Sie lächelte und ihre
Augen blitzten auf.
Ein Hoch auf Ulf Rübel, den elenden Schuhdieb, dachte Mark, streifte
seine Klamotten ab und sprang in die Dusche.
-
„Ist das jetzt wirklich alles?“ Mark war sich bewusst, dass er diese
Frage seinem Sohn nun sicherlich zum fünften Mal stellte,
dennoch musste er sich sicher sein. Zudem, so gestand er sich
selber ein, gefiel es ihm irgendwie, auf dem Fauxpas seines Sohnes
herumzureiten.
„Ja Papa, ich schwöre.“ Dennis Aussprache schwankte zwischen
einem jämmerlichen „Tut mir leid“ und einem auflehnenden „Jetzt
lass mich endlich in Ruhe“. Offenbar hatte sein Sohn den größten
Schreck überwunden, leider. Dies musste gleich im Keim erstickt
werden. Die Eskapaden seines Sohnes reichten Mark mindestens
für die nächsten zehn Jahre. Er setzte den ersten der drei Kartons
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in den Kofferraum und drehte sich abrupt zu Dennis um: „So,
mein Freund. Deinen Ton kannst du dir in die Haare schmieren.
Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich alles auf mich
genommen habe, um dich da rauszuholen. Geschweige denn, dass
ich den armen Hasan da mit reinziehen musste. Dein Getue geht
mir mächtig auf die Nerven, das kannst du mir glauben. Wenn ich
heute Abend zurück bin und alles diesem Viktor zurückgegeben
habe, sprechen wir uns. Bis dahin…“ Mark deutete am Haus
vorbei in Richtung Garten. „…mähst du den Rasen und holst
Moos aus den Fugen der Terrassenplatten. Ich will davon heute
Abend nichts mehr sehen.“
Mark holte den nächsten Karton. Er setzte ihn vorsichtig zum
ersten in den Kofferraum.
Dennis setzte zu einem Protest an.
Mark vereitelte es, indem er seine Hand hochhob: „Ruhe! In den
nächsten Tagen gehst du deiner Mutter zur Hand. Und du
kümmerst dich um den Garten. Was könntest du dagegen haben?
Musst du etwa zur Schule? Eher nicht, oder? Du hast schließlich
immer noch einen Verweis.“
„Hat er nicht.“ Dietmar stand plötzlich in der Einfahrt und schlug
Mark beherzt seine breite Hand auf die Schulter. „Er kann morgen
wieder zur Schule. Hat doch einen Vorteil, einen Bürgermeister als
Nachbarn zu haben, nicht war Mark?“
Mark sah ungläubig zu seinem Nachbarn und danach in das breit
grinsende Gesicht seines Sohnes.
Das darf nicht wahr sein, dachte Mark und ging schweigend ins Haus,
um den dritten und letzten Karton zu holen.
Kaum trat er aus der Haustür, vernahm er wie Dietmar väterlich
den Kopf seines Sohnes tätschelte und ihn aufforderte den letzten
Tag in Freiheit zu genießen.
„Morgen geht der Ernst des Lebens wieder los. Geh schon und
mach was Feines aus dem Tag.“ Dabei strahlte er Mark an.
Mark sah, dass Dennis im Begriff war, auf sein Fahrrad zu
springen.
„Stopp! Du hast gehört, was ich gesagt habe.“, rief Mark und
balancierte unbeholfen mit dem Karton.
„Lassen Sie ihn doch, Mark. Er kommt schon früh genug zum
Arbeiten. Ich werfe einen Blick auf ihn, fahren Sie ruhig zur
Arbeit. Kommen Sie, ich helfe Ihnen mal beim Tragen.“ Dietmar
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langte unverhofft zum Karton. Vor Überraschung oder vor
Schreck, Mark wusste es wirklich nicht, ließ Mark den Karton
fallen.
Er kannte diese Situation, hatte sie schon tausende Male erlebt.
Gläser oder Flaschen, die ihm aus der Hand glitten. Die
Kommunionkerze, die er als Kind trug und ihm aus der Hand fiel,
weil Wachs auf seinem Handrücken getropft war.
Immer schien es, als ob alles in Zeitlupe fiel und dennoch war er
nie in der Lage gewesen, das Unglück abzuwenden.
Der Karton fiel auf eine Ecke und der Inhalt schoss aus dem
Deckel, als hätte es ein Eigenleben und wollte nur raus.
Vier eingeschweißte Tüten mit Tabletten purzelten heraus und
blieben nach ein paar Aufprallen reglos liegen.
Mark starrte mit offenem Mund abwechselnd auf die Bescherung
und zu seinem Nachbarn, der wiederum die Tüten ansah.
Nach einigen Sekunden brach Dietmar sein Schweigen: „Oh
Mann, Mark, das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.
Aber sagen Sie mal, was ist das? Ist es das, was ich denke?“
Ungefragt bückte Dietmar sich und griff zu einer der vier
Umverpackungen und betrachtete die blauen Pillen darin. Ohne
eine Antwort abzuwarten, vermutete er lautstark weiter: „Haben
Sie einen zweiten Job, von dem ich nicht weiß oder verkaufen Sie
Viagra in ihrem Kölner Baumarkt?“
Mark lachte auf. Er bemühte sich, sein Lachen unverwechselbar
heiter klingen zu lassen. Ihm kam es aber selbst so vor, als würde
viel zu viel Hysterie in seinem Lachen mitschwingen.
Mark bemerkte, dass sein Lachen bei Dietmar nicht ankam.
Dietmar starrte ihn weiterhin unvermittelt an und bestand
offenbar auf einer Antwort.
Mark versuchte stockend eine weitere Lüge zu seinen unzähligen
Unwahrheiten und Ausreden einreihen zu lassen. Er hatte das
Gefühl, dass er so langsam in Übung kam. Jede neue Lüge und
jede neue Ausflucht kam ihm einfacher über seine Lippen als die
davor.
„Viagra? Quatsch Dietmar. Das ist doch kein Viagra.“ Mark musste
sich unbedingt etwas einfallen lassen. Dietmar würde seine Aussage
nicht einfach so akzeptieren, auch nicht (oder erst recht nicht) wenn
Mark sie zur Verdeutlichung wiederholte.
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Denk nach, Mark, denk nach, ermahnte er sich und wollte soeben das
Wort erneut ergreifen, als Dennis wieder zurückkam.
„Papa, ich hab’s mir überlegt. Du hast Recht, ich werde den
Garten… Oh mein Gott.“ Dennis schlug ungläubig und panisch die
Hände vor seinem Mund und starrte mit weit aufgerissenen Augen
auf die vier Päckchen auf der Einfahrt.
Sollte mein neugieriger Nachbar noch keinen Verdacht gehabt haben, ist es jetzt
soweit, dachte Mark und beschloss, einfach zu sprechen: „Ist nicht
schlimm Dennis. Die funktionieren noch. Alles halb so schlimm.“
Er bückte sich und hob nun endlich die Päckchen auf und verstaute
sie wieder in seinem Karton. Er murmelte vor sich hin: „Ist ja
schließlich nicht aus Glas und elektrische Geräte sind das auch
nicht.“
„Was sind das denn jetzt für Pillen, Mark?“ Dietmar verschränkte
seine Arme und stand breitbeinig vor Mark.
Mark belud weiter emsig seinen Kofferraum und antwortete kurz
über seine Schulter: „Darf ich nicht sagen.“
Er starrte in seinen Kofferraum, schob die drei Kartons von der
einen in die andere Ecke und versuchte dadurch den Anschein zu
verlängern überaus beschäftigt zu sein. Irgendein Teil von ihm (ein
kindlicher Teil, wie Mark zugab, der offenbar der Theorie „Ich seh
dich nicht, du siehst mich nicht“ folgte) hoffte darauf, dass Dietmar
das Interesse oder die Lust verlor und sich abwandte.
Das schwere Atmen hinter Marks Rücken verriet ihm, dass Dietmar
immer noch dort stand und keineswegs sein Interesse verlor.
„Was meinst du mit: Darf ich nicht sagen?“ Dietmar Stimme klang
weder ärgerlich noch verdächtigend. Das ließ Mark ein wenig
aufatmen.
Als Mark sich umdrehte, um sich Dietmar zuzuwenden, fiel sein
Blick wieder auf Dennis, der nach wie vor an derselben Stelle stand
und seine Hände gegen seinen Mund presste und ängstlich vor sich
hinstarrte.
Das darf doch alles nicht wahr sein, als nächstes legt er mir hier noch ein
dramatisches Geständnis auf der Einfahrt ab.Vor Dietmar. Mark schüttelte
innerlich seinen Kopf.
„Ja komm, Dennis. Ist gut. Es ist nichts passiert. Geh jetzt bitte in
den Garten und mach das, was du mir eben sagen wolltest. Okay?
Weißt du was? Überrasch mich, gut?“ Mark lächelte und merkte, wie
seltsam sein Lächeln sich in seinem Gesicht anfühlte.
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Dennis drehte sich auf der Achse um und stakste davon, wie ein
Roboter.
Endlich, dachte Mark, jetzt noch Dietmar.
Er ging auf Dietmar zu, legte seinen Arm um seine Schultern und
ging ein paar Schritte mit ihm. Er kam sich vor wie ein
Autoverkäufer, der einem naiven Kunden das Geschäfts seines
Lebens versprach.
„Okay, pass auf“, begann Mark und zwinkerte Dietmar
verschwörerisch zu „Ich darf dir das eigentlich nicht sagen, aber ich
kann dir doch vertrauen, oder?“
Marks Psychologie-Stunde hatte begonnen. Er drückte sich
innerlich die Daumen, dass es funktionieren würde und sein Gehirn
arbeitete in Hochtouren.
Dietmar warf sich stolz in die Brust: „Aber Mark, ich bitte dich.
Natürlich kannst du mir vertrauen.“
Mark schlug Dietmar auf die Schulter, zugegeben ein wenig kräftiger
als nötig: „Das ist prima. Diese Pillen, die du dort gesehen hast,
werden nämlich den Bereich des Kleisterwesens revolutionieren,
mein Lieber.“
Er breitete seine Arme aus und strahlte Dietmar erwartungsvoll an.
Das Schauspiel, das Mark nun in Dietmars Gesicht begutachten
durfte, war es beinahe der Mühe wert.
Dietmar strahlte zunächst zurück, daraufhin bildeten sich vereinzelt
Grübelfältchen in seinem Gesicht und die Gesichtsakrobatik endete
in einem Ausdruck absoluten Unverständnisses.
Mark biss sich von innen auf die Wange, um nicht lachen zu müssen.
„Kleisterwesen? Ähm, ist das Kleister?“, fragte Dietmar und sah
Mark unsicher an.
„Das, mein Lieber, ist Tapetenkleister.“ Mark setzte alles auf eine
Karte, holte nochmal eine der Tüten heraus und hielt sie Dietmar
unter die Nase. „Hochkonzentriert. Ein Eimer Wasser, eine Pille
und du kannst 55 Quadratmeter damit tapezieren. Und, das Beste
ist, den Rest verdünnt man wieder mit Wasser und kann es über
seinen Abfluss entsorgen. Ist nämlich komplett wasserbasierend.“
Dietmars Grübelfalten verschwanden und machten Platz für ein
breites Grinsen: „Mensch, das ist ja toll. Wissen Sie, Kathrin möchte
gerne das Wohnzimmer neu tapeziert haben und…“
Mark hatte geahnt, dass sowas kommen würde und reagierte sofort:
„Verstehe ich Dietmar. Nur, davon kann ich Ihnen noch nichts
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geben. Das ist alles vom Chef abgezählt und ich habe es gestern aus
den Niederlanden besorgt. Die Niederländer sind uns in so vielen
Sachen kilometerweit voraus, meinen Sie nicht, Dietmar?“
Mark war stolz auf sich. Er konnte es noch. Er hatte immer noch
die Verkäufer-DNA in sich.
Dietmar schien überrumpelt: „Jaja, sicher. Die Holländer sind uns
schon um ein paar Jahre voraus. Aber, kommen Sie, Mark, als ob
Ihr Chef es bemerken würde, wenn ein oder zwei Pillen fehlen.“
Mark sah Dietmar streng an: „Ich möchte meinen Chef nur ungern
betrügen, Dietmar. Ich denke, dass Sie das verstehen.“
Punktlandung. Sieg auf ganzer Linie.
Dietmar antwortete beflissen: „Ja natürlich, Mark. Entschuldigen
Sie, bitte.“
Mark schlug Dietmar freundschaftlich auf den Rücken: „Keine
Sorge. Ich lass die Pillen heute über die Warenannahme ins
Betriebssystem einlisten und bringe Ihnen was mit. Es muss nur
seinen richtigen Weg gehen. Oder wissen Sie was? Ich bringe Ihnen
ein ähnliches Produkt von „Metylan“ mit. Davon haben wir sogar
noch kostenlose Probeexemplare und es ist noch besser.“
Mark stieg in sein Auto, startete den Motor und winkte strahlend
Dietmar zu, der hocherfreut zurückwinkte und zu seinem Haus
zurückschlenderte.
-
Teresa hasste es, wenn man sie morgens bereits hetzte. Sie
brauchte morgens zwei (am liebsten drei) Tassen Kaffee und
ungefähr 30 Minuten für sich, nur für sich. Dass sie diesen
„Luxus“ für sich in Anspruch genommen hatte, konnte sie an
einer Hand abzählen. Sie und Mark hatten sich mal auf einen
Handel eingelassen: Sie würde Dani anziehen, Dennis Dampf
unterm Hintern machen, damit er fertig wurde und würde sich
anschließend ums Frühstück kümmern, während Mark sich fertig
machen konnte. Anschließend wäre es seine Aufgabe, die Kids zur
Schule oder zum Schulbus zu begleiten.
Mark fand die Übereinkunft super und hatte es zwei- vielleicht drei
Mal genauso gemacht. Danach rutschte alles wieder in das alte
Schema zurück, welches so aussah, dass Teresa alles machte und
Mark lediglich seinen Kadaver aus dem Bett hievte, sich anzog,
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einen Kaffee trank und zur Arbeit fuhr. Für den ganzen Tag,
wohlgemerkt. Vorwerfen konnte sie es ihm nicht, nein falsch, sie
wollte es ihm nicht mehr vorwerfen. Immer dann, wenn sie sich
auch nur beklagte, dass er ständig durch Abwesenheit glänzte,
kassierte sie Sprüche wie: „Hallo? Ich fahre zur Arbeit, nicht auf
die Kirmes.“ Oder: „Du tust grad so, als wurde ich das alles zum
Spaß machen. Ich verdiene nur Geld…“
Sie hatte es irgendwann mal aufgegeben, sich zu beklagen. Im
Grunde genommen hatte er Recht, trotzdem fand sie, dass seine
Arbeit (so zeitintensiv sie auch war) ihm keinen „Familien-
Freifahrtschein“ gab, der ihm erlaubte, sich aus allem rauszuhalten.
Sie hatte weiß Gott auch keine Kirmes zu Hause. Sie hatte eine
ungeduldige, aktive Daniela zu versorgen und zu unterhalten und
einen pubertierenden Dennis, der momentan die „Alles ist
Scheiße“ Linie fuhr und nichts annahm, was Teresa ihm anbot:
Vom Essen bis zu den vorgeschlagenen Aktivitäten. Einfach alles
war scheiße für Dennis. Sie wusste, dass auch Mark nicht besser zu
Dennis durchdrang, aber warum musste sie sich neben all der
Hausarbeit und Dani auch noch um die Launen von Dennis
kümmern?
Gestern noch war Teresa erstaunt und hatte sich gefreut, weil
Mark auf die Idee gekommen war, Dennis mit zur Arbeit zu
nehmen. Ihr war es bewusst, dass Mark es mehr spontan
entschieden und nicht sonderlich intensiv bedacht hatte. Dennoch
begrüßte sie seine Entscheidung. Zum einen hatte sie damit
Dennis „vom Hof“ und zum anderen empfand sie die Botschaft,
dass er sich nicht „zur Belohnung“ für sein Fehlverhalten zu
Hause ausruhen durfte, angemessen und sah darin eine Lehre. Sie
hatte sich über Marks proaktive Unterstützung so gefreut, dass sie
ihm heute Morgen die spätnächtliche (eher fühmorgendliche)
Heimkehr verzeihen konnte. Aber auch die fürsorgliche Aktion
von gestern, so stellte sie ein wenig später fest, entpuppte sich als
eine einmalige Sache. Jetzt saß Dennis faul im Garten und spielte
an seinem Handy herum.
Teresa öffnete das Fenster: „Dennis?!“
Dennis sah noch nicht mal auf: „Was denn?“
„Hat Papa Dir nicht gesagt, dass du was zu tun hast? Ich denke,
mit dem Handy im Garten spielen gehört nicht dazu.“ Teresa
blickte auf die ihre Armbanduhr. 7:40 Uhr. Sie musste jetzt mit
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Dani los. Sie ärgerte sich. Den Bus hatten sie wieder einmal
verpasst, also musste sie Dani mit dem Auto zur Schule fahren.
Dabei hatte sie um 08:00 Uhr den Termin in der Bank.
Hatte Dennis etwas geantwortet? Sie wusste es nicht und eine
sonderlich geistreiche Antwort hatte sie ohnehin nicht erwartet.
„Ich fahr Dani jetzt zur Schule und danach zur Bank. Ich bin in
maximal zwei Stunden zurück.“, sagte sie durchs Fenster zu
Dennis, schloss das Fenster und rief lautstark ins Innere des
Hauses nach Dani: „Maus, wir müssen los.“
Nach ein paar Sekunden hörte sie die piepsige Stimme ihrer
Tochter von irgendwo im Haus: „Komme!“
Dieses Haus ist so groß, dass man nicht hören kann woher die Stimmen
kommen, dachte Teresa und gab gerne zu, dass sie Stolz dabei
empfand.
Sie hörte ihre Tochter die Treppe herunterkommen und griff zu
den Autoschlüsseln. Während sie zur Haustür schlenderte und ihre
Handtasche im Vorbeigehen schnappte, hoffte sie, dass der Tank
des SUVs von Mark nicht zu sehr geschröpft worden war, denn
Tanken passte jetzt nicht mehr in ihre Tagesplanung.
Sie schloss die Haustür und öffnete mit der Fernbedienung die
Zentralverriegelung des Autos. Dani stieg unverzüglich ein,
schnallte sich an und sang irgendwas von „Bibi & Tina“. Teresa
grinste und stieg hinters Lenkrad.
Als sie den Motor starten wollte und durch die Windschutzscheibe
sah, dachte sie, ihre Augen würden ihr einen Streich spielen. Sie
schaltete den Motor wieder aus, stieg aus, umrundete den Wagen
zur Motorhaube und blieb fassungslos davor stehen. Sie wusste
nicht, was sie von dem, was sie sah, halten sollte.
„Ach du Scheiße!“ ertönte es plötzlich neben ihr. Sie zuckte
zusammen und blickte erschrocken in Dietmars Gesicht. Dieser
Typ tauchte immer zur falschen Zeit völlig geräuschlos auf und
wusste offenbar immer, was er zu welcher Aktion sagen sollte.
Teresa stellte fest, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte und
schloss ihn beflissen: „Das kann man wohl sagen.“
Dietmar schüttelte fassungslos seinen Kopf und strich mit seiner
Hand über die zerkratzte Motorhaube: „Das wird teuer, Teresa
Süße. Was hat Mark damit gemacht?“
„Das möchte ich auch gern wissen.“, sagte Teresa und nahm sich
vor, nach dem Banktermin Mark anzurufen.
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-
„Wow, was du alles so erlebst.“ Hasan war ein sehr dankbares
Publikum. Als Mark von seinem Erlebnis mit Dietmar Husenkamp
berichtete, hörte er wie ein Kind am Lagerfeuer zu.
Mark lächelte: „Kann man wohl sagen. Aber irgendwie erlebe ich
das alles erst seit ein paar Tagen. Vorher war doch nicht sonderlich
viel los.“
Beide standen an einer brusthohen Palette mit Kleister- und
Farbprodukten.
Das kann dauern, dachte Mark und hob den ersten Karton von
unzähligen ab und entnahm die einzelnen Produkte.
Hasan stöhnte: „Also die nächsten zwei bis drei Stunden sind
schonmal gesetzt. Wer hat denn das alles bestellt?“
„Der Chef.“, murmelte Mark und entnahm zwei Verpackungen von
„Metylan Tabs“, erinnerte sich an das Versprechen, das er seinem
Nachbarn gegeben hatte und legte sich beide Verpackungen auf
seinem Abteilungstresen. Er würde sie später kaufen und Dietmar
als „Gratisprobe“ schenken. Damit wäre dieses Kapitel geschlossen.
Mark lächelte erleichtert.
Der ständig wiederholende Einkaufsradiosender unterbrach sich
und die Stimme von David Bergmann drang in die Verkaufsräume:
„Herr Sieger, bitte ins Büro, Herr Sieger bitte.“
Mark runzelte die Stirn und blickte auf seine Armbanduhr. Es war
8:15 Uhr und er und Hasan hatten bereits alle Türen geöffnet, die
Einkaufswagen von den Ketten befreit (eine Idee von Bergmann,
damit diese nachts nicht geklaut würden) und die riesige Palette aus
dem Lager geholt. Er war also schon mindestens eine halbe Stunde
hier und überpünktlich gewesen.
Was kann der Chef von mir wollen, fragte Mark sich, als er durch die
Verkaufsräume zum Büro von Bergmann schlenderte.
Er klopfte an der Bürotür, auf dessen Türblatt auf pompöse Art der
Name „David Bergmann“ stand. Während Mark auf das
allbekannte, schnodderige „Herein“ Bergmanns wartete, konnte er
sein Schmunzeln nicht unterdrücken. Wie deplatziert das aussah.
Wir befinden uns hier in einem Baumarkt und jede Tür auf diesem Flur sieht
gleich aus, außer der vom Chef. „David Bergmann“steht da. Mit
messingfarbenen, gotischen Buchstaben. Also Geschmack hat er AUCH nicht.
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„Herein“ klang es dumpf durch die Tür und Mark trat ein.
Das erste, was Mark realisierte, war Feist, der am Schreibtisch von
David Bergmann saß und Mark entgegengrinste.
Das Grinsen erinnerte Mark an seine Schulzeit. Es gab da diesen
einen Klassenkameraden, Mark überlegte wie der Name lautete.
Kevin, da war er sich ganz sicher, Kevin Braun. Dieser
Klassenkamerad hat alles und jeden sofort bei dem erstbesten,
griffbereiten Lehrer verpfiffen und genau dieses Grinsen in seinem
Gesicht getragen.
Aber was könnte dieses Grinsen auf Herbert Feists Gesicht
bedeuten?
-
Teresa stopfte wütend ihr Handy in die Handtasche zurück. Das
gibt es doch nicht, keiner ihrer Männer hielt es für nötig ans
Telefon zu gehen. Zuerst hatte sie es mehrmals bei Mark probiert.
Zum einen um zu erfahren, was mit der Motorhaube passiert war
und zum anderen was er generell letzte Nacht so getrieben hatte.
Er sollte nicht glauben, dass dieses Thema ausgestanden ist, auch
wenn sie ein nettes Stelldichein unter der Dusche hatten. Teresa
ärgerte sich ohnehin jetzt über ihre Reaktion. Sie hätte ihn gleich
zur Rede stellen sollen und ihn mit den Zärtlichkeiten nicht in
Sicherheit wiegen sollen. Aber es nutzte nichts, passiert ist passiert.
Dann musste sie es heute Abend halt nachholen und konnte seine
schlechte Erreichbarkeit direkt mitansprechen.
Danach hatte sie es auch mehrfach versucht, Dennis zu erreichen.
Ohne Erfolg. Dabei hing er mit seiner Nase immer nur Zentimeter
über dem Display seines Smartphones. Er muss ihre Anrufe
gesehen haben, daran gab es keinen Zweifel. Wut rumorte in ihrem
Körper oder war es bereits der Beginn zu einem Magengeschwür?
Sie hatte mal gelesen, dass Stress und Ärger ein Magengeschwür
entstehen lassen kann.
Sie saß nun bereits seit zwei Stunden in der Bank, weil ihr
Bankberater noch einen Kunden beriet und scheinbar nicht zum
Ende kam. Mehrmals kam er aus seinem Büro, hatte sich bei ihr
entschuldigt und versichert, dass er gleich Zeit für sie hätte und
wenn sie jeden Kaffee, den er ihr anbieten wollte, auch genommen
hätte, würde ihr Herz bereits im Rave-Takt galoppieren.
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Deswegen versuchte sie Dennis zu erreichen. Dani würde jeden
Moment aus dem Bus aussteigen und niemand wäre da, um sie
abzuholen.
Sie dachte nach, rang mit sich und entschied sich schweren
Herzens etwas zu tun, was sie eigentlich nicht machen wollte.
Sie wählte, es tutete und nach zirka drei Tönen erklang seine
Stimme: „Husenkamp?“
Teresa schloss die Augen: „Dietmar, gut dass Du ans Handy
gehst.“
Dietmar Husenkamp klang erfreut: „Teresa Süße! Tja, was soll ich
sagen? Du rufst an, ich geh ans Telefon. Das ist der ganze
Zauber.“ Er lachte.
Teresa lehnte ihren Kopf gegen die verputzte Wand, die Augen
immer noch geschlossen: „Kannst Du mir bitte einen Gefallen
tun?“
-
„Eine Abmahnung? Schon wieder?“ Mark schwirrte der Kopf. Er
überlegte. War es nicht erst vor ein paar Tagen gewesen, als er
seine erste Abmahnung bekommen hatte? Ihm wurde heiß und
kalt zugleich. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie sollte er das
Teresa erklären? Vor allem der Grund der Abmahnung machte
ihm Schwierigkeiten.
David Bergmann zuckte unbeeindruckt mit seinen Schultern: „Tja,
was soll ich sagen? Die einen sammeln Porzellanfiguren oder
Briefmarken, manche sammeln sogar DVDs und manche scheinen
Abmahnungen sammeln zu wollen. Wird allerdings keine
sonderlich ertragreiche Sammlung, Herr Sieger. Denn eine weitere
Abmahnung sorgt für Ihre Entlassung. Ich hoffe, dass Ihnen das
bewusst ist?“
Mark schaute von Bergmann zu Feist und wieder zu Bergmann.
„Das ist mir bewusst Herr Bergmann. Aber jetzt mal im Ernst, das
war ein harmloser Scherz dem Kollegen Feist gegenüber und
außerdem außerhalb unserer Dienst- und Öffnungszeiten. Wie
können Sie daraus eine Abmahnung machen? Für mich hat es den
Anschein, als würden Sie Partei ergreifen.“ Marks Stimme
verfestigte sich während seines Vortrags immer mehr, stellte er mit
Genugtuung fest. Wenn der gestrige Abend etwas Gutes hatte,
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dann dass er sich plötzlich nicht mehr duckte, sich nicht mehr alles
gefallen ließ.
„Ihr vorpubertärer Streich, so albern ich ihn auch finde,
interessiert mich wirklich kein bisschen, Herr Sieger. Wenn Sie sich
für diesen Streich aber aus meinem Geschäft bedienen, dann geht
mich das sehr wohl etwas an.“ David Bergmann bückte sich und
holte den Bluetooth-Lautsprecher vom letzten Abend unter dem
Schreibtisch hervor und platzierte ihn auf seiner Tischplatte.
„Kommt Ihnen diese Box bekannt vor?“
Mark zuckte mit den Achseln: „Ja, na und? Den haben wir gestern
Abend genutzt, um den Kollegen Feist ein wenig zu ärgern.“
Jetzt war es Bergmann, der stutzte: „Wir? Was meinen sie mit wir?
Wer war noch bei Ihnen? Hasan Borat etwa?“
Mark sah, dass das Grinsen in Feists Gesicht breiter wurde. Am
liebsten wäre er seinem gehässigen Kollegen ins Gesicht
gesprungen.
Was für ein erbärmlicher, mieser Wichser, dachte er und ballte eine
Faust in seiner Hosentasche.
„Ich!“, sagte Mark schnell. „Ich meinte, den habe ich gestern Abend
genutzt, um den Kollegen Feist zu ärgern.“
Mark sah Bergmann an, dass er ihm kein Wort glaubte und er war
sich sicher, dass er nun auch endgültig seinen Fokus auf Hasan
erweitern würde.
Bergmann zuckte seinerseits mit den Schultern: „Sei es, wie es sei.
Und Ihnen kommen diese Lautsprecher nicht bekannt vor, Herr
Sieger?“
NEIN! Bitte nicht, dachte Mark und zog es vor, zu schweigen.
„Die sind aus unserer Hi-Fi Abteilung, Herr Sieger. Ich habe den
Verdacht, dass Sie diese Lautsprecher dort entwendet haben. Jetzt
sieht es folgendermaßen aus: Reichen Sie mir den Kassenbon nach
und ich wandle die Abmahnung in eine mündliche Verwarnung
um. Haben Sie keinen Kassenbon, bleibt die Abmahnung
bestehen. Wenn es nach mir geht, fliegen Sie. Aber Sie wurden
beim Diebstahl nicht gesehen, weswegen ich damit nicht
durchkommen würde.“ Bergmann fixierte Mark mit kalten Augen.
„Sie dürfen gehen!“
Mark wandte sich der Tür zu.
„Moment noch!“, rief Bergmann und hielt eine Hand hoch,
während er die andere nachdenklich an seine Stirn hielt.
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Das ist die schlechteste Columbo-Nachahmung, die ich je gesehen habe und zu
dem schlechtesten Zeitpunkt überhaupt, dachte Mark und sah zu seinem
Erstaunen die Begeisterung in Feists Gesicht.
Feist applaudierte, lachte und hüpfte sogar leicht in seinem Stuhl:
„Das ist Quincy, Chef. Das machen sie aber super.“
Mark rollte mit seinen Augen: „Columbo, Feist. Quincy schneidet
Leichen auf. Columbo ist der grenzdebile Kommissar, der immer
in derselben Taktik und mithilfe seiner imaginären Ehefrau Fälle
löst, die wiederum auch alle gleich sind.“
Feists Lächeln fror ein.
Mark richtete sich an Bergmann: „Was ist denn noch?“
„Sagen Sie unten im Kollegium Bescheid, dass es heute
außerplanmäßig eine kurze Betriebsversammlung nach Feierabend
gibt. Dürfte nicht länger als zwanzig bis dreißig Minuten dauern.
Die Mitarbeiter dürfen auch später stempeln.“ Bergmann stand auf
und reichte Feist seine Hand. „Viel Erfolg, Heribert.“
Mark riss ungläubig seine Augen auf. Er ahnte, was das zu
bedeuten hat, fragte aber trotzdem: „Erfolg? Wobei soll Feist
Erfolg haben?“
Bergmann blickte abschätzig zu Mark, dann wieder zu Feist. Er
legte einen Arm um Feists Schultern und sagte: „Tja, Ihnen kann
ich es ja jetzt schon sagen. Wir öffnen eine Zweitfiliale in Bergisch-
Gladbach.“
Bitte lass Feist nach Bergisch-Gladbach gehen, dachte Mark.
Bergmann fuhr fort: „Deswegen wird meine Anwesenheit dort
mehr verlangt als hier. Der Laden hier funktioniert ja, zumindest
die meisten Abteilungen.“
Meine Abteilung ist wie geleckt, du Arschloch, dachte Mark. Jetzt wusste
er, was kommen würde.
Bergmann beendete seinen Vortrag und sah dabei Feist an: „Also
dachte ich mir, ich ernenne Heribert Feist zum stellvertretenden
Filialleiter. Nur so lange, bis der Umbau in Bergisch-Gladbach
abgeschlossen ist.“
Mark stutzte: „Und was passiert, wenn der Umbau fertig ist?“
Bergmann grinste: „Dann werde ich vermutlich in der neuen
Filiale bleiben und Heribert Feist wird vom stellvertretenden
Filialleiter zum Filialleiter.“
Mark muss dämlich ausgesehen haben. Mit offenem Mund und
glasigem Blick, denn Bergmann richtete sich nun direkt an Mark:
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„Herr Sieger, schauen Sie nicht so. Ich weiß, dass Sie noch immer
auf diese Position gewartet haben. Aber so eine Position verdient
man nur durch Leistung und nicht, weil man sich gut mit meinem
Vater verstanden hat. Ich hoffe, Ihnen ist das jetzt endlich bewusst.“
-
Mark hatte nicht damit gerechnet. Er hatte sich auch keine
Hoffnung gemacht und trotzdem war seine Enttäuschung spürbar.
Für ihn und auch für Hasan.
„Bist du sicher? Kein Kassenbon?“ Mark ließ seine Schultern
hängen.
„Arkadaş, ich habe mir das Ding letztes Jahr gekauft. Als wir
Mitarbeiterprozente hatten. Davon hab ich keinen Kassenbon
mehr. Reg dich ab, ich gehe jetzt zum Alten und sag, dass ich das
war.“
Mark trat frustriert gegen die Palette, die nach wie vor brusthoch
gestapelt war.
Hat er jetzt gar nicht weitergemacht, während ich beim Chef war?, dachte
Mark und schaute verärgert auf die gestapelten Kartons.
Hasan schien seinen Blick richtig zu deuten oder er las neuerdings
die Gedanken von Mark: „Alter, guck nicht so. Hier war grad ein
Kunde nach dem anderen. Tut mir leid, dass ich nicht
weitergekommen bin.“
Hasans Stimme schwankte zwischen Verteidigung und Angriff. Es
lag Streit in der Luft und das konnte Mark nun wirklich nicht
gebrauchen.
„Vergiss es, schon gut. Aber lass die Chef-Idee bitte fallen. Das
sieht sonst abgesprochen aus.“ Mark seufzte und griff zu einem
der nächsten Kartons um ihn zu entpacken und einzuräumen.
Hasan legte seine Stirn in Falten und nahm seinerseits einen
Karton und schnitt ihn mit seinem Sicherheitsmesser auf:
„Warum? Ich sag ihm einfach die Wahrheit. Nicht mehr nicht
weniger.“
Mark legte seine Hand auf Hasans Schulter: „Das weiß ich, das
weißt du. Aber ernsthaft: Wenn ich jetzt, circa fünfzehn Minuten
später, plötzlich zum Bergmann gehe und sage, dass es deine Box
und auch deine Idee war…“
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Hasan unterbrach Mark: „Du sollst gar nichts machen. Ich sage
doch, dass ich das mache.“
„Kommt auf dasselbe aus,“ fuhr Mark fort. „Wenn du ihm das jetzt
steckst, kommt Bergmann der Verdacht, dass ich dich vorschiebe
und hält mich nicht nur für einen Dieb und Feigling, sondern auch
für ein Kollegenschwein. Ich mich übrigens auch. Wir haben beide
dem Feist einen Streich gespielt und nur ich wurde erwischt.
Insofern haben wir ja beinahe noch Glück gehabt.“
Hasan sah Mark betrübt an: „Nein, mein Freund. Ich habe Glück
gehabt und du bist mal wieder in die Kacke getreten. Das finde ich
zum Kotzen.“
„Vergiss es. Komm wir machen hier weiter und reden über Filme,
okay? Das lenkt mich am besten ab. Wir haben uns beim letzten
Mal über Sylvester Stallone unterhalten, richtig? Was liegt da näher,
als über Arnold Schwarzenegger, seinem österreichischen
Konkurrenten zu sprechen?“ Mark lächelte und griff zu einem
besonders großen Karton, dessen Entnahme dazu führte, dass der
Palettenstapel instabil wurde und die Palette wie ein perforiertes
Luftkissen zusammenfiel. Mark lachte. Hasan lachte nicht: „Heute
nicht, mein Bester. Heute mache ich etwas ganz anderes.“
Hasan legte sein Sicherheitsmesser auf die zusammengesackte
Palette, richtete sein Namensschild (irgendwie theatralisch, dachte
Mark) und stampfte los, Richtung Sanitärabteilung.
Die Abteilung von Heribert Feist.
Mark ahnte, dass Hasan im Begriff stand, etwas Unüberlegtes zu
tun und wollte ihm hinterher, als sich plötzlich eine Hand auf
seinen Arm legte: „WO HABEN SIE BLUMEN?“
Eine kleine, alte Dame stand vor ihm und brüllte ihm ins Gesicht.
Mark schaute hastig durch die Regale, doch Hasan war bereits
außer Sicht.
Er wendete sich der Dame zu: „Wir haben keine Blumen.“
„WAS?!“ Die Dame schaute verständnislos.
„WIR HABEN KEINE BLUMEN!“ Mark erhöhte seine
Lautstärke, in der Hoffnung, nicht den ganzen Baumarkt zu
beschallen.
Irrtümlicherweise ging er davon aus, dass das Kundengespräch
damit erledigt wäre und versuchte seinen Weg fortzusetzen.
Offenbar war die Dame aber nicht zufriedengestellt, denn sie griff
wieder zu seinem Arm, dieses Mal kräftiger. Mark war erstaunt
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über so viel Kraft, betrachtete man das zierliche, kleine
Persönchen.
„NATÜRLICH HABEN SIE BLUMEN! WO SIE SIND WEISS
ICH NUR NICHT.“, schrie sie Mark an.
Mark gestikulierte, dass sie ein wenig leiser sprechen sollte, da legte
die Dame trotzig richtig los: „ICH BIN 89 JAHRE ALT UND
LASSE MIR VON IHNEN NICHT DEN MUND
VERBIETEN! ICH KANN JA WOHL EIN BISSCHEN
BEDIENUNG VON IHNEN ERWARTEN.“
Ein wenig weiter hinten hörte Mark Hasan („Ich war das, du
mieser, kleiner Wichser!“) brüllen und wurde nervös. Es folgte ein
Tumult, welcher sich offenbar von der Sanitärabteilung bis zur
Kasse erstreckte. Er hörte nämlich die Kassenkollegin Lisa
aufschreien.
Scheiße, dachte er und merkte, dass die Dame ihn nach wie vor
anstarrte und mittlerweile sogar an seinem Ärmel zupfte um
Aufmerksamkeit zu erhalten.
Mark hob seine Stimme: „DAS HIER IST EIN BAUMARKT,
WERTE DAME. WIR HABEN WERKZEUGE UND
ZUBEHÖR! KEINE BLUMEN UND KEINE PFLANZEN.“
Die Dame blickte sich verwirrt um. Plötzlich erhellte sich ihr Blick
und sie sah Mark mit einem triumphalen Ausdruck an: „UND
WARUM HÄNGT DA EIN SCHILD AUF DEM
GARTENABTEILUNG STEHT? SAGEN SIE MAL, KANN
ICH MAL IHREN CHEF SPRECHEN?!“
Der Tumult von der vorderen Region der Verkaufsräume hob an,
Marks Unruhe stieg und dennoch musste er sich der Kundin
widmen: „IN DER GARTENABTEILUNG FINDEN SIE
SACHEN UM IN IHREM GARTEN ZU ARBEITEN.“
Er ahmte schaufelnde Bewegungen nach, gefolgt von einem
Pantomimenspiel, welches das Rasenmähen darstellen sollte und er
kam sich dabei dämlich vor, aber zu seiner Erleichterung stellte er
fest, dass die Dame nickte.
Er stoppte und sah die Dame an: „SIE MEINEN
GARTENCENTER HUMBOLDT. DAS IST EIN STÜCK DIE
STRASSE RUNTER. DORT FINDEN SIE PFLANZEN UND
BLUMEN.“
Die alte Dame lächelte. Mark lächelte zurück.
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Sein Lächeln gefror als er hinter sich die Stimme von Bergmann
hörte: „Hören Sie sofort auf unsere Kunden anzuschreien! Was
fällt Ihnen ein.“
Mark drehte sich um und erklärte sich: „Herr Bergmann. Die
Dame ist schwerhörig.“
Die Dame stutzte: „WER IST DAS?!“
Mark wendete sich der Dame zu und rollte verschwörerisch mit
seinen Augen: „DAS IST MEIN CHEF!“
Bergmanns offensichtliche Verwirrung ließ Mark innerlich vor
Freude hüpfen. Getoppt wurde dieses Hochgefühl, als die Dame
zurück brüllte: „DER?! DAS SOLL EIN CHEF SEIN? VON
EINEM BAUMARKT?“
Sie schüttelte ihren Kopf.
Die Dame öffnete ihre bestickte Handtasche, kramte darin und
fand nach zirka drei Taschentüchern, einem Hustenbonbon und
einem Rosenkranz ihr Portemonnaie und kramte wiederum darin
herum. Dann drückte sie Mark ein Geldstück in die Hand, brüllte
„FÜR IHRE FREUNDLICHE HILFE!“ und watschelte davon.
Bergmann sah der Dame verständnislos hinterher und richtete sich
nun an Mark: „Was anderes: Was zur Hölle ist eigentlich hier
unten los?“
Nun geschahen zwei Sachen gleichzeitig. Mark öffnete die Hand,
um das Geldstück zu begutachten und Hasan kam zur Palette und
damit zu Mark zurück und verkündete mit stolzem Klang: „Dem
Feist hab ich schön aufs Maul gehauen.“ Gefolgt von den weniger
triumphalen Worten: „Oh, Herr Bergmann.“
Mark schaute auf das Zehn- Cent -Stück in seiner Hand und
seufzte.
-
Teresa nippte an ihrer Tasse Kaffee und musste sich beherrschen,
sich nicht zu schütteln. Noch nie hatte sie einen solch bitteren
Kaffee getrunken, wie konnte man so eine Brühe den Kunden
anbieten? Sie lächelte gezwungen, als ihr Bankberater gegenüber
Platz nahm.
„Und? Schon eingelebt?“ Er lächelte sie an und begann umgehend
in Unterlagen zu blättern.
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Als ob er mir damit deutlich zu verstehen gibt, dass es eine rhetorische Frage
ist und eine Antwort nicht nötig ist, dachte sie, lächelte aber brav
zurück und antwortete trotzdem: „Ja, danke sehr.“
Er nickte, als hätte er keine andere Antwort für möglich gehalten.
Nachdem er noch ein paar Seiten hin und her geblättert hatte,
schloss er seine Mappe und sah Teresa an.
Teresa stutzte, als sie seinen Blick sah. Was sollte sie daraus
schließen? Der Kredit war doch genehmigt, schon vor Monaten.
Warum sollte sie heute hier erscheinen?
Endlich fing der Berater an zu sprechen und trotzdem spürte
Teresa keine Erleichterung: „Nun, Frau Sieger. Ich fürchte, um
ihnen den Kredit final zu genehmigen, verdient ihr Mann zu
wenig.“
Teresa schnappte nach Luft: „Aber wir haben doch eine
schriftliche Bestätigung von ihnen erhalten. Der Kreditvertrag
wurde von beiden Seiten unterschrieben, oder? Daraufhin haben
wir daraufhin das Haus gekauft.“
Der Berater rümpfte die Nase und sah Teresa an: „Das hätten sie
nicht machen dürfen.“
Obwohl Teresa den Ernst der Lage nicht vollkommen überblickte,
wusste sie, dass etwas gewaltig schieflief.
Es musste damals alles einfach viel zu schnell über die Bühne
gehen, damit ihre Familie das Haus bekam.
Teresas Vater hatte angerufen, erzählte von dem Haus und
organisierte auch sofort ein Telefonat mit Johan Erker, einem
Freund ihres Vaters, welcher in dieser Bank für Kreditwesen
zuständig war.
„Dürfte ich bitte mit Herrn Erker sprechen?“, fragte Teresa und
begann in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch zu suchen.
Der Berater verzog teilnahmsvoll sein Gesicht: „Ich bedaure, Frau
Sieger. Herr Erker hat sich in seinem wohlverdienten Ruhestand
zurückgezogen. Es ist so.“ Er straffte sich: „Sie haben ein Gehalt
angegeben, das sich nicht mit dem deckt, was Ihr Mann tatsächlich
verdient. Das ist uns nun aufgefallen, weil sie auch das
Gehaltkonto ihres Mannes auf uns umgelagert haben. Wir, als
Bank, stufen das als Betrug ein und müssen den Kreditvertrag
somit fristlos kündigen.“
Sie erinnerte sich an das Telefonat. Johan Erker hatte nach dem
Verdienst von Mark gefragt und auch seine Bedenken geäußert,
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dann hatte er nach Perspektiven gefragt und Teresa erzählte ihm
davon, dass der alte Bergmann Mark eine höhere Position
versprochen hatte. Immer deutlicher erinnerte sie sich nun an das
Telefonat.
„Was denkst du, verdient er dann?“, hatte Johan, welchen sie seit
Kindheitstagen Onkel Jo nannte, sie gefragt.
Teresa dachte damals nach: „Ich schätze, so vier- bis
viertausendfünfhundert Euro brutto.“
„Na, das klingt doch schon besser.“, hatte Johan am Telefon
gesagt.
Teresa erzählte es dem Berater. Dieser runzelte die Stirn. Nach
einigen langen Sekunden seufzte er: „Ich persönlich glaube auch
nicht, dass Sie uns betrügen wollten. Sonst hätten Sie nicht die
Dreistigkeit besessen, auch das Girokonto bei uns umgelagert.
Dennoch muss ich Ihren Kreditvertrag kündigen. Weil ich Ihnen
die Geschichte aber glaube, kündige ich Ihnen mit einer Frist von
drei Monaten.“
Teresa schwirrte der Kopf: „Das ist zwar nett von Ihnen, aber ich
brauche den Kredit. Ich habe das Haus gekauft.“
Der Berater stand auf: „Ich verstehe das, Frau Sieger. Aber mir
sind da die Hände gebunden. Sie haben jetzt drei Monate Zeit, um
uns den Kredit zurückzuzahlen.“ Er reichte ihr seine Hand, sie
nahm sie zögernd entgegen. Sein Blick wurde weich: „Sehen sie
mal. Wenn Ihr Mann bis dahin die erzielte Position erreicht hat
oder den Job zu diesen Konditionen wechselt, bringen wir das in
Ordnung, versprochen.“
Mark muss innerhalb von drei Monaten sein Gehalt beinahe verdoppeln,
dachte Teresa und alles um sie herum schien sich zu drehen.
Sie ließ sich in den Stuhl zurückfallen, sie konnte auf diesen
gummiartigen Beinen nicht mehr stehen.
Der Berater, Max Gerhards las sie auf dem Namensschild auf
seinem Schreibtisch, beugte sich erschrocken zu ihr runter: „Frau
Sieger. Geht es Ihnen nicht gut?“ Hilfesuchend blickte er sich um.
„Hallo?! Kann mal jemand kommen, bitte?“, rief er aus seinem
Büro heraus um sich danach sofort wieder um Teresa zu
kümmern.
„Beruhigen Sie sich, Frau Sieger. Das bekommen wir schon hin.
Drei Monate sind in diesem Fall eine lange Zeit.“, sprach er auf
Teresa ein. Das letzte, was sie hörte war: „Ihr Mann ist doch nach
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den zehn Jahren im Betrieb sicherlich hoch angesehen und sitzt
stabil im Sattel und wenn der Senior ihm diese Position
versprochen hat, wird es mit Sicherheit möglich sein, die
Beförderung vorzuziehen. Er steht sich doch gut mit seinem Chef,
oder?“
Danach wurde alles dunkel. Schwarz.
-
„Ich habe noch nie eine Abmahnung bekommen.“ Hasan nölte
Mark schon seit geraumer Zeit die Ohren voll, während Mark sich
darauf konzentrierte, die Straße von der vergangenen Nacht
wiederzufinden. Hasan konnte man momentan sicherlich nicht als
Navigator nutzen. Er war viel zu beschäftigt damit, sein Schicksal
an den Pranger zu stellen.
Mark seufzte: „Jetzt beruhig dich mal. Es ist nur eine Abmahnung
und da du so einen Blödsinn nicht wiederholst, wird sie auch bald
gelöscht sein.“
„Na du kennst dich ja aus.“ Hasan ranzte Mark an und Mark stellte
fest, dass es zwischen ihm und Hasan noch nie Streit gegeben
hatte, noch nicht mal Meinungsverschiedenheiten. Auf einmal
wurde alles anders in Marks Leben.
Die vergangene Woche begann an Mark zu saugen wie ein
übergroßes blutsaugendes Insekt. Er wollte nur noch alles in
Ordnung bringen, die Kartons abliefern, den Rest mit Geld
ausgleichen und dieses Kapitel schließen.
Danach würde er sich sofort um die Familie und speziell Dennis
kümmern und schlussendlich seinen Job wieder ins rechte Licht
rücken.
Eine Woche. Es war nur eine Woche Chaos, und er vermisste jetzt
schon sein „altes Leben“.
Er wandte sich Hasan zu, um sich zu entschuldigen, da kam Hasan
ihm zuvor: „Sorry arkadaş. Ich hab das nicht so gemeint.“
Mark grinste und sah wieder Licht am Ende des Tunnels.
„Wollte ich auch grad sagen. Tut mir leid, wie das für dich gelaufen
ist. Glaub mir, du bekommst keine Abmahnung mehr. Wir
machen ab morgen Dienst nach Vorschrift. Nicht mehr auffallen,
Witze auf die Mittagspause verlagern und weißt du was, wir bauen
morgen die Lacke so um, wie der Alte das schon seit Wochen
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wollte. Hört sich nach Geschleime an, das weiß ich. Letzten Endes
ist es aber unser Sieg, weil wir sowohl dem Bergmann, als auch
dem dämlichen Feist die Angriffspunkte immer mehr wegnehmen.
Was hältst du davon?“
Hasan grinste: „Gute Idee, schlecht verkauft. Natürlich ist das
Geschleime, aber ich bin dabei.“
Hasan schaute anschließend zum ersten Mal aus dem Fenster:
„Arkadaş, wo fährst du eigentlich hin? Ich glaube, wir sind noch
nicht mal mehr in Köln.“
Mark zuckte die Schultern und grinste, worauf Hasan anfing
schallend zu lachen.
Wir schaffen das, dachte Mark, ließ sich vom Lachen anstecken und
wendete den Wagen.
-
Viktor schloss die Deckel der vier Kartons, holte tief Luft und sah
Mark und Hasan groß an: „Könnt ihr mir mal sagen, wie ich das
Zeug jetzt loswerden soll?“ Er ließ sein Feuerzeug aufflammen
und löschen. Aufflammen und löschen.
Mark räusperte sich: „Nun ja, also ehrlich gesagt, Viktor, hab ich
keine Ahnung. Aber ich finde, das ist auch nicht unser Problem.“
Mark war sich nicht sicher, ob Viktor überhaupt in den letzten drei
Minuten gelächelt hatte, aber falls in seinem Gesicht eine Spur
eines Lächelns gewesen war, so war es nun vollkommen
verschwunden.
„Wie bitte?“ Viktor richtete sich auf. Er ließ sein Feuerzeug
aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen. Das
Gemurmel in der Wohnung auf dem Kölnberg wurde lauter.
Viktors „Mannschaft“ wurde nervös und steckte sowohl Mark als
auch Hasan an.
Mark ruderte zurück: „Versteh mich nicht falsch, Viktor. Ich kann
deine Probleme nachvollziehen.“
„Ich habe nie Probleme.“ Viktor wurde laut. „Ich mache Probleme,
Sieger.“
Mark zwang sich, ruhig zu atmen: „Ja, ich weiß. Aber mal ehrlich,
du hast das ganze Zeug einem Jugendlichen, der mitten in der
Pubertät steckt und sich auf wahnwitzige Weise behaupten wollte,
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in die Hand gedrückt. Du hast doch nicht wirklich mit einem
erfolgreichen Verkauf gerechnet, oder?“
Mark sah sich um und fuhr fort: „Du hast hier die kompetenteren
Leute, die sich darum kümmern können.“
Viktor grinste: „Die sind alle völlig ausgelastet. Das Management
meines Teams musst du schon mir überlassen.“ Er ließ sein
Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.
Mark ließ die Schultern hängen: „Kannst du mir nicht einfach
sagen, wieviel von den Pillen und anderen Drogen fehlen und ich
zahl dir das aus?“
„Zehntausend Euro.“ Viktor überlegte noch nicht einmal, er
sprach die unverschämte Forderung einfach aus.
Mark lachte auf: „Was? Niemals.“
Viktor straffte seinen Körper und sah Mark ohne jeglichen Humor
an: „Ich bekomme von dir zehntausend Euro.“
Mark wehrte sich: „Das ist doch willkürlich, was du da sagst. Wie
willst du mir das beweisen?“
Viktor grinste: „Gar nicht. Hier geht es nicht um Beweise. Hier
geht es nicht um Recht und Unrecht. Keine Zeugen, kein Alibi
oder sonst welche gerichtlichen Grundlagen. Ich sage, ich bekomme
zehntausend Euro von dir. Punkt. Du stehst nicht vor Gericht, du
bist bei mir.“ Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.
Aufflammen und löschen.
-
Teresa ließ Mantel und Handtasche auf den Boden des Flurs fallen
und eilte ins Wohnzimmer.
„Dietmar? Dani? Dennis?“, rief sie im Wechsel und erschrak über
ihre eigene, laute Stimme, die durch den Flur hallte.
Hier müssen unbedingt Teppiche hin, dachte sie unwirsch und riss die
Tür zum Wohnzimmer auf. Leer.
„Hallo? Wo seid ihr?“, rief sie lauter und versuchte ihre Hysterie
weitestgehend aus ihrer Stimme zu verbannen. Es gelang ihr nicht
sonderlich gut.
Sie eilte die Treppe nach oben, klopfte nur nebenher an Danis Tür
an und öffnete sie im gleichen Moment. Leer.
Das gibt es doch nicht, dachte sie und blickte auf ihre Armbanduhr.
Es war 21:12 Uhr, eigentlich eine Uhrzeit, über die sie sich sonst
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immer freute. Sie mochte solche Zahlenspiele, wenn man zufällig
auf die Uhr sah. Elf Uhr elf oder zwölf Uhr vierunddreißig. Als sie
ein Teenie war, mochte sie solche Zufälle so sehr, dass sie es sich
in einem kleinen Heftchen notierte, wenn sie auf solche Uhrzeiten
stieß.
Jetzt konnte sie sich nicht dafür begeistern. Sie verstand nicht, was
hier los war.
Hatte Dietmar Dani nicht von der Bushaltestelle abgeholt? Das
wäre eine Katastrophe. Das würde bedeuten, dass sie nicht wüsste,
wo Dani war.
Sie öffnete die Tür zu Dennis‘ Zimmer. Leer.
Sie griff zu ihrem Handy, um Dennis anzurufen.
Seitdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie
es bei Dennis, Mark und auch bei Dietmar probiert. Niemand
nahm den Anruf entgegen.
Auf dem Weg nach Hause hatte sie sich bereits eine Standpauke
(zumindest für Mark und Dennis) zurechtgelegt.
Es konnte nicht sein, dass die Beiden ein Handy hatten und
trotzdem nicht in der Lage waren, ranzugehen wenn es klingelte.
Jetzt gab es aber Wichtigeres. Wo waren alle?
Einem inneren Impuls folgend, eilte sie die Treppe wieder hinab
und öffnete die Haustür. Sie lief praktisch in die Arme von
Dietmar, welcher selber erschrocken grunzte und mit weit
aufgerissenen Augen Teresa anstarrte.
„Hoppla. So schnell unterwegs, Frau Nachbarin? Alles in
Ordnung?“ Dietmar strahlte sie an und tat dabei so, als wäre es ein
ganz normaler Abend wie jeder andere.
Teresa versuchte sich zu sammeln: „Guten Abend Dietmar, ich
wollte gerade kommen. Sind meine Kinder bei euch?“
„Ja, was denkst du denn?“, sagte Dietmar und sah Teresa erstaunt
an.
Teresa ärgerte sich über die Selbstverständlichkeit, die von
Dietmar ausgestrahlt wurde. Wie konnte er so selbstgefällig sein?
„Warum sind sie denn bei euch?“, presste sie zwischen ihren Zähne
durch und blickte dabei provokativ auf ihre Armbanduhr.
Dietmar stutzte: „Teresa Süße.“
HÖR AUF MICH SO ZU NENNEN, dachte Teresa und merkte,
wie ihre Wut stieg.
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Einerseits wollte sie ihren Frust und ihre Wut deutlich zeigen,
andererseits wollte sie sich zurückhalten und versuchte, ein
gequältes Lächeln hinzubekommen.
Dietmar fuhr fort: „Du hattest mich angerufen, ob ich Daniela von
der Bushaltestelle abholen könnte. Als du nach drei Stunden
immer noch nicht zurück warst, haben wir die beiden rüber geholt.
Sie mussten schließlich was essen und Daniela musste ihre
Hausaufgaben machen.“
Teresa nickte und wollte es auf sich beruhen lassen. Überrascht
stellte sie die Selbstständigkeit ihrer Zunge fest, die unkontrolliert
„Und wir haben hier nichts zu essen, oder wie soll ich das
verstehen?“ losfeuerte, ohne dass sie diese Worte vorab filtern
konnte.
Dietmar starrte sie eine Weile an.
Ist er jetzt vor dem Kopf gestoßen? Vielleicht sogar beleidigt? dachte sie und
fühlte sich bereits schuldig.
Nach einer Weile prustete Dietmar aber vor Vergnügen und
tätschelte Teresas Schulter: „Du bist gut. Was hättest du davon
gehalten, wenn ich oder Kathrin eure Schränke nach Vorräten
durchsucht und in eurer Küche gekocht hätten? Wo unsere Küche
doch nur ein paar Schritte entfernt ist? Nein, nein, Kathrin kocht
ohnehin jeden Tag frisch. Heute hat sie halt ein wenig mehr
gekocht und währenddessen hab ich mit Daniela die
Hausaufgaben gemacht. Ihr habt ein wahnsinnig schlaues
Mädchen, wisst ihr das?“
Teresa ärgerte sich wieder, dieses Mal jedoch über sich selbst. Ihre
vorwurfsvolle Art gegenüber dem Menschen, der ihr heute
geholfen hat, konnte sie sich selbst nicht erklären.
Ja, Dietmar und Kathrins Entscheidung war ein wenig übergriffig
und hätte abgesprochen werden müssen.
Aber mit wem, dachte sie. Niemand war erreichbar gewesen. Weder
sie, weil sie wie eine Drama-Queen in der Bank zusammenbrach,
noch Mark, der sich offenbar an einem Rekord der
„Unerreichbarkeit“ versuchte.
Sie seufzte: „Entschuldige bitte, Dietmar. Das war nicht mein Tag,
wirklich nicht.“
Dietmar legte seine Hand auf ihre Schulter: „Das kann ich mir
denken. Komm. Bevor wir hier die ganze Zeit in deiner Haustür
herumlungern, gehen wir lieber zu uns. Als Kathrin sah, dass du
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nach Hause kamst, begann sie bereits das Essen von heute
aufzuwärmen. Es ist noch jede Menge übrig.“
„Danke, aber ich muss die Kinder ins Bett bringen. Dennis ist
zwar schon größer, aber Daniela muss unbedingt ins Bett. Sie hat
morgen wieder Schule.“
Dietmar lachte: „Die beiden schlafen schon längst.“
Teresa wunderte sich: „Nein. Ich war eben in beiden Zimmern
und da war niemand.“ Eine Vorahnung breitete sich aus und
wurde kurz darauf von Dietmar bestätigt.
„Sie schlafen bei uns.“ Dietmar lächelte und drehte sich um, um
voraus zu gehen.
Teresa blieb wie angewurzelt stehen: „Was meinst du damit? Bei
euch?“
Dietmar drehte sich wieder zu ihr: „Bei uns. Wir haben zwei
Gästezimmer. Komm jetzt, mir wird es langsam zu ungastlich hier
draußen. Der Herbst wird, langsam aber sicher, zum Winter.“
Teresa folgte ihm wie ferngesteuert und ihre Gedanken kreisten.
Sie dachte ans Zähneputzen, ausziehen, Schlafanzug anziehen und
zu Bett gehen. Ans Vorlesen, zudecken und das Gute-Nacht-
Küsschen. An die innige Umarmung vor dem Schlaf, der lieben
Worte, die sie immer mit ihren Kindern austauschte, bevor sie das
Zimmer verließ.
Hatten ihre Kinder das heute Abend alles mit den neuen und recht
unbekannten Nachbarn gemacht?
Über all diese verwirrenden Gedanken schob sich nun ein
Gedanke, der sie ablenkte und gleichzeitig wütend machte:
Wo, zur Hölle, war eigentlich Mark?
Mark blickte ungeduldig auf seine Armbanduhr. Es war bereits
kurz vor zehn: „Ich weiß jetzt nicht, was das soll, Viktor. Wir
haben uns doch gestern darauf geeinigt, dass ich dir die anderen
drei Kartons bringe und es damit erledigt ist.“
Viktor lächelte nicht mehr, auch ein überhebliches Grinsen war
nicht mehr zu sehen: „Erstens: Das waren deine Worte. Ich habe
dem nie zugestimmt. Ich habe dir lediglich gesagt, dass drei
Kartons fehlen. Zweitens: Selbst, wenn ich über Nacht meine
Meinung ändere, dann ist das einfach so. Punkt. Fakt ist: Ich kann
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diese Drogen nicht unter die Leute bringen und dein Sohn
versicherte mir, dass er es könnte. Das bringt mich nun zu der
Feststellung, dass du dich darum kümmern musst, das alles zu
verkaufen.“ Er machte eine ausladende Geste und deutete damit
auf die vier Kartons.
Als würde ich nicht wissen, was er meint, dachte Mark.
Er hatte genug: „Ja toll, mach ich aber nicht.“
Er klang wie ein bockiges Kind und fühlte sich auch so.
„Dann haben wir ein Problem.“, stellte Viktor nüchtern fest. „Und
bedenkt bitte, dass Arda sich für seinen Cousin stark gemacht hat.
Wenn das also so laufen soll, dann hat natürlich auch Arda ein
Problem, ganz zu schweigen von Dennis.“
Hasan, der für seine Verhältnisse sehr lange, sehr leise gewesen
war, meldete sich mit einem triumphalen Ausruf zurück und
besiegelte damit endgültig das Schicksal, das Mark nun erwarten
würde.
„Darknet! Wir können das Zeug übers Darknet verticken!“ Hasan
breitete die Arme aus und blickte umher, um von irgendeiner Seite
eine Anerkennung oder mindestens eine Bestätigung zu erhalten.
Sie blieb aus.
-
Mark konnte kaum sehen und kniff seine Augen zu Schlitzen, als
ob das etwas ändern würde. Insgeheim lachte er immer über
solche Angewohnheiten, die Menschen an den Tag legten.
Wenn man schlecht sah, kniff man die Augen zusammen. Wenn es
regnete, zog man, wie eine Schildkröte, seinen Kopf auf seine
Schultern zurück und senkte den Blick. Wenn man etwas in weiter
Ferne erkennen wollte, machte man den „Indianer-Blick“ indem
man seine Handfläche über die Augen hielt, auch wenn die Sonne
hinter einem stand.
Er fand so ein Verhalten ulkig und erwischte sich jedes Mal dabei,
sich auch so zu verhalten.
So wie jetzt.
Die A61 war beinahe leergefegt. Kein Wunder, wenn man die
Uhrzeit betrachtete.
Es war 3:53 Uhr. Mitten in der Woche. Sein Wecker wartete
bestimmt schon, in seinen Modulen hämisch grinsend auf ihn,
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damit er Mark um Punkt 6:30 Uhr wieder aus den Federn läuten
konnte.
Und wenn er an Teresa dachte, meldete sich grummelnd sein
Magen.
Als er nach dem erfolglosen Treffen mit Viktor zu seinem Wagen
zurückgekehrt war, griff er nach einer gefühlten Ewigkeit erst
wieder zu seinem Handy und stellte sechs verpasste Anrufe fest.
Beinahe alle von Teresa, nur einer war von seinem Nachbarn
Dietmar.
Er war sich sicher, dass die Zeit der Geduld von Teresas Seite her
nun vorbei war. Dieses Mal kam er nicht an eine Erklärung vorbei,
das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Was sollte er ihr sagen? Mark wusste es nicht. Er hatte noch eine
Fahrt von ungefähr 40 Minuten vor sich, trotzdem war er sich
sicher, dass ihm bis dahin nichts Beruhigendes oder zumindest
Erklärendes einfallen würde.
Wenn er ehrlich zu sich selbst war, so konnte er sich selbst den
Abend nicht rechtfertigen.
Alles war umsonst gewesen, mehr noch, er hatte das Gefühl, als
hätte er sich noch viel tiefer in den Schlamassel bugsiert als zuvor.
Und dann kam Hasan noch mit seinem „Darknet-Vorschlag“ um
die Ecke und schleuderte damit Mark und ihn selbst in eine Lage,
die momentan nicht auszumachen war.
Noch nie war Mark so wütend auf Hasan gewesen. Er war sich
sogar sicher, dass er noch nie auf überhaupt jemanden so wütend war,
wie eben noch auf Hasan.
„Hast du überhaupt eine Ahnung von dem Darknet?“, hatte er ihn
auf dem Weg zu Hasans Wohnung gefragt und versucht seine
bebende Stimme im Zaun zu halten.
Hasan war sich seines überstürzten Handelns bewusst und
antwortete deutlich kleinlaut: „Ich nicht, aber ein Cousin von mir
schon.“
Mark verdrehte sie Augen und fuhr Hasan barsch über seinen
Mund: „Verschone mich bitte mit deinen Cousins! Hast du eine
Ahnung, was du da gerade gemacht hast? Wir wären da auch
anders herausgekommen, aber du musstest ja unbedingt dieses
scheiß Darknet vorschlagen. Ich habe dir schon immer gesagt, du
guckst zu viele Filme. Schlechte Filme, möchte ich dazu sagen und
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das größte Problem ist: Du kannst nicht zwischen Film und
Realität differenzieren.“
Hasan verhielt sich ruhig, zu ruhig fand Mark. Mark wollte
unbedingt Dampf ablassen, doch Hasan zog nicht mit.
Den Frust, welcher sich durch den verwehrten Streit nur noch
steigerte, spürte Mark immer noch, während er sein Auto auf eine
Raststätte lenkte.
„Bedburger Land“, las Mark laut und griff in das Seitenfach der
Fahrertür, wo sein Portemonnaie verstaut lag.
Es war jetzt schon so spät, dass es auch nichts mehr ausmachte,
wenn er sich einen Kaffee und einen Schokoriegel aus der
Tankstelle holen würde.
Er parkte vor der Zapfsäule und verließ sein Auto, um ins Innere
der Raststätte zu gelangen.
Dabei dachte er weiter über das Gespräch mit Hasan von eben
nach, welches sich leider noch zu einem Streit entwickelt hatte.
Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Seine unterdrückte Wut
war unkontrolliert ausgebrochen und er hatte Hasan angeschrien,
was er nun bereute.
Er hatte ihm alles vorgeworfen: Seine Darknet-Idee, die er
offenbar irgendwo aufgeschnappt hatte, ohne Erfahrungen
darüber zu besitzen, wie man damit umgeht. Sein Einmischen ins
Gespräch und generell sein Einmischen in die ganze
Angelegenheit.
Der letztere Vorwurf war unfair, dessen war sich Mark bewusst.
Immerhin hatte Mark Hasan gebeten, sich mit Dennis zu
unterhalten und er kannte Hasan zu gut, um überrascht zu sein,
dass Hasan sich komplett dem aktuellen Problem widmete.
Mark trat wütend in eine leere Cola-Dose, die besitzerlos neben
einer Zapfsäule stand.
Nun ärgerte er sich über sich selbst. Er hatte alles an Hasan
ausgelassen, obwohl der es nur gut gemeint hatte.
Das betretende Schweigen Hasans, welches die einzige Reaktion
auf Marks Vorwürfe war, belastete Mark und drückte noch mehr
auf sein Gemüt.
Er nahm sich vor, sich morgen bei ihm zu entschuldigen und trat
in die Gaststätte ein.
Die Wärme in der Raststätte tat ihm gut. Der Geruch nach Kaffee
und sein Vorsatz, den Streit mit Hasan spätestens morgen zu den
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Akten legen zu können, ließ Mark lächeln und er fand für kurze
Zeit so etwas wie eine innere Ruhe.
Er schlenderte zu dem Vollautomaten. Diese gigantischen
Maschinen konnte man in mindestens jeder zweiten Raststätte
finden und Mark liebte den Cappuccino aus diesen Ungetümen.
Die Raststätte war groß und Mark würde wetten, dass es hier
niemals so wirklich menschenleer werden würde.
Trotzdem war er überrascht, so wenige Menschen hier
anzutreffen.
Im Restaurantabteil der Raststätte saß ein alter Mann, tief gebückt
über eine Zeitung und schlürfte dann und wann aus einer Tasse.
Zwei Jugendliche standen zwischen den Regalen, die mit Chips
und Süßigkeiten gefüllt waren.
Offenbar waren sie sich nicht einig, mit welchem Produkt sie sich
ihrem Heißhunger widmen sollten, denn sie diskutierten nun
schon eine Weile und tauschten immer wieder den Inhalt ihrer
Hände aus.
Mark grinste und fand Gefallen daran, das Nachtleben einer
Raststätte zu beobachten.
An der Kasse saß ein junger Mann und starrte gebannt auf den
Bildschirm eines Laptops.
Er sah so aus, als würde er von dem Geschehen innerhalb der
Verkaufsräume nicht viel mitbekommen.
Mark lehnte sich gegen den Kaffeeautomaten und ließ seinen
Gedanken freien Lauf. Er fühlte sich wunderbar entschleunigt und
hatte es plötzlich nicht mehr eilig nach Hause zu kommen.
„Dürfte ich mal?“ Die Frage riss Mark aus seinen Gedanken und
er zuckte zusammen.
Ein freundlich aussehender Mann mit einer rahmenlosen Brille
stand vor ihm, auf seinem Sakko fiel das Emblem der
Kaffeeautomaten-Marke auf.
Mark trat einen Schritt zur Seite und überließ dem Mann den
Automaten.
„Ich kann gerne warten, wenn sie sich gerade einen Kaffee ziehen
wollten.“, sagte der Mann und zwinkerte Mark mit einem breiten
Lächeln zu.
Mark lächelte zurück: „Ich hab es nicht eilig.“
Der Mann zuckte mit seinen Schultern: „Okay, danke sehr.“
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Er öffnete seinen kleinen Aktenkoffer, holte ein kleines Gerät
hervor und legte es neben der Maschine auf einem Stapel
Coladosen ab.
Dann durchwühlte er seine Hosentaschen und zog einen Schlüssel
hervor mit dem er die Abdeckung der Maschine öffnete und diese
zur Seite schwang.
Er sah Mark neugierig an: „Ärger zu Hause?“
Mark fühlte sich überrascht, verstand aber trotzdem, warum der
Mann ihm diese Frage stellte.
Verlegen rieb Mark sich an seinem Nacken und blickte zu Boden:
„Momentan nicht, aber es wird Ärger geben. Das ist das einzige,
was ich momentan mit Sicherheit von meiner näheren Zukunft
behaupten kann.“
Der Mann schloss mit einem Kabel das kleine Gerät an die
Maschine an und drückte ein paar Knöpfe. Der Vollautomat
begann zu brummen und der Mann lehnte sich mit seiner Schulter
gegen das Gehäuse des Vollautomaten: „Das klingt ganz schön
düster. Mein Name ist Töpfer. Harald Töpfer.“
Er reichte Mark die Hand. Mark griff zu und lächelte: „Angenehm.
Ich bin Mark, Mark Sieger.“
Harald strahlte: „Wow, was für ein Name. Mit so einem Namen
müssten dir die Türen eigentlich offenstehen.“ Er lachte und
widmete sich wieder seiner Aufgabe. Er gab ein paar kurze Befehle
in sein kleines Display ein und die Maschine begann Wasser
abzupumpen.
Mark grinste, damit seine folgenden Worte nicht zu jämmerlich
klangen: „Naja. Müsste sollte dürfte. Leider habe ich seit einiger
Zeit eher das Gefühl, als würde sich eine Tür nach der andern
schließen.“
„Privat oder beruflich?“ Harald war nur dumpf zu hören, weil ein
Teil seines Oberkörpers in der Maschine steckte um darin etwas zu
überprüfen oder zu korrigieren, Mark konnte es nicht erkennen. Er
überlegte kurz und sinnierte daraufhin lautstark: „Eher beruflich,
aber das kann über kurz oder lang ins Private übergreifen.“
Harald schraubte seinen Oberkörper wieder aus der geöffneten
Maschine heraus und sah zufrieden aus: „Sauber! Das ging schnell
heute.“ Er sah Mark an: „Ich verstehe genau, was du meinst. Du
bist im Handel, oder? Einzelhandel? Großhandel?“
Mark stutzte, stand Verkäufer auf seiner Stirn verewigt?
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„Einzelhandel“, sagte er und ärgerte sich, dass es so klagend über
seine Lippen kam. Er wollte nie offen über seinen Job klagen, weil
er es für erbärmlich hielt.
Harald lachte und schlug Mark kameradschaftlich auf die Schulter.
Es war kein unangenehmes Lachen, mein Auslachen.
„Ich weiß genau, was Du meinst. Ich habe das auch alles
mitgemacht, war jahrelang im Verkauf und habe den ganzen Frust
mit nach Hause gebracht. Ich brachte viel zu viel Frust und viel zu
wenig Geld mit nach Hause. Es hat mich eine Ehe gekostet, bis ich
das begriffen habe.“
Mark bemerkte jetzt erst, dass er Harald mit offenem Mund
anstarrte und schloss ihn abrupt. Seine Zähne schlugen
aufeinander und gaben ein leises „Klack“ von sich. Natürlich
sorgte auch seine Müdigkeit für seinen glasigen Gesichtsausdruck,
aber es lag mehr an dem, was Harald ihm sagte und vor allem wie
er es ihm sagte.
Er strahlte so viel Selbstbewusstsein aus, dass Mark sich
automatisch in seinen Bann gezogen fühlte. Mark musste einfach
mehr wissen.
„Und was hast du dann gemacht?“, fragte er und schielte auf das
kleine Gerät in der Hoffnung, das Ende der scheinbaren
Inspektion der Maschine ablesen zu können. Er wollte jetzt
unbedingt einen Cappuccino.
Harald schien sein Schielen deuten zu können, denn er grinste ihn
an und schloss die Maschine, nachdem er das Kabel gelöst und
wieder um das Handgerät gewickelt hatte.
„Ich gebe einen aus. Milchkaffee?“ Harald stellte einen Becher
unter die Düse und schwebte mit einem Finger über die Tasten des
Vollautomaten.
„Cappuccino“, sagte Mark und beobachtete Harald. Dieser grinste
wiederum und sagte: „Nimm Milchkaffee, vertrau mir.“
Er wählte „Milchkaffee“ und während der Automat das Getränk
zubereitete, richtete er sich wieder an Mark: „Cappuccino ist hier
in dieser Maschine beinahe dasselbe, die Milch wird nur
geschäumt.“
Das klang logisch für Mark: „Ich mag das aber, wenn es geschäumt
ist.“ Mark kam sich ein wenig vor, wie ein bockiges Kind.
„Wenn Du aber wüsstest, dass Cappuccino sehr selten gewählt
wird?“
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Mark zuckte mit den Schultern. Harald fuhr fort: „Das bedeutet,
der Milchschaum von der letzten Zubereitung liegt oft Stunden
zurück und ich muss dir nicht erklären, was mit Milch passiert, die
lange steht, oder? Die ersten Milliliter sind nämlich immer von der
Anwendung zuvor. Bei Milchkaffee ist das anders. Da wird nach
jeder Anwendung gespült. Glaub mir, du schmeckst auch kaum
einen Unterschied. Trink deinen Cappuccino lieber in einem
Café.“
Mark nippte an dem Milchkaffee und gab Harald recht. Es
schmeckte zwar nicht wie versprochen, aber sehr ähnlich.
„Ich habe meinen Job gewechselt, ganz einfach.“, sagte Harald,
verstaute seine Utensilien und sah Mark an.
Mark brauchte einen Moment um zu begreifen, dass Harald seine
gestellte Frage beantwortete.
„Und jetzt wartest du diese Maschinen?“, fragte Mark schnell um
deutlich zu machen, dass er zuhörte. Leider stellte er zu spät fest,
dass seine Aussage abwertender klang als beabsichtigt.
„Macht es Spaß?“, schob er noch schnell hinterher, um seine
wertungsfreie Absicht zu versichern.
Harald nahm ihm scheinbar sein Spruch nicht übel, denn er lachte
herzlich: „Das? Ich überprüfe heute nur die Maschinen, die ich
schon in meiner Region gesetzt habe. Wenn diese Maschinen
gewartet werden müssen, melde ich das bei der Zentrale an und
ein Monteur taucht hier morgen auf. Nein, ich bin im Vertrieb und
verkaufe die Maschinen. Ist ein Selbstläufer, glaub mir.“
Mark nippte an seinem Milchkaffee, er schmeckte ihm immer
besser, und sah Harald interessiert an.
„Das heißt, du fährst Raststätten und Tankstellen an und sprichst
mit den Leitern, um denen diese Geräte zu verkaufen? Ist also ein
Provisionsjob?“ Mark versuchte sich ein Bild über die Tätigkeit
Haralds zu machen und das Bild, das er sich machte, sah
zugegeben sehr attraktiv aus.
Harald griff in seine Innentasche und fischte darin herum: „Teilsteils.
Ich bekomme ein ordentliches Fixgehalt und eine noch
ordentlichere Provision mit jeder verkauften Maschine.“
Harald fand, wonach er suchte und holte ein Visitenkarten-Etui
hervor: „Aber glaub mir, das richtige Geld fließt, wenn deine
Maschinen hier stehen und arbeiten. Du brauchst praktisch nichts
mehr zu tun.“
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Mark sah Harald skeptisch an, nahm aber die angebotene
Visitenkarte entgegen und las:
„Harald Töpfer
Account Manager
Kaffee-Traum“
Darunter fand er sowohl seine E-Mail-Adresse, als auch seine
mobile Telefonnummer.
„Kaffee-Traum? Auf den Maschinen steht aber „Segafredo“,
oder?“ Mark kam sich ein wenig dämlich vor.
Harald schien solche Missverständnisse schon öfter aufgeklärt zu
haben, denn er lächelte immer noch entspannt.
Er nahm seinen Aktenkoffer und wanderte gemächlich zum
Ausgang: „Kommst du noch mit bis zu meinem Wagen? Ich muss
leider weiter. „Kaffee-Traum“ ist die Agentur, die mich
beschäftigt. Die Industrie stellt kaum noch Mitarbeiter für den
Vertrieb ein, wird alles ausgelagert.“
Harald und Mark traten aus der Raststätte und schlenderten zu den
Parkplätzen.
„Glaub mir, gerade wenn du aus dem Verkauf, also Einzelhandel,
kommst, wirst du diesen Job lieben. Es muss ja nicht genau dieser
sein, aber Außendienst. Ich kann es dir nur empfehlen.“ Harald
griff in seine Hosentasche, holte seinen Autoschlüssel heraus und
öffnete per Fernbedienung den Kofferraum eines Mercedes C-
Klasse. Während er seinen Aktenkoffer in den Kofferraum
platzierte, sprach er weiter: „Allerdings ist es ein toller Zufall, dass
wir uns gerade heute begegnen. Wir suchen nämlich Verstärkung
für dieses Gebiet, also für den Kölner Raum. Normalerweise bin
ich nämlich in Frankfurt unterwegs, vertrete nur meinen Kollegen,
der momentan Urlaub hat und in drei Monaten den Job an den
Nagel hängt.“
Mark bestaunte den Wagen und bekam gefühlt nur die Hälfte mit.
Für eine Nachfrage reichte es trotzdem: „Warum wechselt dein
Kollege denn?“
Irgendwo muss ein Haken sein, dachte er und sah Harald interessiert
an.
Harald zog sein Sakko aus, öffnete die Tür zur Rückbank und
hängte das Sakko an einem Haken auf: „Du, ich würde es genauso
tun, wie mein Kollege. Ich würde auch wechseln.“
Mark nickte und fühlte sich in seiner Skepsis bestätigt.
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Harald fuhr allerdings fort und wischte damit Marks
Gedankengänge weg: „Er tauscht seine C-Klasse gegen eine
Hängematte. Rente, mein Freund.“
Er schlug Mark ein letztes Mal auf die Schulter und stieg in sein
Auto ein.
Mark starrte überrumpelt durch das Fenster ins Innere, während
Harald den Motor startete und das Fenster herabließ.
„Es ist spät. Du musst morgen bestimmt früh raus und ich muss
weiter, wenn ich den Rest der Woche frei haben möchte. Pass auf,
lass es dir durch den Kopf gehen. Du hast meine Karte und kannst
mich jederzeit anrufen. Wir bekommen einen ordentlichen
Zusatzbonus, wenn wir gute Leute empfehlen und du machst mir
einen sehr guten Eindruck. Bis dann Mark.“
Er ließ kurz den Motor aufheulen und fuhr los. Mark nippte
nochmal an seinem Kaffee und schlenderte zu seinem Auto. Er
ließ die letzte halbe Stunde noch einmal Revue passieren.
Im Auto wechselte er vom Radiosender zu seiner „Guns n‘ Roses“
CD, drehte auf volle Lautstärke und gab Vollgas.
Nächster Halt: Bett!
-
Sein Plan, welchen er im Geiste schon mehrmals durchleuchtet
und verfeinert hatte, schlug in dem Moment fehl, als er das
Schlafzimmer betrat.
Laut seinem Plan sollte Teresa im Bett liegen und schlafend auf
ihn warten. Das hätte den Vorteil gehabt, dass sie zwar wusste,
DASS Mark furchtbar spät nach Hause gekommen war, aber nicht
WIE spät genau.
Sie schlief nicht. Sie saß in ihrem Bett gegen die Wand gelehnt,
hielt ihr Smartphone in der Hand und starrte Mark mit einem Blick
an, der seinem Magen einen dumpfen Schlag gab und ihn
ungebremst in den Keller seines Körpers stürzen ließ.
So hatte Teresa ihn noch nie angesehen.
Sie öffnete ihren Mund und Mark rechnete mit einer Lautstärke,
die Axl Rose, dem er eben noch im Auto zugehört hatte, mit
Sicherheit vor Scham verstummen lassen würde.
Stattdessen erklang eine ruhige und wohldurchdachte Stimme aus
Teresa und diese gefasste Stimme machte Mark noch nervöser.
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„Mit wem triffst du dich? Wer ist es?“ Teresas Lippen bebten.
Sie meinte es ernst, das sah Mark ihr an.
Sie fragte auch nur so offen „Wer ist ES?“, um nicht ein
klischeebehaftetes Drama zu starten, indem sie „Wer ist SIE?“
fragen würde.
„Teresa, ich bitte dich. Was denkst du denn von mir?“ Mark
überlegte krampfhaft, was er ihr nur sagen könnte ohne Dennis
und sich in Ungnade zu stürzen.
Sie steckten so tief im Schlamassel und er wünschte sich, er hätte
Teresa frühzeitig eingeweiht. Nun war es dafür zu spät. Zu viele
Weichen waren gesetzt worden und zu viel war geschehen.
Wenn er jetzt reinen Wein einschenken würde, würde es fatale
Konsequenzen geben.
Teresas Augen formten sich zu engen Schlitzen: „Was ich über
dich denke, möchtest du momentan nicht wissen. Ich sage dir, was
ich von dir verlange. Ich verlange von dir die Wahrheit. Wo treibst
du dich zwei Nächte nacheinander herum? Warum gehst du nicht
an dein scheiß Handy? Was hast du mit Dennis besprochen?
Warum bekomme ich von dir nichts mehr zu hören? Was zum
Beispiel mit deinem Job ist? Mit deiner Beförderung?“
Mark stutzte. Job? Beförderung? Wie passte das zu den anderen
Vorwürfen?
Suchte sie aus ihrem gesamten Repertoire aus Vorwürfen lediglich
alles Mögliche ungefiltert heraus um ihm diese um die Ohren zu
hauen?
Nein. Er war sich sicher, dass die Jobfrage etwas anderes war. Sie
sprach nie darüber, hatte sogar immer durchblicken lassen, dass es
sein Wunsch und sein Anspruch auf eine höhere Position war. Sie
hatte dem Ganzen nie eine großartige Bedeutung zugeführt und
ihm stets versichert, dass er sich nicht unter Druck zu setzen
brauche und dass sie auch so über die Runden kämen.
„Warum fragst du nach meinem Job?“, fragte er deswegen frei
heraus.
„Warum möchtest du ausgerechnet nur auf deinen Job
antworten?“, spielte sie den Ball zurück und schaffte es, ihre
Augen zu noch engeren Schlitzen zu verjüngen.
Vor seinem geistigen Auge sah Mark eine Rettungsinsel aus dem
Ozean der Argumentlosigkeit auftauchen. Mehr noch, ein
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Gestrandeter stand auf dieser Rettungsinsel und winkte mit einem
Zaunpfahl.
Mark griff die Gelegenheit beim Schopf und feuerte siegessicher
den Satz heraus: „Weil ich wegen dem Job so lange weg war.“
Teresa schnaubte: „Mark. Es ist halb sechs. In einer Stunde
klingelt dein Wecker. Was hattest du nachts für deinen Job zu tun?
Ernsthaft, ich hab die Nase voll.“
Teresa schwang ihre Beine aus dem Bett und verließ schnellen
Schrittes das Schlafzimmer.
Das tat sie immer im Streit. Sie musste dabei laufen.
Mark lief ihr wie ein Schuljunge hinterher und erklärte und
argumentierte, als hinge sein Laben davon ab.
„Nicht für meinen jetzigen Job. Für meinen nächsten!“ Mark
begann in der Hosentasche nach der Visitenkarte von Harald zu
fischen, während beide die Treppe hinabstiegen. Er fand sie.
Teresa war indessen in der Küche stehengeblieben und sah Mark
überrascht an: „Für deinen nächsten Job? Was meinst du damit?“
Mark hielt ihr die Visitenkarte entgegen: „Hier! Kaffee-Traum.
Außendienst mit vielversprechenden Verdienstmöglichkeiten. Das
mit dem Baumarkt wird nix mehr.“
Er machte eine Pause, seufzte und gestand Teresa seine nicht
vorhandene Wertschätzung bei seinem Chef: „Bergmann wird
mich nicht befördern, Teresa. Er hasst mich. Heute hatte er mich
wieder auf dem Kieker und hat mir in einem Atemzug mitgeteilt,
dass Feist befördert wird.“
Teresas Reaktion kam unverhofft und warf Mark aus der Bahn.
Sie sagte: „Scheiße!“, wurde blass und sackte auf einem
Küchenstuhl zusammen.
Mark griff zu ihren Schultern und drückte sie beruhigend: „Ich
weiß. Ich dachte nicht, dass du dich dafür interessierst. Das geht
nämlich schon länger so. Das mit dem Bergmann wird auch nichts
mehr. Scheinbar verträgt der Junior nicht, dass ich mich so gut mit
seinem Vater verstand.“
Teresa sah Mark an. Ihre Augen waren feucht. Tränen drohten zu
fließen: „Kannst du nicht nochmal mit dem alten Bergmann
sprechen?“
Mark runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht. Woher das
plötzliche Interesse?
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„Was ist los?“, fragte er aufs Geratewohl. „Haben wir
Geldprobleme, von denen ich nichts weiß?“
Teresa riss sich zusammen, das sah Mark. Die Tränen bildeten sich
zurück und ihre Mimik verhärtete sich wieder: „Nein! Haben wir
nicht. Wir haben Anwesenheitsprobleme, Mark. Du bist nie hier
und jetzt willst du mir erzählen, dass du dich nachts mit einem
Harald triffst um über „Kaffee-Traum“ zu sprechen?“
Mark sah die Gelegenheit und griff zu: „Nein natürlich nicht. Ich
habe mich mit Hasan getroffen, um ihm zu helfen. Das hatte ich
dir doch gesagt.“ Hatte er nicht.
„Dabei“ fuhr er fort „hatte er mir von einem Bekannten erzählt,
der bei „Kaffee-Traum“ beschäftigt ist und von seinem Beruf
schwärmt.“ Hatte er nicht. Mark strengte sich an, sein Ruder jetzt
wieder Richtung Wahrheit zu lenken.
„Also rief er ihn an und wir fanden heraus, dass er heute auf der
Raststätte „Bedburger Land“ anzutreffen ist.“ Hatten sie nicht. Mark
wurde innerlich unruhig.
Komm schon, das war die letzte Lüge, dachte er und schloss seine
Ausführung: „Und dort habe ich Harald getroffen, der mir alles
über seinen Job erzählte und mir seine Visitenkarte gab. Die
suchen für den Raum Köln jemanden. Mit Dienstfahrzeug und
allem. Ich ruf da morgen an.“
Mark atmete auf. Teresa schien es zu schlucken.
Vor seinem geistigen Auge sah Mark wieder die Rettungsinsel. Der
Gestrandete war nicht mehr allein. Neben ihm standen Dennis,
Hasan und auch Mark selbst war zu sehen. Alle hielten die
Daumen hoch und grinsten.
Alle bis auf Mark selbst. Dieser stand auf der Insel mit einem
Schild in der Hand. Sein Gesichtsausdruck beschrieb Trauer und
Enttäuschung. Auf dem Schild prangte anklagend in roter Schrift:
„LÜGNER!“
Teresa sah noch nicht gänzlich überzeugt aus, allerdings auch nicht
mehr so wütend, was Mark beruhigte.
Teresa drückte auf den Knopf der Kaffeemaschine und schlang
ihre Arme um sich. In ihrer Wut hatte sie vergessen, sich einen
Morgenmantel überzuwerfen und sie fröstelte.
„Ich hole dir etwas Warmes zum Anziehen.“, sagte Mark und
hechtete bereits die Treppe hoch.
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Als er zurück in die Küche kam, blieb er entsetzt stehen und
starrte zum Küchentisch, an dem seine Teresa saß.
Der Kaffee lief schon durch und verbreitete diesen wohligen Duft,
den nur ein Kaffee am Morgen verbreiten kann. Zu diesem
herrlichen Duft gesellte sich allerdings auch ein anderer Geruch
hinzu und versetzte Mark in noch größerem Entsetzen.
Teresa saß nämlich am Küchentisch und rauchte eine Zigarette. Sie
hatte vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, noch vor der
Schwangerschaft mit Daniela.
Mark fühlte sich mies und vor dem Kopf gestoßen. Er wusste
nicht, was er am schlimmsten an diesem Bild fand.
Generell, dass sie wieder mit dem Rauchen angefangen hatte?
Dass sie es einfach für sich entschieden hatte?
Woher sie die Zigaretten hatte?
Wie voll oder leer die Schachtel war?
Hatte ER dafür gesorgt, dass sie sich ins Rauchen stürzte oder war
etwas vorgefallen, was sie ihm verschwieg?
Teresa zog an der Zigarette und sah Mark mit einer Mischung aus
Trotz und Skepsis an: „Guck nicht so! Ich hör damit wieder auf,
sobald hier wieder Ruhe einkehrt.“
Mark setzte sich ihr vorsichtig gegenüber und starrte Teresa an,
während er krampfhaft versuchte, sie eben nicht so anzustarren,
wie er es tat.
Es gelang ihm ein misslungenes Lächeln aufzusetzen und ein
zaghaftes „Okay“ herauszuquetschen, den geholten Morgenrock
ließ er unbeachtet auf seinen Schoß sinken.
„Ich muss sagen, ein Jobwechsel klingt gut. Wenn er besser
bezahlt wird, ist das sogar wunderbar.“, sagte Teresa und drückte
ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus.
Wir haben sogar wieder Aschenbecher? dachte Mark und fühlte sich
immer miserabler.
Teresa stand auf, öffnete den Hängeschrank und nahm zwei
Kaffeebecher heraus. Sie goss den heißen Kaffee ein und kam
zurück zum Küchentisch: „Aber ich kann mir einfach nicht
vorstellen, dass du nachts um zwei oder drei Uhr ein
Vorstellungsgespräch auf einer Raststätte hast. Das kannst du mir
nicht erzählen.“
„Nein, natürlich nicht.“, sagte Mark und nippte an seinem Kaffee.
„Das war doch kein Vorstellungsgespräch. Das war nur ein
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Gespräch mit Harald. Er wäre nicht mein Vorgesetzter, sondern
mein Kollege, verstehst du? Das war rein informativ. Ohne
Wertung. Nur um zu abzugleichen, ob ich mir sowas vorstellen
könnte. Und ich kann es mir vorstellen. Was genau er verdient, hat
er mir nicht gesagt, aber es klang nach viel. Hinzu kommt ein
Firmenfahrzeug und scheinbar völlige Entscheidungsfreiheit der
Arbeitszeit. Er sagte, und ich zitiere: Ich muss weiter, wenn ich
den Rest der Woche frei haben möchte. Ist das nicht genial? Ich
ruf da morgen in der Mittagspause an.“
Teresa ließ ein leichtes Lächeln erahnen, sah aber im Großen und
Ganzen so unglücklich aus, dass Marks Herz schwer wurde:
„Teresa? Was ist passiert? Was ist los? Geht es um Dennis? Die
Schule?“
Teresa schob mit ihrem Fuß einen Küchenstuhl vom Tisch weg
um Mark wortlos aufzufordern, sich hinzusetzen.
Mark rückte den Stuhl zurecht, setzte sich hin, nahm einen
weiteren Schluck Kaffee und harrte der Dinge, die seinem Gefühl
nach nun kommen würden.
Kurz danach brach seine Welt in tausend Teile.
-
Die beste Voraussetzung, um einen Arbeitstag mit furchtbar
schlechter Laune zu starten, ist, eine kurze und schlafarme Nacht
zuvor gehabt zu haben. Eine Feststellung, die zwar profan und nur
logisch ist, die aber Mark nun am eigenen Leib zu spüren bekam.
Schon allein die Fahrt zu Schrauben-Manny entpuppte sich zu
einer quälend langen Odyssee, in der Mark, nicht nur einmal,
beinahe die rechte Spur der Autobahn, auf der er in gefühlter
Schrittgeschwindigkeit tuckerte, wechselte. Mal nach links, wo er
umgehend von viel schnelleren Fahrzeugen angehupt wurde und
mal nach rechts, wo sich die Leitplanke der A61 bedrohlich
näherte und ihn immer wieder aufschrecken ließ.
Ich hätte mich krankmelden sollen, dachte er wiederholt, während er
seinen Golf in eine Parklücke vor dem Baumarkt bugsierte.
Der gestrige Abend hatte sich zu einem der schlimmsten Abende
entwickelt, die er sich nur vorstellen konnte und Teresas Tag trug
nicht unbedingt zu einer harmonischen Versöhnung zu dem
Gestern bei.
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Zunächst berichtete sie von ihrem Bankbesuch, was Mark schon
sämtliche Farbe aus seinem Gesicht trieb. Ohne Mark aber auch
nur eine Atempause zu gönnen, fuhr sie direkt mit ihrem
Ohnmachtsanfall, nebst anschließendem Krankenhausaufenthalt,
fort und endete schließlich mit dem Bericht über die Dreistigkeit
ihrer Nachbarn, die Kinder bei sich ungefragt einzuquartieren.
Mark fasste es nicht. Schön, es war zwar „nur“ für eine Nacht,
aber wo lag das Problem, die Kinder hier zu Bett zu bringen und
sich bis zu Teresas Rückkehr hier aufzuhalten?
Mark gelang es nicht, sich all diese Fakten zurechtzulegen und sie
nach Logik zu sortieren.
Wie sollte er auch? Teresa garnierte ihre Erlebnisse nämlich
kontinuierlich mit Vorwürfen.
Vorwürfe wegen der Unerreichbarkeit von Mark.
Vorwürfe wegen Marks „heimlichtuerischer Art und Weise“ der
letzten Tage.
Vorwürfe darüber, dass die Motorhaube des SUVs so aussieht, als
ob Mark am Abend zuvor eine kleine Testfahrt im „Jurassic Park“
unternommen hätte.
Irritiert aber erleichtert stellte Mark allerdings fest, dass Teresa
offensichtlich nicht auf Antworten oder Erklärungen bestand,
zumindest noch nicht. Sie wollte sich scheinbar nur freireden und
Mark sah eine Last nach der anderen von ihrer Seele plumpsen.
Dass sie ihre Probleme lediglich „umlagerte“, von sich auf ihn,
interessierte seine Frau offenbar nicht und Mark wollte ihr das zu
diesem Zeitpunkt auch sicherlich nicht aufbinden.
Sie hatten einen riesigen Sack voller Probleme, soviel stand fest,
und kein Problem schien schwerer oder leichter als das andere zu
sein.
Mark war kein Typ, vorschnell die Flinte ins Korn zu werfen, aber
heute war ein Tag, an dem eine Möglichkeit der Resignation zum
Greifen nah war, das spürte er.
Er betrat den Baumarkt über den Personalzugang und stieg die
schmale Treppe zum Pausenraum empor. Als er seinen Spind
öffnete, warf er noch rasch einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Deutschen Pünktlichkeit.“,
murmelte er vor sich hin und griff zu seiner Stempelkarte, um
seine Anwesenheit abzustempeln.
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„Bei uns heißt es aber zehn Minuten vor der Zeit.“ Die Stimme
erklang so plötzlich, dass Mark seinen Rucksack, welchen er gerade
in seinem Spind deponieren wollte, fallen ließ.
Er wirbelte herum und blickte in das breite, hämische Grinsen,
welches das Gesicht von Feist zierte.
Mark erholte sich schnell von dem Schrecken, sah Feist kurz an
und brummte: „Was willst du?“
Er hob seinen Rucksack auf, klopfte ihn (zugegeben recht
theatralisch) ab und stellte ihn nun endlich in den Spint. Die
Herkunft des Klirrens, welches er eben aus dem Inneren hören
musste, würde er wohl oder übel später inspizieren müssen.
„Pünktlichkeit!“, sagte Feist und starrte dabei provokant auf seine
abartig pompöse Armbanduhr.
Wer, zur Hölle, trägt heute noch goldene Armbanduhren? Hatte er die gestern
auch schon? dachte Mark. Er sah Feist erwartungsvoll an.
Da Mark nichts erwiderte, schien Feists Grinsen zu straucheln. Er
hatte sich offenbar auf ein Wortgefecht eingestellt und jetzt, wo es
ausblieb, schien er sich seiner Sache nicht mehr ganz so sicher zu
sein.
Mark genoss diesen Augenblick. Es war, als ob immer mehr
Energie in seinen müden Körper floss, je länger dieser Augenblick
andauerte.
Äußerlich versuchte Mark sich seine Freude über die Unsicherheit
seines Gegenübers nicht anmerken zu lassen. Er behielt seine
unbeeindruckte, marmorierte Fassade, zumindest hoffte er das.
„Sonst noch was oder kann ich jetzt endlich in meine Abteilung?“,
fragte Mark und sah weiterhin Feist an. Er addierte eine Prise
Verachtung in seine Mimik und hoffte, dass ihm das gelang.
Ein Königreich für einen Spiegel, dachte er. Mark musste einfach
blindlings auf den gelungenen Ausdruck seiner Mimik vertrauen.
Die Reaktion von Feist bestätigte seine mimischen Mühen. Feists
Körperhaltung fiel beinahe wie ein Kartenhaus zusammen und er
machte Mark, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, Platz.
Nachdem Mark den „schlimmsten Kollegen der Welt“ passiert
hatte, brach sein siegreiches Grinsen aus seinem versteinerten
Gesicht hervor. Lautlos.
Jetzt durfte er grinsen, niemand konnte es sehen.
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„Sieger?“ Marks verbesserte Laune hielt genau bis zu der Ankunft
in seiner Abteilung an. Als er nämlich wieder die tristen Regale sah,
vollgestopft mit Lacken und Lasuren, die sich immer wieder
leerten und füllten, wie der Kreislauf des Verderbens, sank die
eben noch mühselig erhobene Laune in einen Tiefpunkt, den er in
all den Jahren, an denen er sich um diese Abteilung gekümmert
hatte, nie erreicht hatte.
Er spürte es im tiefsten Inneren: Er war fertig mit all dem. Es
kotzte ihn einfach an, hier zu sein. Er hasste diesen Ort. Und jetzt
rief auch noch die Kasse an. Er meldete sich mit rotziger Stimme
und hielt den alten Knochen, welcher sich Telefon nannte,
krampfhaft an das Ohr.
„Hallo Mark, hier ist Lisa.“, knätschte ihm die ewig
kaugummikauende Lisa entgegen.
Umgehend zog sich alles in Mark zusammen. Er konnte es nicht
leiden, wenn ihm jemand ins Ohr kaute. Es klang schlicht abartig.
„Ja schön. Hör bitte auf zu kauen, ich versteh dich nicht.“, log er,
denn er konnte jedes Wort verstehen.
„Ja sorry.“, sagte Lisa und schluckte.
Mark schüttelte sich vor Ekel: „Hast du den jetzt
runtergeschluckt?“
Aus dem Telefon drang kurzzeitig Stille, gefolgt von einem
zaghaften: „Ja?!“
Mark seufzte: „Was gibt’s?“
Lisa schien sich an den Grund ihres Anrufs zu erinnern und fuhr
geschäftig fort: „Kannst du mir mal bitte den Preis von der
Bohrmaschine geben?“
Mark verdrehte seine Augen. Wieder einmal fragte er sich, nach
welchem Kriterium diese Hupfdohle diesen Job bekommen hatte.
Er hatte ihr schon so oft geholfen, immer wieder und auch so oft
mit sich ständig wiederholenden Sachen, aber sie hatte sich nichts
von all dem gemerkt.
„Hallo?“ Lisa schien verunsichert, weil Mark so lange schwieg.
„Natürlich kann ich dir den Preis von der Bohrmaschine nennen,
denn wir haben zum Glück ja nur eine. Auf dem Karton steht auch
zum Glück „Die Bohrmaschine“, richtig?“ Mark wanderte bereits
vorausschauend zur Maschinenabteilung.
Er war sich sicher, Lisa würde seinen Sarkasmus nicht verstehen.
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„Nee, da steht „BOSCH GBM 10 RE“ auf dem Karton.“
Er hatte recht.
„Prima.“, sagte er und erreichte soeben das Regal mit den Bosch-
Maschinen.
„Warum rufst du denn nicht Hasan an?“, fragte er und ließ seinen
Blick über die verschiedenen Bohrmaschinen gleiten, auf der
Suche nach dem richtigen Modell.
„Hasan?“, klang es aus dem Hörer. „Der hat sich doch heute frei
genommen. Wusstest du das nicht?“
Mark ließ seine Schultern sinken. Der Tag würde heute nicht
besser werden. Kein bisschen.
„Töpfer?“ Die Stimme klang freundlich und leicht blechern aus
dem Hörer aus Marks Handy. Das blecherne kam mit Sicherheit
nicht von Haralds Stimme, sondern von dem immer schlechter
werdenden Samsung Galaxy S7, welches Mark nun schon Jahre
nervte, aber sich offenbar immer noch nicht die Blöße geben
konnte endlich das Zeitliche zu segnen.
„Hi Harald, ich bin es, Mark.“ Marks Herz raste.
Nachdem er ein paar Mal versucht hatte, Hasan zu erreichen, fiel
er ins tiefe Grübeln. „Insinking“, so nannte Teresa das immer.
Nachdem er grübelnder Weise seine gesamte Abteilung auf
Vordermann gebracht und kartonweise für Nachschub gesorgt
hatte, fiel sein Entschluss. Er hatte keine Lust mehr auf diesen
Laden. Harald hatte ihm gestern eine Welt gezeigt, na gut, einen
kleinen Teil einer möglichen Welt, die ihm minütlich immer
attraktiver wurde. Er wollte es versuchen und vor allem wollte er
sich nicht in zwei Monaten im Spiegel ansehen und sich dafür
schämen, dass er es nicht zumindest versucht hatte.
Er wollte was Neues, auf jeden Fall. Am liebsten gleich zu
„Kaffee-Traum“.
Wenn es nicht funktionierte? Was solls, dann würde er es
irgendwo anders probieren.
„Schrauben-Manny“ war Geschichte, so oder so.
Er hatte beinahe schon gute Laune, war auf seine eigene
Entschlossenheit stolz und hatte vor ein paar Minuten zu seinem
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Handy gegriffen und Haralds Nummer gewählt, während er sich in
den hinteren Reihen der Tapeten verkroch.
Privatgespräche waren für Bergmann (und damit auch Feist) ein
beinahe ebenso großes Gräuel, wie zu spät am Dienst zu
erscheinen.
„Mark? Welcher Mark?“, klang es aus dem Hörer und Mark fror
sein Lächeln in die Gesichtszüge.
Na gut, versuchte er sich gedanklich zu beruhigen, Harald trifft
täglich etliche Leute. Warum sollte er sich diesen kurzen Moment merken?
Als Mark schon ansetzte, um sich nochmal ins Gedächtnis zu
rufen, schallte es lachend aus seinem Handy.
„Ich nehme dich doch nur auf dem Arm, mein Bester. Mark
Sieger, richtig? Na? Wie sieht es aus, was verschafft mir die Ehre?“
Haralds Stimme sprühte förmlich vor guter Laune und Mark
erwischte sich mit einer Mischung aus Vorfreude (in der
Hoffnung, auch einmal auf der Arbeit eine solche Freude zu
verspüren) und Neid (weil er auf seiner Arbeit nie solch eine
Freude hatte).
Mark räusperte sich. Er fragte sich, ob es angemessen sei, sofort
seine Absichten hier und jetzt auf dem Tisch zu legen, oder ob er
zunächst ein wenig Smalltalk halten sollte.
Smalltalk? Mit Harald? Er kannte diesen Mann doch kaum, eher
sogar gar nicht. Was sollte er mit ihm sprechen?
„Fußball war gut, oder?“ Mark war sich nicht sicher, wer das
gesagt hatte. Sein Verdacht legte ihm nahe, dass das aus seinem
Mund kam und als er sich umsah und niemanden in seiner Nähe
ausfindig machen konnte, war er beinahe sicher.
Das Lachen, welches durch das Handy schallte, bestätigte Marks
Verdacht.
Mark wurde rot und dachte kurz darüber nach, einfach aufzulegen,
die Visitenkarte, welche er verkrampft in seinen Händen hielt,
wegzuwerfen und sich mental auf eine quälend lange Zeit, welche
bis zu seiner späten Pensionszeit reichen würde, im verhassten
Baumarkt einzustellen.
Da fing Harald sich und sprach: „Keine Ahnung, Mark. Ich gucke
kein Fußball. Aber weißt du was? Ja, die Stelle ist immer noch frei
und zufälligerweise komme ich soeben aus der Zentrale in
Frankfurt. Ich habe meinen Chefs von unserem gestrigen Treffen
erzählt und die würden gerne mal mit dir sprechen.“
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Marks Atem wurde flacher, er glaubte sich verhört zu haben.
„Bist du noch dran?“ Harald schien unsicher zu werden.
„Ja“, krächzte Mark.
Harald lachte wieder kurz auf: „Deswegen bin ich nämlich so froh,
dass du anrufst. Ich habe dir tatsächlich nur meine Karte gegeben
und hatte von dir gar nichts. Ich habe also gehofft, dass dir der
Eindruck von letzter Nacht zumindest für einen Anruf ausreichen
würde. Das scheint immerhin der Fall zu sein.“
Marks Gesicht machte sich selbstständig. Ein breites Lächeln
erschien darauf und sofort fing sein ganzer Körper an zu kribbeln.
Gleichzeitig versuchte er seine aufkommende Euphorie zu
bremsen. Das war eine reine Schonungshaltung, zu viel war ihm
gerade in der letzten Zeit passiert. Schlichtweg, das klang alles
einfach zu schön.
„Ja absolut.“, antwortete er mit belegter Stimme. Er räusperte sich,
um seine Stimme zu befreien.
„Das ist gut. Pass auf, schreib mir doch bitte eine SMS mit deiner
Telefonnummer und am besten auch deine E-Mail-Adresse. Ich
schicke dir dann umgehend eine E-Mail mit der korrekten Seite
zum Bewerberportal. Aber jetzt kommt das Beste: Du landest mit
dem Link nicht auf dem normalen Bewerberportal, sondern bist
sofort im Pool meines direkten Chefs, verstehst du?“ Harald
wartete geduldig ab, ob Mark mitkam.
Mark kam nicht mit: „Äh, leider nein. Pool?“
Harald erklärte geduldig: „Ja. Bewerberpool oder Topf. Also,
normalerweise schreibst du eine Bewerbung über das Portal und
über 70 % der Bewerber werden dort bereits aussortiert, ohne dass
auch nur ein Mensch diese Bewerbung liest. Ist traurig, aber die
Wahrheit. Der Job ist hochbegehrt und die können nur durch
Logarithmen den Ansturm ausdünnen. Das, was von den
Bewerbungen übrigbleibt, wandert zur HR-Abteilung. Human
Resources. Das ist das Personalbüro, nennt sich aber nicht mehr
so. Muss halt alles englisch betitelt werden, ist halt so.“
Soweit, so gut, dachte Mark und signalisierte mit einem deutlichen
„Okay?!“, dass er noch folgen konnte.
„Schön.“, sagte Harald. „Und wenn die Damen und Herren aus
der HR-Abteilung fertig sind, geht es zum Chef. Verstehst du?“
„Ja“, sagte Mark und meinte es auch vollkommen ernst. Er begriff
nun endlich, was Harald ihm zu erklären versuchte. „Du meinst,
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du schickst mir mit deinem Link eine Art Abkürzung. Ich
überspringe das Auswahlverfahren und dein Chef liest sofort die
Bewerbung.“
Harald lachte auf: „Correctamundo, mi amigo. Du hast es
verstanden. Und glaub mir, der Rest wird ein Spaziergang. Die
haben bis jetzt auf jede Empfehlung, die ich ausgesprochen habe,
gehört.“
Mark fühlte sich plötzlich federleicht, er hatte eine solche Wucht
an Glücksgefühlen schon lange nicht mehr gefühlt.
Alles sah so aus, als ob er endlich mal Glück hätte und über kurz
oder lang diesen Laden verlassen könnte.
Er sprach laut ein „YES!“ aus und streckte seine Faust zur Decke.
Er sah aus wie Rocky nach dem Sieg über Apollo Creed, nur dass
sein Gesicht nicht dieselben Blessuren hatte.
In dem Moment betrat Feist mit einem Kunden die
Tapetenabteilung und beide starrten Mark verwirrt an. Mark ließ
schnell seine siegessichere Faust sinken und drehte sich weg.
„Hör mal Mark,“ klang es aus dem Handy. „Ich muss jetzt mal
weitermachen und du sicherlich auch.“
Eine Hand legte sich auf die Schulter von Mark und drehte ihn
um. Feist sah ihn mit hochrotem Kopf an: „Ist das ein
Privatgespräch, Sieger? Kein Wunder, dass der Kunde sie im
ganzen Markt suchen muss.“
Mark schüttelte hastig den Kopf und versuchte noch nebenher
Haralds Worten zu lauschen.
Harald fuhr fort: „Mach das gleich mal bitte mit der SMS und wir
unterhalten uns später, okay?“
Feist begann nun tatsächlich an Marks Arm zu zerren. Um was
genau zu tun? Wollte er Mark tatsächlich sein Handy abnehmen?
Mark riss seinen Arm zurück und spuckte schnell seine Antwort
aus: „Ja, mach ich und vielen lieben Dank.“
Mark hörte noch die Antwort von Harald („Kein Problem. Und
denk dran, du kannst mich jederzeit anrufen. Du brauchst auch
keinen Vorwand wie Fußball, um mich zu sprechen.“), nur dünn,
da Feist ihm nun den Arm nach unten bog. Feists Gesicht war vor
Anstrengung puterrot und sein Blick hatte etwas Manisches.
Mark ließ plötzlich seinen Arm locker. Mit dieser Bewegung hatte
Feist nicht gerechnet. Er schnellte nach unten, verlor sein
Gleichgewicht und strauchelte verdächtig. Mark gab ihm noch
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einen kleinen Schubs und schon saß Feist auf dem Boden und sah
Mark verdattert an.
Der Kunde schnappte nach Luft.
„Bist du eigentlich bescheuert?“, fragte Mark und half Feist wieder
auf die Füße. „Was sollte das werden?“
„Das war ein Privatgespräch Sieger,“ schnappte Feist „und Sie sind
hier für die Kundschaft zuständig. Private Gespräche führen Sie
gefälligst zu Hause oder in Ihrer Mittagspause.“
Mark lächelte seinen Kollegen an: „Apropos Mittagspause. Ich geh
dann mal in Pause, Herbert. Hältst du die Stellung? Danke!“
Mark ließ den Kunden und Feist stehen, verließ seine Abteilung
und wählte auf dem Weg nach oben nochmal Hasans Nummer. Er
musste es einfach jemandem sagen.
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Kathrin Husenkamp lächelte Teresa mit einer Mischung aus
Herzlichkeit und Unsicherheit an: „Ehrlich Teresa, du kannst auch
gerne reinkommen. Das hat uns auch wirklich nichts ausgemacht.
Wir mögen eure Kinder doch so gerne. Sie können jederzeit bei
uns sein und auch übernachten.“
Teresa stand vor der Haustür der Husenkamps, hielt Dani an der
Hand und versuchte sich gar nicht erst in einem halbherzigen
Lächeln. Es würde sowieso nicht funktionieren, weil Dani zu
quengeln und zappeln begann und loswollte. In solchen
Momenten erinnerte Dani Teresa immer an den Labrador ihrer
Eltern, der jegliche Art von Stillstand umgehend lautstark
kommentierte und teilweise sogar bitterlich zu heulen begann.
Dani, der Labrador, dachte Teresa. Das passt irgendwie.
Sie hatte soeben Dennis, der schon längst, ohne auch nur ein Wort
zu wechseln nach Hause entflohen war, und Dani vom Nachbarn
in Empfang genommen und fühlte sich immer noch von den
Husenkamps überrumpelt.
„Ehrlich gesagt, fand ich das von euch etwas übereilt.“, sagte
Teresa mit der (hoffentlich) richtigen Mischung zwischen
dezentem Vorwurf und lockerem Verhalten.
Kathrin blinzelte verständnislos, ihr Lächeln immer noch
aufrechterhaltend: „Was meinst du, Schätzchen?“
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Teresa versuchte erneut das „Schätzchen“ zu ignorieren: „Naja, ihr
hättet bei uns warten können, oder?“
Ein Funkeln blitzte in Kathrins Augen auf: „Teresa, Schätzchen.
Ich hatte das Essen auf dem Herd. Wie stellst du dir das vor? Wir
essen abends immer pünktlich.“
Teresa spielte gedanklich den weiteren Gesprächsverlauf durch.
Babyfon erwähnen? Nach dem Essen zurück nach Hause bringen?
Dennis abends auf Dani aufpassen lassen? Es hätte so viele
Möglichkeiten gegeben, bevor man die abwegigste hätte nehmen
müssen.
Mal im Ernst: Welcher Mensch nimmt die Kinder seines neuen
Nachbarn zu sich nach Hause und macht sie dort gleich bettfertig
und legt sie auch noch in einem fremden Zimmer, in einem
fremden Bett hin?
Sowas macht man doch nicht, oder?
Dachte Teresa in diesem Fall zu verbohrt und zu spießig?
Ist es das, was ein Dorfleben ausmacht?
Sie kam aus einem Dorf, zwei Dörfer weiter, um genau zu sein,
aber damals hatte es doch so etwas nicht gegeben, oder?
Sie kam auf keinen Nenner, war sich allerdings sicher, dass sie es
sich an dieser Stelle schenken konnte, die naheliegenderen
Möglichkeiten Katharina gegenüber auszubreiten. Sie hätte für jede
Möglichkeit ein Gegenargument liefern können, ob sinnvoll oder
sinnlos. Außerdem wollte sie Katharina nicht zu sehr vor dem
Kopf stoßen, denn undankbar wollte sie auf keinen Fall
erscheinen.
„Du hast sicherlich recht, Katharina. Ich habe es mir ja auch nicht
so ausgesucht.“ Teresa versuchte sich jetzt doch in einem
zaghaften Lächeln und stellte erfreut fest, dass es ihr offenbar
gelang.
Das Funkeln und die Unsicherheit in Katharinas Mimik
verschwanden umgehend und sie kam mit weit geöffneten Armen
auf Teresa zu.
Widerwillig ließ Teresa die Umarmung zu.
Ihre Nackenhaare sträubten sich, als Kathrin nun auch noch in ihr
Ohr flüsterte und dabei viel zu viel Atem in ihr Ohr pustete.
Das kannte sie noch von ihrer Oma mütterlicherseits. Auch sie
flüsterte Teresa ständig ins Ohr mit zu viel Atem. Sei es in der
Kirche, in der man nur flüstern (wenn überhaupt) durfte, sei es die
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Verschwörung um die Tafel Schokolade, die Oma Jutta ihr in den
Rucksack geschmuggelt hatte oder wenn sie ihr den ein oder
andern Tipp gab, was sie Teresa zum Geburtstag schenken würde.
Immer dieses „feuchte Raunen“ in ihr Ohr.
Teresa hatte es immer gehasst und sich zeitgleich für die Abscheu
geschämt, weil sie Oma Jutta eigentlich sehr lieb gehabt hatte.
„Wenn du Schwierigkeiten oder Probleme hast, meine Liebe,
kannst du jederzeit mit mir darüber reden. Wir sind schließlich
Nachbarn und keine Fremden.“, war dieses Mal das Ergebnis des
„feuchten Raunens“ und kam dieses Mal von Katharina
Husenkamp.
Sie ließ Teresa los und ihre wässrigen Augen schauten Teresa
aufmerksam an. Während Teresa noch grübelte, ob Kathrin
tatsächlich Tränen in den Augen hatte, tupfte diese ihre
Augenwinkel ab.
Alle Achtung. Sie ist von ihren eigenen Worten gerührt. Das muss man auch
erstmal hinbekommen, dachte Teresa und wandte sich zum Gehen.
„Danke Kathrin. Wer weiß, vielleicht komme ich darauf noch
zurück.“, sprach sie noch über ihre Schulter und verließ das
Grundstück der Husenkamps.
„Mit allem!“, rief Kathrin hinterher. „Auch mit unangenehmen
Sachen, Schätzchen.“
Teresa hob ihre Hand, um ihr Begreifen zu demonstrieren,
schüttelte sich jedoch innerlich.
Kaum hatte sie die Haustür erleichtert hinter sich geschlossen,
stand Dennis bereits vor ihr, sein Handy in der Hand.
Sein Stand war seltsam, irgendwie schwankend und unsicher.
Waren das etwa Tränen in seinen Augen?
Gott, was ist heute nur los, dachte Teresa noch, als Dennis ihr
plötzlich um den Hals fiel.
Er lachte und weinte zugleich: „Ich liebe dich Mama. Es tut mir
leid, dass ich in der letzten Zeit so furchtbar war. Ich mache das
alles wieder gut.“
Teresa verstand nichts, überhaupt nichts, aber ihr kam auch nicht
einmal der Gedanke, ihren Sohn wieder loszulassen.
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„Du hast was?“ Mark wäre vor Schreck beinahe das Handy aus der
Hand gefallen. Er begann zu zittern, seine Knie gaben nach und er
sah sich nach der erstbesten Sitzgelegenheit um. Kurzerhand setzte
er sich auf einem Karton Tapeten, in welchem er allerdings
umgehend einsank und sich so festsetzte. Er konnte nicht
dämlicher, als Mr. Bean oder Stan Laurel aussehen.
Welcher Idiot nimmt Tapeten aus dem Karton und lässt den Karton stehen?
Mark kletterte ärgerlich aus dem Karton, kippte dabei zu Seite und
setzte dem ganzen „Slapstick Szenario“ noch die Krone auf.
Endlich wurde er den Karton los, trat ihn in irgendeine Ecke und
richtete sich nun wieder an Hasan, der am anderen Ende der
Leitung geduldig wartete.
Hasan klang aufgeregt: „Bist du noch in der Pause? Kannst du
zum „Subways“ kommen? Am Telefon möchte ich das nicht
wiederholen.“
Mark verzweifelte: „Nein, meine Pause ist zu Ende. Ich habe die
ganze Zeit versucht, dich zu erreichen. Ich drücke mich die ganze
Zeit wieder in der Ecke bei den Tapeten herum, aber der Feist hat
mich eben trotzdem erwischt. Wahrscheinlich schreibt er schon
ein Protokoll für Bergmann.“
Hasan lachte und Mark konnte nicht anders und stimmte in
Hasans Lachen ein. Der Streit von der vergangenen Nacht schien
vergessen und das beflügelte Marks Hoch noch mehr, als das, was
er an diesem Morgen alles schon erlebt hatte.
„Bitte Hasan, sag es einfach nochmal. Du brauchst ja nicht alles
deutlich auszusprechen.“ Mark wollte es nochmal hören. Das
Unglaubliche, was Hasan eben gesagt hatte.
Hasan seufzte: „Na gut. Es ist vorbei. Alles ist weg!“
Mark bekam eine Gänsehaut. Das konnte er einfach nicht glauben.
An einem Tag?
Mark räusperte sich und fragte trotzdem nochmal nach: „Alle vier
Kartons?“
Hasan sog die Luft ein: „Mann, Mark, ist gut jetzt.“
„Meine Güte Hasan, ich spreche von Karton… von Schuhkartons.
Wo ist das Problem?“ Mark wollte es einfach so genau wie
möglich wissen, warum konnte Hasan das nicht verstehen?
Hasan schien es jetzt aber zu verstehen, denn er lachte und sagte:
„Ja genau. Alle vier Schuhkartons sind weg und ich habe Viktor
Klitschko schon Bescheid gegeben und…“ Hasan machte eine
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bedeutungsvolle Pause: „…Klitschko hat Dennis Rodman
angerufen und ihm gesagt, dass er raus ist. Verstehst du? Dennis
Rodman muss sich nicht mehr um Viktor Klitschko kümmern,
arkadaş!“
Mark dachte kurz nach und sprach mehr zu sich selbst: „Dennis
Rodman?“
Hasan grunzte verärgert, gab aber seufzend nach: „Was würde der
Vater von Dennis Rodman nur dazu sagen?“
Mark ärgerte sich über seine Begriffsstutzigkeit. Natürlich! Viktor
war also ausgezahlt oder stand kurz davor ausgezahlt zu werden.
Infolgedessen hat Viktor seinen Sohn Dennis aus seiner Pflicht
genommen und ihn offenbar auch schon darüber in Kenntnis
gesetzt.
Das war es also!
Keine Schulden mehr bei Viktor, dem „König von Kölnberg“.
Heute war offenbar der Tag des Aufräumens und Mark fühlte sich
so gut und lebendig, wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr!
Sollte er mit so einem Hochgefühl echt den Tag hier im muffigen
„Schrauben-Manny“ ohne Hasan verbringen? Zudem mit der
Gewissheit, dem Laden früher oder später (eher früher als später)
den Rücken zuzukehren?
„Bist du morgen wieder hier?“, fragte Mark und begab sich bereits
auf den Weg zur Abteilung für sanitäre Anlagen.
„Ich weiß noch nicht, arkadaş. Ich muss da über etwas
nachdenken.“ Hasan schien zu wanken und Mark wurde neugierig.
Er passierte hilfesuchende Kunden, winkte dem ein oder anderen
Kunden fröhlich- sarkastisch zu und bahnte seinen Weg weiter zur
Abteilung von Feist.
„Worüber denkst du denn nach?“, fragte Mark. Er versuchte
möglichst aufmerksam zu klingen, obwohl er in Gedanken schon
den kommenden Dialog abspielte.
Hasan antwortete, doch Mark kam in dem Moment bei Feist an.
Dieser hatte sich, wie immer, von Lisa einen Sub mitbringen lassen
und aß ihn (auch wie immer) an seinem Abteilungspult.
Feist aß immer im Verkaufsraum. Völlig unverständlich, dass
Bergmann ihm diese Abart durchgehen ließ. Scheinbar empfand
Bergmann diese Eigentümlichkeit als Hingabe und
Dienstbeflissenheit, Mark konnte sich keine bessere Erklärung
vorstellen. Er selbst empfand es als respektlos gegenüber der
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Kundschaft, aber nun gut. Sollten sie doch alle hier machen, was
sie wollten.
„Was gibt’s?“, fragte Feist und kaute dabei schmatzend weiter.
Wenn ich dein Kunde wäre, dachte Mark, kam jedoch nicht dazu, den
Gedanken weiter zu verfolgen. Er musste seinen Plan in die Tat
umsetzen. Jetzt!
„Herbert, ich muss nach Hause.“, sagt er und bemühte sich
äußerst gequält zu klingen.
Feist stellte für einen Moment das Kauen ein und sah Mark
verwundert an: „Was? Wieso?“
Es war soweit. Marks Zauberstunde begann. Er ließ seine
Schultern hängen, machte ein gequältes Gesicht und dachte gezielt
an eklige Sachen.
Der Käse, den Teresa und er vor Jahren in der hintersten Ecke des
Kühlschranks entdeckt hatten, half dabei immer.
Dieser Käseblock war so ekelerregend gewesen, dass allein die
Erinnerung an diesen schimmeligen Haufen undefinierbarer Masse
ein dumpfes Gefühl in Marks Magengegend hervorbrachte.
Es schien zu wirken, denn Feist legte sein Sandwich ab und wich
einen Schritt zurück: „Sieger! Was ist los mit Ihnen?“
Nun kam die Königsdisziplin: Marks leidende Stimme.
„Mir ist so schlecht.“, sagte er und klang dabei absolut
überzeugend. Wie immer.
Er hatte es einmal geschafft, nur mit dieser Stimmlage einen
Freund zum Erbrechen zu bringen. Natürlich hatte dieser zuvor
das ein oder andere Bier zu viel, aber dennoch hatte er es
geschafft.
Er toppte es noch, in dem er so tat, als würde er sauer aufstoßen
und bemerkte, innerlich voller Freude, wie die Farbe aus Feists
Gesicht wich.
„Ja, das sehe ich. Na gut, gehen Sie. Aber holen Sie sich ein
Attest.“ Feist riss sich zusammen, trat wieder näher an sein Pult
und nahm sogar sein Sub wieder auf.
„Ist gut, mache ich“, sagte Mark in leidendem Ton. „Ich weiß es
auch nicht, Herbert. Heute Morgen ging es mir so gut und kaum
bin ich aus der Pause, könnte ich mich ständig übergeben. Weißt
du, ich habe es echt versucht, Herbert. Ich will ja gar nicht krank
machen. Meine Abteilung ist dann ganz alleine.“
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Wenn es einmal läuft, dann läuft es, dachte Mark und gefiel sich
ausnehmend in seiner Rolle des leidenden Märtyrers.
Feist schien sich komplett gefangen zu haben, denn er biss jetzt
sogar wieder in sein Sandwich: „Komm. Lassen sie es gut sein,
Sieger. Den hingebungsvollen Abteilungsleiter kauft Ihnen jetzt
keiner mehr ab. Fahren Sie nach Hause.“
Frechheit, dachte Mark und setzte zum finalen Todesstoß an: „Ja ist
gut. Danke, Herbert. Ich glaube, ich weiß jetzt, warum das
Gesundheitsamt das Subways hochnehmen wollte, aber ich wollte
ja nicht hören.“
Mark gönnte sich noch ein paar Sekunden und sah genüsslich zu,
wie Feist immer langsamer kaute.
Um seine mühselig improvisierte Show nicht zu versauen, drehte
er sich abrupt weg und wankte zum Aufenthaltsraum, um seine
Sachen zu holen.
Als er hinter sich etwas Schweres in Feists Papierkorb plumpsen
hörte, konnte er sich ein Grinsen allerdings nicht verkneifen.
Das triumphierende Grinsen hielt nur an, bis Mark in seinem Golf
den Parkplatz von „Schrauben-Manny“ verließ, denn in dem
Moment fiel ihm erst wieder Hasans Antwort auf seine Frage
„Worüber denkst du denn nach?“ ein.
Mark würde jetzt wieder gerne die Zeit zurückdrehen können.
Wenn er das nämlich könnte, würde er definitiv auf Hasans
Antwort Fragen stellen.
Die Antwort schwirrte nun ständig und permanent in Marks
Ohren nach: „Wir haben nicht zehn, sondern siebzehn für die vier
Schuhkartons bekommen.
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„Wir müssen es ja nicht übertreiben.“ Hasans Stimme klang
beinahe flehentlich, als würde er auf eine Art Segen von Mark
warten.
Diesen Segen wird er nicht bekommen, dachte Mark, lauschte jedoch
weiter den Worten Hasans.
Mark war an einem Parkplatz angefahren, als Hasan Mark endlich
zurückrief. Mark hatte es nur einmal gewagt, mit seinem Handy am
Ohr weiterzufahren. Er war umgehend von einer Polizeistreife
erwischt worden und musste sowohl eine Standpauke als auch die
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Herausgabe von 100 € über sich ergehen lassen. Der beflissene
Polizist versicherte ihm damals, dass er genauso gut ein Fahrverbot
von einem Monat und 150 € hätte aussprechen können, wenn
Mark es wollte.
Mark wollte nicht und zahlte zähneknirschend per EC die 100 €.
Direkt am nächsten Tag kaufte er sich im „Schauben-Manny“
einen Bluetooth-Lautsprecher, der im Zigarettenanzünder
eingesteckt wird. Sie hatten Wochen zuvor mehrere dieser
Lautsprecher für die Kassenzone eingekauft, um sie dort mit einer
Gewinnspanne von beinahe 70 % an ahnungslose Kunden zu
verkaufen.
Dieses dämliche Gerät hielt knapp zwei Wochen, danach
funktionierte nichts mehr an dem Ding.
Deswegen: Parkplatz.
Mark seufzte: „Hasan! Jetzt buch das um Himmels Willen als
glücklichen Zufall ab und vergiss das Ganze.“
Hasan klang leise, aber bestimmt: „Ich glaube nicht, arkadaş.“
Mark schloss die Augen und lehnte seinen Kopf gegen die Stütze.
Diese „Ups and Downs“ der letzten Tage zehrten an Mark, er
spürte es. Er war urplötzlich furchtbar müde.
„Also?“, fragte Mark und hörte seine eigene Bitterkeit in seiner
Stimme. „Möchtest du dich also vom Fachverkäufer von
Elektrowerkzeugen zu einem Drogendealer befördern?“
Hasan sog scharf die Luft ein: „Alter! Bist du bescheuert? Willst du
vielleicht lieber gleich zu den Bullen fahren?“
„Ach, Bullen? Du übst also schon fleißig den Fachjargon für deine
zukünftige Karriere?“, Mark hielt weiterhin seine Augen
geschlossen. Er musste sich beruhigen, das wusste er. Wenn er es
übertrieb, würde er Streit mit Hasan bekommen, dabei wollte er
den Streit, welcher gestern begonnen hatte, doch begraben.
Außerdem: Wer hat Hasan wohl in diese Lage gebracht? Mark!
Niemand sonst.
„Was heißt schon Karriere?“, sagte Hasan. Seine Stimme klang
immer noch ruhig, keine Spur von Aggression oder Verteidigung.
Hasan schien Mark nie irgendetwas übel zu nehmen und das
beschämte Mark.
„Schon gut.“, sagte Mark ruhig und lauschte in den Hörer.
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Hasan sprach, als wäre er selbst von seinem Plan noch nicht
restlos überzeugt: „Ich sehe es eher als Nebenverdienst. Ich
verdiene nicht gut im Laden, weißt du?“
Wusste Mark nicht. Sie haben sich nie über den Lohn unterhalten,
was eigentlich unüblich unter Kollegen ist.
Natürlich, erlaubt ist es ohnehin nicht, unter Kollegen die
verschiedenen Gehälter zu vergleichen, aber wer hielt sich schon
an so etwas?
Der Grund, warum die beiden ihre Gehälter nicht verglichen war
nicht, dass sie es nicht durften. Es gab einfach Wichtigeres, über
das man sich unterhalten konnte.
„Nein, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass ich auch nicht viel
verdiene. Wir sind im Einzelhandel, Hasan. Zumindest noch.“ Als
Mark seine eigenen Worte bemerkte, war es bereits zu spät sie
zurückzuhalten.
Kurz hoffte Mark, dass Hasan seinen saloppen Spruch überhört
hatte, weil er vielleicht seinen eigenen Gedanken zu sehr nachhing.
Die Stille am anderen Ende der Leitung nahm Mark aber jegliche
Illusion.
Er ärgerte sich, denn sein eventueller Jobwechsel war kein
„Telefonthema“ und er hatte sich das zwangsläufig kommende
Gespräch völlig anders vorgestellt.
„Zumindest noch? Was meinst du damit?“, Hasan klang
verwundert. Nicht sauer, nicht traurig, noch nicht mal skeptisch.
Nur neugierig.
Mark wollte es trotzdem vertagen: „Egal. Lass uns ein anderes Mal
darüber sprechen.“
Hasan brach in Jubelschreie aus: „Alter! Sag bloß du hast ein
Jobangebot bekommen!“
Was war das? Hörte Mark richtig? Hasan freute sich?
Mark zögerte: „Ähm… Ja. Es ist aber noch nicht spruchreif. Ich
hab noch ein Gespräch vor mir.“
Hasan jubelte nochmal und Mark konnte sein Grinsen nicht mehr
zurückhalten.
„Wie geil wäre das denn? Wir verlassen gemeinsam den Schuppen.
Legendär wäre das.“
Marks Lächeln eiste ein: „Hasan, jetzt warte doch bitte alles ab. Ich
wechsle vielleicht den Job, ja. Aber das, was du vorhast, ist kein
Jobwechsel, mein Freund. Das ist ein Abstieg.“
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Hasan antwortete und nun war sie da, die von Mark zuvor
erwartete Kälte in Hasans Stimme: „Hey, arkadaş. Urteile nicht
über mich. Du machst dein Ding und ich mach meins. Ich weiß,
dass Du mich nur warnen willst. Aber, mein Freund, die
siebentausend Euro, die auf meinem Konto liegen, sprechen eine
andere Sprache.“
Mark riss seine Augen auf: „Auf deinem Konto?! Bist du
wahnsinnig? Die können das doch sofort tracken, die Bullen.“
Hasan lachte: „Ach Bullen? Willst du einsteigen? Beruhig dich.
Natürlich nicht auf meinem Girokonto, für wie doof hältst du
mich? BitCoin! So funktioniert Geld heute. Mit BitCoin.“
Mark versuchte sich zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht: „Oh
natürlich. Ich vergaß doch glatt, dass ich mit einem „Darknet-
Experten“ spreche. Verzeih mir, großer Computerzampano aus
dem Abendland!“
Hasan lachte: „Die Türkei liegt nicht im Abendland, arkadaş. Aber
wusstest du, dass Deutschland mal Teil des Abendlandes war?
Deutschland, England, Frankreich…“
Mark unterbrach Hasan barsch: „Ja ist ja gut, Herr Professor. Ich
habe es verstanden. Und jetzt? Kommst du morgen wieder zur
Arbeit?“
Hasan seufzte: „Ich weiß nicht. Warum sollte ich?“
Mark überlegte nicht lange: „Wegen mir!“
„Du weißt zu überzeugen, mein blasser Leidensbruder. Ich hoffe,
du kannst dich in deinem Vorstellungsgespräch genauso gut
verkaufen. Jetzt erzähl mal, bitte. Wie lange weißt du das eigentlich
schon?“
Mark lächelte: „Seit letzter Nacht.“
Und er erzählte.
Teresa klopfte sich die schmutzigen Hände an ihrer Latzhose ab.
War da ein Gepolter in der Küche?
Sie kletterte aus dem Beet mit den soeben angepflanzten Tomaten
und machte sich bereits auf den Weg zur Gartentür, als es erneut
aus der Küche klirrte.
Sie blickte sich um. Wo war Dani?
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Sie entdeckte sie sofort auf der Picknickdecke mit ihrer
Lieblingspuppe und dem Porzellanservice, welches sie und Mark
zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatten.
Mark und Teresa hatten sich damals bereits am Abend über das
kitschige Porzellan lustig gemacht und sofort und einstimmig
beschlossen, dass sie es niemals benutzen würden. Sie haben auch
nie erfahren, wessen Geschenk dieses Service war. Es befand sich
kein Brief, keine Karte an und in der Verpackung.
Nun hat das Service wenigstens einen glücklichen Besitzer, dachte
Teresa, und zwar Danis Puppe.
Dani war also nicht in der Küche, dachte Teresa und setzte ihren
Weg fort.
Dennis ist mit dem Rad zu einem Klassenkameraden, die Hausaufgaben
holen, überlegte sie. Ihr wurde ein wenig mulmig und sprach zu
Dani: „Dani? Maus, ich bin sofort wieder da. Bleibt bitte auf
deiner Decke.“
„Okay Mami. Mafalda auch?“, fragte ihre Tochter und streckte ihr
die Puppe entgegen.
Ihre Puppe Mafalda war noch nie hübsch gewesen. Dani hatte sie
von Teresas Tante geschenkt bekommen und Teresa dachte
damals schon, dass diese Puppe Pate für diese „Puppen-
Horrorfilme“ stand.
Glubschige, gläserne Augen. Ein Lächeln, das wohl spitzbübisch,
neckisch aussehen sollte, aber eher kalt und berechnend wirkte.
Die Haare wirr und struppig und die Hände zu Fäusten geballt.
Nach ein paar Jahren hat sich das Aussehen der Puppe verändert
und das nicht zu seinem Vorteil.
Die Kleidung war zerrissen.
Es war bereits die zweite Bekleidungsgarnitur und Teresa konnte sich noch
sehr gut an die beschwerliche Beschaffung passender Kleidung für diese hässliche
Puppe erinnern.
eBay, eBay Kleinanzeigen und auch stationäre Trödelmärkte konnten ihr
nicht aushelfen.
Am Ende bekniete Teresa eine Freundin, die nähen konnte, um eine
Garnitur für Mafalda.
Das linke Auge öffnete sich nur noch halb.
An einem Herbsttag, war Teresa panisch in den Hausflur der Kölner
Wohnung gerannt, als sie von der Küche aus ein lautes Scheppern, begleitet von
Danis spitzem Geschrei hörte.
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Mafalda war Dani aus der Hand gerutscht und polternd Stufe um Stufe die
Treppe vom vierten Stock bis zum dritten herabgestürzt. Dieser Sturz kostete
Mafalda ein halbes Auge, denn seitdem klemmte das Augenlid aus Kunstoff.
Zu allem Überfluss hatte Teresa sich zusätzlich noch aus der Wohnung
ausgesperrt und musste Fritsch, den Vermieter, um den Zweitschüssel bitten.
Die Haare, welche immer schon abstoßend ausgesehen hatten,
waren mittlerweile am Hinterkopf geplättet und rundeten das
verheerende Aussehen Mafaldas noch ab.
„Ja, mein Schatz. Mafalda auch.“, sagte Teresa und trat durch die
Gartentür ins Innere.
Die äußerst freundliche Herbstsonne, die am heutigen Tag zeigte,
was sie konnte, sorgte dafür, dass Teresa zunächst kaum etwas
sehen konnte.
Spüren und hören konnte sie jedoch einwandfrei, stellte sie fest, als
sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte und eine tiefe
Stimme sprach: „Da bist du ja, Teresa Süße.“
Der Schreck durchzuckte Teresa und ihre Beine gaben nach.
Bevor sie jedoch zu Boden fiel, griffen zwei starke Arme beherzt
zu und bewahrten sie so vor dem Sturz.
„Hoppla, langsam.“, sagte die Stimme und Teresa erkannte jetzt
Dietmar, der sie halb erschrocken und halb belustigt anstarrte und
sie vorsichtig auf einem Küchenstuhl absetzte.
Während Teresa sich sammelte, eilte Dietmar mit gezielten
Schritten zu einem Küchenschrank, entnahm ein Glas und füllte es
mit Wasser.
Er kennt sich wirklich gut in MEINER Küche aus, dachte sie
benommen, als er mit dem Wasserglas zurückkehrte.
„Hier, trink. du musst viel mehr trinken. Den ganzen Tag in der
Sonne Gartenarbeit verrichten ohne zu trinken ist nicht gesund,
Teresa Süße.“, sagte Dietmar und sprach dabei so nonchalant, als
wäre es das natürlichste der Welt, den Tag seiner Nachbarin zu
beobachten und analysieren.
Teresa wollte zuerst das Trinken verweigern und ihren Nachbarn
gleich zurechtstutzen, nahm aber doch einen Schluck.
„Dietmar! Was machst du hier, himmelherrgottnochmal.“, sagte sie
und nahm einen weiteren Schluck.
Dietmar hob triumphierend ein Päckchen Zucker hoch: „Zucker!
Kathrin backt gerade einen Kuchen und hat vergessen, Zucker zu
besorgen.“
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Teresa schnappte nach Luft: „Und dann kommst du hier einfach
rein?“
„Ich hab doch von euch einen Schlüssel. Den habt ihr mir doch
gegeben.“ Dietmar sah Teresa so selbstverständlich an, als hätte sie
gefragt, ob er jemals von einem Tier namens „Hund“ gehört hätte.
Sie fasste seine Selbstverständlichkeit nicht und wollte es deswegen
wirklich wissen: „Und dann kommst du hier einfach rein?“
Dietmar legte seine Stirn in Falten.
Nach einer Weile erhellte sich sein Blick und er sagte: „Ich habe
zuerst geklingelt. Zwei oder drei Mal, aber niemand hat geöffnet.“
Okay, dachte Teresa, er versteht es nicht, wenn ich mein Erstaunen als
Frage formuliere.
„Du kannst doch nicht einfach so hier reinkommen.“, sagte sie
stattdessen und sah Dietmar wütend und vorwurfsvoll an.
Aber sie war wütend, so wütend wie schon lange nicht mehr.
„Ich kauf dir den Zucker ab.“, sagte er und bewies damit, dass er
Teresas Wut nicht verstand.
„Darum geht es doch gar nicht.“, sagte Teresa und stand vom
Stuhl auf.
„Meine Güte, Dietmar. Wo bleibst du denn?“, erklang es
überraschend von links und: „Hallo Teresa Süße, hättest du ein
bisschen Zucker für uns?“
Kathrin stand in fleckiger Schürze im Türrahmen der Küche und
lächelte Teresa strahlend an.
Teresa blickte verwirrt von Dietmar zu Kathrin; von Kathrin zu
Dietmar: „Und wie bist du hier reingekommen?“
Kathrin lächelte und hob einen Schlüsselbund in die Höhe: „Mit
dem Schlüssel, natürlich. Wir haben uns eine Kopie herstellen
lassen. Falls Dietmar mal nicht zu Hause sein sollte.“
„Ihr habt was?“ Teresa traute ihren Ohren nicht.
Kathrin sah verdutzt aus: „Was meinst du, Süße?“
„Den Schlüssel nachmachen lassen? Sowas könnt ihr doch nicht
machen.“
Dietmar lachte und winkte ab: „Teresa, das klingt teurer, als es ist.
Heutzutage machen die einen Schlüssel schon für 5 € nach und
weil ich Stammkunde beim hiesigen Schuster bin, macht der mir
einen Schlüssel für 3 € nach. Da brauchst du dir keine Sorgen zu
machen, Teresa- Süße. Machen wir halbe-halbe?“
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Er breitete die Arme wie ein Showmaster aus: „Die 1,50 € kannst
du uns ein anderes Mal geben oder weißt du was? Das hat sich mit
dem Zucker erledigt. Komm Kathrin-Maus, der Kuchen wartet.“
Dietmar schnappte sich das Päckchen Zucker, ging zum
Türrahmen, in dem Kathrin stand und beide durchquerten den
Flur zur Haustür. An der Haustür angekommen, gab Dietmar
seiner Kathrin einen Klaps auf den Po, Kathrin giggelte und beide
verließen das Haus. Bevor Dietmar die Haustür schloss, blickte er
noch einmal zu der überforderten Teresa und zwinkerte ihr zu.
Teresa blieb noch einige Augenblicke starrend im Flur stehen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
durch Ihren Mitarbeiter, Herrn Töpfer habe ich erfahren, dass Sie einen
Außendienstmitarbeiter für die Region West suchen.
Als ausgebildeter Einzelhandelskaufmann bin ich seit meiner
Berufsausbildung mit der Herausforderung des Vertriebs vertraut.
Ich bin Abteilungsleiter der Rubrik Farben und Tapeten in einem
renommierten Baufachhandel in Köln.
Zu meinen Tätigkeiten gehört die Beratung der täglichen Kunden, zudem die
Disposition von Ware. Auch Lagermanagement ist ein mir wohlvertrauter…
Mark las seine Bewerbung nun zum vierten Mal durch. Seufzend
rieb er sich die Augen und streckte sich.
Sein Gefühl verriet ihm, dass er bereits viel zu lange an der
Bewerbung saß und das nur, um hier und dort ein paar Wörter zu
tauschen oder zu ersetzen.
Kein Wunder, handelte es sich bei dieser Bewerbung schließlich
erst um die wievielte Bewerbung seines Lebens?
Mark dachte nach.
Seit immer, dachte er. Er konzentrierte sich. Konnte das stimmen?
Die erste Bewerbung hatte er an seine Ausbildungsstätte
geschrieben, allerdings nur im weitläufigsten Sinne, denn diese
damalige Bewerbung war Teil des Unterrichts in der höheren
Handelsschule, die er damals besuchte.
Wenn er ehrlich zu sich war, hatte er diese Bewerbung noch nicht
mal selber geschrieben, sondern von seinem Nachbarn
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abgeschrieben. Er hatte lediglich Adressen und Daten ausgetauscht
und war fertig.
Mark grinste, als er sich daran erinnerte.
Die Handelsschule. Zwei Jahre hatte er dort verbracht und
erinnerte sich kaum noch an sie.
Letzten Endes hatte er sich mit dem Besuch der Handelsschule
nur erfolgreich einen Aufschub seiner Entscheidung, was er denn
nach der Schule machen wollte, aufgeschoben.
Aber auch diese zwei Jahre vergingen und am Ende, war er sich
immer noch nicht sicher, welchen Beruf er ausüben wollte.
Er hatte nie berufliche Schwärmereien gehabt, sah man von den
Kindheitsträumen „Polizist“, „Tierarzt“, „Lokomotivführer“ und
„Feuerwehrmann“ einmal ab.
Am Ende ist es dann so gekommen, dass er die Sonntagszeitung
aufschlug und sich bei der erstbesten Stellenausschreibung im
Bereich Ausbildung mit einer geklauten Bewerbung bewarb und
auch umgehend die Ausbildungsstelle erhielt.
Die drei Jahre im OBI in Köln vergingen wie im Flug und kurz vor
der Prüfung stand plötzlich der alte Bergmann vor ihm und warb
ihn ab, ohne Bewerbung und ohne Lebenslauf, einfach so.
Deswegen benötigte Mark so eine lange Zeit, um diese Bewerbung
zu schreiben.
Er holte sich Ratschläge aus dem Netz, verglich die Optik, den
Schreibstil und das Layout.
Der Lebenslauf war schneller fertig, als es Mark lieb war. Es
befanden sich mehr Schulen als Arbeitsstätten auf seiner Vita.
War das schlecht oder gut?
Zu häufiger Arbeitgeberwechsel machte zwar den Bewerber zu
einer möglicherweise unsteten Person, zeugte aber auch von
vorhandener Flexibilität.
Zu wenige Arbeitgeber bewiesen zwar eine gewisse Treue und
Loyalität, könnten aber auch dem Lesenden eine Bequemlichkeit
oder gar Faulheit suggerieren.
All dies entnahm er dem ach so schlauen Internet und je länger
Mark an seiner Bewerbung saß, desto nervöser wurde er.
Es war zweifellos eine wichtige Bewerbung, sehr wichtig sogar. Er
wollte diese Stelle unbedingt haben, aber er wollte nicht durch
seine Bewerbung den Leser „anbetteln“.
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Er wollte eine gute Bewerbung erstellen, die allerdings eine gewisse
„mir doch egal“ Attitüde mitschwingen ließ.
Er klappte sein Laptop zu.
Am besten fing er an, seine gewünschte Nonchalance damit
hinzubekommen, dass er es für heute auf sich beruhen ließ.
Er hatte schließlich noch eine Familie, die seines Erachtens nach
zu oft auf Mark verzichten musste.
Kaum war er heute zu Hause angekommen, verkroch er sich
nämlich in seinen Kellerraum, wo er seinen Schreibtisch hin
bugsiert hatte, und schrieb an seiner Bewerbung.
Er schaltete das Licht aus und ging zur Treppe. Morgen früh
wollte er seine Bewerbung ein letztes Mal mit einem freien Kopf
durchlesen und sie dann absenden.
Im Wohnzimmer angekommen entdeckte er Teresa, die im
Schneidersitz auf ihrem Lieblingssessel saß und ein Buch las.
Sie blickte auf und lächelte ihm entgegen: „Na? Bist du endlich
fertig?“
Irritiert blickte Mark sich um: „Wo sind die beiden?“
Teresa sah ihn verständnislos an: „Hast du mal auf die Uhr
gesehen? Es ist bereits halb zehn. Was denkst du? Wo könnten die
beiden sein?“
Mark zuckte schuldbewusst zusammen: „Tut mir leid. Ich
verspreche euch, das wird alles besser.“
Teresa blickte Mark mit einem herzlichen Blick an, stand auf und
umarmte ihn.
Mark hatte das Gefühl, als würde er in der Umarmung versinken.
Es fühlte sich gut an und er fragte sich insgeheim, ob es wirklich
schon so lange her war, dass sie sich einfach nur umarmten.
„Komm, wir sollten ins Bett gehen. Morgen beginnt der Tag
wieder früh. Außerdem muss ich dir noch unbedingt etwas
erzählen.“, sagte Teresa.
Als hätte Teresa es heraufbeschworen, überkam Mark eine
plötzliche Müdigkeit.
Die letzten Nächte zollten nun also endlich ihren Tribut.
Auf dem Weg nach oben erinnerte sich Mark wieder der letzten
Worte von Teresa.
„Was musst du mir denn unbedingt erzählen?“, fragte er.
„Ach, nur Nachbarschaftstratsch.“, lachte Teresa. „Ich möchte nur
mal deine Meinung hören.“
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-
„Beni utandırma!“ Arda legte seine Hand auf Hasans Schulter. Ein
wenig zu fest, stellte Hasan sofort fest.
„Chill mal, Arda. Ich mache dir keine Schande, vertrau mir.“
Hasan befreite sich mit einem breiten Lächeln von dem
eisenharten Griff Ardas.
„Ich hoffe es, für dich.“, sagte Arda und öffnete die Tür zu
Viktors Wohnung. „Er erwartet dich. Auch wenn er es nicht
glauben kann, dass du so schnell wieder hier bist.“
„Da kannst du mal sehen.“ Hasan klopfte Arda freundschaftlich
auf die Schulter und trat in die Wohnung.
Die Wohnung sah noch exakt so aus, wie an dem Abend, an dem
Mark und er dort gewesen waren.
Erschrocken stellte Hasan fest, dass es erst gestern war, als er mit
Mark hier war. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit.
Wummernde Rap-Musik dröhnte aus den Ecken der Wohnung
und Hasan stellte auch ein wenig amüsiert fest, dass dieselben
Leute hier herumlungerten. Er würde darauf wetten, dass sie auch
dieselben Klamotten trugen.
„Ey, wo ist dieser Mark?“, drang es aus einer Ecke. Hasan
erkannte sofort den künstlich bekifften Tonfall von Viktor.
Offenbar musste er so tun, als wäre er rund um die Uhr high.
Wahrscheinlich würde seine Gang ihm sonst in den Rücken fallen, dachte
Hasan. Er zuckte mit seinen Schultern: „Nicht da. Ich mach das
schon, Viktor.“
„Du und welches Geld? Du hast nichts mit, wie ich sehe.“ Viktor
tauchte plötzlich aus der verdunkelten, hinteren Ecke hervor. Er
grinste breit, doch Hasan entdeckte auch ein aggressives Funkeln
in Viktors Augen. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.
Aufflammen und löschen.
Mit ihm ist nicht zu spaßen, dachte er, ließ es sich aber nicht
anmerken.
Stattdessen zuckte er erneut mit seinen Schultern und nahm sich
zudem sofort vor, sich eine neue Geste einfallen zu lassen. Zwei
Mal Schulterzucken hintereinander ist schon eine peinliche
Angelegenheit.
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„Wie hast du dir das denn vorgestellt? Soll ich mit einer
unauffälligen Sporttasche hier herumlaufen? Besser noch. Mit
einem Aktenkoffer? Mit Handschellen?“ Hasan lachte. „Auf dem
Kölnberg? Vergiss es!“
Viktor warf wütend die Bierflasche, welche er in seiner Hand trug,
gegen die Wand.
Sie zerschellte mit lautem Getöse, irgendwo in einem der
angrenzenden Räume schrie eine Frau oder ein Mädchen
erschrocken auf.
Noch bevor Hasan auf irgendetwas reagieren konnte, stand Viktor
bereits vor ihm und griff Hasan ungestüm an den Kragen und
presste ihn gegen einen Wandschrank: „Denkst du, du kannst
mich ficken, du Schwuchtel? Denkst du das?“ Er ließ sein
Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.
Bevor Hasan antworten konnte, trafen ihn bereits zwei saftige
Ohrfeigen.
„Du Wichser! Ich habe diesen Dennis bereits angerufen und ihm
seine Schuld erlassen und jetzt wagst du es, hier ohne Kohle
aufzutauchen?“ Viktor beugte sich so weit nach vorne, dass sich
die beiden Nasenspitzen beinahe berührten. Hasan roch den
unangenehmen Atem aus Viktors Rachen.
Eine Mischung aus Bier, Zigaretten und das wochenlange Fehlen
einer Zahnbürste.
Hasan riss der Geduldsfaden. Er hob sein Knie und rammte es
Viktor ungebremst in die Weichteile.
Zunächst stellte Hasan nervös keine Reaktion fest. Hatte er
daneben gestampft?
Dann wurde das Gesicht von Viktor aschfahl mit einem Hauch
von grün und er sackte zusammen.
Die Freude über seinen Treffer währte nur kurz, denn plötzlich
brach die Hölle los in der Wohnung.
Hasan bekam plötzlich einen PS4 Controller gegen den Kopf, zur
selben Zeit sprang ein schlaksiger Junge mit Kapuzenpulli über
den niedrigen Wohnzimmertisch und holte bereits mit der Faust
aus.
Hasan platzierte einen tiefen Tritt gegen das Knie des Angreifers,
woraufhin dieser mit einem lauten Klirren vornüber in die Shisha
landete, welche immer noch an derselben Stelle wie am Vortag
stand.
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Eine Zimmertür wurde aufgerissen und zwei kräftige Männer
stürmten ins Wohnzimmer. Hasan drehte sich und ließ sein Bein
nach oben schnellen. Er erwischte den ersten Angreifer mit seinem
Fuß an der Schläfe. Der hohe Tritt sorgte dafür, dass der erste
Angreifer durch die Wucht auf dem zweiten landete.
Beide stürzten auf den Wohnzimmertisch, welcher unter der Last
krachend zusammenbrach.
Bevor es zu weiteren Rangeleien kam, hob Hasan beschwichtigend
die Hände und brüllte: „HALT! Hört auf, bitte. Ich habe nie
gesagt, dass ich kein Geld mithabe!“
Um zu beweisen, dass sein Einwand zu spät kam, zerbrach Arda
von hinten einen Stuhl auf Hasans Rücken, so dass Hasan
zusammensackte.
Als Arda Hasan am Kragen emporhob, schrillte Viktors Stimme
auf: „Lass es gut sein, Arda.“
Hasan kam langsam zu sich und sah, wie Viktor sich aufrappelte
und an seinem Schritt zupfte, das Gesicht schmerzverzerrt.
„Was meinst du damit, du Penner? Hast du jetzt das Geld oder
nicht?“
Hasan brauchte ein paar Sekunden, um zu Atem zu kommen: „Ja
Mann. Natürlich hab ich das Geld. Du hättest mich nur ausreden
lassen müssen.“
Viktor griff in seine Tasche, holte ein Klappmesser hervor, ließ es
aufschnappen und setzte es Hasan an die Kehle: „Wo ist es?“
Hasan schaffte es, zu lächeln: „Hast du ein PayPal Konto?“
„Er hat was?!“ Mark konnte nicht glauben, was er hörte. Er hielt
mitten in der Bewegung, sich sein T-Shirt über den Kopf zu
ziehen, inne. Teresa sah Mark mit großen Augen an, ihre Wangen
gerötet. Mark sah, sehr erfreut, dass Teresa wieder diesen
begeisterten Gesichtsausdruck hatte, zu dem die roten Wangen
und die großen Augen gehörten. Sie liebte es, wenn Mark sich mit
ihr gemeinsam echauffierte. Dadurch fühlte sie sich nicht so allein
mit ihrem Gefühl.
„Krass oder? Einfach so stand der da. Als ob es sein Grundrecht
wäre oder sowas in der Art.“ Teresa pustete sich die Haare aus
dem Gesicht. Auch eine Eigenart, die Mark auswendig kannte und
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an seiner Frau liebte. Das tat sie immer, wenn sie sich eifrig
aufregte. Diese Art von Aufregung, die längst nicht mehr Wut war,
sondern lediglich zur Kommunikation diente.
Nichts war so befriedigend, wie sich gemeinsam über die Unart
von anderen einig zu sein.
Alle anderen sind Deppen, nur wir sind das einzig wahre Paar.
Das war einfach schön und Mark genoss es, wieder mit Teresa
einer Meinung zu sein.
Aber dennoch. Das, was Teresa ihm soeben berichtet hatte, war
nicht nur Stoff, um sich gemeinsam hochzuschaukeln. Das war
eine bodenlose Frechheit, wenn man mal ehrlich war.
„Also, Dietmar hat einen Schlüssel zu unserem Haus, soweit so
gut.“, fasste Mark zusammen. „Aber dann lässt er sich von seinem
Zweitschlüssel unseres Hauses eine Kopie für seine Frau
anfertigen? Ohne uns darüber in Kenntnis zu setzen, geschweige
denn zu fragen? Hab ich das richtig verstanden?“
Teresa nickte eifrig, ihre Augen blitzten: „Und er will sogar von
uns die Hälfte der Anfertigungskosten wiederhaben.“
Mark spürte es von ganz unten angerollt kommen. Durch die
Beine, durch seinen Magen hoch durch seinen Hals in den Rachen
und es platzte aus ihm heraus. Er prustete vor Lachen.
Das alles war so absurd, dass er nur noch Lachen konnte. Als hätte
Teresa auf eine Art Erlaubnis gewartet, stieg sie nun auch ins
Lachen ein. Zunächst zaghaft, dann immer lauter.
Mark nahm Teresa in den Arm und sah ihr in die Augen: „Also,
lass mich alles rekap… reklapt… Lass mich alles nochmal
wiederholen.“
Teresa giggelte bei Marks kläglichen Versuchen.
„Du bekamst gestern eine schlechte Nachricht von der Bank, um
die wir uns bald kümmern werden. Versprochen.“
Teresa sah Mark dankbar an.
„Dann machst du in der Bank schlapp und zum Dank entführt
Dietmar unsere Kinder und zwingt sie dazu, bei den Beiden zu
übernachten.“
Teresa fing wieder an zu lachen.
„Und die Krönung ist, er fertigt sich heimlich einen Schlüssel an
um bei uns Zucker zu klauen und will sogar, dass wir die Hälfte
des „Raubschlüssels“ bezahlen? Das nenn ich mal dreist.“
Teresa lachte laut auf und beide ließen sich heiter aufs Bett fallen.
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Alles in allem, dachte Mark, ist das seit längerer Zeit der schönste Abend.
Er nahm sich vor, an der Sache mit „Kaffeetraum“ dranzubleiben.
Seine gehobene Stimmung musste damit zusammenhängen, dass
ein Problem ihn nun weniger belastete. Sein Job lag ihm, er merkte
es nun überdeutlich, schwer auf der Seele.
„Weißt du was?“, fragte Teresa, während sie sich in seine
Armbeuge schmiegte. „Dennis war heute richtig gut drauf. Er hat
mich heute Morgen ganz feste gedrückt und, du glaubst es nicht,
sich für seine schlechte Laune entschuldigt. Er war fast wieder wie
ein Kind, verrückt oder?“
Ich korrigiere, dachte Mark und lächelte, ich habe zwei Probleme weniger.
-
Viktor sah Hasan irritiert an und ließ sein Messer langsam sinken:
„Ja klar hab ich ein PayPal Konto, warum?“
Hasan schob Viktor sachte von sich weg und griff in seine
Hosentasche.
Sofort hob Viktor sein Messer wieder und auch Viktors
Kumpanen wurden schlagartig wieder unruhig.
„Ganz ruhig“, sagte Hasan und hob beschwichtigend seine
Handflächen nach oben. „Ich nehme nur mein Handy aus der
Tasche.“
Hasan zog sein Handy heraus und begann emsig auf dem
Touchscreen zu wischen.
„Was machst du da?“, sagte Viktor. Er versuchte auf Hasans
Display zu schauen, doch Hasan drehte sich weg.
„Gib mir mal deine E-Mail-Adresse. Die mit der Du PayPal
bedienst.“ Hasan sah Viktor erwartungsvoll an.
„Warum?“ Die Skepsis in Viktors Stimme war deutlich zu hören.
Hasan versuchte den Tonfall zu ignorieren: „Mach einfach, siehst
du dann.“
„Ja, ist ja gut. Viktor.Romanov@aol.com.“ Viktor gefiel es
offenbar gar nicht, ihm seine E-Mail-Adresse mitzuteilen. Er ließ
sein Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und
löschen.
Hasan lachte: „Wow, du hast noch eine AOL Adresse? Respekt.
So, ich sende dir jetzt einen BitCoin. Den Rest kannst du behalten,
wir sind quitt. Gib mir nur einen Augenblick.“
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Viktor schnappte empört nach Luft: „Alter, willst du mich
eigentlich verarschen? Was soll das bedeuten, ein BitCoin? Ich habe
euch beiden Spackos gesagt, dass ich für die vier Kartons
zehntausend Euro bekomme. Ich dachte, ihr wolltet euren Dennis
aus der Scheiße holen? Das kommt mir im Moment nicht so vor.“
Hasan wandte sich endlich Viktor zu: „So, müsste geklappt haben.
Sieh mal nach.“
„Alter ich scheiß auf deinen beschissenen BitCoin, hörst du mir
eigentlich zu?“, schrie Viktor Hasan an.
Hasan lächelte weiter unbeeindruckt Viktor an: „Sieh halt mal
nach!“
Viktor schnaubte lautstark und griff widerwillig zu seinem Handy.
Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und
löschen. Nach ein paar Sekunden riss er ungläubig seine Augen
auf.
Hasan lachte: „Und?“
„Zehntausendneunhundertachtundsiebzig Euro und
vierundsechzig Cent! Was zur Hölle?!“ Viktor war perplex, was
Hasan sehr erfreute.
„Oh cool. Da hast du Glück, Viktor. Gestern entsprach es noch
Zehntausendachthundertvierundsechzig Euro und ein paar
Zerquetschte.“ Hasan verschränkte stolz die Arme vor der Brust.
„Eigentlich hätte ich dir nur 0,91 BitCoins auszahlen müssen, um
deine Zehntausend zu erreichen, aber ich schenke dir den Rest als
guten Willen und Vertrauensbeweis. Für unsere weitere
Zusammenarbeit, weißt du?“
Viktor blickte nun endlich von seinem Handy auf: „Weitere
Zusammenarbeit? Meinst du das Ernst?“ Er ließ sein Feuerzeug
aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.
Hasan präsentierte das breiteste Grinsen, das er zur Verfügung
hatte: „Ich hätte da Bock drauf und vor allem habe ich nun die
richtigen Kontakte. Da warten auf jeden Fall noch mehr Leute auf
dein Zeug zur Entspannung.“
Viktor lachte und dachte kurz nach: „Also du und dieser Mark?
Der Vater von Dennis?“
Hasans Lächeln verschwand: „Nein, lass Mark da bitte raus. Er hat
Familie und ist für so etwas nicht geschaffen. Ich mache das
allein.“
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Viktor trat ein Schritt von Hasan zurück und betrachtete ihn von
oben bis unten. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.
Aufflammen und löschen. Er nickte anerkennend: „Komm mit
und setz dich!“ Er ging voraus und nickte dabei Arda zu, der sich
daraufhin wieder in den Hausflur zurückzog.
„Möchtest du etwas trinken? Bier? Red Bull? Wodka und Red
Bull?“ Viktor wies mit einer Geste ein paar Leuten an, Platz zu
machen. Sie setzten sich auf eine Couch, die durch ihre dekadente
Optik völlig deplatziert in der Wohnung aussah.
Hasan ließ sich seufzend auf seinen Platz fallen: „Ein Red Bull
wäre super. Kein Alkohol, bitte.“
Viktor nickte wissend: „Ach ja, natürlich. Muslim.“
Hasan grinste: „Bin ich, aber ich muss noch fahren.“
Viktor nickte einem der Umherstehenden zu, der daraufhin eine
Dose Red Bull besorgte. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und
löschen. Aufflammen und löschen.
„Okay, Hasan. Dann lass mal hören: Wie viel möchtest du haben?“
Viktor lehnte sich interessiert vor.
Das, was jetzt kam, hatte Hasan auf dem Weg hierher eingeübt. Er
hielt sein Handy in der Hand, wischte gelangweilt über das Display
und tat so, als würde ihn nichts aus der Fassung bringen.
„Naja, ich dachte so an das Doppelte? Also, wenn du weiter in
Kartons bestimmen möchtest, acht Kartons.“
Viktor hob seine Augenbrauen: „Und die möchtest du jetzt
mitnehmen?“
Hasan hob beide Hände: „Nein. Heute nehme ich nur die vier
verkauften Kartons von Dennis mit, um sie zum neuen Besitzer zu
schicken. Ich möchte nur sicherstellen, dass ich acht Kartons
verkaufen kann.“
Nun war es Viktor, der breit grinste: „Kannst du! Also
zwanzigtausend Euro für mich?“ Er ließ sein Feuerzeug
aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.
Hasan gluckste vergnügt: „Vergiss nicht. Die zehntausend waren
mit Dennis ausgemacht oder besser gesagt mussten wir
zehntausend Euro mit den vier Kartons beschaffen um Dennis da
rauszuholen. Nein, mein Lieber, jetzt verhandelst du mit mir. Acht
Kartons wären fünfzehntausend für dich und der Rest ist für mich.
Das ist fair, oder?“
Hasan rechnete schnell nach:
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Er erhielt 1,55 BitCoins für die vier Kartons.
Das waren ca. 17.000 €.
Wenn Viktor darauf einging, hatte er zwei Mal 7.000 € von denen
Viktor nichts wusste, plus 5.000 € noch obendrauf.
Und angenommen, er könnte das immer und immer wieder so
machen, wurde ihm regelrecht schwindelig.
Viktor war allerdings in Verhandlungslaune: „Sagen wir
Siebzehntausend Euro für mich und wir sind im Geschäft.“
Hasan überschlug den Vorschlag schnell. Das wären insgesamt
19.000 € für ihn je Transaktion und wenn Viktor sich mit seiner
Verhandlung besser fühlte, sei es so.
„Deal!“ Hasan schlug ein. „Und ich könnte bei Bedarf immer
wieder auf dich zukommen?“
Viktor reckte stolz seine Brust vor: „Mach dir da mal keine
Gedanken. Ich habe eine nie endende Quelle.“ Er ließ sein
Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.
Hasan reckte seinen gestreckten Daumen hoch, trank den letzten
Schluck aus der Dose, schlug auf seine Oberschenkel und stand
auf: „Super! Ich mach mich dann mal auf den Weg und schnappe
mir noch die vier Kartons. Wir sehen uns sehr bald, Viktor.“
Viktor stand auch auf und sie schlugen ein.
„Da kann man mal sehen,“ sagte Viktor „manchmal entstehen
Beziehungen aus seltsamen Begebenheiten. Eine Frage habe ich
aber noch.“ Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.
Aufflammen und löschen.
Hasan hielt inne und drehte sich nochmal um: „Ja bitte?“
Viktor sah Hasan respektvoll an: „Was war denn das für eine
Kung-Fu Aktion eben? Hast du das gelernt? War sehr
beeindruckend.“
Hasan lachte: „Nein, alles von Filmen abgeguckt. Aber ihr seid
hier alle so bekifft, dass ihr alles, was sich schneller als eine
Schnecke bewegt, als den nächsten van Damme anseht. Das war
nur Glück.“
Viktor lachte und winkte Hasan zum Abschied, bevor er sich
wieder auf die Couch setzte.
Hasan bekam die vier Kartons, schritt durch die Wohnungstür und
zwinkerte Arda zu.
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Er machte sich auf dem Weg zu seinem Auto und dankte innerlich
seinem Vater, der Hasan als Kind zum Taekwondo gescheucht
hatte.
-
Mark schloss sein Auto ab und schlenderte gut gelaunt in Richtung
„Schrauben-Manny“. Egal welche Schikanen sich Feist oder
Bergmann für heute haben einfallen lassen, es würde Mark nicht
aus der Ruhe bringen. Dafür waren die letzten zwölf Stunden zu
schön gewesen, fand Mark. Der vergangene Abend war toll
gewesen. Teresa und er hatten so viel gemeinsam gelacht und
gealbert, wie schon lange nicht mehr. Er hatte wie ein Stein
geschlafen und war heute Morgen ausgeruht aufgewacht. Er hatte
Dennis in der Küche getroffen, welcher ihm auch gleich um den
Hals gefallen war, sich bedankt und entschuldigt hatte. Dennis
hatte ihm auch versprochen, dass er sich zusammenreißen würde
und hatte ihm zudem zugeflüstert, dass er die Finger von solchen
Leuten und deren Verkaufsware lassen würde. Danach hatte er die
Überarbeitung seiner Bewerbung beendet, Teresa nochmal
gegenlesen lassen und sie abgesendet. Außerdem hatte er ein
kurzes Telefonat mit Hasan, der ihm versichert hatte, dass er heute
zur Arbeit erscheinen würde. Somit brach Mark seine
Krankmeldung ab und fuhr los zum „Schrauben-Manny“.
Mark traute seinen Augen nicht, als sein Handy in dem Moment
aufleuchtete, als Mark es gerade in seinem Spind verstauen wollte.
Eine Mail von „Kaffeetraum“ war im Vorschaufenster zu sehen.
Mark wollte sein Glück nicht erneut auf die Probe stellen und sein
Handy mit in den Verkaufsraum nehmen. Außer, dass er von Feist
gestern blöd angemacht worden, war Mark eigentlich glimpflich
davongekommen. David Bergmann hatte nämlich eine
Abmahnung versprochen für diejenigen, die mit einem privaten
Handy im Verkauf erwischt wurden.
Mark nahm kurzerhand sein Handy nochmal zu sich und aktivierte
das Display.
Jetzt spielte er also doch mit dem Feuer, denn er müsste bereits
seit zwei Minuten in seiner Abteilung sein.
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Er klickte sich schnell zu den Mails und huschte durch den
„Posteingang-Ordner“. Er las die kurze Mail drei Mal und spürte
innerlich eine Mischung aus Freude und Nervosität.
„Lieber Mark,
Deine Bewerbung hat uns sehr gut gefallen und wir würden Dich
gerne persönlich kennenlernen. Aus diesem Grund laden wir Dich
herzlich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Herr Nybel, unser
Geschäftsführer, und ich werden Deine Gesprächspartner sein.
Das Vorstellungsgespräch findet nächsten Mittwoch um 15:30 per
WebCall statt. Wir haben eine solche Art des
Vorstellungsgespräches als äußerst effizient kennengelernt und
möchten Dir und uns unnötigen Zeitaufwand sparen. Falls Du
diesen Termin nicht wahrnehmen kannst, setze Dich doch bitte
mit uns telefonisch (Telefonnummer in der Signatur) in
Verbindung und wir vereinbaren einen anderen Termin.
Mit freundlichen Grüßen,
Sophia Michels“
Er hatte es geschafft! Er hatte den ersten, großen Schritt geschafft.
Gestern Abend noch hatte er sich im Netz über die aktuellen
Bewerbungsprozesse informiert und erfahren, dass die meisten
Aussortierungen vor der Einladung zu einem Gespräch
stattfanden. Je nachdem, wie viele Stellen in einem Betrieb
ausgeschrieben waren, wurde nur ein geringer Teil zum Gespräch
eingeladen- im Schnitt drei Personen pro Stelle.
Statistisch gesehen, hatte er nun also lediglich zwei Konkurrenten
und das sollte doch zu schaffen sein, oder?
Er begann zu überlegen:
Sollte er zum Call mit seinem Handy den Link benutzen? Er hatte
die bessere Kamera in seinem Handy, aber wie wollte er ein starkes
Wackeln verhindern? Da war natürlich die Webcam in
Kombination mit seinem alten Laptop besser. Das Problem war
aber, dass sein Laptop eben das war: Alt. Die Kamera war
grobpixelig und der Akku war defekt, also musste der Laptop am
Stromkabel bleiben.
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Dies wiederum würde Mark an einen Platz mit Steckdose binden,
dabei würde er sich lieber an seinem Gartentisch einwählen, denn
das war die hübschere Kulisse.
Was sollte er eigentlich anziehen? Sakko mit Krawatte? Sakko
ohne Krawatte? War es nicht unglaubwürdig sich in seinem
eigenen zu Hause mit einem Anzug zu präsentieren?
Andererseits sah es doch sicherlich auch nicht seriös aus, wenn er
sich zu leger im WebCall geben würde.
Ein Poloshirt wäre doch sicher das gesunde Mittelmaß, oder?
Tief in Gedanken versunken, bemerkte Mark nicht, dass Feist
soeben den Pausenraum betrat.
„Hier stecken Sie also, Sieger. Wir haben bereits seit fünf Minuten
geöffnet und ihre Abteilung…“
Mark schaltete sofort und unterbracht seinen Kollegen: „Na. du
bist ja gut, Feist. Ich hab schließlich dich gesucht. Der Alte war
fuchsteufelswild, als er sah, dass deine Abteilung nicht besetzt war.
Er sagte etwas von wegen: Vielleicht muss ich alles nochmal
überdenken, oder so ähnlich. Also habe ich mich aus meiner
Abteilung geschlichen, um dich zu warnen.“
Mark schlug seine Spindtür zu und schlenderte an dem erblassten
Feist vorbei. Er legte Feist kameradschaftlich die Hand auf die
Schulter: „Wir Kollegen müssen doch schließlich zusammenhalten,
oder etwa nicht?“
Er musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen, als er
von Feist ein leises „Doch, danke, Sieger.“ hörte.
Teresa atmete tief ein, hielt die Luft an und pustete sie wieder aus.
Sie wiederholte es noch zwei Mal und klingelte endlich bei den
Husenkamps.
Sie wollte endlich klare Worte wechseln und hatte das kommende
Gespräch schon in ihrem Hausflur durchgespielt. Sie nutzte
mehrere mögliche Varianten. Auf alles sollte sie nun die richtige
Reaktion abrufen können.
Ja, es war nett, dass sie auf ihre Kinder geachtet hatten, aber beim
nächsten Mal bitte im Haus der Siegers.
Ja, natürlich mussten die Kinder ins Bett, aber beim nächsten Mal
bitte im Haus der Siegers.
-
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Ja, Teresa und Mark hatten den Husenkamps einen Zweitschlüssel
gegeben, aber nur für den Notfall zu nutzen und bitte keine Kopie
heimlich davon anfertigen.
Teresa wollte sich an diesem Morgen mindestens eine kleine
Distanz zu ihren Nachbarn zurück erkämpfen.
Die Haustür wurde geöffnet und ein strahlender Dietmar blickte
Teresa entgegen: „Mensch Teresa, Süße. Das müssen ja
telepathische Kräfte unter uns beiden sein, komm doch bitte rein.
Hey, das reimt sich.“ Dietmar lachte und ging bereits ins Haus
voraus. „Kaffee?“, rief er einen Moment später aus der Küche
heraus. „Setz dich doch bitte schonmal.“
Teresa schluckte, schloss die Haustür und betrat das
Wohnzimmer: „Nein danke. Ich hatte heute Morgen schon zu viel
Kaffee.“
In dem Moment kam Dietmar bereits mit zwei dampfenden
Bechern Kaffee ins Wohnzimmer: „Ach was, als könne man zu viel
Kaffee trinken. Die Milch ist bereits drin, setz dich.“
Teresa setzte sich, atmete wieder tief ein und versuchte sich zu
sammeln.
Übergriffig, so nennt man das doch, dachte sie. Er hat mich schon wieder
überlistet und mir eine Entscheidung weggenommen. Auch wenn es nur um
einen Kaffee geht.
In dem Moment, als sie allein aus symbolischen Gründen den
Kaffee abweisen wollte, sprach Dietmar wieder.
„Ich war eigentlich auf dem Weg zu dir, musst du wissen. Ich habe
nämlich gute Nachrichten.“, sagte Dietmar und strahlte Teresa an.
„Ich bin ja wirklich sehr gut mit dem Leiter der hiesigen
Realschule befreundet und ich habe mit Engelszungen auf ihn
eingeredet. Ich sagte ihm, dass euer Kevin ein toller und braver
Junge ist und es bei diesem einmaligen Ausrutscher bleiben wird.“
Teresa hob ihre Augenbrauen: „Dennis!“
Dietmar starrte irritiert in Teresas Augen.
„Unser Kevin heißt Dennis.“, stellte Teresa richtig. Sie lächelte
Dietmar an, obwohl ihr nicht nach Lächeln zumute war.
Er sprach hinter ihrem Rücken mit dem Direktor der Schule ihres
Sohnes und nannte ihren Sohn zudem noch „Kevin“.
Allein ihrer Neugierde war zu verdanken, dass sie das Gespräch
nicht beendete und ihm sofort ihre unzensierte Meinung mitteilte.
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Sie wollte wissen, was bei dem Gespräch herumgekommen war.
Zeitgleich ärgerte sie sich erneut über ihre Inkonsequenz.
Dietmar räusperte sich: „Ja natürlich. Dennis. Den Namen habe
ich auch selbstverständlich im Gespräch mit meinem Freund
Markus Lambertz genutzt. Keine Ahnung, wie ich plötzlich auf
„Kevin“ komme. Verzeih mir bitte, Süße.“
„Schon gut.“, quetschte sich Teresa durch ihre Zähne. Dieses
nervige „Süße“. Wie hatte sie das jemals zulassen können? Und
wichtiger noch, wie konnte sie diesen Titel wieder von den
Husenkamps entfernen? War das überhaupt noch möglich?
Übergriffig!
Immer häufiger tauchte dieses Wort in Teresas Kopf auf, wenn sie
an die Husenkamps dachte.
Dietmar riss sie erneut aus ihren Gedanken, indem er
weitersprach: „Nun ja. Lange Rede, gar kein Sinn.“ Er machte eine
Pause, um in schallendes Gelächter über seinen eigenen
misslungenen Witz auszubrechen. Verstohlen sah er Teresa aus
den Augenwinkeln an, um zu überprüfen, ob sie artig mitlachte.
Sie tat ihm diesen Gefallen nicht.
Schluss mit dem Schauspiel, dachte sie. Sie gab ihm noch einen
Moment, bevor sie um eine Weitererzählung bat: „Und?“
Dietmar brach sein furchtbares, künstliches Lachen ab, nahm noch
einen Schluck Kaffee und fuhr fort: „Nun ja. Er war sehr an
meiner Meinung interessiert. Das ist in Waldesruh immer noch so,
meine Liebe. Das Wort eines Bürgermeisters ist hier enorm
wichtig, musst du wissen.“
Teresa schloss kurz ihre Augen, damit Dietmar das Rollen eben
jener Augen nicht sah: „Ja, weiß ich. Ist im Dorf meiner Eltern
auch noch so.“
Dietmar lehnte sich zurück, (als hätte Teresa den Startknopf eines
Programmes gedrückt) legte seine Fingerspitzen aneinander und
sah Teresa besonnen an: „Ja Teresa, Süße. Das Dorfleben ist etwas
ganz Besonderes. Das kannst du mit dem Leben in einer Stadt
nicht vergleichen. Wirklich wahr. Jeder kennt hier jeden und jeder
hilft jedem. Zum Beispiel die Wiese der alten Frau Märtens. Das
Gras ist mittlerweile wieder so hoch, dass es einfach im Dorfbild
unschön aussieht. Ich habe es letzte Woche noch gemäht und es
wäre schön, wenn sich heute oder morgen jemand anderes mal
kümmern würde.“
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Dietmar und Teresa sahen sich schweigend an. Teresa wartete
darauf, dass Dietmar weitersprach, doch scheinbar wartete
Dietmar auch auf irgendetwas.
„Oh, ach so!“, sagte Teresa. „Du meinst uns? Sollen wir den Rasen
mähen?“
„Mensch Teresa. Toll, dass ihr Euch anbietet, ganz große Klasse.“
Dietmar strahlte Teresa an.
Was für ein mieser, dreister Penner, dachte sie und ballte ihre Fäuste.
Niemand hatte es mehr geschafft, sie dumm dastehen zu lassen
und Dietmar und Kathrin schafften es immer wieder. War sie
wirklich so kalkulierbar? War sie so ein leichtes Spiel für Dietmar?
Sie seufzte: „Also heute oder morgen, sagst du?“
„Besser heute als morgen. Möchtest du noch etwas Kaffee? Hat er
dir geschmeckt?“ Dietmar schielte auf den Becher in Teresas
Hand.
Teresa blickte in den leeren Becher und ärgerte sich noch mehr.
Noch nicht mal die stille Verweigerung des Kaffees bekommst du hin, schalt
sie sich.
„Ich kümmere mich.“, sagte sie. „Ich möchte keinen Kaffee mehr.
Was war denn nun mit dem Leiter der Realschule?“
Dietmar zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen, als ob er
nicht verstehen würde, was Teresa von ihm wollte. Ein paar
Sekunden später erhellte sich der Blick aber wieder.
„Stimmt, wo hab ich nur meine Gedanken. Also, Dennis darf ab
morgen wieder zur Schule. Ich habe mich für ihn verbürgt und
eine gelinde Strafe erkämpft.“
Strafe? dachte Teresa.
„Strafe?“, fragte Teresa.
„Nur eine leichte, kleine Strafarbeit.“, versicherte Dietmar und
lächelte. „Er muss drei Wochen lang den Schulhof säubern. In den
Pausen und nach dem Unterricht.“
Vor Schreck wäre Teresa beinahe der Becher aus der Hand
entglitten. Das war eine Katastrophe. Nach dem Unterricht, okay.
Aber in den Pausen? Was würden seine Schulkameraden mit
Dennis machen, wenn sie ihn drei Wochen lang täglich als
Schulhofräumer in den Pausen begaffen würden?
Dietmar lachte und für einen kurzen, dankbaren Moment glaubte
Teresa dadurch an einen Scherz. Fehlanzeige.
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„Mensch, Teresa, Süße. Dir hat es regelrecht die Sprache
verschlagen. Das habe ich gerne für euch gemacht, meine Liebe.
Ganz ehrlich. Und falls nochmal etwas sein sollte, bin ich jederzeit
zu Stelle. So, jetzt muss ich leider furchtbar ungastlich werden und
dich verabschieden. Ich bin untröstlich, aber ich habe noch das ein
oder andere Telefonat zu führen.“
Wie ferngesteuert erhob Teresa sich von der Couch und ging in
Richtung Haustür.
Dietmar rief hinterher: „Du findest allein hinaus? Klasse? Zieh die
Haustür ordentlich zu, bitte. Sie klemmt ein wenig, muss ich mal
nachschauen. Bis bald Teresa, Süße. Lass dich gerne nochmal
blicken.“
Teresa zog die Haustür kräftig zu, wie von Dietmar gewünscht
und ging nach Hause.
Das mit den klaren Worten üben wir aber nochmal, dachte sie sich und
legte sich geistig bereits ein paar Worte zurecht, um Dennis seine
neue Tätigkeit schmackhaft zu machen.
Was für eine Scheiße!
-
Mark wollte nicht der ewige Zweifler und Pessimist sein, erst recht
nicht, nachdem Hasan sich so über Marks erfolgreiche Bewerbung
und generell den gestrigen Tagesverlauf gefreut hatte.
Trotzdem gefiel ihm nicht, was Hasan ihm erzählte und da Mark in
Hasan mehr als nur einen Kollegen sah, fühlte er sich
verantwortlich. Es war seine Pflicht, wenigstens Bedenken zu
äußern, auch wenn Hasan diese vielleicht nicht hören wollte.
„Und jetzt willst du einen auf „Web Tony Montana“ machen, oder
was?“ Zugegeben, an der Art und Weise, wie er seine Bedenken
äußerte, musste Mark noch arbeiten. Leider merkte er das, wie
üblich, zu spät.
Hasan rollte mit den Augen: „Okay, ich verstehe schon. Du hältst
das für eine Schnapsidee.“
Halt dich zurück Mark, dachte Mark. Wenn du nicht subtiler an die Sache
herangehst, erzählt er dir gar nichts mehr.
„Aber hallo! Es ist eine Schnapsidee, Hasan!“, sagte Mark.
Gut gemacht, du Idiot., dachte er.
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Hasan blitzte ihn an: „Ist doch kein Problem, Mark. Deswegen
hab ich dich auch gleich rausgehalten. Das ist jetzt mein Problem,
wenn du so willst.“
Hasan drehte sich um und zog sich in seine Abteilung zurück.
Mark kämpfte mit sich, ob er ihm nachlaufen sollte, um die Wogen
zu glätten, entschied sich aber dafür, ihn zunächst in Ruhe zu
lassen. Mit abgekühltem Kopf konnte man sich sicherlich besser
unterhalten.
Mark stellte sich an seinen Computer, einem alten Gerät mit
Röhrenmonitor, welcher auf einer Art rollendem Sideboard stand
und tippte antriebslos im System herum. Vor einem Jahr noch
hatte jede Abteilung einen Schreibtisch gehabt. Abschließbare
Schränke für Ordner befanden sich darin, ein Telefon stand drauf
und das wichtigste: Es gab damals Stühle. Bürostühle, auf denen
sich der Abteilungsleiter oder auch Kollegen setzen konnten.
Doch kaum hatte David Bergmann die Leitung von „Schrauben-
Manny“ übernommen, wurden die Schreibtische entfernt und
plötzlich gab es keine Sitzmöglichkeiten mehr.
Die Begründung lautete damals: „Der Kunde fühlt sich nicht
betreut, wenn ein Verkäufer sich ihm sitzend widmet.“
Absoluter Schwachsinn, fand Mark auch heute noch.
Er würde sich jetzt gerne setzen. Nur für ein paar Minuten, um die
Zeit zu überbrücken.
Mark blickte auf seine Armbanduhr. Unmöglich! Er war erst seit
einer Stunde hier? Das bedeutete, es waren noch stolze vier
Stunden bis zur Mittagspause zu überbrücken.
Mark seufzte frustriert. Was war jetzt eigentlich mit der
Mittagspause? Würde er die Pause jetzt ohne Hasan verbringen
müssen? Nur wegen diesem blöden Streit? Nur weil Mark mal
wieder seine Meinung völlig ungefragt äußern musste?
Mark seufzte erneut, verließ seinen Computer und ging in Hasans
Abteilung, um sich zu entschuldigen.
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.“ Teresa stand
im Türrahmen von Dennis Zimmer. Dennis unterbrach seine
emsige Aufräumaktion, welche Teresa vor Staunen beinahe die
Sprache verschlug und sah Teresa lächelnd und neugierig an.
-
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„Okay. Dann möchte ich zuerst die schlechte Nachricht hören.
Setz dich doch bitte.“ Dennis strahlte Teresa an und rückte ihr
seinen Stuhl zurecht.
Was ist nur los mit ihm? Er scheint völlig ausgewechselt zu sein, dachte
Teresa, setzte sich aber auf den angebotenen Stuhl.
„Ehrlich gesagt, würde ich dir lieber zuerst die gute Nachricht
sagen. Das passt besser, glaub mir.“ Teresa versuchte sich in einem
Lächeln. Offenbar gelangt es ihr, denn Dennis Lächeln wurde
tatsächlich noch breiter: „Ganz wie du willst, Mama. Schieß los.“
„Okay,“ Teresa hüstelte ein wenig, um ihre Stimme frei zu
bekommen. „Du darfst ab morgen wieder zur Schule.“
Sie wartete eine Reaktion ab, irgendetwas? Freude oder Unlust, es
war ihr egal. Sie wollte nur eine kleine Pause zwischen dieser und
der nächsten Nachricht schaffen. Eine Reaktion blieb allerdings
völlig aus.
Teresa bohrte nach: „Freust du dich nicht?“
„Wenn du erlaubst, möchte ich mir jetzt zuerst die schlechte
Nachricht anhören, bevor ich mich freue.“, lachte Dennis und sah
sie weiterhin erwartungsvoll an.
Clever, dachte Teresa und hüstelte erneut.
Dennis griff in seine Hosentasche und holte ein Bonbon hervor:
„Bonbon? Gegen deinen Frosch im Hals?“
Teresa lachte auf: „Nein danke, schon gut. Also pass auf, mein
Großer. Dietmar, unser Nachbar, hat mit dem Leiter deiner Schule
gesprochen und einen Deal ausgemacht. Ich muss dazu sagen, dass
er das nicht mit uns vorab besprochen hat. Wir finden das wirklich
unmöglich, dass er einfach so für uns entschieden hat, das kannst
du mir glauben. Allerdings, das muss ich leider zugeben, hätten wir
es wahrscheinlich allein nicht hinbekommen, dich so schnell
wieder in die Schule zu bekommen. Von daher…“
Teresa hatte sich festgeredet und musste wieder auf die richtige
Spur kommen. Sie hatte die Befürchtung, dass mit dem nächsten
Satz der jetzige Dennis sich wieder verabschieden würde und das
für eine lange Zeit.
„Mama.“ Dennis kam auf Teresa zu und legte seine Hand auf ihre
Schulter. „Sag es ruhig. Was muss ich tun, damit der Deal
eingehalten wird?“
War es das jetzt? dachte Teresa. Hat sich das Kind in Dennis nun
endgültig verabschiedet? Ist er jetzt ein junger Erwachsener?
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Erstaunt stellte sie fest, dass dieser Gedanke sie mehr schmerzte
als vermutet.
„Du sollst drei Wochen lang den Schulhof säubern. Täglich in der
großen Pause und nach dem Unterricht.“, schoss sie aus sich
heraus. Sie bemerkte erst später, dass sie unbewusst dabei ihren
Kopf zwischen ihre Schultern gezogen hatte, als ob sie sich ducken
wollte. Nur ein Millimeter, aber sie spürte die Bewegung noch
immer. Innerlich schimpfte sie sich für diese dargestellte Schwäche
und kam sich blöd vor.
Vielleicht hat er es nicht bemerkt, dachte sie.
Dennis dachte kurz nach und zuckte ein wenig später mit seinen
Schultern: „Das klingt eigentlich fair. Ich habe schon für reichlich
Ärger gesorgt, wenn man mal ehrlich ist. Also, abgemacht.“
Teresa seufzte erleichtert: „Schön. Ich finde es klasse, dass du dich
dem offen entgegenstellst. Damit habe ich, ehrlich gesagt, nicht
gerechnet. Ich bin richtig stolz auf dich“
Dennis beugte sich zu Teresa hinab und gab ihr einen Kuss auf die
Wange: „Glaub mir Mama. Es gibt keinen Grund, stolz auf mich
zu sein. Sei lieber stolz auf Papa. Ich beeile mich mal, klar Schiff
zu machen. Ab morgen kann ich das ja nicht mehr.“
Beherzt griff Dennis zu einem Stapel Bücher und verteilte sie
ordentlich in seinem Regal. Teresa stand von Dennis Stuhl auf und
verließ leise das Zimmer ihres Sohnes.
Warum sie auf Mark stolz sein sollte, vergaß sie völlig zu
nachzufragen.
Noch nie war Mark der Fußweg bis zum Subways so andauernd
vorgekommen wie heute. Hasan und er schlenderten
nebeneinander her. Schweigend.
Mark stellte fest, dass es Unterschiede im Bereich des Schweigens
gab. Da es momentan, außer stupidem Gehen, nichts Besonderes
zu tun gab, hing er seinen Gedanken nach.
Es gab das „romantische Schweigen“. Dieses Schweigen, dem
Pärchen zumeist vor einer schönen Kulisse oder in besonderen
Momenten nachgingen.
Dann gab es noch dieses „Schweigen unter Freunden“. Freunde
mussten nicht permanent reden, sich nicht über alle möglichen
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Dinge unterhalten und das nur um des Redens willen. Nein,
Freunde verstanden es blendend, gemeinsam zu schweigen. Es
reichte in diesen Momenten einfach, dass sie zusammen waren und
sie hatten keinen Grund, Momente mit Geräuschen (und wenn es
nur die eigene Stimme war) zu stören.
Das „nachdenkliche Schweigen“ kannte Mark auch zu gut. Dieses
Schweigen hatte keinerlei Emotion. Es bestand nur aus dem
Grund, weil das Gehirn momentan damit beschäftigt war, etwas
herauszufinden und man fühlte sich nicht in der Lage, sich verbal
zu äußern. Noch nicht mal Kleinigkeiten, wie „Ja“ oder „Nein“
konnte dann über Marks Lippen gezwungen werden. Dieses
Schweigen führte Mark einmal in einem der heftigsten
Streitgespräche mit Teresa, die er jemals hatte. Und dabei war der
Grund so lapidar. Er hatte sich damals einen Virus auf seinem
alten PC geholt. Mittlerweile wusste er nicht mehr, wie er das
geschafft hatte und auch nicht, wie und warum er diesen Virus
festgestellt hatte. Auf jeden Fall saß Mark an diesem einen Abend
vor seinem befallenen PC und versuchte mit seinem
überschaubaren Sinn für Computerwesen das Virus zu finden und
im besten Fall zu entfernen. Er musste Stunden vor dem
Computer verbracht haben und war aufs Äußerste konzentriert.
Als Teresa ihn fragte, ob er Lust hätte mit allen zu Abend zu essen,
fühlte Mark sich nicht in der Lage zu antworten. Er hatte die
Frage genau gehört und wusste auch, dass er nicht mitessen wollte.
Er konnte aber einfach nicht antworten, weil er sich auf das
aktuelle Problem konzentrierte. Teresa hielt das damals für eine
unmögliche Eigenschaft und so entfachte der Streit.
„Betretenes Schweigen“ fiel Mark jetzt ein. Dieses Schweigen auf
Beerdigungen oder wenn ein Kollege, mit dem man sich gut
verstand, plötzlich vor einem steht, um mitzuteilen, dass der
Bergmann ihm soeben die Kündigung überreicht hatte. Das war
vor knapp einem Jahr, doch Mark erinnerte sich, als wäre es
gestern gewesen.
Oder aber nach einem Streit. Die Wogen waren zwar geglättet,
aber dennoch war da diese Stille, dieses betretene Schweigen.
Genau das war es, was momentan zwischen Mark und Hasan
herrschte. Sie hatten sich ausgesprochen und auch vertragen. Mehr
noch, Mark hatte sich für seine barsche Reaktion sogar
entschuldigt. Zugegeben, ein wenig gegen seine Überzeugung,
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denn innerlich hielt Mark Hasans Idee nach wie vor für
schwachsinnig und zudem brandgefährlich. Somit war der Streit
zwar beigelegt, aber dieses quälende Schweigen deutete an, dass da
etwas war, das tiefer saß als eine einfache Meinungsverschiedenheit
oder ein einfacher Streit.
Irgendetwas heute Morgen, an irgendeinem Punkt im Verlaufe des
Streites, hatte etwas in den Beiden verrückt. Etwas in ihrer
Freundschaft war zerbrochen worden und Mark hatte die
Befürchtung, dass es keinen Kitt und keinen Kleber für diesen
Bruch gab.
Als das Subways bereits in Sichtweite war, fing Hasan plötzlich an
zu summen.
Mark musste sofort grinsen. Er kannte den Song zu gut.
„I started this gangsta shit and this the motherfuckin thanks I
get?“, rappte Hasan und sah Mark erwartungsvoll an.
Mark lachte und sagte: „Hello!“
Hasan wiederholte: „I started this gangsta shit and this the
motherfuckin thanks I get?“
„Hello!“ Mark sagte es dieses Mal lauter und fühlte sich erlöst.
Sie rappten (oder zumindest taten sie so, als würden sie rappen)
den Song „Hello“ von Ice Cube die letzten Meter vor dem
Subways und mit jedem Schritt war Mark ein wenig leichter ums
Herz.
Vielleicht gibt es ihn doch, dachte er. Den Kitt oder den Kleber für den
Bruch.
Am Abend, zu Hause angekommen, wollte Mark es sich nicht
nehmen lassen, mit Dennis noch ein paar warme Worte zu der
ganzen Misere zu wechseln.
Der weitere Verlauf des Tages verlief ohne weitere
Besonderheiten. Mark und Hasan räumten gemeinsam gelieferte
Ware in die Regale, zuerst Farben und Lacke in Marks Abteilung,
danach Maschinen und Maschinenzubehör in Hasans Abteilung.
Bergmann ließ sich an dem Tag nicht blicken und auch Feist hielt
sich nach dem Treffen am Morgen bedeckt.
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Seite 157
Mark ging die Treppe hoch, um zu Dennis Zimmer zu gelangen.
Er lachte plötzlich auf, als er sich an Hasans Streich erinnerte,
welchen er eben noch im Laden ausgeübt hatte.
Ein Kunde wollte einen acht Millimeter Holzbohrer haben und
fragte Hasan, wo er diesen denn finden könnte.
Es war nicht die Frage selbst, die Hasan dann das machen ließ, was
er tat. Es war die Art, wie der Kunde nach seinem gewünschten
Bohrer fragte.
Er gestikulierte bohrende Tätigkeiten und sprach bedacht langsam,
überdeutlich und laut.
„WO… BOHRER… HOLZ… 8 MILLIMETER?“, schrie der
Kunde Hasan beinahe an.
Hasan aber blickte Mark nur fragend an und Mark war zu
verwundert, um darauf angemessen zu reagieren.
Diese Pause führte dazu, dass der Kunde sich an Mark richtete:
„Versteht er mich nicht?“
Mark antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Nee!“
Der Kunde seufzte genervt: „Können Sie mir denn helfen?“
Mark war jetzt voll im Spiel und die blinzenden Augen Hasan
stachelten ihn an, weiter zu machen.
„Wobei?“, fragte Mark also einsilbig.
Der Kunde seufzte erneut: „Naja. Ich brauche immer noch den
Holzbohrer.“
Mark begann Spaß zu haben: „Welche Maschine haben sie denn?
Bosch? Black und Decker? AEG?“
Der Kunde starrte Mark perplex an: „Ist doch völlig egal. Ich
brauche einen Bohrer für Holz. Acht Millimeter. Kein Ersatzteil.“
Mark riss seine Augen auf und schaute den Kunden groß an:
„Jahaaaa. Das meinen SIE! Kommen Sie mal mit.“
Zu dritt wechselten sie die Regale und betraten den Gang mit
Meiseln, Bohrern und Schraubbits.
Mark griff zu einer Verpackung und hielt diese dem Kunden nah,
zu nah, unter die Nase.
„Da schauen Sie. Da steht extra drauf Bosch, AEG, Black &
Decker und…“ Mark beugte sich vor und tat so, als würde ihn das
Lesen anstrengen „Meeeetaaaaabo!“
Der Kunde verlor in dem Moment die Beherrschung: „Ja, die
erwähnen einfach jede gängige Maschine, das ist doch nichts
Besonderes. Meine Güte. Der eine versteht die deutsche Sprache
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nicht und der andere ist völlig unfähig. Hier in dem Laden ist alles
im Eimer, das will ich ihnen mal sagen.“
„Eimer?!“, schrie Hasan plötzlich, so dass der Kunde und auch
Mark zusammenzuckten. Hasan eilte um die Ecke in die
Baustoffe-Abteilung und kam mit einem schwarzen Baueimer
zurück. Er hielt dem Kunden den Eimer stolz grinsend hin und
Mark musste sich auf die Zunge beißen um nicht zu lachen.
Mark grinste immer noch, als er an Dennis Zimmer ankam. Er
klopfte.
„Hallo? Komm rein.“, klang es von innen. Mark freute es sehr,
Dennis Stimme so hell und fröhlich zu hören. Er war die
mürrische, freche Art schon so sehr gewöhnt, dass er ein wenig
brauchte, um diese Stimme Dennis zuzuordnen.
Er trat ein und traute seinen Augen kaum. Das Zimmer war hell,
warm und penibel aufgeräumt.
Hell? Wie konnte Dennis es heller gemacht haben, dachte Mark
und versuchte sich zu orientieren. Natürlich! Das Zimmer schien
nur heller, weil Dennis den Fußboden endlich entrümpelt hatte.
Seine benutzten Klamotten waren weg, mutmaßlich in der Wäsche
und seine DVDs, CDs und Bücher waren ordentlich verräumt.
Zudem hatte Dennis die Poster seiner Videogames von den
Wänden entfernt.
Erstaunlich, dachte Mark, da fiel Dennis ihm auch schon um den
Hals.
„Danke Papa! Vielen, vielen Dank.“, schluchzte Dennis und
vergrub sein Gesicht an Marks Hals.
Mark spürte Tränen an seinem Hals und umarmte seinen Sohn
fest.
„Jederzeit, Dennis. Ich bin immer für dich da. Ich bin dein Vater
und das ist meine Pflicht.“, sagte Mark, drückte ein wenig fester zu
und streichelte seinem Sohn tröstend über den Rücken.
Nach einer Weile schob er Dennis ein wenig von sich weg, um
ihm in die Augen zu sehen.
„Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst. Das sind
Menschen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen und die
machen Sachen, mit denen wir erst recht nichts zu tun haben
wollen.“, sagte Mark. Er sprach ruhig, ohne Vorwurf. Trotzdem
war es ihm wichtig, dass Dennis merkte, wie wichtig es Mark war.
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Über Dennis Wangen kullerten noch zwei oder drei dicke Tränen,
während er eifrig nickte. Mark zog ihn nochmal zu sich.
„Alles wird gut, mein Großer. Wirst schon sehen.“, sagte er und
genoss dabei die Erwiderung seiner Umarmung.
War es das jetzt, dachte Mark. Hab ich jetzt meinen Sohn endgültig wieder?
Oder ist das nur eine Pause von der Rebellion?
Mark stellte fest, dass sich damit seine „warmen Worte“ erledigt
hatten und zudem stellte er auch fest, dass ihm diese Tatsache
völlig egal war.
Er hatte seinen Sohn wieder, so wie er immer gewesen war. Er
hatte Dennis wieder und war diesen Viktor los.
Für immer!
-
„ICH. WILL. ZUERST. DIE. WARE. SEHEN.“
Bereits seit Minuten starrte Hasan auf die großgeschriebenen
Worte.
Ob das so eine typische „DarkNet Art“ zu schreiben ist?, fragte Hasan
sich nun wiederholt. Zunächst gab es allerdings darauf keine
Antwort.
Der Grund, warum sein Kunde die Ware vorab sehen wollte,
bereitete ihm durchaus mehr Kopfzerbrechen.
„HALLO?“
Eine Aufforderung zu antworten erschien nun im Chat. Er musste
antworten, egal was. Zumindest zunächst war der Inhalt seiner
Antwort gleichgültig, er musste nur zeigen, dass er noch dort war.
„Warum?“, tippte Hasan hastig in seine Chatleiste und dachte
bereits fieberhaft über die nächsten Schritte nach.
Entweder würde sein Kunde nun wütend sein und den Chat
beenden oder er würde antworten. Sollte er den Chat verlassen,
musste Hasan komplett von vorne beginnen.
Einen neuen Interessenten ausfindig machen, in Kontakt treten
und neu verhandeln. Hasan wollte das um jeden Preis verhindern.
Er überlegte, ob er seinem „Warum?“ noch etwas hinterhersenden
sollte, entschied sich aber dagegen, da er seinem Ansprechpartner
auf keinen Fall auch nur die geringste Spur von Schwäche
übermitteln wollte.
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Er zog ein paarmal an seiner Shisha. Scheinbar waren die Züge an
der Wasserpfeife zu heftig, denn er begann augenblicklich zu
husten.
Zuerst begann es mit einem Hüsteln, doch das machte es nur noch
schlimmer. Ehe er sich versah brach in ihm ein Hustenanfall aus.
Er hustete, japste nach Luft und wurde puterrot. Eilig griff er zu
seinem Glas Cola und trank in langsamen, großen Schlucken um
sein Husten unter Kontrolle zu bringen. Es gelang ihm
einigermaßen. Ein kleiner, lästiger Reizhusten, war das, was noch
übrig blieb.
Er blickte sich nach dieser unfreiwilligen „One Man Show“
neugierig um und stellte fest, dass beinahe alle Gäste des „Internet
/ Shisha Cafés“ auf ihn starrten.
Super, dachte er. Ich gehe extra in eine Webgastronomie um inkognito zu
bleiben und richte die ganze Aufmerksamkeit auf mich. Klasse gemacht,
Hasan.
Er malte sich bereits aus, wie ein Verhör hier ablaufen könnte:
„Mein Name ist Kommissar Jupp Juppsen. Wir haben ihre IP bei illegalen
Internetverbrechen ausfindig machen können. Ist Ihnen etwas Seltsames
aufgefallen?“
„Jetzt, wo sie es sagen, Kommissar Jupp…“
„Bitte keine Vertraulichkeiten. Kommissar Juppsen, bitte.“
„Verzeihung, Herr Kommissar Juppsen. Jetzt, wo Sie es sagen. Der Hasan
Borat hat sich hier die Seele aus dem Leib gehustet und danach panisch auf
der Tastatur gehämmert. Wenn Sie mich fragen, war der gar nicht hier um
Shisha zu rauchen.“
„WEIL. ICH. NICHT. MEHR. VORHABE. MEINE.
GESCHÄFTE. BLIND. ZU. TÄTIGEN.“
Hasan schrak aus seinen Tagträumen auf und konzentrierte sich
auf die neue Nachricht, die auf dem Monitor auftauchte.
Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Was heißt blind?
Er schrieb: „Es ist derselbe Inhalt, wie unsere erste Transaktion.
Nur die doppelte Menge. Wie gewünscht.“
Er sah fasziniert zu, wie sich auch dieses Mal die Buchstaben
seiner Nachricht langsam in Luft auflösten. Dieser Dark Chatroom
war schon crazy. Offenbar wurde an alles gedacht. Keine
verfolgbare IP-Adresse (trotzdem beugte Hasan durch die
Anwesenheit in eben jenem Internet / Shisha Cafés vor), keine
Namen, keine Daten und selbst die dargestellten Nachrichten auf
Seite 161
dem Monitor verschwanden nach ein paar Sekunden oder
Minuten. Je nach Internetverbindung.
„WARE. IMMER. NOCH. NICHT. DA.“
Hasan wurde es mulmig. Das konnte doch nicht sein. Er hatte
extra eine Spedition ergoogelt, die vertrauensvoll jede Art von
Paket auslieferte. Eine Paketnummer gab es zwar nicht, somit
konnte er keine Sendeverfolgung zu Rate ziehen, aber im Netz
wurde stets positiv von diesem Kurier geschrieben.
Siebzig Euro hatte er dafür heute Morgen gezahlt. Siebzig Euro,
damit das Paket noch heute in dem Postfach in Bochum deponiert
wurde. Laut der Annahmestelle sollte gegen 14:00 Uhr das Paket
deponiert werden.
Was war da los?
Er dachte kurz nach bevor er antwortete: „Kann nicht sein. Der
Kurier versprach mir eine Deponierung bis spätestens 14:00 Uhr
im genannten Postfach.“
Die Worte verschwanden wieder und Hasan begann mit den
Fingerkuppen auf der Tischoberfläche zu trommeln.
„DU. DENKST. ALSO. ICH. LÜGE.“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete Hasan zügig und merkte, wie
sein Schweiß langsam die Stirn benetzte. Zudem bildete sich
Schweiß in seinem Nacken und begann sich langsam seinen Weg
über den Rücken nach unten zu bahnen.
Ist es hier so heiß oder drehe ich gerade durch, dachte er.
„WENN. DAS. PAKET. MORGEN. NICHT. IM. POSTFACH.
IST. BEKOMMEN. WIR. SCHWIERIGKEITEN.“
Hasan starrte auf die aktuellste Meldung des Chats. Er traute sich
nicht zu blinzeln. Wenn er geblinzelt hätte, hätte er nicht
mitbekommen, wie sich die Nachricht in Luft auflöste und hätte
später an ihrer Existenz gezweifelt. Das war eine Drohung, daran
gab es kein Zweifel. Hasan schluckte. Sein Mund war trocken. Er
spürte, wie seine raue Zunge an seinem Gaumen schabte und
bereute, dass er sein Glas mit Cola bereits leer hatte.
Er hob seine Hand um den Inhaber des Cafés ein Zeichen für
Nachschub zu signalisieren.
Hasan tippte erneut: „Was soll ich denn machen? Das Paket ist
hundertpro auf dem Weg zu dir. Ich kann doch nichts mehr
machen.“
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„Noch eine Cola, Hasan Abi?“, schallte es von der Theke aus und
Hasan nickte mit einem erzwungenen Lächeln in die Richtung, in
der er den Inhaber vermutete.
„DOCH.“, stand nun mitten auf dem Bildschirm.
Hasan war im Begriff zu seiner Tastatur zu greifen. Er wollte, nein
MUSSTE, fragen, was er denn noch machen könnte.
Er hielt in seiner Bewegung ein. Eine neue Nachricht erschien.
Eine Nachricht, mit der Hasan niemals gerechnet hatte. Er ließ
seine Hände kraftlos sacken und blickte sich hilfesuchend um.
Vielleicht verarscht mich hier jemand, dachte er noch verzweifelt,
glaubte seinen eigenen Gedanken aber nicht.
Die geschriebene Nachricht begann soeben sich aufzulösen.
Trotzdem konnte Hasan den letzten Satz immer noch lesen:
„DU. KANNST. BETEN. HASAN.“
-
Er fand es Scheiße. Das hatte er mehr als deutlich gemacht. Der
gestrige Morgen war so unglücklich verlaufen, weil er es so deutlich
gemacht hatte. Er fand das alles regelrecht Kacke und wollte damit
nicht das Geringste zu tun haben. Kein Zweifel.
Wie konnte es also dazu kommen, dass er nun doch mit Hasan
zusammenstand und über sein Erlebnis von der letzten Nacht
nachgrübelte? War er doch nicht deutlich genug gewesen oder
hatte Hasan die Versöhnung zur Mittagszeit insoweit
missverstanden, als dass er Marks Entgegenkommen als Interesse
missdeutete?
Egal, wie es dazu gekommen war. Mark hörte sich Hasans
Geschichte an und, er musste es zugeben, dachte über das Erlebnis
nach. Eigentlich wäre der Punkt wieder erreicht worden, an dem
Mark Hasan sein Missfallen erneut ins Gedächtnis hätte rufen
sollen. Er tat nichts dergleichen. Er erwischte sich sogar dabei, wie
er mitfieberte und mögliche Theorien in den „Topf der
Eventualitäten“ warf.
„Bist du dir sicher, dass da „Hasan“ stand?“, fragte er und schalt
sich zur selben Zeit.
Hasan sah aber auch gebeutelt aus. So blass hatte Mark seinen
Kollegen und Freund noch nie gesehen.
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Hasan war sogar noch blasser als damals, als er trotz seiner
offensichtlichen Magen-Darm-Erkrankung an einem der heißesten
Tage im Sommer vor zwei Jahren zur Arbeit erschienen war.
Mark erinnerte sich so deutlich, dass er sogar den Geruch des
Erbrochenen wieder riechen konnte. Hasan ließ sich damals
nämlich nicht dazu überreden, schnurstracks nach Hause zurück
zu gehen. Erst als Hasan sich in seiner Infotheke übergab, räumte
er das Feld und sah ein, dass er zu Hause besser aufgehoben war.
Mark hatte infolgedessen das Vergnügen, sämtliche Spuren
wegzuputzen und hätte sich danach am liebsten auch
krankgemeldet.
Er verzog bei dem Gedanken an damals angewidert sein Gesicht,
Hasan sah es, reagierte aber nicht. Mark war froh darüber, denn er
wollte nicht unbedingt jetzt von seinen kruden Gedankensprüngen
erzählen.
„So sicher, wie ich grad vor dir stehe.“, sagte Hasan.
Mark seufzte: „Es kann ja auch sein, dass er auch Hasan heißt.“
Hasan sah ihn überrascht an: „Was? Wie? Kapier ich nicht.“
Mark dachte laut nach: „Naja. du sagtest doch, dass derjenige mit
dem du gechattet hast, permanent großschrieb und nach jedem
Wort einen Punkt gesetzt hat, richtig?“
Hasan versuchte sich zu sammeln und Marks Gedanken zu folgen.
Es schien ihm nicht so recht zu gelingen.
„Ja, stimmt. Und?“ Hasan zuckte mit den Schultern, um sein
Unverständnis visuell zu unterstreichen.
„Das bedeutet,“ fuhr Mark fort „eine Betonung können wir nicht
aus den Texten herauslesen.“
Hasan zog die Augenbrauen zusammen: „Mark. Ich brauche keine
Betonung. Ich möchte nur mal wissen…“
Mark unterbrach ihn: „Warte doch mal Hasan. Es kann also
folgendes sein. Entweder wollte er sagen: Du kannst beten, Hasan.
Oder er wollte sagen: Du kannst beten. Hasan.“
Hasan versuchte den Unterschied herauszuhören: „Verstehe ich
nicht.“
„Das würde bedeuten, dass der Typ, mit dem du geschrieben hast,
auch Hasan heißt. Zufälle gibt es.“ Mark breitete seine Arme aus
und drehte sich um seine eigene Achse, als ob er damit die
Verrücktheit der ganzen Menschheit gestikulieren wollte.
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„Ach Mark. Das glaubst du doch selber nicht. Wie wahrscheinlich
soll das sein? Zwei Hasans, die sich gegenseitig in illegale
Geschäfte ziehen?“ Hasan ließ seine Schultern hängen.
„Genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, als wenn dich
jemand tracken könnte, obwohl du mit dem Tor-Browser im
Darknet unterwegs bist.“, sagte Mark und verschränkte seine Arme
vor der Brust. „Ich bleibe dabei“, drückte diese Geste aus.
Hasan hielt inne: „Was für ein Browser?“
Mark ließ seine Arme sinken: „Naja. Tor-Browser oder halt
Onion-Browser. Was weiß ich, welchen du genutzt hast.“
Hasan dachte angestrengt nach.
Mark schwante schlimmes und eigentlich wollte er jetzt nur noch
wegrennen, wenn er sich vorstellte, dass seine aktuelle Befürchtung
der Wahrheit entsprach.
Bitte! Bitte, bitte, bitte, lass es nicht stimmen, dachte er.
„Hasan?“, fragte er drängend nach.
Hasan schien aufzuschrecken: „Was?!“
„Welchen Browser hast du benutzt?“, fragte Mark und zählte die
Sekunden.
Er war kein IT-Spezialist, mit Sicherheit nicht, aber selbst er,
welcher kaum Ahnung vom DarkNet und all den Tipps und Tricks
hatte, wusste, dass man nur mit einigen bestimmten Browsertypen
sicher und unauffindbar durchs DarkNet surfen konnte…
„Ich habe meinen Chrome-Browser benutzt.“, sagte Hasan.
…und der „Chrome-Browser“ war definitiv nicht dabei.
-
„Hey Dan the D, was geht denn so?“. Der pickelige Halbstarke
war aus Dennis Parallelklasse. Dennis hatte ihn schon ein paarmal
gesehen, hatte ihm aber bislang keine große Aufmerksamkeit
geschenkt. Nun stand er da, umgeben von vier Jungs, die alle vor
sich hin gackerten, als hätte die „Clearasil-Testfläche“ den größten
Witz aller Zeiten vom Stapel gelassen.
„Man schlägt sich so durch.“, antwortete Dennis beinahe schon
automatisch. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass
Mitschüler ihn blöd und semi-lustig von der Seite ansprachen. Um
ganz ehrlich zu sein, war „Mr. Pickel“ mindestens der vierte,
welcher Dennis einen blöden Spruch zurief, seitdem er seine
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„Schulhof-Reinigung“ nach dem Unterricht begonnen hatte. Alle
Nase lang hörte Dennis aus irgendeiner Ecke des Schulhofs
irgendeinen hämischen Zuruf. Bis jetzt hatte er erfolgreich alles
ignorieren können, er hatte ja auch schließlich genug zu tun.
Dieses Mal jedoch, das spürte er genau, würde er nicht so leicht
davonkommen. Seine Nackenhaare richteten sich auf und
verursachten dieses Kribbeln. Das Kribbeln, welches Dennis dazu
aufforderte aufzupassen.
Der Pickelige hielt seine Arme waagerecht und deutete seinem
Gefolge damit an, sich zu beruhigen. Sie verstummten.
„Machst du danach auch die Klassen sauber?“ Die Stimme verriet
Dennis, dass es nicht nur eine harmlose Nachfrage war. Auch die
Jungs um den Anführer herum verrieten die kommende
Provokation. Sie giggelten und pressten ihre Hände vor den Mund,
um ihr unterdrücktes Lachen zu demonstrieren.
Nicht drauf eingehen, Dennis. Er ermahnte sich gedanklich, merkte
jedoch zur selben Zeit, dass sein Puls sich bereits beschleunigte.
Das sind dumme Menschen, hör einfach nicht hin.
„Nein!“, antwortete er knapp. Es kam ruhig und gelassen über
seine Lippen und er gratulierte sich dafür innerlich.
„Das ist schade, weißt du?“, sagte die Nervensäge. Er kam Dennis
immer näher. Selbstverständlich weiterhin umzingelt von seinen
treuen Gefährten. Zwei von ihnen schubsten sich zum Spaß und
lachten, als wären sie sieben oder acht Jahre und gingen nicht zur
Realschule.
Dennis widmete sich erneut seinem Besen. Wenn er diese Fläche
„besenrein“ gebracht hatte, könnte er Feierabend machen. Er
wollte sich danach mit seinem Klassenkameraden Paul treffen und
nur noch diesen Abschnitt zu Ende bringen. Er freute sich bereits
den ganzen Tag drauf.
Auch ohne sich den Fünfen zuzuwenden, bemerkte Dennis, dass
sie sich nun in unmittelbarer Nähe befanden. Er hörte sie atmen
und er realisierte, dass keine Schritte mehr zu hören waren.
„Möchtest du nicht wissen, warum es schade ist, Dan the D. So
heißt du doch, oder?“ Die Stimme war direkt hinter ihm. Dennis
schenkte ihnen trotzdem keine Beachtung. Er beugte sich nach
unten und fischte Kehrblech und Handfeger aus dem Eimer und
begann den Müllhaufen vor seinen Knien aufzufegen.
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„Dennis. Einfach nur Dennis. Und nein, ich möchte es nicht
wissen, dankeschön.“ Er kippte den Müll in den Eimer und setzte
gerade nochmal an, um den Rest des Mülls aufzuschaufeln, als ein
kräftiger Tritt in seinem Rücken landete.
Dennis fiel hin und schlug sich beide Ellenbögen und sein Kinn
auf. Durch den Aufprall biss er sich zudem auf die Zunge, welches
von allen Verletzungen die schmerzhafteste war.
„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede, du Spasti.“, zischte der
Junge. Er wechselte allerdings umgehend wieder den Tonfall und
sprach wieder so herablassend wie zuvor. „Ja, schade dass du nicht
die Klassenräume säuberst. Ich habe nämlich eben in die Ecke
gerotzt, musst Du wissen.“
Die vier Jungs brachen erneut in schallendes Gelächter aus.
Währenddessen rappelte sich Dennis auf und begann seine
Kleidung abzuklopfen. Er antwortete nicht, versuchte stattdessen
weiterhin ruhig zu atmen.
Der Junge schien kurz irritiert zu sein, riss sich aber schnell
zusammen: „Aber weißt du was? Das macht nichts. Ich hab dir ein
wenig davon mitgebracht.“
Bevor Dennis reagieren konnte, zog der Picklige die Nase hoch
und spie aus. Dennis hatte nicht die Gelegenheit auszuweichen,
weswegen alles auf seinen Schuhen landete.
„Na? Was willst du dagegen tun?“, fragte der Junge.
Angewidert starrte Dennis zuerst auf seine Schuhe und danach
endlich auf die fünf Schulkameraden. Er realisierte, dass einer von
ihnen ein Handy hielt.
Filmten sie das etwa? Dennis schwante Übles.
Die wollen filmen, wie sie mich fertig machen, dachte er noch, da brach
die Hölle bereits aus.
Mark war nervös. Er hatte generell Schwierigkeiten damit, über
sich zu sprechen. Er empfand das Wort „Bewerbung“ als eben
das, wofür es stand: Für sich Werbung machen. Er empfand das
als unangenehm und hatte darin auch viel zu wenig Übung.
Jetzt sollte er das auch noch über einen sogenannten Webcall
machen. Computer an und sofort loslegen? Das war noch
unangenehmer, fand er.
-
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Bei einem Gespräch vor Ort konnte man sich wenigstens Schritt
für Schritt vorbereiten. Man hätte die Zeit der Anreise auf seiner
Seite, würde dort empfangen werden und somit den ersten
Kontakt haben.
Dann würde man wahrscheinlich nochmal warten und sich dabei
sammeln.
Zu guter Letzt begleitete man dann den Personalmanager zum
Büro, wo das Gespräch beginnen würde.
Mit der Möglichkeit des Webcalls (natürlich verstand er trotz all
der Bedenken die Vorteile) begann das Gespräch einfach sofort.
Der Bildschirm würde aufleuchten und SHOWTIME.
Mark schaute auf seine Uhr.
13.54 Uhr.
Um 14:00 Uhr sollte der Call stattfinden. Er ärgerte sich wieder
über sich selbst. Er hatte heute Morgen noch daran gedacht, aber
dann doch vergessen, seinen Laptop einzupacken und
mitzunehmen.
Hasan, der sich im Bereich Technik ein wenig besser auskannte,
versicherte ihm zwar, dass Webcalls auch mit Smartphones
funktionieren, aber Hasan wusste ja auch nicht um den Zustand
von Marks altem Samsung. Die Frontkamera machte nur sehr
schwammige Bilder (zugegeben, die eingebaute WebCam des
Laptops war auch nicht das Gelbe vom Ei) und die Akkuleistung
seines Smartphones schwankte von Tag zu Tag.
Im Augenblick war sein Akku auf 57%, was vermutlich ausreichen
würde. Es könnte aber auch sein, dass im nächsten Moment die
Kapazität auf 53% und so weiter dargestellt wird. Ohne Erklärung,
außer dem Alter des Gerätes.
13:56 Uhr.
War es eigentlich angebracht, den virtuellen Meetingraum vorab zu
betreten? Ist es in der Netzwelt so wie in der physischen Welt? Wie
war das nochmal: Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Soldaten
Pünktlichkeit? Oder war es der Maurer? Der Maler?
Muss ich gleich nochmal googeln, dachte Mark, während er sich seine
Handflächen an der Hose abrieb.
Oder sollte er jetzt nochmal schnell googeln? Er hatte ja noch 4
Minuten.
Oder eben nicht, wenn man auf das Sprichwort achtet, dachte er und rieb
erneut seine Hände an der Hose ab.
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Wie konnten Hände nur so schwitzen dachte er und googelte nach
dem Sprichwort.
„Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Deutschen Pünktlichkeit“, las
er einen Augenblick später.
Des Deutschen, dachte er. Das klingt irgendwie nach Nazischeiße. Wieso
sollen nur Deutsche pünktlich sein?
Vielleicht sollte er das gleich mal sein Gegenüber fragen. Oder
später den Bergmann?
Mark lachte kurz über seine wirren Gedanken, dann blickte er auf
seine Uhr.
14:01 Uhr.
Er erschrak. Wie konnte das sein? Er hatte doch noch 4 Minuten.
VIER MINUTEN. Das war ein ganzer Song. Hatte er sich eine
Liedlänge über so einen Schwachsinn Gedanken gemacht?
Der nächste Schrecken ließ nicht lange auf sich warten. Die
Akkukapazität lag nun bei 28%.
Wie, zur Hölle nochmal, konnte es sein, dass sich innerhalb von
vier (korrigiere fünf) Minuten 29% seines Akkustandes in Luft
auflösten?
Hektisch wischte er auf seinem Display durch die Apps. Er musste
zur Mailapp um den Link zu finden.
Da war sie.
Zu schnell, vorbei.
Der Bildschirm fror ein.
NEIN!
Das Samsung schien gnädig und gab nach ein paar Sekunden den
Bildschirm wieder frei und Mark konnte die Mailapp öffnen und
fand zum Glück zügig die Einladung, inklusive des Links zum
Webmeeting.
Er klickte auf den Link und schielte dabei auf seinen Akkustand:
24%.
Toi toi toi.
„Hallo Mark!“ Eine freundliche Stimme ertönte. Ein Bild war
jedoch nicht zu sehen.
Jetzt öffnete sich auch das Sichtfenster und Mark sah in zwei
Gesichter. Die seines Bekannten auf der Raststätte und die einer
hübschen Frau.
„Wir dachten schon, du hast kein Interesse mehr.“, sagte der
Mann.
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Mark grübelte. HARALD! So war der Name. Trotzdem konnte
Mark sich nicht freuen, denn er las nichts Gutes in den Gesichtern.
Waren sie sauer auf ihn? Er blickte auf seine Uhr.
14:05 Uhr.
Ihm fiel ein zweites Sprichwort ein:
„Pünktlichkeit ist die einfachste Form der Wertschätzung.“
-
Teresa rannte den Korridor entlang, hektisch von links nach recht
blickend, um die Gelegenheit zu erhalten, in die jeweiligen
Klassenräume zu spähen. Irgendwo hier mussten sie auf sie
warten.
„Im Klassenraum Ihres Sohnes“, war die Aussage der Sekretärin
der Realschule Waldesruh. Woher sollte sie wissen, wo sich dieser
Klassenraum befindet? Schließlich war sie nur einmal auf dem
Schulgelände gewesen. Das war zur Anmeldung für Dennis,
welche natürlich nicht in seinem Klassenraum, sondern im
Sekretariat stattgefunden hatte. Außerdem war es mittlerweile nicht
mehr erwünscht, dass Eltern das Realschulgelände betreten. Die
Grundschule, auf die Dani ging, fing sogar bereits damit an,
Eltern, die ihren vergesslichen Zöglingen den Turnbeutel, die
Brotdose, die gestrigen Hausaufgaben oder ein unterschriebenes
Klassenfahrtsformular nachtrugen wurden zwar nur mitleidig
belächelt, aber es kam auch schon vor, dass häufigen
„Nachträgern“ ins Gewissen geredet wurde.
Stichwort: Selbstständigkeit.
Teresa begrüßte diese Herangehensweise grundsätzlich, wenn nur
ausgerechnet Dani nicht so schusselig und vergesslich wäre.
Dani. Teresa seufzte. Sie hatte sich vorgenommen, beinahe schon
geschworen, nie wieder auf die Husenkamps zurückzugreifen,
wenn etwas Unerwartetes passieren würde. Die Sekretärin hatte
jedoch so dringlich geklungen und als Teresa mal wieder ihre
Eltern nicht erreichen konnte, musste sie schweren Herzens
wieder bei Kathrin klingeln und darum bitten, Dani bei ihr lassen
zu dürfen. Kathrin hatte natürlich nichts dagegen und versicherte
Teresa erneut, dass sie jederzeit auf sie zählen könnte. Teresa
bildete sich ein, dass das Grinsen auf Kathrins Gesicht breiter (und
war da eine Spur Häme?) war, als sonst. Dani war auch sofort
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einverstanden und sauste gleich durch den Flur ins Wohnzimmer
um „Onkel Dietmar“ (Kathrin und Dietmar mussten Dani den
Titel „Onkel“ und „Tante“ aufgeschwatzt haben, von Mark und
ihr kam das sicherlich nicht) zu begrüßen.
Natürlich hätte sie Dani auch mitnehmen können, aber sie wusste
einfach nicht, was ihr nun begegnen würde.
Die Dame aus dem Sekretariat hatte sich einfach zu schwammig
ausgedrückt. Von einer Schlägerei sprach sie. Teresa wurde
umgehend schlecht und ja, sie gab zu, dass sie auch sogleich
wütend auf Dennis wurde. Aber blieb man ehrlich, so wusste sie
nicht, was genau passiert war. Es gab schließlich auch den
schwindenden Hoffnungsschimmer, dass Dennis unschuldig war
und nur in eine Schlägerei hereingeraten war. Oder?
All dies ließ auf jeden Fall Teresa entscheiden, Dani nicht
mitzunehmen.
Teresa hielt inne. War das der Hausmeister, der in diesem Moment
aus dem Klassenraum kam? Sie steuerte auf ihn zu.
„Entschuldigen Sie?“, rief sie ihm entgegen, um zu verhindern,
dass er gleich wieder im nächsten Klassenzimmer verschwand. Der
Mann stoppte und sah sich um. Als er Teresa entdeckte, lächelte er
und wartete geduldig auf sie.
„Was kann ich für sie tun?“, fragte er mit einer brüchigen Stimme.
Vielleicht war er ein Mann weniger Worte, fuhr es Teresa durch
ihren Kopf.
„Ich suche den Klassenraum der 8c, bitte.“ Teresa riss sich
zusammen, konnte ein leichtes Schnauben aber nicht verhindern.
Das bisschen Rennen und ich könnte pusten wie eine alte Lok, dachte sie
peinlich berührt und nahm sich vor, so schnell wie möglich wieder
„irgendwas Sportliches in Angriff zu nehmen“.
Ein Leuchten war in den Augen des Hausmeisters (mittlerweile
war sich Teresa sicher, dass es der Hausmeister war) zu sehen:
„Ah! Sie müssen Frau Sieger sein.“
Teresa war sich nicht sicher, ob sie sich über die direkte Ansprache
freuen sollte oder nicht. Sie entschied sich zügig dafür, dass es sie
nicht freute, denn die Tatsache, dass ihr Name bekannt war stand
in einem momentan sehr unglücklichem Kontext.
„Ja, ich bin Teresa Sieger.“, nickte sie und streckte ihm ihre Hand
entgegen.
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Der Hausmeister blickte auf ihre angebotene Hand, zuckte jedoch
mit seinen Schultern. Ein bedauernder Blick ließ die „ablehnende
Geste“ aber freundlich wirken.
„Sehen Sie es mir bitte nach, Frau Sieger. Ich habe soeben drei
WCs und ein verstopftes Waschbecken gereinigt und befinde mich
praktisch auf dem Weg zu einem intakten Waschbecken. Ich
würde Ihnen nur ungern die Hand geben, verstehen Sie?“ Er
lächelte.
Teresa lächelte zurück: „Verstehe ich. Können Sie mir sagen, wo
ich den Raum finde?“
„Sie sind schon beinahe dort, wo sie hinwollen. Diesen Gang noch
durch bis zur Treppe und dann ist es das linke Klassenzimmer an
der Treppe.
„Dankeschön.“ Teresa beschleunigte ihren Schritt wieder und
stand bereits kurze Zeit später vor einer Türe hinter der gedämpft
Stimmen zu hören waren.
„Frau Sieger?“, rief der Hausmeister und hob dabei seine Hand.
„Ja?!“ Teresa hielt in der Bewegung ein, an der Tür zu klopfen und
schaute den Mann erwartungsvoll an.
„Ich habe es wirklich versucht, müssen Sie wissen. Ich habe alles
Mögliche versucht.“, sagte er und schaute so traurig, dass der Kloß
in Teresas Hals wieder umgehend auf sich aufmerksam machte.
Als sie gerade nochmal auf ihm zugehen wollte, um Näheres zu
erfahren, bevor sie in die Klasse ging, öffnete sich die Tür und ein
junger Mann stand plötzlich strahlend im Türrahmen: „Dachte ich
mir doch, dass ich etwas gehört habe. Frau Sieger, nehme ich an?“
Er streckte ihr seine Hand entgegen, sie nahm sie und antwortete
zaghaft: „Ja, ich bin Teresa Sieger.“
„Schön, dass Sie es so zügig einrichten konnten. Dann kommen
Sie mal rein, hier ist jemand, der sehnsüchtig auf Sie wartet.“ Der
junge Mann, offensichtlich ein Lehrer, machte ihr Platz und gab
den Blick auf einen zusammengesackten Jungen frei, der sie aus
blutunterlaufenen Augen ansah. Das, was dort saß, war nicht
Dennis. Nicht ihr Dennis. Sein Blick war der eines geprügelten
Hundes, der trotz allem um Verzeihung bat.
Teresas Herz bekam einen Stich und ihre Augen füllten sich
unweigerlich mit Tränen.
-
Seite 172
1%.
Die Akkuanzeige von Marks altem Samsung teilte nur noch einen
kurzen Augenblick seinen Zustand mit, bevor das Display erlosch
und Mark sein mittlerweile heißes Smartphone sinken ließ.
Das war verdammt knapp, dachte Mark und seufzte.
„Hat es nicht geklappt?“ Die Stimme ließ Mark zusammenfahren
und er drehte sich blitzartig in ihre Richtung.
Auch Hasan fuhr zusammen, als Mark sich ihm so hektisch
zuwandte. Mit so einer heftigen Reaktion hatte Hasan wohl nicht
gerechnet.
Hasan hob beschwichtigend seine Hände: „Sorry. Tut mir leid, ich
wollte dich nicht erschrecken.“
Mark atmete auf. Natürlich war es Hasans Stimme gewesen, das
war ihm rückblickend (oder gab es rücklauschend) bewusst. Sein
erster Impuls war aber nun mal, dass entweder Feist oder direkt
der Bergmann ihn hier erwischen würde. Mark hatte sich nämlich
in der hintersten Ecke der Tapetenabteilung hinter dem
Nachfüllregal verschanzt, um den Videocall durchzuführen. Ganz
schön bescheuert, gab er gern zu. Eine andere Möglichkeit, so
verrückt dieses Versteckspiel auch war, gab es aber nicht. In den
Pausenraum konnte er nicht, weil nun Mittagszeit war und alle
möglichen Kolleginnen und Kollegen in den Pausenraum ein- und
ausgingen. Wahrscheinlich hätten sie seinen Videocall interessiert
verfolgt, aber das wäre Mark logischerweise sicherlich nicht Recht
gewesen. In seinem Auto wäre zwar möglich und auch Marks
bevorzugte Variante gewesen, aber sein Auto stand nun mal auf
dem Parkabschnitt des Personals und im absoluten Überblick aus
Bergmanns Büro. Er hätte praktisch in seinem Auto auf dem
Präsentierteller gesessen. Das Außenlager bot versteckte Winkel
und Gänge, die ihm eine gewisse Privatsphäre ermöglicht hätten.
Er hatte sogar mal mitbekommen, dass einer seiner Kollegen auf
die oberste Etage eines Hochregals geklettert war, um ein
Privatgespräch mit seiner Frau zu führen. Dieser Kollege, besser
gesagt Ex-Kollege, hatte zu der Zeit eine private Krise und
deswegen, über den ganzen Tag verteilt, Gesprächsbedarf mit
seiner Frau gehabt. Das Ende der Geschichte war, dass er (soweit
Mark wusste) seine Frau noch immer hatte, seinen Job aber nicht.
Damals fiel diesem Kollegen nämlich das Handy aus der Hand, als
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es in der Hochzone verbal hoch her ging und fiel einem Kunden,
der sich für Pflanzkübel interessierte auf den Kopf. Der Kunde
hatte eine riesige Platzwunde auf seinem Kopf und sein Kollege
die Kündigung.
Seitdem hatte Bergmann es sich zur Angewohnheit gemacht,
mehrmals täglich seine Runden durch „Schrauben-Manny“ zu
drehen. Auch ins besagte Außenlager. Hasan und er nannten diese
Kontrollrunden stets „Die Muppet Show“, weil Bergmann immer
von Feist begleitet wurde und beide philosophierten über mögliche
Erneuerungen und Ausbesserungen und Umbauten an den Stellen,
die sie soeben passierten. Eben wie „Waldorf und Statler“, die
beiden Balkon-Opas aus der Muppet-Show.
Eines Tages, als ein Kunde mehrere Rollen einer bestimmten
Tapete bei Mark bestellt hatte, diese aber nicht abgeholt hatte,
musste Mark sich einen Stauraum für überschüssige Tapeten oder
generell für nachfüllbare Ware herstellen und fand per Zufall diese
Lücke hinter dem Regal. Eigentlich existierte dieser Hohlraum
hinter den Regalen nur aus rein optischen Gründen und weil ein
Sicherungskasten an dieser Stelle hing. Als Mark die Tapetenrollen
dort verstaute merkte er zügig, dass er zwar aus seinem „Versteck“
heraus die Verkaufsräume durch die Löcher der Regalwände
überblicken konnte, aber niemand, der auf der Verkaufsfläche
stand, konnte ihn entdecken. Seitdem war dieser Platz sein
Versteck, wenn etwas Wichtiges war. Hier hatte er schon alles
Mögliche versteckt machen können:
- Sich mit Teresa am Telefon gestritten.
- Sich mit Teresa am Telefon versöhnt.
- Übers Internet Karten zu einem Konzert reserviert. (Er
musste damals minutenlang in der Warteschleife bleiben,
damit die Karten von „Die fantastischen Vier“ nicht direkt
wieder ausverkauft waren.)
- Übers Internet in letzter Instanz ein Geburtstagsgeschenk
für Teresa besorgt.
- Über Google die Frage „wie lange zahnt ein Kleinkind“
gestellt, als Dani ihm und Teresa eine schlaflose Nacht,
nach der anderen beschert hatte.
- Über den inkognito Modus seines Handys auf diverse
freizügige Plattformen gesurft, als es ihm langweilig war.
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Letzteres hatte er nach ein paar kläglichen Versuchen aber
schnellstens wieder sein gelassen, da ihm die Situation doch zu
seltsam und falsch vorkam.
Mark winkte ab: „Schon gut, du hast mich nicht erschreckt.“ Er
lachte. Einerseits aus Erleichterung, dass nur Hasan ihn hier in
seiner „Festung der Einsamkeit“ erwischt hatte und andererseits,
weil er bewusst so schlecht gelogen hatte.
Hasan stimmte mit ein: „Nicht erschreckt, ist klar. Nun sag schon,
was ist jetzt?“
„Lass mich erstmal raus hier.“, sagte Mark und begann, sich
zwischen Regal und Wand zum Ausgang zu schlängeln.
Kaum aus seinem Versteck heraus, begann Mark sich energisch
von allen Staubflocken und Spinnennetzen zu befreien, eine Rolle
Tapete zur Tarnung unterm Arm geklemmt.
„Jetzt sag schon!“, zischte Hasan zwischen den Zähnen hervor
und sah Mark mit großen Augen an.
„Tja, nun ja.“, begann Mark und sah Hasan an, als würde er
verzweifeln. Offenbar spielte er die Dramatik sehr schlecht, denn
Hasan begann umgehend einen kleinen Freudentanz:
„Du hast den Job? Du hast den Job!“
„Pssst! Sei leise!“, raunte Mark und wedelte mit seinen Händen.
Dann fing auch er an zu tanzen und schlug mit Hasan ein.
„Ja. Sie wollen mich haben und melden sich in den nächsten Tagen
zwecks Papierkrams. Ich bekomme zum Beispiel eine eigene
Firmenkreditkarte!“
„Sie sperren meine Kreditkarte?“ Teresas Kopf glühte vor Zorn.
Sie war laut, das wusste sie. Lauter, als es sich in einer Bank
geziemte, aber hatte sie nicht das Recht dazu, ihrem Frust freien
Lauf zu lassen?
Max Gerards, Ihr Berater auf der Waldesruher Bank zuckte auf
jeden Fall bei jedem lauteren Wort zusammen und sah Teresa
unglücklich an: „Frau Sieger. Ich habe Ihnen doch den Stand der
Dinge in unserem letzten Gespräch offengelegt. Möchten Sie
vielleicht etwas zu trinken haben? Kaffee? Wasser?“ Er stand auf,
um ihr ihren Wunsch zu erfüllen, tatsächlich erkannte Teresa in
seiner Bewegung aber den Wunsch zur Flucht.
-
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„Bemühen Sie sich nicht, Herr Gerards. Ich möchte nichts trinken,
ich möchte nur meine Kreditkarte wieder entsperrt haben.“ Teresa
sah ihr Gegenüber streng an.
Der Berater ließ sich wieder auf seinem Schreibtischstuhl
zurückfallen und faltete die Hände: „Das ist gänzlich unmöglich,
Frau Sieger. Sie befinden sich in einer Kündigungsfrist. Ihr Konto
wird geschlossen, all dies haben wir doch besprochen.“
„Sie haben mir zugesagt, dass wir drei Monate Zeit haben.“, sagte
Teresa und funkelte Max Gerards noch feindseliger an als
Sekunden zuvor. Wie konnte diese Drecksbank es wagen, sie in
dieser Form zu demütigen?
Gerards hüstelte und schielte zu seiner Tür. Er schien zu hoffen,
dass diese sich plötzlich öffnen würde und ein weiterer Kunde um
Besuch in seinem kleinen Büro bitten würde. Die Tür blieb
verschlossen und niemand klopfte an.
„Nun.“, sagte er. „Natürlich habe ich Ihnen die Frist von drei
Monaten in Aussicht gesetzt und daran halten wir uns auch.
Zeitgleich, ich bin mir sicher, dass sie das verstehen, möchten wir
natürlich auch dafür Sorge tragen, dass Ihr Konto bis dahin nicht
noch mehr belastet wird. Aus diesem Grund ist Ihre Kreditkarte
gesperrt.“
„Das ist eine regelrechte Unverschämtheit. Sie nehmen es sich
raus, mich finanziell zu entmündigen? Wo sind wir denn hier?“
Teresa sprach sich mehr und mehr in Rage und sie hatte nicht vor,
sich auf irgendeine Art zu bremsen. Dieser Fatzke sollte jetzt dafür
büßen.
„Bitte, Frau Sieger. Könnten Sie bitte etwas gedämpfter…“, weiter
kam der Bankberater nicht.
„Nein, kann ich nicht und ich möchte Ihnen raten mir nicht
nochmal über den Mund zu fahren, Herr Gerards. Sie erwischen
mich gerade in einem Gemütszustand, den man beinahe
Ausnahmezustand nennen könnte. Hat sich Johan Erker nicht bei
Ihnen gemeldet?“ Teresa versuchte, sich dennoch ein wenig zu
beruhigen. Es ging ihr dabei nicht um die gerechtfertigte
Lautstärke. Die sollte der Lackaffe ungebremst abbekommen. Es
ging ihr vielmehr darum, nicht unwirsch zu werden, nur weil sie
vor Wut beinahe platzen könnte.
Der Bankberater seufzte: „Wie ich Ihnen schon sagte, befindet
sich Herr Erker in seinem Ruhestand. Er hat keinerlei Befugnisse
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mehr. Aber, um Ihre Frage zu beantworten, er hat sich sehr wohl
bei uns gemeldet und den Sachverhalt geschildert. Es ist damals
ein Angebot erstellt worden, welches sich nicht vertreten lässt.
Deswegen befinden wir beide uns, nach wie vor, im selben Status
Quo. Die Sperrung der Kreditkarte sorgt dafür, dass Sie sich nicht
noch mehr verschulden. Das ist alles.“ Er erhob sich, um Teresa
zu verabschieden.
Frustriert musste Teresa nachgeben und stand auf. Eines wollte sie
aber noch wissen: „Wenn sich das Angebot von Johan Erker nicht
vertreten lässt, warum existiert es denn dann?“
„Johan Erker, Frau Sieger, kommt noch aus einer Zeit eines völlig
anderen Bankwesens, weswegen sein Ruhestand auch mehr als
überfällig war. Das, was er damals für sie tat, würden wir heute
Bankbetrug nennen.“ Max Gerards zog seine angebotene Hand
wieder zurück, als er merkte, dass Teresa sie niemals annehmen
würde.
Als Teresa die Tür öffnen wollte, sprach der Berater sie nochmal
an: „Wie gesagt Frau Sieger: Sollte sich das Gehalt Ihres Mannes
etwas nach oben korrigieren lassen, sind wir wieder im Gespräch
und dann stünde einer Entsperrung der Kreditkarte nichts mehr
im Wege.“
Teresa schnaubte und knallte die Tür hinter sich zu.
Eilig verließ sie die Bank und lief zu ihrem Auto, in dem Dennis
geduldig auf sie wartete.
Er hatte einfach schrecklich ausgesehen, als sie ihn im
Klassenzimmer auffand. Ein Auge geschwollen, wobei beide
Augäpfel rot und blutunterlaufen waren. Die Lippen
aufgesprungen und diverse Schrammen im Gesicht.
Mit seinem Lehrer hatte sie sich nur noch kurz unterhalten, bevor
sie Dennis mitnahm, um zum Arzt zu kommen. Der Lehrer stellte
sich nach dem ersten Schock mit Michael Wender vor und grinste.
Das Grinsen konnte Teresa allerdings nicht deuten, weil sie von
dem Anblick ihres Sohnes zu abgelenkt war.
„Warum lachen Sie?“, fragte Teresa ihn deshalb. Er schien ein
wenig überrascht, so als ob Teresa etwas Offensichtliches
übersehen hätte.
„Keine Sorge, ich kann nicht singen.“, sagte er, zuckte dann mit
seinen Schultern und fuhr fort: „Allerdings kann er das ja auch
nicht.“ Er lachte herzhaft.
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Teresa grübelte, kam jedoch nicht weiter: „Ich verstehe nicht.“
„Mein Name ist Michael Wender! Entschuldigen Sie, aber die
meisten springen sofort auf meinen Namen an.“ Der Lehrer hielt
plötzlich inne, so als ob er den deplatzierten Smalltalk nun endlich
begriffen hätte.
„Was ist passiert, Dennis?“ Teresa beugte sich zu ihrem Sohn
herab und nahm ihn in die Arme. Dennis hielt sich steif, als ob es
ihm unangenehm wäre. „Wer hat das getan?“, fragte Teresa. Sie
blickte abwechselnd ihren Sohn und den Lehrer an. Es war ihr
egal, wer ihr diese Frage beantwortete. Hauptsache, sie wurde
beantwortet.
Michael Wender räusperte sich: „Es waren ein paar Jungs aus der
Parallelklasse von Dennis. Einer von ihnen befindet sich auf dem
Weg ins Krankenhaus.“
Teresa spürte immer noch, während sie sich im Laufschritt ihrem
Wagen näherte, wie ihr Herz kurz stehen blieb.
Sie reagierte forsch und das tat ihr nun sehr leid: „Dennis! Du bist
gerade erst wieder in der Schule aufgenommen und dann…“
Der Lehrer hob beschwichtigend die Hände und unterbrach mit
einem Räuspern: „Frau Sieger, bitte. Ihr Sohn ist nur passiv an der
Sache beteiligt, das kann ich Ihnen versichern. Der Grund, warum
der Mitschüler Ihres Sohnes ins Krankenhaus muss, ist ganz
einfach erklärt. Dennis hier wurde massiv von den Fünfen
drangsaliert und, nachdem er keine Art der Gegenwehr offenbarte,
verprügelt und stark verletzt. Nur ein einziges Mal hat er sich
gewehrt und den Schüler Antonio von sich gestoßen. Dieser fiel
offensichtlich unglücklich auf seinen Arm und brach ihn dabei.
Das ist alles. Ihr Sohn hat disziplinarisch nichts zu befürchten, da
unser Hausmeister alles mitansehen musste. Leider war er zu weit
entfernt, um eigreifen zu können.“
Teresa fühlte sich immer noch schlecht, als sie ins Auto stieg und
ihren Sohn, der wie ein Haufen Elend im Beifahrersitz kauerte,
ansah.
„Und?“, fragte er und zuckte vor Schmerz zusammen.
„Die Karte ist gesperrt. Das dauert bestimmt nur ein bisschen.“,
antwortete Teresa und startete den Motor.
„Wie wollen wir denn dann die Medikamente in der Apotheke
bezahlen?“ Dennis sah unglücklich aus dem Beifahrerfenster.
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„Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich jetzt nach Hause, damit
du dich ausruhen kannst. Die Schmerzmittel hole ich dann gleich.
Zu Hause hab ich noch Bargeld, genug für deine Tabletten und ein
großes Eis. Ich möchte wetten, dass das Eis sogar noch besser
hilft, als die Tabletten. Steigst du in die Wette ein?“
Sie hielt ihm die Hand entgegen und zwinkerte ihm zu. Dennis
beäugte sie argwöhnisch, doch plötzlich grinste er, zuckte
schmerzerfüllt zusammen und schlug dennoch ein: „Ich steige in
die Wette ein. Top, die Wette gilt.“
Sie fuhren los. Teresa schaltete das Radio an und beide schwiegen
eine Weile. Es war ein angenehmes Schweigen, kein bedrückendes.
Dennis tat Teresa immer noch fürchterlich leid, doch war sie auch
ungemein erleichtert, dass er dieses Mal nicht für Schwierigkeiten
gesorgt hatte und sie spürte, dass auch Dennis so dachte. Sie griff
zu seiner Hand und drückte sie leicht. Dennis erwiderte den
Druck.
Aus dem Radio erklang plötzlich der Song „Sie liebt den DJ“ und
als Teresa gerade Anstalten machte, den Kanal zu wechseln (sie
hasste dieses Lied) fing Dennis an, laut zu lachen.
„Du hattest es wirklich nicht verstanden, oder Mama?“, fragte er,
gluckste vergnügt und sog dennoch vor Schmerz Luft ein.
„Was meinst Du?“, fragte Teresa und sah ihren Sohn verwundert
an.
„Wer singt da, Mama? Oder, besser gesagt, tut so, als ob er singt?“
Dennis sah sie schelmisch an.
„Das ist eine gute Frage. Ist das nicht dieser Michael Wendler?“,
antwortete Teresa und im selben Moment verstand sie den
seltsamen Spruch des Lehrers.
Beide lachten, als sie die Auffahrt zum Haus der Siegers auffuhren.
Das Haus, das noch den Siegers gehörte.
-
„So. Erklär mir das nochmal mit dem Browser.“, bat Hasan, als er
mit Mark an der Stempeluhr stand und wortwörtlich auf den
Feierabend wartete.
Mark überlegte, wie er seinem Freund das erklären sollte. Es war ja
nicht so, dass er der Computerspezialist in Person war. Er verstand
die Mechanik hinter dem Darknet und den zugehörigen
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Browservarianten, aber verstand er es so gut, dass er dieses
Verständnis weitergeben konnte?
„Pass auf. Diese Browser sind praktisch das Darknet, wenn du so
willst. Soweit ich weiß, gibt es mehrere davon, aber die
bekanntesten heißen „TOR“ und „Onion“. Ich weiß nicht,
welcher von beiden besser oder wirkungsvoller ist. Ich weiß nur,
dass, wenn du ein Link mit einem normalen Browser, wie
„Chrome“, „Explorer“ oder dieses „Edge“ nutzt, du so offen bist
wie ein Buch. Du musst dir das so vorstellen…“ Mark dachte über
seine Erklärung nach. Er musste es so bildhaft beschreiben, wie
möglich.
„Dieses „TOR“ ist eine Abkürzung von „The Onion Router“.
Kann also sein, dass es nur einen Browser gibt. Ich bin jetzt auch
nicht der Fachmann vom Dienst, Hasan. Ich weiß nur, dass es
Onion Router heißt, weil das System schichtweise arbeitet. Eben
wie eine Zwiebel. Wenn Du mit einem normalen Browser eine
Adresse ansteuerst, entsteht eine Verbindung von deinem PC zu
dem Server der angesteuerten Webadresse. Das bedeutet, dass
diese gradlinige Verbindung spielend leicht nachvollzogen werden
kann. Eben wegen der direkten Verbindung. Bei diesem Onion
Browser ist es aber so, dass deine Anfrage - also, wenn du jetzt
eine Adresse eingibst – zunächst zu anderen Knotenpunkten
gelenkt wird. Das sind dann wahrscheinlich andere PCs, die eben
auch den Browser nutzen. Keine Ahnung. Von dort aus zu dem
nächsten und weiter zum nächsten. Schicht für Schicht halt, wie
das Innere einer Zwiebel. Im Klartext: Angenommen dieser
Käufer möchte wissen, wer ihm das Zeug verkaufen will, guckt er
in einem bestimmten Trackingprogramm und sieht bei einem
dieser Onion Router nur ein Spinnennetz. Viel zu viele
Knotenpunkte, völlig unmöglich, die Quelle ausfindig zu machen.
Bei deinem normalen Browser, entdeckt er eine grade Linie. Von
seinem Server zu dir. Einmal geht sie in dieses Internetcafé aber
hin und wieder vielleicht auf deinen PC bei dir zu Hause. Oder
hast du den Link nie über deinen eigenen PC geöffnet?“
Mark hielt inne, um Hasan zu beobachten. In Hasans Gesicht
arbeitete es, Mark konnte es sehen.
„Hasan?“ Mark sah seinen Freund erwartungsvoll an.
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Hasan murmelte etwas als Antwort und Mark schien es verstanden
zu haben. Er wollte das, was er glaubte gehört zu haben aber nicht
verstanden haben.
„Sag das nochmal, bitte.“, forderte er Hasan auf und schloss seine
Augen. Teilweise um sich auf das zu konzentrieren, was Hasan
sagen würde, teilweise aber auch um sich – zumindest visuell – vor
dem zu schützen, was er vermutete. Er wollte seine Augen vor
dem verschließen, was unweigerlich kommen würde.
„Mit meinem Handy!“, wiederholte Hasan das, was Mark auch
akustisch verstanden hatte.
Mark ließ erschöpft seine Schultern sacken: „Prima Hasan. Jetzt
wundert mich gar nichts mehr. Wenn du das mit deinem Handy,
ohne TOR Browser machst, hat der Käufer jetzt alles von dir.
Name, Adresse, Telefonnummer und wenn er nur ein bisschen
schlau ist, kann er dich jetzt sogar live verfolgen. Der sieht dich
jetzt praktisch hier vor der Stempeluhr stehen.“
Hasan wurde bleich. Sein Atem beschleunigte sich und er suchte
nach den richtigen Worten: „Ich dachte, mein Cousin hätte mir
einen Link zum Darknet geschickt. Ich dachte, damit wäre alles
vorbereitet.“
„Das hab ich gemerkt. Deswegen war ich doch an dem Abend so
wütend. Wir haben beide keine Ahnung davon. Du offenbar noch
weniger als ich. Der Link ist nur ein Link, Hasan. Dieser Browser
macht daraus erst das Darknet.“, sagte Mark und markierte
Anführungszeichen in der Luft. „Weißt du denn, ob das Paket
mittlerweile angekommen ist?“ Mark ärgerte sich erneut über sich
selbst. Er kümmerte sich schon wieder zu intensiv um etwas, um
das er sich gar nicht kümmern sollte und wollte.
„Ich weiß es nicht. Ich wollte gleich zum Internetcafé und dort
den Link nochmal nutzen.“, antwortete er kleinlaut. Mark wurde
wieder weich, er merkte es.
„Alter, du bist aufgeflogen beim Käufer. Jetzt brauchst du auch
nicht mehr aufs Internetcafé zu warten.“ Mark blickte auf die
Armbanduhr. Feierabend.
Er griff zu seiner Stempelkarte und stempelte sich aus. Die
Stempeluhr gab den wohlklingenden Klacklaut von sich.
Plötzlich erschrak Mark. Ein Freudenschrei von Hasan ließ ihn
zusammenzucken: „Ja! Es ist da! Er schreibt: „Wurde auch Zeit,
Hasan. Das Paket ist da. Super Qualität, gerne mehr davon.“
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Mark ließ seine Stempelkarte langsam sinken. Er glaubte es einfach
nicht.
„Hast du jetzt gerade mit deinem Handy… Sag mal, hast du mir
eigentlich zugehört?“
Hasan starrte Mark an, das Lächeln zu einer Maske erstarrt: „DU
hast doch gesagt, jetzt wäre es auch egal.“
„Ja aber doch nicht, wenn wir hier im Laden sind, Mann. Willst du
jetzt deinem Kunden noch eine Führung durchs „Schrauben-
Manny“ spendieren, oder was? Du hättest…“ Weiter kam Mark
nicht.
Mit einem Getöse zerbarst Hasans Handy an der Wand zum Büro
Bergmanns. Die Einzelteile des Smartphones rieselten zum Boden.
„Jetzt besser?“, fragte Hasan. Er sah Mark erwartungs- und
hoffnungsvoll an.
Mark schüttelte ungläubig den Kopf: „Tut mir leid mein Freund.
Du hast dein Handy jetzt völlig unnötig zerstört. Die haben dich
doch längst gefunden.“
-
„Ich will aber Spaghetti!“, plärrte Dani in ihrem nervigsten Tonfall,
den sie zur Verfügung hatte.
„Dani, Schatz. Wir haben doch gestern erst Spaghetti gemacht.
Wir müssen auch mal was anderes probieren, sonst weißt du doch
gar nicht, was dir sonst noch alles schmeckt.“, versuchte Teresa
gegenzusteuern. Vergebens.
Dani ließ sich polternd zu Boden fallen und begann sich liegend zu
drehen. Ihr Kopf war hochrot vor Wut und sie schrie wie am
Spieß. Teresa hatte es meistens im Griff, ein solches Benehmen bei
Dani zu unterbinden, aber an manchen Tagen stand sie chancenlos
neben ihr und sah sich machtlos gegenüber einer solch geballten
Wutansammlung.
Das Telefon, welches im Flur klingelte, rettete Teresa vor der
Überlegung, ob sie dem unsachgemäßen Bitten Danis
ausnahmsweise nachgeben sollte oder nicht.
So überließ Teresa Dani ihrem rebellischen Aufbegehren und ging
in den Flur, um das Gespräch anzunehmen.
„Sieger?“ Teresa hielt sich den Hörer ans Ohr und bedeckte mit
einer Hand unbeholfen die Sprechmuschel, damit man das immer
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lauter werdende Wehklagen nicht hören konnte. Sie hoffte
inständig, dass es ihr gelang.
„Frau Teresa Sieger?“, drang aus dem Hörer. Teresa kam die
Stimme bekannt vor, konnte sie aber aufgrund des heimischen
Trubels im ersten Moment nicht zuordnen.
„Ja?“, antwortete sie, indem sie die Hand von der Muschel
entfernte, um sie gleich darauf wieder dagegen zu pressen.
„Hier ist Max Gerards, Frau Sieger.“
Natürlich, der Bankfuzzi, dachte Teresa. Sie blickte die Treppe
empor, in der Hoffnung, Dennis zu sehen. Er musste sich um die
sträubende Dani kümmern, damit dieses Telefonat wenigstens den
Hauch einer Chance hatte.
Sie betrachtete die Sprechmuschel, ob sie von ihrer Hand
ausreichend abgedeckt war und zischte daraufhin nach oben:
„Dennis! Komm mal her, bitte!“ Sie hatte keine Ahnung, ob es
von der Lautstärke her reichte, bildete sich aber ein, Schritte oben
zu hören, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatte.
„Frau Sieger? Können sie mich hören?“ Gerards Stimme drang aus
dem Hörer und holte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück.
„Ja schon, aber geben sie mir bitte eine Minute. Ich muss hier mal
für Ordnung sorgen.“, sagte Teresa. Sie legte den Hörer auf das
Telefontischchen (ein Geschenk von Marks Mutter) und eilte zu
der protestierenden Tochter. Sie beeilte sich, da sie keine Lust
hatte zum Bankgesprächsthema zu werden.
„Kennen Sie eigentlich die Siegers?“, bezeugte sie im Geiste ein
imaginäres Gespräch zwischen Gerards und einer willkürlichen
Kundin.
„Die Zugezogenen?“ fragte eben jene Kundin nach.
„Ja genau.“, bestätigte Gerards die Vermutung der Kundin, welche
plötzlich wie Kathrin Husenkamp aussah. „Ich habe dort letztens
angerufen und was glauben sie, habe ich da hören müssen? Die
Tochter der Siegers hat wie ein geprügelter Hund geschrien. Es tat
mir in der Seele weh, kann ich Ihnen sagen.“
Teresa griff beherzt zu der sich nach wie vor am Boden
windenden Dani uns hob sie auf.
„Pass auf, du kleines Teufelchen. Wenn du jetzt sofort mit deinem
Spektakel aufhörst, überlege ich es mir, ob wir jemals wieder
Spaghetti machen. Nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht
am Wochenende. Wenn du allerdings so weiter machst, kann ich
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dir versprechen, dass es hier, in diesem Haus niemals wieder Spaghetti
gibt. Hast du mich soweit verstanden?“ Teresa starrte Dani mit
einem Blick an, der Dani augenblicklich verstummen ließ.
Was für ein unrealistischer Bluff, dachte sie, hielt aber den Blick
aufrecht.
„Du würdest wirklich nie wieder Spaghetti machen, Mama?“, fragte
Dani zaghaft. Kein Nachschluchzen, keine Tränen. Was bewies,
welche Show ihr kleiner Donnerteufel da abgezogen hatte.
„Nie wieder!“, bestätigte Teresa. Kein Zucken und keine
Änderung ihrer Mimik durfte sie zulassen. Die geringste Änderung
ihres Gesichtsausdrucks würde das Kartenhaus sofort und
irreparabel zusammenstürzen lassen.
„Morgen vielleicht?“ Dani versuchte tatsächlich zu verhandeln.
Das konnte doch nicht wahr sein. Von wem hatte dieses Kind
diesen Dickkopf?
„Nicht morgen! Nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht am
Wochenende. Dani, hast du mich jetzt verstanden, möchte ich
wissen.“ Die Sekunden flossen dahin, während es in Danis Gesicht
arbeitete.
„Verstanden, Mama.“, sagte Dani endlich und Teresa nickte zur
Bestätigung.
„Das war eine gute Entscheidung, Dani. Ab nach oben mit dir. Ich
hab noch jemanden am Telefon. Wenn ich fertig bin, rufe ich dich,
dann kochen wir zusammen.“
„Spaghetti?“, fragte Dani, lachte aber einen Augenblick später und
schoss die Treppe rauf.
„Entschuldigen Sie, Herr Gerards. Ich hatte etwas zu erledigen.
Was kann ich für Sie tun?“, sprach Teresa etwas später ins Telefon.
„Es geht nicht darum, was Sie für mich tun können, Frau Sieger.
Ich wollte Ihnen lediglich mitteilen, dass Ihre Kreditkarte nun
wieder entsperrt ist.“, drang Gerards fröhliche Stimme durch den
Hörer.
„Das ist wirklich eine gute Neuigkeit, Herr Gerards. Vielen Dank
für Ihre Einsicht.“, sagte Teresa und freute sich tatsächlich.
„Oh glauben sie mir, Frau Sieger. Das hat mit Einsicht nicht das
Geringste zu tun. Das war die Entscheidung von höherer
Instanz.“, sagte Max Gerards. Er schaffte es, seine unüberhörbare
Abschätzung in freundlichen Worten zu verpacken.
Teresas Freude bekam einen Dämpfer: „Was meinen Sie damit?“
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„Nun ja. Der Bürgermeister ist auch unser Bankvorstand und hat
zu Ihren Gunsten entschieden. Bedanken Sie sich bei ihm.
Bedanken Sie sich bei Dietmar…“
„… Husenkamp.“, beendete Teresa des Satz von Gerards und
zeitgleich auch das Telefonat.
-
Das schrille Klingeln des Handys ließ sich nicht abbrechen. Zuerst
versuchte Mark es heimlich, indem er durch den Stoff seiner Jeans
nach seinem Smartphone fischte, um das Gespräch wegzudrücken.
Ohne Erfolg. Der Kunde, welcher mit einer Reklamation und
einem wütenden Blick vor ihm stand, quittierte Marks klägliche
Versuche mit einem Grunzen.
Es half nichts, Mark musste das Handy aus seiner Hosentasche
nehmen. Bevor er den eingehenden Anruf wegdrückte, blickte er
auf das Display. Das Handy versicherte ihm, dass der Anruf aus
Trier kam.
„Kaffee-Traum!“, sagte Mark, lauter als er es wollte. Der Kunde
starrte ihn verständnislos an. Der Gesichtsausdruck blieb nicht
lange und wechselte zügig wieder zu einer wütenden Grimasse.
Sogar noch wütender als zuvor. Konnte das sein?
„Wenn sie da jetzt rangehen, bin ich sofort bei Ihrem Chef, junger
Mann.“, sagte der Kunde und bestätigte damit die Wutsteigerung.
Wer kann mir beweisen, dass, wenn sie mich jetzt nicht erreichen, sie
NICHT den nächsten in der Bewerberliste anrufen? dachte Mark.
Er wog ab.
Diese Chance, hier aus dem Laden (in dem er sich bereits seit
gefühlt einer Ewigkeit nicht mehr wohlfühlte) heraus zu kommen,
konnte und durfte er einfach nicht verstreichen lassen.
Wenn es allerdings eine einfache Nachfrage wäre oder (um
Himmels willen) gar eine Absage, würde er sich massiven Ärger
einheimsen.
Zum einen, weil er einen Kunden hat stehen lassen und zum
anderen, weil er wieder einmal sein Handy mit in den
Verkaufsraum genommen hatte.
Die Reklamation des Kunden würde Bergmann ihm auch zu Last
legen, wenn er schon mal dabei wäre, Mark abzumahnen.
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Er würde es als Falschberatung auslegen und Mark würde sich
nicht wehren können.
Was tun?
„Ich muss da aber rangehen.“, startete Mark seine Erklärung. „Das
ist der Hersteller Ihres Lackes.“
Der Kunde riss verwundert die Augen auf: „Wieso ruft der
Hersteller Sie denn an?“
Mark nahm das Gespräch kurzentschlossen entgegen: „Mark
Sieger, einen Moment bitte.“
Mark deckte das Smartphone mit einer Hand ab. Natürlich, es gab
eine Funktion des Stummschaltens, aber Angewohnheit blieb
Angewohnheit.
Mark sah den Kunden eindringlich an: „Na, Sie wollen doch
wissen, was Sie falsch… Ich meine, Sie wollen doch wissen, was da
falsch gelaufen ist. Ich verschwinde mit dem Telefon mal ins
Lackregal, um das zu besprechen. Ich bin sofort zurück.“
Mark bog in das Regal mit den Lacken und gab sein Handy wieder
frei.
„Hallo? Tut mir leid, ich hatte gerade einen Kunden.“, sagte er und
horchte in die sphärische Stille.
Am anderen Ende der Leitung hörte er eine weibliche Stimme, die
sich offenbar köstlich amüsierte: „Welchen Lack hat ihr Kunde
denn verarbeitet, Herr Sieger?“ Die Frau auf der anderen Seite des
Gesprächs lachte schallend.
Mark stieg in Lachen ein: „Der übliche Fehler. Auf Wasserbasis
grundiert, auf Kunstharzbasis lackiert.“
Das Lachen der Frau erstarb. Mark horchte. War das Gespräch
unterbrochen?
„Sie haben noch Kunstharzlacke? Herr Sieger, was muss ich da
hören? Wie lange sind die jetzt schon verboten? 2010? 2011?“
Mark stutzte. Die Empörung klang zwar gespielt, trotzdem war
Mark perplex.
„Öhm. Mein Chef hatte damals sehr viel eingekauft.“, sagte er und
fand, dass das als Erklärung ausreichen sollte.
Die Frau lachte schallend: „Na das scheint mir ja ein Chef zu sein.
Da müssen sie unbedingt weg, Herr Sieger.“
Mark schwieg. Was sollte das?
„Deswegen, lieber Mark.“, sprach die Frau am Telefon weiter.
„Freuen wir uns, dich an Bord begrüßen zu dürfen. Wir würden
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uns freuen, dich in drei Monaten hier in Trier begrüßen zu
dürfen.“
Mark drehte sich der Magen. Seine Knie wurden weich und er hielt
sich am Regal fest. Er hatte es geschafft.
„Mark?“, fragte die Stimme nach. „Bist du noch da?“
Er konnte hier weg. Endlich konnte er hier weg.“
„Ähm… Also ich…“, fing Mark an.
Sag was! Ermahnte er sich. Sag irgendwas Vernünftiges. Wenigstens ein
„Danke“.
„Ich… Also…“, stotterte er.
Reiß Dich zusammen!
„Danke.“, sagte er und brachte einfach nicht mehr heraus.
Die Frau am Telefon schien es ihm nicht übel zu nehmen, denn
die lachte und sagte ihm, dass sie ihm noch eine Mail schicken
werde mit einem Link.
„Wir arbeiten ausschließlich elektronisch. Arbeitsvertrag,
Kontodaten, Abrechnung egal was, alles funktioniert bei uns ohne
Papier. Du wirst dich schnell damit zurechtfinden. Wir bräuchten
nämlich noch ein paar wenige Daten.“, sagte sie, wünschte einen
schönen Tag und beendete das Gespräch.
„Und?“, drang eine Stimme von hinten heran.
Mark drehte sich um und entdeckte den wartenden Kunden.
„Jaaaaaaa“, sagte Mark „Sie haben das falsch gemacht. Keine
Reklamation. Ich mach Feierabend.“
Mark ließ den verdutzten Kunden stehen und verließ den
Baumarkt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
-
„Ach Teresa, ich bitte dich. Mach da keine große Sache draus. Wir
sind doch Nachbarn… ach was sag ich? Freunde, wir sind
Freunde.“ Mit weit ausgebreiteten Armen stand Dietmar im Flur.
Es sah aus, als würde ein Showmaster die nächste großartige
Sendung ankündigen. („Schalten Sie auch nächstes Mal wieder ein,
wenn ich den Papst, Johnny Depp und Tom Cruise hier auf der
Couch für Sie eingeladen habe…“)
Teresa riss sich aus ihren Gedanken. Sie hat bei Dietmar geklingelt
um zu erfahren, warum er das getan hatte, was er getan hatte und
wie sie damit weitermachen sollten. Und jetzt, wo sie darüber
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nachdachte, drängte sich eine noch viel dringendere Frage in den
Vordergrund.
Was genau hatte er eigentlich gemacht?
Es sollte dieses Mal eine Begegnung völlig ohne Zorn sein. Keine
Vorwürfe, keine Rechtfertigungen (weder von ihm noch von ihr).
Einfach nur ein informatives Gespräch, vielleicht sogar garniert
mit einem Dankeschön ihrerseits. Je nachdem, was bei dem
Gespräch herauskommen würde.
Doch jetzt?
Jetzt, wo sie ihn sich wieder so gebärden sah, würde sie sich am
liebsten umdrehen und nach Hause gehen. Sie zögerte und
Dietmar erkannte in ihrem Verhalten direkt die falschen Signale.
„Ach Gott, wie unhöflich. Komm doch bitte rein. Kaffee?“ Er
ging voran ins Wohnzimmer.
„Schon gut.“, versuchte Teresa der Einladung auszuweichen, doch
ihre Entgegnung verlief sich nun ins Leere.
Seufzend betrat sie das Haus der Husenkamps (wie oft hintereinander
war sie nun schon hier gewesen?) und ging ins Wohnzimmer.
„Setz Dich doch, Teresa Süße.“ Dietmars Stimme war von der
benachbarten Küche aus zu hören. Er hatte sich die „Kaffee-
Frage“ mal wieder selbst beantwortet, stellte Teresa resigniert fest.
„Dietmar, hör mal. Was genau hast du denn jetzt gemacht, dass
meine Kreditkarte wieder frei ist?“ Teresa setzte sich in den
Ohrensessel, der aussah wie aus dem Hausrat ihrer Großeltern.
Grüner Stoff, der sich so komisch samtig anfühlte, ließ Teresa
beinahe den Pfeifentabak ihres Opas riechen. Der Stoff erinnerte
Teresa immer an die Pullover der 80er aus Nicki. Sie lächelte.
Diese Pullover hatte sie geliebt. Vor allem wenn sie so einen Pulli
trug und ihre Mutter auch. Das Umarmen war dann immer
besonders flauschig. Sie merkte gar nicht, dass sie
gedankenverloren den Stoff des Sessels streichelte, während sie
ihren Gedanken nachhing.
„Ich wünschte, ich wäre als Sessel zur Welt gekommen.“, lachte
Dietmar ihr entgegen. Er balancierte zwei Tassen Kaffee vor sich
hin und stellte sie auf dem Wohnzimmertisch ab.
Meine Güte, dieser Spruch schon wieder, dachte Teresa ärgerlich,
entschied allerdings zur selben Zeit, nicht darauf einzugehen. Als
hätte sie nichts von alldem gehört.
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„Hattest du mich verstanden? Also meine Frage?“, fragte sie
stattdessen.
Dietmar schien enttäuscht, dass keine Reaktion erfolgte. Er
räusperte sich und sagte: „Ja, wegen der Kreditkarte. Nun, ich bin
im Bankvorstand. Also, eigentlich noch. Ich bin da nicht mehr
allzu häufig, weil mein Job als Bürgermeister viel Zeit in Anspruch
nimmt, aber für manche Sachen werde ich noch kontaktiert.“
„Also hat dieser Gerards dich angerufen?“, fragte Teresa.
Dietmar lachte: „Nein. Um Gottes willen. Dieser kleine Schnösel
würde sich niemals die Blöße geben, irgendwo irgendjemanden um
Rat zu bitten. Der entscheidet stets selbständig und immer akkurat
und hochgradig unsympathisch.“
Teresa lächelte. Okay, der Gag war gar nicht mal so schlecht.
Außerdem traf Dietmars Aussage genau den Nerv von Teresa.
Wenn Teresa einen Menschen nicht leiden konnte, so war das
zweifellos Max Gerards. Teresa war kein Mensch, der Groll gegen
jemanden hegen konnte, dazu war sie einfach zu harmoniesüchtig,
ja beinahe zu weich. Aber dieser gelackte Bankmensch hatte ihr
nun mehrmals zugesetzt und das auf eine bloßstellende Art, die
widerlicher nicht sein konnte. Und er hatte ohne Vorwarnung die
Kreditkarte gesperrt.
Ja, sie konnte Dietmar dieses Mal nur zustimmen. Dieser Gerards
war ein Schnösel. Ein selbstverliebter, arroganter Schnösel.
„Okay.“, sagte sie. „Ich danke dir fürs Kümmern. Ist die
Kreditkarte nun auf Zeit wieder entsperrt? Oder muss ich mit
einer erneuten Sperrung rechnen?“
„Nun ja. Ich denke, wir können das auf Dauer entsperrt lassen.“,
sagte Dietmar. Er rührte nun schon mehrere Minuten in seinem
Kaffee, bemerkte Teresa. Er schien sich regelrecht aufs Rühren zu
konzentrieren, denn er starrte unablässig in seinen Kaffee. Wollte
er sie nicht ansehen? Teresa wurde es mulmig.
„Also?“, fragte sie. „Woher hattest du die Info? Also, dass die
Kreditkarte gesperrt ist?“
Dietmar setzte seinen Kaffeebecher ab, er hatte bis jetzt keinen
Schluck getrunken, und sah Teresa tief in die Augen: „Es geht
doch gar nicht um die Kreditkarte, Teresa.“
Oh Wunder, nicht „Teresa Süße“, dachte Teresa, bemerkte aber, dass
es jetzt ernst wurde.
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Dietmar stand auf und wandelte durch sein Wohnzimmer, die
Hände auf dem Rücken verschränkt: „Du hast den Kredit
verweigert bekommen. Entschuldige… IHR habt den Kredit
verweigert bekommen. Die Sperrung der Kreditkarte diente
lediglich dazu, dass vor der Schließung das Konto nicht noch mehr
belastet wird.“ Er machte eine Pause, sowohl verbal als auch mit
seiner Pilgerung durchs Wohnzimmer.
Er fixierte Teresa einen Augenblick, bevor er fortfuhr: „Johan
Erker, der Freund deines Vaters, rief mich gestern an und erzählte
mir davon. Er wollte einen Rat haben und jemanden, der noch
etwas tun konnte, da er ja nun keinen Zugriff mehr hat, dadurch
dass er nun Rentner ist. Er hat euch falsch beraten, da gibt es
keinen Zweifel, Teresa.“ Er schritt wieder durch das Wohnzimmer
und schien nachzudenken.
Teresa nahm nervös einen weiteren Schluck Kaffee, welcher bitter
schmeckte. War der Kaffee tatsächlich bitter oder war es eher ihre
Stimmung?
„Mark hat sich neu beworben. Wenn es so klappt, wie vermutet,
wird das Gehalt deutlich besser.“, sagte sie und lächelte Dietmar
hoffnungsvoll an.
Dietmar lächelte zurück: „Das klingt gut. Wie ihr das schafft, ist
eure Sache, Teresa. Tatsache ist, ihr müsst es schaffen. Verstehst
du?“
Nein! Sie verstand nicht. Sie ahnte etwas, traute sich aber nicht
diese Ahnung weiter zu denken.
„Nein. Was sollen wir schaffen?“, fragte sie und umklammerte
dabei die Kaffeetasse, als wäre sie eine Rettungsboje auf hoher See.
Dietmar nahm wieder Platz, griff zu seiner Tasse und nahm einen
großen Schluck: „Den Kredit abzuleisten, natürlich. Ich habe ihn
euch genehmigt.“
Teresa riss die Augen auf. Eine Last, groß wie ein Felsen, fiel von
ihrer Seele.
„800 € als monatliche Abzahlung. Bekommt ihr das hin?“, fragte
Dietmar skeptisch.
Teresa strahlte ihn an: „Mit Sicherheit, das schaffen wir. Vielleicht
kann ich noch etwas dazu verdienen. Ein Halbtagsjob oder so. Das
schaffen wir…“ Sie stand auf und umarmte Dietmar. All der
Gräuel um sein Benehmen war plötzlich vergessen. Er hatte den
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größten Teil ihrer Sorgen einfach so weggewischt. Das konnte
einfach kein schlechter Mensch sein.
„Wie kann ich dir jemals dafür danken?“, murmelte sie, während
Tränen über ihre Wangen liefen und auf Dietmars Schultern
tropften.
„Uns fällt bestimmt etwas ein.“, sagte Dietmar und legte seine
Hand auf ihren Po.
-
Das Auto, es war eine schwarze Mercedes S-Klasse, stand schon
eine geraume Zeit dort. Die kalten und toten Augen des
Scheinwerfers schienen die Umgebung zu inspizieren und das seit
Stunden. Bestimmt wäre die lange Parkdauer des Autos irgend
jemandem aufgefallen, wenn die Gegend eine Wohngegend wäre
und nicht eines von mehreren Industriegebieten in Köln. Es war
niemandem aufgefallen, so viel stand fest. Es stand und wartete
und wenn es sein musste, noch für weitere Stunden.
Gleiches galt für die Insassen des Fahrzeugs. Es waren zwei
Männer. Beide in dunkler Bekleidung und beide hatten die Geduld,
die man haben muss, wenn man das tat, was sie taten.
Sie sprachen kein Wort miteinander. Gesprochen wurde immer
erst nach Feierabend. Wenn sie im Dienst waren, waren sie Profis,
verhielten sich ruhig und warteten. Warteten und beobachteten.
Einer der beiden Männer griff wortlos zu seinem Smartphone,
aktivierte das Display, las und steckte es wieder weg.
„Gleich soweit.“, sagte er nur, beendete damit kurzzeitig die Ruhe
und griff unter seinen Sitz. Beide Männer hatten je eine
Sturmhaube griffbereit auf ihren Schößen liegen. Wort- und
geräuschlos griffen sie danach und zogen sie zur Hälfte über,
sodass sie wie Strickmützen aussahen.
Die Tür des beobachteten Gebäudes öffnete sich.
„Der nicht.“, raunte der andere der beiden Männer. Es verließen
noch zwei Personen das Gebäude. Die beiden Männer blieben
bewegungslos sitzen.
Dann passierte eine geraume Zeit nichts. Kein Grund zur
Nervosität. Sie waren Profis. Sie hatten das schon etliche Male
gemacht.
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Nach ungefähr zehn Minuten öffnete sich die Tür erneut. Der
Fahrer des Mercedes grunzte bestätigend und startete den Motor.
Die Strickmützen wurden heruntergekrempelt und bedeckten nun
die Gesichter der beiden Männer.
Die S-Klasse beschrieb einen kleinen Bogen, als der Wagen
gedreht wurde. Der Fahrer musste den Wagen wenden, damit sein
Partner auf dem Beifahrersitz besser sehen konnte. Das war
einfach so und niemand konnte es besser als sie. Sie waren Profis.
Niemand konnte das, was sie taten, besser als sie.
Der Beifahrer ließ beinahe geräuschlos das Fenster nach unten
gleiten. Das, was er unter seinem Sitz hervorgeholt hatte, war
bereit und lag schwer in seiner Hand. Noch war das Metall kalt,
jedoch würde sich das sehr bald ändern.
Er hatte mehrere dieser „Werkzeuge“, doch das, was er heute
nutzen würde, war sein liebstes. Es war eine Glock 17, er hatte sie
von einem französischen Freund, welcher nur ein Bruchteil von
dem haben wollte, was diese Pistole eigentlich wert war. Er legte
das Bild, welches neben seiner Sturmhaube auf dem Schoß gelegen
hatte auf das Handschuhfach und schraubte den Schalldämpfer auf
den Lauf der Pistole.
Der Fahrer drosselte das Tempo, sie näherten sich dem Mann, der
eben das Gebäude verlassen hatte. Sie konnten hören, wie er in
sein Handy sprach.
„Ja, das freut mich…“, lachte der Mann in sein Handy. „Trotzdem
hätte ich es besser gefunden, wenn…“
Die zwei Schüsse klangen wie knackende Zweige und klangen
überhaupt nicht so, wie es in zahlreichen Hollywood-Filmen
vorgegaukelt wird. Kein „Piu Piu“.
Auch fiel der getroffene Mann nicht theatralisch um und riss dabei
noch sämtliches Greifbare mit zu Boden.
Der Mann griff zunächst nur überrascht zu der getroffenen Stelle
und sackte daraufhin leise, unauffällig und völlig unspektakulär
zusammen. Das war immer so, zumindest so ähnlich. Nichts
Besonderes geschah, wenn Profis am Werk waren. Und bei den
beiden Männern handelte es sich zweifellos um Profis.
Ungeplant war allerdings lediglich, dass der Fahrer so abrupt
beschleunigte, dass das auf dem Handschuhfach gelagerte Bild aus
dem Beifahrerfenster flatterte und sich nach einem kurzen Flug auf
den regennassen Bordstein legte.
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Ein Foto war darauf zu sehen. Das Foto von dem Mann, der nur
ein paar Schritte zurück auf demselben Bordstein lag.
Unter dem Foto, nur ein Vor- und ein Zuname. Hasan Borat.
-
„Hasan?“ Mark sah auf sein Display, um seinen Empfang zu
überprüfen. „3G“ versicherte ihm sein Smartphone, was für die
ländliche Gegend, durch die Mark soeben fuhr, schon beachtlich
war. Ob Hasan einfach aufgelegt hatte? Er klang nicht sonderlich
beleidigt, hatte er nicht sogar gelacht? Mark ließ sein Handy schnell
in die Mittelkonsole verschwinden. Ein Polizeifahrzeug kam ihm
entgegen und er hatte keine Lust darauf, seine fehlende
Freisprechfunktion erneut zu erklären.
Nur noch ein paar Wochen, dachte er, dann hab ich ein Firmenfahrzeug
MIT Freisprecheinrichtung und kann diesen schäbigen, alten Golf endlich in
Rente schicken.
Das Polizeifahrzeug fuhr an Mark vorbei und Mark atmete
erleichtert auf. Er fischte nach seinem Handy, um Hasan nochmal
zurückzurufen. Eine SMS von Teresa war aufgeploppt und Mark
wischte sie auf.
„Wann kommst du? Ich muss dir was sagen.“, stand dort. Mark
wurde unruhig. Er fummelte auf dem Display herum, um mitteilen
zu können, dass er nicht mehr weit entfernt wäre, allerdings kam
nicht mehr als ein „Krumblfx“ dabei heraus und er ließ es
seufzend bleiben. Schließlich waren es nur noch knapp 10
Minuten, bis er ankommen würde.
Stattdessen versuchte er nochmal Hasan zu erreichen. Als er sein
Handy ans Ohr legte und es gleichmäßig tuten hörte, versprach er
sich, ab morgen seine Bluetooth-Kopfhörer in sein Auto zu legen.
Zuhause nutzte er sie selten, überlegte er, eigentlich sogar nie, also
sprach nichts dagegen, sie hier zu lagern. Vielleicht würde das mal
dafür sorgen, dass er nicht bei jedem Polizeifahrzeug, welches auch
nur in der Nähe fuhr, schuldbewusst zusammenzuckte.
Die Mailbox von Hasan nahm den Anruf mit einem Rülpser
entgegen. Einer von so vielen Gags Hasans, Mark grinste,
verzichtete darauf die Mailbox zu besprechen und legte sein Handy
weg.
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Hasan würde sehen, dass Mark versucht hatte ihn zurück zu rufen.
Wenn es Hasan wichtig war, würde er schon anrufen, wenn nicht
sahen sie sich spätestens morgen wieder.
Morgen werde ich mit Kündigung im „Schrauben-Manny“ erscheinen, dachte
Mark und war von seinen Empfindungen deswegen überrascht. Er
freute sich auf die neue Stelle, auf mehr Geld, eigenes
Firmenfahrzeug. Das war keine Frage. Aber er stellte zudem
plötzlichen Wehmut fest. Ein neues Kapitel würde morgen
geöffnet werden. Ein Kapitel ohne Hasan. Er spürte einen kleinen
Stich und fühlte diesem Stich nach. Ja, er war zweifellos traurig. All
die Jahre, die er mit Hasan täglich hier verbracht hatte, waren
plötzlich Teil einer Vergangenheit. Sie waren Freunde, keine
Kollegen. Sie unterhielten sich über alles, was ihnen in den Sinn
kam, sowas machten nur Kollegen, die zu Freunden geworden
waren. Da war Mark sich ganz sicher. Und natürlich sprach nichts
dagegen, dass sie sich weiterhin unterhielten. Am Telefon oder
auch einfach mal dann, wenn man sich gegenseitig besuchte. Sie
arbeiteten nicht mehr zusammen, okay.
Aber nichts würde ihre Freundschaft ändern, oder? ODER?
Mark bog in seine Einfahrt ein und sah seinen Sohn, welcher von
Teresa festgehalten wurde. Mark stockte der Atem. Wie sah sein
Sohn aus? Was brüllte er da und wieso war er so wütend? Mark
senkte seine Fensterscheibe.
„…ich mache diesen dreckigen Wichser fertig. Lass mich los!“,
brüllte Dennis. Teresa hielt ihn mit Mühe und Not fest und
schaute blinzelnd mit einem Hauch von Erleichterung in die
Scheinwerfer von Marks Golf.
„Zwei Kugeln. Eine schlug sich in die Schulter und die andere
zielte direkt aufs Herz.“ Doktor Martins pustete in seinen Kaffee
und blickte über den Rand der Tasse auf den Kommissar, welcher
ihm gegenübersaß.
„Kommt er durch?“, fragte der Kommissar. Er war nicht immer
so wortkarg wie in diesem Moment, aber der Tag schien einfach
kein Ende zu nehmen.
Er befand sich praktisch auf dem Weg nach Hause und hatte eine
Doppelschicht hinter sich, als der Anruf kam.
-
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Er ärgerte sich über seine verweichlichten Kollegen. Bei dem
geringsten Hüsteln machten sie schlapp und meldeten sich krank.
Sie waren Polizisten, verdammt, da musste man sich
zusammenreißen. Das Verbrechen feierte schließlich auch nicht
krank. Mag sein, dass er mit dieser Einstellung raubeinig schien
und den Ruf hatte „vom alten Schlag“ zu sein, aber wer musste
denn auch die Schichten übernehmen, wenn die Kollegen wieder
ein Ziepen verspürten? Er war es schließlich immer.
Und jetzt dies. Ein Schusswechsel mitten auf der Straße. Zum
Feierabend. Frechheit.
„Ich kann nichts versprechen, dafür ist die Operation noch zu
frisch. Hätte er sein Handy nicht in der Innentasche seiner Jacke
gehabt, hätte er keine Chance gehabt. Das Smartphone hat die
Kugel abgebremst und auch ein wenig umgeleitet, so dass sie das
Herz nicht getroffen hat. Trotzdem muss man bedenken, dass das
Geschoss verheerenden Schaden im Körper angerichtet hat.“
Doktor Martin nahm einen kräftigen Schluck, verzog angewidert
sein Gesicht und griff zu einem Päckchen Zucker. Er häufte zwei
Löffel Zucker in die pechschwarze Brühe und begann emsig zu
rühren. „Sicher keine Tasse Kaffee? Er ist zwar bitter, aber er hält
immerhin wach.“
Kommissar Brunner hob ablehnend die Hände: „Danke, aber nein
danke. Wenn ich nach 17:00 Uhr auch nur eine Cola trinke, kann
ich die Nachtruhe abhaken, dann bekomme ich kein Auge mehr
zu.“
Doktor Martins nickte verständnisvoll, der Löffel drehte immer
noch fleißig seine Runden in der Tasse: „Schon seltsam, wie
verschieden Menschen auf Koffein reagieren. Ich für meinen Teil
kann eine Tasse Kaffee trinken und danach sofort schlafen.
Wahrscheinlich bin ich das Zeug schon zu lange gewöhnt. Und
dann auch noch die Menge an Zucker. Ich weiß, dass das schlecht
ist, sie brauchen mich gar nicht so vorwurfsvoll anzusehen.“
Brunner zuckte mit den Schultern: „Ich habe keinen Grund,
vorwurfsvoll zu schauen. Ich bin einfach nur müde. Also Doktor
Martins, wann können Sie mir mehr zu seinem Zustand mitteilen
und ab wann kann ich mit Ihrem Patienten sprechen? Haben Sie
ein Ungefähr für mich?“
Doktor Martins wiegte seinen Kopf hin und her, als ob er geistig
eine Pro- und Contra Liste ausfüllte. Noch bevor er antworten
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konnte, flog die Tür zum Arztzimmer auf und eine Schwester
betrat eilig den Raum: „Herr Doktor, bitte kommen Sie schnell.
Der Patient mit den Schussverletzungen. Wir verlieren ihn.“
Doktor Martins sprang auf, riss dabei seine Tasse um und die
schwarze Brühe verteilte sich auf seinem Schreibtisch: „Scheiße!“
Der Kommissar sprang ebenfalls auf: „Lassen Sie. Ich mache
Ihnen das Gröbste sauber. Sehen Sie zu, dass sie den jungen Mann
retten.“
Mit einem dankbaren Gesichtsausdruck eilte der Arzt aus seinem
Büro und der Kommissar schaute sich suchend nach Papier- oder
Stofftüchern um. Im Schrank unter dem Waschbecken wurde er
endlich fündig. Er eilte, bepackt mit ein paar Tüchern, zum
Schreibtisch des Arztes und begann sämtliche Utensilien
(Stiftbehälter, Tastatur, Familienfoto und Unterlagen) von der
Tischplatte zu entfernen. Das meiste war verschont geblieben. Nur
eine Patientenakte schien es ordentlich erwischt zu haben. Die
Akte schwamm praktisch in der Kaffeebrühe. Der Kommissar riss
sie schnell an sich, betupfte die Akte mit den Tüchern und legte sie
danach auf dem Heizkörper unter dem Fenster. Bevor er sich dem
restlichen Chaos widmen konnte, erblickte er das Wort
„Schussverletzung“ auf der Akte und hielt inne. Er überflog die
Eintragungen, stellte fest, dass kaum etwas Neues zu erfahren war
und wollte sich gerade wieder dem Schreibtisch widmen, als sein
Blick auf den Namen fiel. „Borat“, las er laut vor.
„Danke, dass Sie mir mit dem Chaos geholfen haben. Den Rest
schaffe ich allein.“, sagte Doktor Martins, der plötzlich in der Tür
stand. Kommissar Brunner drehte sich zu ihm und erschrak. Der
Doktor sah müde aus, regelrecht niedergeschlagen. Kein Vergleich
mehr zu dem Menschen, der eben noch den Raum verlassen hatte.
Kommissar Brunner wusste was das bedeutete, fragte aber
vorsichtshalber trotzdem nach: „Hat er es nicht geschafft, Doktor
Martins?“
Der Arzt schüttelte langsam seinen Kopf: „Nein. Sein Körper
kollabierte. Ich konnte eigentlich nichts mehr tun. Herr Borat ist
soeben verstorben, Herr Kommissar.“
Brunner seufzte, schritt durch das Büro und griff zu seinem
Mantel.
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„Danke, Doktor Martins. Ich werde mich in den nächsten Tagen
nochmal bei ihnen melden. Zunächst mache ich für heute
Feierabend und schreibe morgen einen kleinen Bericht.“
Der Doktor nickte bedächtig und massierte die Schläfen mit seinen
Fingerspitzen: „Ist in Ordnung Herr Kommissar. Meine
Rufnummer haben Sie ja. Ich wünsche Ihnen, trotz der
unglücklichen Umstände, einen schönen Feierabend.“
„Danke. Ich hoffe, Sie müssen auch nicht mehr allzu lange
machen?“ Kommissar Brunner warf sich den Mantel über. Er
fühlte in den Taschen nach seinem Notizblock, fand ihn und zog
ihn mit einem Stift zusammen heraus.
Hatte der Doc geantwortet? Brunner war sich nicht mehr sicher:
„Entschuldigen Sie?“
„Noch drei Stunden, dann hab ich es auch hinter mir.“, sagte der
Arzt und setzte sich keuchend hinter seinen Schreibtisch.
„Dann toi toi toi“, sagte Brunner und hatte bereits die Klinke in
der Hand, besann sich aber einen Augenblick, blätterte in seinem
Notizblock und las: „Also, der Name des Verstorbenen…“
„Ja?“, fragte Doktor Martins, welcher wieder mit dem Massieren
der Schläfen beschäftigt war.
„Der Name lautet Hasan Borat, nicht wahr?“, fragte Brunner und
sah den Arzt an.
Dieser hörte auf seine Schläfen zu massieren und sah den
Polizisten verwundert an: „Ähm… nein. Moment, das haben wir
gleich.“
Er stand auf, suchte auf der Tischplatte nach etwas, danach auf
dem Sideboard der neben dem Schreibtisch stand und sogar auf
dem Fußboden.
„Was suchen Sie? Die Patientenakte? Die liegt auf dem
Heizkörper. War völlig durchnässt.“, sagte Kommissar Brunner
und deutete vage Richtung Fenster.
Der Arzt nahm die Akte, hielt sie ins Licht und konnte den Namen
entziffern: „Ah, hier steht es. Der Name lautet: Borat, Rezan.“
Dietmar ärgerte sich. Mürrisch blickte er auf seine Armbanduhr.
21:30 Uhr. Wer würde ihn um diese Zeit noch belästigen, fragte er
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sich. Keuchend schleppte er sich zur Haustür. Sein Meniskus
quälte ihn seit Tagen wieder.
Er griff zur Klinke und stellte beim Öffnen der Haustür zwei
Sachen fest: Es regnete in Strömen und sein Nachbar stand
klitschnass vor seiner Tür.
Ich sollte mich langsam mal um ein intaktes Vordach kümmern, das ist ja
peinlich, dachte Dietmar noch und wollte soeben zu einer
Begrüßung ansetzen, als Marks Faust unvermittelt in sein Gesicht
krachte.
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„Wir sind gleich da, Viktor.“, sprach der eine von beiden in sein
Handy. Er gestikulierte dem anderen, links abzubiegen. Hier sah
einfach alles gleich aus, kein Wunder, dass sie bereits seit zwei
Stunden auf der Suche waren und ihre Anfahrt sich schon so lange
verzögerte. Ein Kuhdorf glich dem nächsten, sogar die Namen
klangen ähnlich. Walddorf, Waldenrath, Kirchrath, Waldesruh…
Wie sollte man sich da zurechtfinden? Auf Google Maps konnte er
auch nicht zurückgreifen, weil der Auftraggeber die ganze Zeit am
Telefon blieb und sie mit Fragen löcherte.
Ja, verdammt, dieser Hasan war erledigt.
Nein, verdammt, niemand hatte sie gesehen. Es gab keine Zeugen,
da war er sich sicher. Sein Begleiter auch, auch wenn er sich nur
wortkarg dazu äußerte. So war er nun mal. Wortkarg. Gesprochen
wurde immer erst nach Feierabend und dieser schien nun auf sich
warten zu lassen, weil sie dieses Dreckskaff nicht fanden.
„Diese Wichser haben mich beschissen. Das macht niemand mit
Viktor Romanov.“, blökte es durch das Handy.
„Ja, ich weiß.“, seufzte der eine der beiden Profis.
Sie waren Profis, in jeglicher Hinsicht. Sie arbeiteten schnell,
effizient und vor allem ließen sie die Auftragsgeber ausreden. Das
war wichtig und gehörte zu ihrem Credo.
Es war erstaunlich, wie verschieden die Auftragsgeber reagierten.
Manche sprangen kurz vor der Ausführung ab und zahlten
freiwillig die Aufwandsentschädigung, weil sie zum Schluss doch
noch Gewissensbisse bekamen.
Es gab sogar einmal einen Klienten, der nach Beendigung des
Auftrags in Tränen ausbrach und sich selbst anzeigen wollte.
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Ärgerlicherweise mussten die beiden danach statt einer Leiche,
zwei Leichen beseitigen und dabei wurde die zweite Leiche noch
nicht mal bezahlt. So etwas kam schon mal vor und war zwar eine
lästige Sache, aber kaum erwähnenswert. Es war zum Glück nicht
die Regel. Wenn sich so etwas aber häufen sollte, stand das ganze
Geschäftsmodell auf wackligen Beinen. Sie konnten es sich nicht
leisten, unentgeltliche Mehrarbeit zu verrichten.
Viele ihrer Klienten fingen nach Erledigung an, sich zu
rechtfertigen. Dieser Viktor schien so einer zu sein. Das bedeutet,
dass bei denen das Gewissen anklopfte, aber er noch standhaft
genug war, um es trotzdem durchzuziehen. Die Rechtfertigungen
richteten sich in diesem speziellen Falle eher an sich selbst, statt an
den Beseitigungsprofi. Es lag trotzdem an ihm, sich die
Rechtfertigungen anzuhören und sie als gerechtfertigt zu
bestätigen. Sie waren Profis und Profis gaben dem Kunden immer
Recht.
„Waldesruh“, sagte endlich der Fahrer und blickte ihn lächelnd an.
Sie näherten sich offenbar mit großen Schritten dem
wohlverdienten Feierabend.
-
„Hasan Borat?“, fragte der Kommissar, der von vier
Uniformierten begleitet wurde. Die vier stürzten sich, ohne eine
Bestätigung erhalten zu haben, auf Hasan und rissen ihn zu Boden.
„Aua, verdammt. Was soll das? Ich habe nichts gemacht!“,
beteuerte Hasan, unterließ aber augenblicklich jegliche Art von
Gegenwehr, um eventuellen Schmerzen vorzubeugen. Er ließ seine
Muskeln locker, verlagerte sein Gewicht so, dass die Polizisten
leichtes Spiel hatten und wartete geduldig ab. Er merkte sogleich,
dass die Handgriffe der Beamten weniger aggressiv waren und
fühlte sich seiner Entscheidung bestätigt. Geduldig ließ er sich
aufrichten und Handschellen anlegen. Sie bugsierten ihn zur
nächstbesten Sitzgelegenheit, einem Küchenstuhl, und setzten ihn
dort ab.
Kommissar Brunner folgte der kleinen Parade und kramte
unterdessen in seiner Tasche, aus deren Innerem er ein foliertes
Blatt Papier entnahm. Er hielt es Hasan entgegen: „Das sind Sie,
oder?“
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Hasan starrte das Bild an. Es war definitiv sein Gesicht, ohne
Zweifel. Das Bild musste schon älter sein, denn diese Frisur trug er
schon Ewigkeiten nicht mehr. Eine Zeit lang hatte er diesen
Undercut. Die Schläfen kurzgeschoren und die Haare oben so lang
gelassen, dass er einen Seitenscheitel kämmen konnte. Er stand auf
die Frisur, bis er bemerkte, dass beinahe jeder aus seiner
Umgebung diesen Schnitt trug. Mit dieser Erkenntnis schwand die
Begeisterung für diesen Haarschnitt und er rasierte sich die Haare
auf 2 mm ab.
„Ja, das bin ich. Warum fragen Sie? Außerdem steht mein Name ja
auch darunter.“, antwortete Hasan, bremste sich aber auch sofort
wieder.
Keine Ahnung, WARUM ich in Schwierigkeiten bin, aber ich stecke definitiv
in Schwierigkeiten. Frech sein, ist keine gute Entscheidung, dachte er.
„Entschuldigung, wer sind Sie eigentlich und wie genau kann ich
Ihnen helfen?“, fragte Hasan schnell hinterher und bemühte sich
um eine ruhige Stimme.
„Ich bin Kriminalhauptkommissar Brunner und ich muss Ihnen
leider mitteilen, dass Ihr Cousin, Herr Rezan Borat, heute Abend
um ca. 19:30 Uhr erschossen wurde.“, sagte der Kommissar und
schien Hasan dabei genauestens zu beobachten.
Übelkeit übermannte Hasan. Sie kroch aus seinen Eingeweiden in
den Magen und dort die Speiseröhre empor. Hasan schluckte
schnell, doch die Übelkeit bahnte sich erneut und ständig
wiederholend den Weg zurück. Schwindel gesellte sich dazu.
Er blickte vom Kommissar zu den vier Uniformierten. Einer von
ihnen ließ Hasan los und eilte zum Hängeschrank über der Spüle,
entnahm ihm ein Glas und füllte es mit Wasser. Als er Hasan das
Glas brachte, nahm dieser einen großen Schluck und die Übelkeit
schien fürs Erste besänftigt. Der Schwindel aber blieb hartnäckig.
Er hatte nie wirklich viel mit Rezan zu tun gehabt. Auf
Familienfeiern unterhielten sie sich und in jüngster Vergangenheit,
natürlich. Aber sonst? Sonst gab es eigentlich kaum
Berührungspunkte.
Trotzdem meldete sich eine Art Trauer, die den Tod seines
Cousins bedauerte.
Und warum war Rezan eigentlich verstorben? Hatte der
Kommissar das schon beantwortet und Hasan hatte es nicht
mitbekommen?
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Er sah den Kommissar an und es kam ihm vor, als wäre er
minutenlang in seine eigenen Gedanken vertieft gewesen.
Der Gesichtsausdruck des Kommissars war nun milde, kein
Vergleich mehr zu dem Ausdruck von eben, welcher eher streng
und anklagend gewesen war.
Der Kommissar nickte einem Polizisten hinter Hasan zu. Dieser
griff zu Hasans Armen, welche noch immer auf dem Rücken
fixiert waren und öffnete die Handschellen.
Hasan rieb sich die Handgelenke. Tränen tropften auf seine Hand.
Warum weinte er? Verwandter hin oder her, im Grunde war Rezan
das, was er immer schon gewesen war: Ein Arschloch. Weinte er
vielleicht aus einem Grund, den er momentan noch nicht in Worte
fassen konnte? Weinte er, weil er ahnte, dass es um ihn ging? War
er unter Verdacht oder war es vielleicht…
„Wir fanden dieses Bild in der Nähe der Leiche Ihres Cousins und
mussten erst einmal diesen Spuren folgen, auch wenn es noch
unwahrscheinlich ist, dass Sie Ihr Foto nach der Tat dort liegen
lassen.“ Kommissar Brunner starrte Hasan an.
Hasan schluckte. Also doch unter Verdacht?
„Nun, da wir hier alle Ihre Reaktion gesehen haben und Sie
zweifellos von der Nachricht überrascht waren, frage ich mich, ob
vielleicht Sie dort hätten liegen sollen. Kann das vielleicht sein,
Herr Borat?“
Hasans Gedanken schwirrten.
Rezan… Viktor… Darknet… Nicht geklappt… Entdeckt…
Viktor… Drogen… Viktor… Viktor… Falle… MARK!
Er musste auspacken, alles sagen. Er hatte die Befürchtung, dass es
dazu beinahe zu spät war.
Hasan sah dem Kommissar tief in die Augen: „Ja, das kann sein.
Ich sage Ihnen alles, aber bitte tun Sie mir den Gefallen und
schicken Sie jemanden zu einem Freund von mir.“
Der Kommissar nickte: „Wo ist Ihr Freund?“
„In Waldesruh…“, seufzte Hasan und schloss die Augen.
Viktor schleuderte sein Handy gegen die Wand. Es zerbarst
überraschend geräuscharm und zerfiel in mehrere Bestandteile.
Hektisch suchte er in den Bruchstücken nach dem Objekt seiner
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Begierde, fand es und fischte es aus dem zerstörten Stück Plastik.
Er griff zu der Kohlenzange der Shisha, klemmte die SIM Karte in
die Zangenbacken und schlug damit auf den Boden ein, bis die
Karte brach. Es wiederholte es noch zwei Mal. Als aus der SIM
Karte vier einzelne Stücke entstanden waren, beruhigte er sich ein
wenig. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.
Aufflammen und löschen.
„Wann sind sie da?“, frug er einen seiner Leute.
„Sie kommen gerade hoch, Viktor. Es sind sicher 30 Bullen, Alter.
Wir sind alle in Position und ballern uns hier raus“, antwortete
einer von ihnen. Der Typ griff in seinem Hosenbund und zog eine
Halbautomatik hervor und lud sie durch.
„Steck das Ding weg!“, brüllte Viktor, seine Augen weit
aufgerissen. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.
Aufflammen und löschen. „Wenn da wirklich 30 Bullen auf dem
Weg zu uns sind, haben wir keine Chance. Wir müssen Spuren
verwischen, nichts weiter. Und mit deiner dämlichen Knarre
fangen wir an. Schmeiß sie weg, irgendwohin, nur weg.“
Der Typ (hieß er Kevin?) sah Viktor mit einem abschätzigen Blick
an: „Ich gebe nicht auf, Viktor. Ich habe keine Angst vor den
Drecksbullen und das beweise ich dir.“
Er rannte mit der entsicherten Waffe aus dem Apartment und ließ
den verzweifelten Viktor zurück.
„Komm zurück, du Idiot!“, brüllte Viktor noch hinterher, bevor
Schüsse und Schreie das Treppenhaus zu einem Inferno
verwandelten. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.
Aufflammen und löschen.
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Dietmar stürzte zu Boden, Mark stürzte sich auf Dietmar und
Teresa stürzte sich auf Mark. Wäre die Szenerie in schwarz-weiß
zu sehen und durch Pianoklänge unterstützt gewesen, hätte es
ausgesehen wie aus einem „Three Stooges“ oder „Laurel & Hardy“
Sketch. Leider war jedoch alles bitterer Ernst.
Marks Sicherung brannte in dem Moment durch, als Dennis ihm
von Dietmars Grabsch Attacke auf Teresa erzählte.
Der Tumult war bereits groß, wurde dennoch von mehreren
Stimmen, die alle verschiedenes riefen verstärkt.
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Kathrin kam aus der Küche und schrie ohne besondere Worte und
Bedeutungen auszudrücken.
Dietmar schrie aus Überraschung, Schmerz und Wut.
Mark brüllte permanent Fetzen, die von „Ich mach dich fertig!“ bis
zu „Du dreckiges Schwein!“ reichten. Oft auch in Kombination.
Teresa meisterte sich indes wieder in ihrer Kunst des „leisen
Schreiens“, indem sie ihm beinahe laut ins Ohr raunte: „Lass es
gut sein, Mark. Du musst hier nicht das Alphatier spielen.“
Zu guter Letzt schrie Dennis aus dem Eingangsbereich noch
anfeuernde Ausrufe wie: „Gibs ihm Papa!“ und sogar „Wenn du
nicht mehr kannst, mach ich weiter!“
Die ganze Situation wurde surreal, das merkte Mark nun, als er auf
Dietmar lag und eine Hand Dietmars Kragen festhielt, während
die andere Hand an Dietmars Haaren zog.
Was tust du da?, fragte Mark sich und bemerkte zweierlei:
1. Seine Wut war plötzlich verflogen
2. Sein Griff lockerte sich
Ja, du wolltest Dietmar zeigen, dass er eine Grenze überschritten hatte. Ja, du
warst wütend und hast ihm in dieser Wut ins Gesicht geschlagen. Aber jetzt?
Jetzt willst du weiter prügeln, wie ein Gauner, ein Schläger? Wer bist du
eigentlich? Wem willst du hier etwas beweisen? Könntest du bewusst einem
anderen Menschen Schmerzen zufügen? Könntest du das wirklich?
Mark ließ seine Schultern sacken. Er saß wie ein leerer Sack
rittlings auf Dietmar und entschied, dass es nun vorbei war. Er
konnte das nicht. Er war kein rücksichtsloser und gewaltgewohnter
Mensch. Er konnte niemandem bewusst Schmerzen zufügen.
Dietmar schon.
In dem Moment, als Mark aufstand und sich nach vorne beugte,
um Dietmar seine Hand zu reichen (Wir werden uns nun hinsetzen und
in Ruhe darüber reden), hob dieser seinen Fuß und rammte ihn Mark
ungebremst und mit voller Wucht ins Gesicht.
Mark spürte und hörte, wie seine Nase brach. Der Schmerz
verteilte sich in Windeseile in seinem Gesicht, in seinem Kopf.
Sein Kopf war ein einziger Herd aus Schmerzen und dennoch
konnte er die einzelnen Schmerz-Quellen spüren. Seine Nase
brannte wie Feuer, seine Kiefer pochten und er glaubte bereits
jetzt mit der Zunge Lücken zu spüren. Seine Wangen glühten und
strahlten diesen Schmerz aus, den man empfindet, wenn man zu
lange in der Kälte war.
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Nebenhöhlen? dachte Mark noch unwirsch, als seine Beine nun
endlich den Dienst versagten und einknickten. Dietmar rappelte
sich unter Stöhnen hoch und baute sich vor Mark auf, seine Fäuste
geballt.
Mark sackte zusammen, versuchte wieder aufzustehen, jedoch tat
ihm sein Körper diesen Gefallen nicht. Sein Körper wusste es
besser und legte den Hauptschalter, den FI Schalter des
Bewusstseins, um.
Mark ließ sich fallen, schloss die Augen und ergab sich seiner
Ohnmacht.
Er bekam nicht mit, dass ein Auto vor Dietmars Haustür mit
quietschenden Reifen losfuhr.
Er verschlief den Moment, dass der wort- und ausrufstarke
Tumult erneut losbrach.
Er verpasste den Moment, in dem Dietmar neben ihm
zusammenbrach.
Er sah nicht die beiden Austrittswunden in Dietmars Rücken, als
dieser bäuchlings neben Mark lag.
Mark schlief und er würde noch lange schlafen.
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Sie waren Profis!
Es gab nicht den geringsten Zweifel daran. Noch nie hatte ein
Kunde (so nannten sie ihre Auftraggeber) sich beschwert.
Eine Reklamation hat es erst recht noch nie gegeben. All ihre
Kunden, auch wenn sie neu im Business waren und bis dato nur
fünf zahlende Kunden vorweisen konnten, waren stets mit ihrer
Arbeit zufrieden gewesen.
Umso verwunderlicher las der Beifahrer nun zum wiederholten
Mal die SMS ihres Kunden.
„Was seid ihr nur für selten dämliche Wichser. Ihr habt nicht Hasan, sondern
meinen Mitarbeiter umgelegt.“
Gefolgt von noch einer SMS.
„Bullen sind da… Ich zerstöre das Handy… Kein Kontakt mehr… Kohle
könnt ihr vergessen… Fickt euch!“
„Arschloch!“, zischte der Beifahrer dem Display seines Handys
entgegen.
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„Was ist los?“, fragte nun der Fahrer, dessen Neugier das übliche
Schweigen übertrumpfte.
Auch Profis müssen improvisieren und sich gegebenenfalls neu
arrangieren. Da konnte man auch ausnahmsweise sprechen.
Zudem war nun beinahe Feierabend, auch wenn sie sich noch im
Fahrzeug befanden und dieses noch entsorgt werden musste. Sie
waren nicht zufrieden mit sich. Als Profi musste man vor allem
ehrlich zu sich sein. Sie hatten soeben Mist gebaut. Richtigen Mist
gebaut.
„Dieser Viktor hat geschrieben, dass wir den Falschen entfernt
haben.“, antwortete der Beifahrer.
Entfernt. Auf diesen Ausdruck hatten die beiden sich nach langer
Diskussion geeinigt. „Entfernt“ klang weder verharmlosend wie
„Sichergestellt“ noch brachial wie „Exekutiert“, erst recht nicht
kitschig wie „Ausradiert“ oder gar platt wie „umgelegt“.
„Entfernt“ klang professionell und sie waren Profis.
Der Fahrer riss die Augen auf: „Was?! Jetzt gerade? Das wissen wir
doch!“
Er seufzte. Was für eine Misere. In dem Moment, als er auf diesen
Mark Sieger geschossen hatte, sackte dieser zu Boden und dieser
andere Typ da, der alte Fette bekam es voll ab. Sowas war ihm
noch nie zuvor passiert. Aus Protest und weil er merkte, dass er
viel zu langsam fuhr, drückte er aufs Gaspedal. Sie würden wohl
nochmal wiederkommen müssen.
„Nein Mann, nicht das von eben. Das weiß er noch gar nicht und
wird es auch nicht mehr erfahren. Er dürfte jetzt tot oder im Knast
sein.“, sagte der Beifahrer und der Fahrer wusste umgehend,
warum sie sich ein professionelles Schweigen vorgenommen
hatten.
„Alter! Ich kapiere null, was du da von dir gibst!“ Er bog ab und
sah bereits die Hauptstraße vor sich. Noch ein Stück
Umgehungsstraße, dann folgte die A46. Da konnten sie dann Gas
geben und dürften aus dem Gröbsten raus sein.
Der Beifahrer atmete genervt aus: „Mann! Wir haben heute
Nachmittag nicht diesen Hasan gekillt…“
„Erik!“, schrie der Fahrer seinen Beifahrer an. „Wir sagen so etwas
nicht!“
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„Ja sorry“, sagte Erik. „Wir haben heute Nachmittag nicht diesen
Hasan entfernt, sondern einen Mitarbeiter von unserem Kunden.
Die sehen sich scheinbar ähnlich.“
Der Fahrer schlug wütend auf seinem Lenkrad: „SCHEISSE!!!
Sowas darf uns nicht passieren. Und das auch noch zwei Mal am
selben Tag! Wie sollen wir uns im Geschäft halten, wenn sich das
herumspricht?“
„Ist egal.“, sagte Erik und seine Stimme klang nüchtern. „Wir sind
raus aus dem Geschäft.“
Erik, der Beifahrer, deutete nach vorne. Der Fahrer trat auf die
Bremse, der Wagen kam auf der Umgehungsstraße zum Stillstand.
„Feierabend“, sagte der Fahrer und sah seinem Begleiter in die
Augen. Danach starrten beide aus der Windschutzscheibe der
Straßensperre entgegen.
Noch nie hatte der Fahrer so viele Polizeiautos in einer ländlichen
Gegend gesehen, da war er sich sicher.
-
Die Schüsse verhallten. Die große Schlacht war vorbei, nur hin
und wieder hörte Viktor einen einzelnen Schuss, gefolgt von lauten
Befehlen und einer weiteren Schuss Salve.
Es klang wie Silvester, gegen 01:00 Uhr nachts. Wenn die meisten
Böller und Raketen schon verschossen waren und nur noch hier
und da ein Knaller gezündet wurde, weil man sie nun mal hat und
sie bis zum nächsten Jahr nicht halten würden.
Viktor stand immer noch in der Wohnung auf dem Kölnberg.
Seinem Refugium, seinem Schloss, seiner Festung.
Mann, was hatte er hier Dinge durchgezogen.
Jahrelang schon und nie war es so weit gekommen, dass die Bullen
ihm wirklich ernsthaft zu nah kamen.
Hätte er diesem Hasan doch seine kleine „DarkNet Betrügerei“
durchgehen lassen. Was hätte es ihm geschadet? Nichts.
Er hatte trotzdem daran verdient, und zwar ordentlich.
Sein Ruf und sein gottverdammtes Ego haben diesen Hasan nicht
damit wegkommen lassen wollen.
Und jetzt das!
Diese bescheuerten „Profis“, Viktor lachte humorlos auf, haben
nicht nur den Falschen umgelegt, sondern auch noch das Opfer
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liegen lassen. Kein Wunder, dass die Bullen auf direktem Wege zu
ihm finden würden.
Viktor seufzte.
Momentan war es immer noch ruhig in seiner Wohnung und auch
im Flur hörte er keinen Mucks.
Er gönnte sich trotzdem keinen Hoffnungsschimmer. Sie würden
kommen und ihn holen, daran gab es keinen Zweifel.
Wenn sie da waren, würde er sich auf den Boden legen und sich
verhaften lassen.
Kein Ende wie bei Scarface, schwor er sich obwohl er den Film liebte.
Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und
löschen.
Langsam schritt er durch die Wohnung und überflog noch einmal
sämtliches Inventar.
Japp, hier kam sämtliches Belastbare zusammen, aber sein Anwalt
würde ihn da rausholen. Er biss sich nervös auf die Lippen und
ging in Gedanken durch verschiedene Begründungen und
Erklärungen. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.
Aufflammen und löschen.
Sein Vater… Viktor stöhnte. Sein Vater würde ihn zur Schnecke
machen.
„Ich wusste schon immer, dass er nicht taugt. Hab ich es nicht schon immer
gesagt?“ würde er sagen. Viktor ließ sein Feuerzeug aufflammen und
löschen. Aufflammen und löschen.
Er hatte dafür gesorgt, dass niemand etwas Schlimmeres als ein
wenig Gras und Pulver finden würde. Das Handy, mit dem er
diese beiden Deppen beauftragt hatte war zerstört und in alle vier
Himmelrichtungen entsorgt, keine Waffe befand sich mehr in
seiner Nähe.
Sie konnten kommen, er war bereit. Er ließ sein Feuerzeug
aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen. Aufflammen
und löschen. Aufflammen… Aufflammen…
Viktor stutzte und sah sich sein Feuerzeug an. Leer. Viktor seufzte.
„Wenn das kein schlechtes Zeichen ist“, flüsterte er vor sich hin.
Er liebte dieses Feuerzeug, hatte es seit dem Augenblick, als sein
Onkel es ihm damals geschenkt hatte, stets bei sich. Er hatte sich
gleich in die Form des Feuerzeugs verliebt, da es so aussah…
Ein gewaltiges Krachen war durch den Hausflur zu hören.
Schwere Stiefel sprinteten die Treppen hoch.
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Es war soweit.
Viktor ließ sich auf seine Knie nieder und hob seine Hände über
den Kopf. Er ließ sein Feuerzeug klicken. Immer wieder.
Die Tür flog auf und drei schwer bewaffnete Beamten quetschten
sich durch den Türrahmen: „Waffe fallen lassen!“
Die drei SEK Beamten wichen zurück und zielten auf Viktor.
Viktor schluckte, er verstand nicht.
„Waffe fallen lassen, habe ich gesagt!“, schrie einer der drei
hysterisch.
Legten sie auf ihn an? Viktor hatte doch die Hände über den
Kopf, was sollte er denn…
„Ach Moment!“, sagte er und zeigte ihnen sein Feuerzeug. „Das ist
nur ein…“
Was genau Viktor sagen wollte, konnte niemand hören, weil die
Schüsse aus drei MGs zu laut waren.
Viktor ließ sein geliebtes Feuerzeug fallen. Er sackte zusammen.
Er war so stolz auf das Feuerzeug, weil es so aussah wie eine
Beretta 81, die Pistole, die Al Pacino im Film „Scarface“ nutzte.
Sein persönliches Idol. Er lag auf dem Boden und betrachtete sein
Feuerzeug so lange, bis seine Augen brachen.
Die Reifen des „geliehenen“ Wagens quietschten. Das mit der
Entsorgung des Fahrzeugs dürfte sich erledigt haben, dachte der
Fahrer.
Der Wagen schoss nach vorne und hielt genau auf die
Straßensperre zu.
Sie waren Profis und Profis gehen nicht in den Knast.
Der Wagen bahnte sich seinen Weg zur Straßensperre, eine
Stimme, die durch ein Megafon sprach, versuchte auf sich
aufmerksam zu machen.
Alles egal! Sie würden im Kugelhagel sterben.
So, wie Bonnie und Clyde, dachte er, verzog dabei aber sein
Gesicht. Waren die nicht ein Paar? Mann und Frau?
Verdammt, er hätte besser in der Schule aufpassen sollen.
Er hielt weiter auf die Straßensperre zu und fragte sich, ob
mehrere Treffer schmerzhafter sind als einer- oder hatte sich das
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nach dem ersten Treffer erledigt, weil es keine Schmerzsteigerung
nach dem „ultimativen Schmerz“ gab?
Was sind das für Muschi-Gedanken, schalt er sich. Profis stellen sich nicht
solche weichgespülten Fragen. Profis sterben einfach.
Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Sie waren der
Straßensperre nun schon so nah, dass der Fahrer nun schon
vereinzelt die Gesichter der Beamten erkennen konnte.
Verwundert stellte er zudem fest, dass kaum eine Waffe auf sie
gerichtet war.
Noch bevor er tiefere Gedanken in diese Richtung lenken konnte,
erblasste plötzlich das Armaturenbrett und der Bordcomputer.
Der Motor erstarb und das Fahrzeug rollte langsam aus, bis es
hielt. Bevor die beiden Profis zu ihren jeweiligen Waffen greifen
konnten, flogen Fahrer und Beifahrertür auf und der Fahrer fand
sich wenige Sekunden später auf dem Boden wieder.
Ein Knie fixierte ihn im Rücken und Handschellen klickten.
Der Beamte hievte den Fahrer in die Höhe und ein Mann in
Zivilkleidung grinste ihm ins Gesicht: „Guten Tag, Brunner mein
Name. Kommissar Brunner und darf ich Ihnen meinen Kollegen
vorstellen?“ Er wedelte mit einer kleinen Fernbedienung vor der
Nase des Fahrers herum. „Das ist Herr oder Frau (ich weiß es
nicht so genau) Remote Start & Stopp. Der Besitzer des
entwendeten Fahrzeugs war so gütig uns dieses großartige
Helferlein zu leihen. Schauen sie!“
Er drückte auf einen Knopf und der Wagen startete, drückte auf
einen anderen Knopf und der Motor erstarb.
Der Kommissar beugte sich vertrauensvoll vor: „Während der
Fahrt natürlich unmöglich, aber wir von der Polizei haben auch
Kollegen, die eine solche Sperre… nun… ausarbeiten können. Das
Problem ist nur, man muss recht nahe am Fahrzeug sein.“ Der
Kommissar grinste in das verdutzte Gesicht des Fahrers. „War ein
bisschen spannend, muss ich zugeben.“
Er winkte den beiden fixierenden Beamten zu, welche die beiden
Profis umgehend in den Polizeibus setzten.
Sie fuhren ab.
Ich gehe nicht in den Knast, dachte der Fahrer vorher bringe ich mich
um… Jetzt gleich… Oder morgen…
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Epilog
„Das macht doch überhaupt keinen Sinn“, keifte die Kundin.
„Mein Mann hat gesagt, ich soll Montageschaum kaufen. Ist das
jetzt das richtige, oder nicht?“
Feist rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken
und seufzte theatralisch: „Meine liebe Dame. Ich weiß beileibe
nicht, wie ich Ihnen das nun noch deutlicher erklären soll.
Welchen Tag haben wir heute?“
Die Kundin blickte auf ihre Armbanduhr, als ob diese ihr aus der
prekären Lage helfen würde und sah sich danach hilfesuchend um:
„Nun, wir haben heute den 17. Februar.“, sagte sie zaghaft.
Feist lächelte sie gütig an. Ein paar Schweißtropfen waren auf der
Stirn zu sehen.
Du schaffst das, sagte er sich. Bleib tapfer.
„So funktioniert das nicht, meine Dame. Das Datum spielt nichts
zur Sache. Welchen Tag haben wir heute?“ Feist musste aufpassen,
dass sein Lächeln nicht gefror. Alles musste stimmen. Seine feste
Stimme, seine Mimik, Körperhaltung…
„Heute ist Dienstag, aber was hat das mit dem Montageschaum zu
tun?“ Die Kundin wurde zunehmend lauter und sah sich noch
hektischer um. Offenbar versuchte sie, auf sich aufmerksam zu
machen, wollte wahrscheinlich irgendeinen Vorgesetzten zum
Erscheinen keifen.
Nicht mit mir, dachte Feist.
„Würden Sie sich bitte beruhigen? Sehen Sie, Sie sind nicht allein
in diesem Baumarkt und ich würde Sie nur ungern des Marktes
verweisen.“, sagte er und vernahm einen Magenkrampf. So etwas
hatte er noch nie getan. Jede Faser seines Körpers wehrte sich
gegen diese Unverschämtheiten gegenüber seiner geschätzten
Kundschaft.
Die Kundin schnappte nach Luft: „Ist ja gut. Nun, was ist jetzt?“
Feist nahm ihr die Dose mit dem Montageschaum ab: „Sehen Sie:
Das Problem liegt bereits in der Betonung. Wenn ich ihnen dieses
Produkt richtig betone, kommen sie von ganz allein darauf. Es hat
nichts mit einer Montage zu tun. Das ist MONTAGEschaum.
Funktioniert nur montags, verstehen sie?“
Die Kundin zwinkerte nervös, dachte nach und verließ wortlos
den Gang der Sanitären Produkte. Kaum im Kassenraum
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angekommen jedoch, ließ sie ihrem Unmut freien Laut und brüllte:
„Was ist das hier für ein Drecksladen? Hier werden Kunden
verarscht. Eine Unverschämtheit!“
Sie schrie noch mehr Ähnliches, als sie den Markt verließ, dies ging
jedoch im Windfang und dem dahinter liegenden Straßenlärm
unter.
Feist schwitzte und blickte ängstlich nach oben, ob sich die Tür
von David Bergmann (angelockt von der lärmenden Kundin)
öffnete. Sie blieb zu. Er blickte zur Kasse, an der sich eine
verwirrte Lisa festhielt und verzweifelt zu ihm blinzelte.
Er zuckte mit den Schultern, verdrehte seine Augen und
vermittelte der Kassiererin dadurch: „Keine Ahnung, was die hatte. Die
Kunden werden auch immer verrückter.“
Prustendes Lachen erklang aus dem Gang hinter ihm und eine
Hand legte sich fest auf die Schulter von Feist: „Herzlichen
Glückwunsch, Feist. Endlich machst du dich mal locker.“
Feist atmete tief durch und versuchte sich in einem Lächeln.
Hasan sah ihm tief in die Augen: „Na? Ja? Kommt da etwa ein
Lächeln, meine Damen und Herren? Kann der Kollege Feist etwa
Spaß haben? Wir wissen es wirklich nicht, verehrte Zuschauer,
jedoch sind wir uns sicher, dass wir es gleich erfahren werden.
Also bleiben sie unbedingt auf diesem Kanal…“
Feist lachte: „Du bist bescheuert, Hasan!“
Hasan tobte und ahmte jubelnde Massen nach: „Und da haben wir
den Beweis, meine Damen und Herren. Kollege Feist hat Humor
und kann Spaß haben. UND LACHEN KANN ER AUCH
NOCH!!! Es ist unglaublich, was wir heute erleben. Die Menge
tobt und da wollen wir dem Kollegen auch den platten
Montageschaum-Gag verzeihen. Woooooohoooooow!“
Hasan lief in gespielter Zeitlupe mit Siegerpose den Gang rauf und
runter.
Feist sah sich das Schauspiel an und fragte sich, ob er das alles nun
peinlich oder lustig fand. Irgendwas hatte sich geändert, das spürte
er. Er spürte eine Wärme, die sich in seinem Brustkorb ausbreitete.
War das Freude? Zufriedenheit?
Er dachte darüber nach, als sich erneut eine Hand auf seiner
Schulter niederließ.
Er drehte sich um und blickte Mark ins Gesicht. Er erschrak. Er
wollte es sich unbedingt abgewöhnen zurückzuschrecken, aber er
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konnte sich noch nicht an den Anblick gewöhnen. Die Nase von
Mark war geschient und dennoch immer noch schief.
Wie lange mochte das nun her sein, fragte sich Feist. Drei oder
fünf Monate?
„Herzlichen Glückwunsch Feist. Hasan und ich haben uns
entschieden: Du darfst ab sofort unser Vorgesetzter sein. Hier
unsere Erlaubnis!“
Mark steckte Feist einen Sticker an die Brust, darauf war ein
Bluetooth-Zeichen.
Feist prustete los: „Ihr Arschlöcher mit dem Bluetooth-
Lautsprecher. Womit hab ich das verdient?“
Feist fühlte sich blendend, das musste er sich nun eingestehen.
Vielleicht war ein Miteinander doch besser als ein Gegeneinander.
Mark beugte sich vor und Feist blieb das Lachen im Hals stecken.
Dieser Mann hat zu viel erlebt, schoss es durch seinen Kopf.
Doch Mark zwinkerte: „Gib es zu: Du hattest es dir verdient,
Feist.“
„Herbert.“, sagte Feist. „Herbert, bitte.“
Mark zwinkerte nochmal: „Sehr gern, Herbert.“
Sie gaben sich die Hand.
Als Mark sich auf dem Weg in seine Abteilung zurückmachte, rief
Feist ihm hinterher: „Mark! Wolltest du nicht eigentlich gehen?
Was hat dich umgestimmt?“
Hasan gesellte sich zu Mark, als dieser sich umdrehte: „Spaß! Spaß
hat mich umgestimmt. Spaß und BitCoins!“
Er lächelte und ging in seine Tapetenabteilung. Er hatte noch jede
Menge Ware zu verräumen.
ENDE
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