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Sturz eines Siegers

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STURZ EINES

SIEGERS

Thomas Plum

20. MAI 2020

1 TAG / 1 SEITE

Ringstraße 10a, 52538 Gangelt


Siedepunkt

Der Siedepunkt, Verdampfungspunkt oder auch Kochpunkt eines

Reinstoffes ist ein Wertepaar in dessen Phasendiagramm und

besteht aus zwei Größen: der Sättigungstemperatur und dem

Sättigungsdampfdruck an der Phasengrenzlinie zwischen Gas und

Flüssigkeit.

Quelle: Wikipedia

Wenn Menschen sehr wütend werden, dann „kocht ihr Blut“ oder

sie erreichen den „Siedepunkt“. Wenn die Wut zu intensiv wird,

dann gehen Menschen „in die Luft“, „lassen Dampf ab“, „drehen

durch“, „brechen aus“, „knallen durch“, „gehen an die Decke“ oder

„gehen durchs Dach“. Um eine Explosion zu verhindern, wird

Menschen nahegelegt, „ihren Dampf abzulassen“, „es rauszulassen“

oder „es sich von der Seele zu reden“.

Quelle: Die Wutprobe – Wie man Ärger bewältigt

von Brad Bushman & Roy Baumeister

übersetzt von Octavia Harrison & Dr. Alana Krix

-

„Wir sind hier fertig.“, seufzte Mark, während er den

Kofferraumdeckel seines neuen SUV zuschlug.

Natürlich musste es ein SUV sein, wenn wir schon in ein Dorf ziehen, dachte

sich Mark und ließ damit seinen missmutigen Gedanken freien Lauf.

Teresa sprang die Treppenstufen der Kölner Wohnung ein

vermutlich letztes Mal herunter. Sie sah bezaubernd aus. Wie immer,

dachte Mark und schämte sich bereits über seine dunklen

Gedanken. Trotzdem, er konnte nicht aus seiner Haut.

Falsch, ich WILL nicht aus meiner Haut, korrigierte er seinen eigenen

Gedankengang, manchmal will ich einfach nur argumentlos beleidigt sein.

Er nahm sich dennoch vor, auf seine (zugegeben) kindische Art der

Stellungnahme zu verzichten und sich zusammen zu reißen. Es war

entschieden. Punkt. Mehr noch, die Entscheidungsphase war längst

überschritten und die Familie Sieger befand sich unlängst mitten in

der Ausführungsphase. Sie zogen raus aus Köln, rauf aufs Land.

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Waldesruh. Ein Kuhdorf, knapp eine Stunde entfernt. Irgendwo in

der Nähe der holländischen Grenze.

Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, dachte Mark und ertappte sich

umgehend dabei, seinen eigenen Vorsatz, der nicht mal zwei

Sekunden zuvor aufgefrischt worden war, über Bord zu werfen.

„Guck nicht so, das wird super“, strahlte Teresa ihrem

zerknirschten Mann entgegen.

Sie wurde nicht müde, Mark den Umzug so schmackhaft wie

möglich zu machen. Insgeheim bewunderte Mark die unablässige

Frohnatur seiner Frau, das „enttäuschte Kind“ in ihm, erlaubte aber

kein Nachgeben, kein Entgegenkommen und auch keine Einsicht.

Wenn es seine Stimmung erlaubte und er die Gelegenheit bekam,

die Sinnhaftigkeit des Umzugs ehrlich zu analysieren, so kam er

schnell zu dem Entschluss, dass an diesem Umzug schlichtweg kein

Weg vorbeiführte.

Dani, eigentlich Daniela, die gemeinsame Tochter von Mark und

Teresa hatte eine chronische Lungenerkrankung mit asthmatischen

Anfällen. Doktor Lennert, der Hausarzt von Familie Sieger hatte

den Ortswechsel in eine ländliche Gegend vorgeschlagen. Die

Landluft, so versicherte er ihnen, täte Dani gut und würde ihrer

geschundenen Lunge Abhilfe schaffen. Zudem hätten alle

Familienmitglieder dort eine bessere Lebensqualität, im Vergleich

zur schmutzigen, luftverpesteten Stadt. Teresa war sofort

einverstanden, fühlte sie sich doch ohnehin nicht so wohl in Köln.

Vor einiger Zeit hatte es sogar hin und wieder heftigen Streit

gegeben, weil sie am liebsten an jedem Wochenende zu ihren Eltern

fahren wollte und es ihr offenbar herzlich egal war, ob er lieber mit

seinen Freunden in Köln etwas unternehmen wollte.

Das mit Dani kommt ihr wirklich gelegen, dachte Mark sich wiederholt

und schalt sich umgehend, auch wiederholt. Er neigte dazu in

seinem Gram und Selbstmitleid, unfair zu werden. Natürlich kam

Danis Krankheit niemandem gelegen, er schämte sich für seine

Gedanken. Trotzdem. Dass die Entscheidung so „übers Knie

gebrochen“ wurde, hielt Mark auch nicht für fair. Er hatte hier

seinen Job, seine Freunde, seine Vereine.

„Vereine und Freunde findest Du auch in Waldesruh.“, versicherte

Teresa ihm, als sie vor gerade mal drei Monaten den Umzug „in

Betracht zogen“.

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In Betracht zogen, dachte Mark und lachte humorlos, das alles

wurde nicht in Betracht gezogen. Es war beschlossen. Einseitig

beschlossen.

Mark prüfte ein letztes Mal, ob die Wohnungstür verschlossen war.

Er schlenderte den Eingang zu ihrer Wohnung (Ex-Wohnung,

ermahnte er sich zerknirscht) entlang und rüttelte an der Haustür.

Der Schließzylinder war nach all den Jahren der Existenz des Hauses

merklich in Leidenschaft gezogen und schloss nicht zuverlässig.

Man musste immer einmal extra rütteln, um sicher zu gehen, dass

die Wohnung abgeschlossen war.

„Darüber müssen wir uns dann auch nicht mehr ärgern.“, war eine

von vielen „Punch Lines“ in Teresas Argumentationssuchen.

„Alles verschlossen?“ Teresa strahlte ihren Mann vom Beifahrersitz

aus an. Diese Augen, dieses Strahlen? Als hätte er jemals eine

Chance gehabt, ihr auch nur einen Wunsch zu verwehren. Vor

allem, wenn es ein Wunsch war, der ihr so viel bedeutete.

„Ja, alles dicht.“ Frank stieg ins Auto. Er richtete den Rückspiegel,

blickte durch den Spiegel noch einmal zur Wohnung und seufzte.

Selbst für ihn klang der Seufzer ein wenig zu theatralisch.

-

„Dann wäre da noch die Auszugsgebühr,“ sagte Heribert Fritsch,

der Vermieter der Kölner Wohnung. Der von Mark überreichte

Schlüssel wippte in der Hand von Fritsche. „Die steht mir zu.“

„Was für eine Gebühr?“ Mark fühlte sich vor dem Kopf gestoßen.

Herr Fritsche war vor ein paar Wochen doch so verständnisvoll

gewesen, er hatte sogar Dani über den Kopf gestrichen und

gesprochen von „Familie geht vor“ und „die Wohnung werd’ ich

schon los“, sogar von seinem Enkel als möglicher Nachmieter war

die Rede gewesen.

„Herr Fritsche, ich verstehe nicht“, begann Mark mit einer

vorsichtigen Nachfrage.

„Steht mir aber zu“, unterbrach Fritsche ihn gleich.

„Ja, Herr Fritsche, das habe ich soweit akustisch verstanden. Aber Sie

haben uns das vorher nicht mitgeteilt.“ Marks Adern begannen am

Hals bereits zu schwellen. Er spürte es. Außerdem spürte er eine

Hitze, die zähflüssig seinen Kopf wie warme Butter zu füllen schien.

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„Sie haben uns doch gesagt…“, begann Mark erneut nachdem er

drei Mal tief durchgeatmet hatte.

„Komm lass“, unterbrach ihn nun Teresa. Und zu Fritsche gewandt:

„Wir überweisen Ihnen die Gebühr, Herr Fritsche. Wir haben das

Geld natürlich jetzt nicht mit.“

„Teresa“, ermahnte Mark seine Frau. Er konnte es nicht fassen. Seit

wann gab ausgerechnet SIE so schnell nach? Und völlig zu Unrecht.

„Lass gut sein, Mark“, entschied Teresa und stieg bereits in der

Beifahrertür des SUV ein. „Wir müssen weiter. Kommst du?“

Mark drehte sich nochmal kurz zu seinem ehemaligen Vermieter:

„Und Ihr Enkel, Herr Fritsche? Wollte der nicht hier einziehen?“

Fritsche zuckte mit den Schultern und ließ kurz ein hämisches

Grinsen aufflackern. Fritsche kam einen Schritt auf Mark zu und

flüsterte: „Wer weiß? Vielleicht wird mein Enkel gleich nächste

Woche einziehen, vielleicht bleibe ich auch drei Monate auf einer

leeren Wohnung sitzen?“, er zwinkerte „Das Internet! Eine wirklich

tolle Erfindung, Herr Sieger.“ Er lachte und schloss die Tür.

Er hat mir seinen Betrug frech ins Gesicht gestanden und niemand hat es

mitbekommen, dachte Mark.

In seinem Magen rumorte es. Es blubberte und schwappte, wie

kochendes Wasser. Zudem bemerkte Mark das Zucken wieder.

Dieses Zucken, das er immer dann verspürte, wenn er nervös

wurde. Es verlief vom linken Mundwinkel, bis zu seinem linken

Auge. Ein Zittern, welches praktisch seine linke Gesichtshälfte

zucken ließ.

Als er vor ein paar Monaten Ärger mit einem Kunden im Baumarkt

hatte, musste er beim Geschäftsführer vorstellig werden. Natürlich

hatte Mark nichts zu dem Streit beigetragen, aber so war das nun

mal im Einzelhandel. Der Kunde verbockt irgendeine Installation,

irgendeinen Anstrich oder irgendeine Reparatur und tobt sich dann

im Baumarkt wütend aus. So war es, so ist es und so wird es immer

sein.

An diesem Tag, als er vor dem Büro seines Geschäftsführers warten

musste, eines der Zermürbungstaktiken von David Bergmann,

spürte er dieses Zucken besonders deutlich. In dem Flur stand ein

mannshoher Spiegel, „So sieht Sie der Kunde“ klebte in schreiend,

orangenen Farben auf der Spiegelfläche. Als Mark nähertrat,

entdeckte er verwundert, dass sein Zucken nicht sichtbar war.

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Seit diesem Tag vermutete Mark, dass dieses Zucken nur Einbildung

war und bei nächster Gelegenheit mal vor Doktor Lennert

angesprochen werden sollte.

„Kommst Du?“ Teresa reckte ihren Kopf aus der Beifahrerseite und

lächelte Mark an.

Mal wieder in Gedanken versunken, dachte Mark und richtete sich zum

Abschied an Fritsche. Er starrte nur auf die Haustür.

Der Penner hat mir die Tür vor die Nase zugeschlagen und ich habe es noch

nicht mal bemerkt. Von düsteren Gedanken begleitet trat Mark seinen

Rückweg zum Auto an.

Na, ich muss ja eine bedeutungsvolle Person sein, wenn man so mit mir

umspringen kann, dachte Mark kopfschüttelnd, während er einstieg.

„Ist nicht schlimm, Schatz.“, beruhigte Teresa ihren Mann „Wir

haben noch genug Geld von unserem Kredit übrig. Die

Sanierungskosten waren doch bei weitem nicht so hoch, wie wir…“

„Darum geht es doch gar nicht.“, unterbrach Mark seine Frau

genervt. „Wie lange war Fritsche unser Vermieter?“

„Das müssten ungefähr…“, begann Teresa nachzurechnen.

„Zwölf Jahre.“, erlöste Mark seine Frau aus ihren Gedankengängen.

„Das kommt ungefähr hin.“, sinnierte Teresa.

Sie weiß, dass es stimmt. Mark biss sich auf die Unterlippe, während er

den SUV zurück auf die Straße bugsierte.

„Wir haben uns immer verstanden,“ fuhr Mark fort „Es war ein

perfektes Mieter- Vermieterverhältnis. Und jetzt? Kaum, dass wir

ausziehen, zieht er uns ab. Was stimmt nur mit den Menschen

nicht?“

„Du darfst das nicht immer alles persönlich nehmen,“ versuchte

Teresa ihren Mann zu beruhigen „er erkennt eine Chance und

ergreift sie. Das ist leider so und rechtlich können wir ihm da gar

nichts anhaben.“

„Du verstehst mich nicht. Ich bin nicht rechtlich von Fritsche

enttäuscht. Ich bin menschlich enttäuscht. Zwölf Jahre, Teresa. Zwölf

Jahre und wir gehen so eklig auseinander. Das ist einfach

verwerflich.“

Teresa legte behutsam ihre Hand auf Marks Nacken und begann mit

ihrem „Zauber“. Wenn sie mit ihrer Hand seinen Nacken streichelte

und dabei leicht massierte, beruhigte Mark sich umgehend.

„Lass dich doch nicht davon unterkriegen, Schatz. Du trägst mal

wieder den ganzen Schmerz und die ganze Last der Welt auf deinen

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Schultern. Du musst dich mal nur auf dich konzentrieren, maximal

auf uns. Wir stehen jetzt an erster Stelle und wir werden das schon

hinbekommen.“ Teresa fuhr mit ihrem „Zauber“ fort.

Sie schaffte es sogar, wenn am nächsten Tag irgendetwas Wichtiges

anstand und Mark nicht einschlafen konnte, ihn mit dieser

Nackenliebkosung umgehend zum Einschlafen zu bringen.

Mark atmete in einem langen Seufzer aus, er begann sich zu

beruhigen.

„Genau Dad! Fick die Mietschwuchtel!“, drang es von der

Rückbank des SUV nach vorne.

„Mama!“, empörte sich die zweite Stimme von der Rückbank.

„DENNIS!“, schrien Mark und Teresa gleichzeitig.

Dennis, der Sohn von Mark und Teresa, zuckte zusammen und

duckte sich unter dem lauten Wortschwall, den die restlichen Sieger

über seinen Kopf zusammenbrechen ließen.

Dennis, der große Bruder von Dani. Dennis, der Erstgeborene.

Dennis, die Rap-Nervensäge.

Dennis, oder „Dan the D“ wie er sich nannte, war der definitive und

einzig richtige Grund für Mark aus der Stadt zu ziehen.

Der Freundeskreis von Dennis bestand seit der letzten Zeit nämlich

nur noch aus schludrigen Ghettokids, die nichts anderes in ihren

entleerten Hirnen hatten als diese beschissene Rap-Musik.

Ein wenig amüsiert stellte er fest, dass er offensichtlich dasselbe

Verständnis zu der Musik seines Sohnes hatte, wie damals seine

Eltern zu seinem „Gejaule“, wie sein Vater zu sagen pflegte.

Witzigerweise war es (im weitesten Sinne) sogar dieselbe

Musikrichtung, die angeklagt wurde.

„Das ist kein Rap.“, belehrte Mark seinen Sohn penetrant und

permanent. „Das ist eine taktlose Beleidigung von Ohr und Hirn.

Von diesen Ottos, die du so hörst, kann wirklich niemand rappen.

Die reden oder besser gesagt quengeln nur über ihr Geld, das sie mit

Sicherheit nicht haben. Das kannst du mir glauben. Und wenn sie

nicht übers Geld reden, dann wie man eine Frau schnell und

gründlich erniedrigt.“

„Boah Papa, chill’ doch mal. Das ist nur Musik.“, war dann immer,

oder zumindest so ähnlich, die Reaktion seines Sprösslings.

Die Musik war auch nicht das, was Mark so störte. Es war mehr die

Art der Veränderung in Dennis, die ihm zu schaffen machte. Mit

jedem bisschen Coolness, die Dennis sich durch seine Freunde und

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seiner Musik zulegte, verlor er zu gleichen Teilen seine zuvor

vorhandene Empathie.

Er erinnerte sich noch so gut daran, dass Dennis weinend in den

Armen Teresas lag, weil er Angst um Dani hatte, wenn sie wieder

einen ihrer Krupphustenanfälle hatte. Die damalige Panik in den

Augen seines Sohnes, sah Mark auch nach all der Zeit immer noch.

Jetzt ist er sogar von seiner Schwester genervt, weil sie ihn mit ihrem Husten

störte. So kann’s gehen, dachte Mark.

„Ja, was denn? Ihr regt euch doch auch über den Spast auf. Aber bei

mir eine Welle machen.“, wehrte sich Dennis und beendete den

weisesten Satz der Welt, wie sein Sohn es mit Sicherheit sah, noch

mit einem „Guck nicht so bescheuert, du Zecke“ in Danis Richtung.

„Das Problem liegt nicht darin, was du gesagt hast, Dennis. Das

Problem liegt darin, wie du ständig etwas sagst. Das ist ein

Benehmen, welches ich dir so nicht beigebracht habe und auch

weiterhin nicht dulden werde. Deine Playstation bleibt auf jeden Fall

als längstes in den Umzugskartons.“, erklärte Mark seinem Sohn

und bog auf die A61.

-

„Herzlich willkommen in der Nachbarschaft.“ Begrüßend streckte

der kräftige Mann von nebenan Mark seine Hand entgegen.

Er ist schon drei Mal an Teresa vorbeimarschiert und hat sie nicht begrüßt, zu

mir kommt er aber. Was ist das denn für ein Typ? dachte Mark und

nahm, recht widerwillig die angebotene Hand entgegen.

„Guten Tag. Mein Name ist Sieger. Mark Sieger. Das hier ist meine

Frau Teresa und dies,“ er rückte Dani in den Vordergrund „ist

meine Tochter Dani. Also, eigentlich Daniela. Mein Sohn Dennis

ist schon im Haus, wahrscheinlich baut er sich gerade ein Nest im

Heizungskeller.“ Mark lachte, als würde jeder sofort den Witz

verstehen. Niemand sonst lachte. Mehr noch, Teresa stupste Mark

ermahnend mit ihrem Ellenbogen in die Seite.

„Verstehe ich nicht,“ sagte sein mutmaßlicher Nachbar und

bestätigte somit das Unverständnis von Marks Witz.

„Schon gut,“ versicherte Mark seinem Gegenüber. Sein Nachbar

war schwer, sehr schwer. Mindestens 120 kg Kilo, schätzte Mark.

Schweiß perlte auf der Stirn des Mannes, obwohl es nicht

sonderlich warm war. Er trug eine blaue Latzhose, aus der ein

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Zollstock ragte. Gliedermaßstab, ermahnte Mark sich. Darüber trug

er eine Strickweste, welche ihm unförmig von den Schultern

schlabberte. Seine Füße steckten in Gummistiefeln mit

Stahlkappen, selten, aber in seinem Baumarkt gab es diese

Schutzbekleidung auch.

Er arbeitet in seinem Garten, dachte Mark. In Anbetracht der

Tatsache, dass es Mittwoch war, musste sich sein Nachbar

entweder im Urlaub befinden oder er war bereits Rentner. Und das

mit seinen knapp 50 Jahren?

„Freut mich, dich kennen zu lernen. Wir hier in Waldesruh duzen

uns alle. Ich denke, damit sollten wir auch umgehend beginnen.“,

stellte sich sein Nachbar vor und erwartete keinen Protest

aufgrund der „Du-Ausgangslage“. „Ich bin Dietmar. Dietmar

Husenkamp. Ich bin der Bürgermeister von Waldesruh und euer

Nachbar. Ich bin mir sicher, wir werden uns verstehen.“

Oder er ist weder im Urlaub noch Rentner, sondern einfach nur der

Bürgermeister, korrigierte Mark seine falsche Einschätzung des

brandneuen Nachbarn.

Teresa übernahm den Verlauf der Vorstellrunde: „Was mein Mann

mit dem wirklich unlustigen Kellerwitz andeuten wollte, ist, dass

unser Großer sich momentan ausgiebig seiner „Stinkstiefel-Zeit“

widmet. Sie, Verzeihung, du weißt schon.“, sie äffte, zugegeben gut

stand Mark sich ein, Dennis nach „Eltern sind doof, Schule ist

doof, meine kleine Schwester ist doof. Ich will in Köln bleiben,

muss aber ins doofe Waldesruh.“, unterbrach sie ihre Intonierung.

Teresa schaute ihrem Mann tief in die Augen. Schweiß begann sich

auf Marks Händeflächen zu bilden. Seine linke Gesichtshälfte regte

sich. Es war noch nicht das zuckende Gefühl, stellte er fest, aber

es wird jeden Augenblick beginnen.

„Naja, zumindest im letzten Punkt sind Vater und Sohn sich nicht

ganz so unähnlich. Auch wenn der Papa,“ sie stupste Mark

neckisch an „das nicht so gerne zugibt.“

Dietmar lachte: „Ja, von der Stadt aufs Land. Ich verstehe Euch.

Die meisten Menschen, die sich zu diesem Schritt entschließen,

machen es aus Überzeugung und freuen sich darauf.“ Er sah Mark

intensiv an, ein süffisantes, aber nicht unsympathisches Lächeln

umspielte seine Lippen. Er sprach weiter, mehr so als würde er mit

sich reden: „Hin und wieder, und auch das ist keine Seltenheit,

zieht man allerdings nicht aus freien Stücken um. Man wehrt sich

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und schließlich arrangiert man sich, damit es den Menschen, die

man liebt, besser geht.“

Wie kommt er darauf? Haben er und Teresa schon miteinander gesprochen?

Als sie hier war und schon ein paar Kartons gebracht hat? Mark dachte

nach.

Dietmar unterbrach die Gedanken Marks, indem er ihm

freundschaftlich einen Klaps auf die Schultern gab: „Habe ich alles

schon erlebt. Als Bürgermeister pflege ich unsere neuen Anwohner

persönlich zu begrüßen. Klingt jetzt aufopferungsvoller, als es ist.

Bei einem knapp 1000 Seelen Dorf, ist Zuwachs und Abschied

relativ überschaubar.“

Dietmar löste sich aus der Vierer-Gruppe. Nach ein paar Schritten

auf seinem Zaun zu blieb er stehen und drehte sich nochmal zu

Mark.

„Keine Sorge Mark, du wirst dich hier wohlfühlen. Das

bekommen wir schon hin. Darauf kannst du dich verlassen.“

„…darauf können Sie sich verlassen. Das wird ein Nachspiel

haben.“ Ein Speichelregen flog Mark entgegen und benetzte die

Schultern seines Hemdes. David Bergmann, Marks Chef und

Geschäftsführer des Baumarktes „Schrauben-Manny“ hatte sich

mal wieder in Rage gesprochen.

Schon seit geraumer Zeit hatte Mark den Verdacht, irgendwie auf

eine Zielscheibe seines Chefs gelandet zu sein. Mark fühlte sich

schon länger beobachtet und verfolgt. Nicht wie in den

Kriminalromanen, die Teresa so liebte, sondern so, als ob sein

Chef auf aktiver Fehlersuche bei ihm sei. Es gab keinen Grund,

das stand fest. Er hatte seine Abteilung im Griff, verbuchte gute

Zahlen. Zahlen, die in der derzeitigen Wirtschaftslage

außerordentlich gut waren. Immerhin schadete der Netzhandel

nach wie vor dem Einzelhandel, erst recht dem kleingewerblichen

Einzelhandel.

„Schrauben-Manny“ war kein Kleingewerbe per se, dennoch

konnte dieser Baumarkt einfach nicht mit den Großen mithalten.

Es gab nur diese eine Niederlassung und ein OBI in 10 km

Luftlinie weiter.

-

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Nahm man diese Fakten alle zusammen, so konnte Mark stolz auf

seine Abteilung sein, kein Zweifel.

Dennoch, irgendetwas hat sich in der letzten Zeit verändert.

Bergmann hatte sich auf Mark eingeschossen, auch da gab es

keinen Zweifel.

„Herr Bergmann,“ begann Mark mit seiner Erklärung. Seine

Handflächen waren wieder durchnässt von seinem Schweiß. In

den letzten Kilometern vor der Ankunft an seinem Arbeitsplatz

hatte Mark begonnen, sich eine Entschuldigung zurecht zu legen.

Alles weg, sämtliche Argumente und es waren gute dabei gewesen,

wusste Mark. Er wusste nur nicht mehr, welche Argumente es

waren.

„Ich bin jetzt schon über 10 Jahre bei Ihnen und ich habe mich

heute zum ersten Mal verspätet. Es tut mir leid, aber ich finde,

dass Ihre Reaktion doch ein wenig…“, setzte Mark erneut an und

wurde gleich von seinem Chef unterbrochen.

„Ihre Abteilung ist nicht besetzt.“, stellte Bergmann mit

Nachdruck fest.

Mark seufzte: „Ja, ich weiß. Ich beeile mich.“

„Unterbrechen Sie mich nicht, ich muss doch sehr bitten.“,

herrschte Bergmann Mark an „Ihre Abteilung ist nicht besetzt.

Eine dreiviertel Stunde lang. Wollen wir das gemeinsam auf

Kundenzahlen runterbrechen? Ich habe mir, die Zeit Ihrer

Abwesenheit ausnutzend, die Mühe gemacht und eine Statistik

ihrer Kundenfrequenz erstellt. Statistiken, Sieger. Das habe ich

Ihnen schon oft nahegelegt, arbeiten sie mit Statistiken.“

Mark biss die Zähne zusammen. Er wusste, dass ab jetzt jeglicher

Einwand zu einem noch unangenehmeren Gespräch führen würde

als das bereits begonnene. Er nickte zur Bestätigung.

Bergmann fuhr fort: „Nun, vielleicht werden wir den Tag einmal

erleben, an dem Sie mir tatsächlich mal eine Statistik vorlegen,

kombiniert mit einem aussagekräftigen Plan, um Ihre

Verkaufszahlen deutlich nach oben zu korrigieren. Wo war ich?

Ach ja. Ihre Zahlen berücksichtigend, haben Sie in den 45 Minuten

Ihrer Abwesenheit. UNENTSCHULDIGTEN Abwesenheit,

möchte ich nebenbei erwähnen...“

Geh halt an dein scheiß Handy, du Wichser, dachte Mark und biss auf

seine Zunge, um diese im Zaum zu halten.

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„...In diesen 45 Minuten haben Sie 5 Kunden um ihre Beratung

gebracht. Eine weitere Statistik zeigt mir, dass jeder Kunde in Ihrer

Abteilung ungefähr einen Bon-Wert von 35 € verursacht. Das ist

nicht weiter verwunderlich, da Sie ja der Abteilungsleiter von

Maschinen und Zubehör sind. Also? 5 mal 35 €. Sie haben also

Ihrem Arbeitgebern 175 € verwehrt. Ich finde, das ist eine Menge

Geld. Zudem dürfen Sie nicht vergessen, dass Sie hier für eine

Vollzeitstelle eingestellt wurden. Wir starten pünktlich um 8:00

Uhr und enden um 19:00 Uhr. Das dürfte Ihnen bewusst sein.“

Stille breitete sich im Flur aus. Bergmann hatte Mark gleich im

Flur, zwei Schritte vor der Tür von Bergmanns Büro, zur Rede

gestellt. Mindestens fünf seiner Kollegen huschten unterdessen an

den beiden vorbei und blickten Mark mit einer Mischung aus

Mitleid und unverhohlener Häme an.

„Ist Ihnen das nicht bewusst, Herr Sieger?“, durchbrach Bergmann

nun die Stille.

Mark zügelte seine Zunge, dennoch quetschte sich ein Hauch

Sarkasmus mit dem folgenden Satz durch seine Zähne: „Mir war

nicht bewusst, dass ich jetzt sprechen darf, Herr Bergmann.“

Bergmann stutzte nur kurz.

„Herr Sieger, wenn Sie glauben, dass Sie mit Sarkasmus bei mir

weiterkommen, möchte ich Sie gerne auf den Boden der Tatsachen

zurückholen. Kommen Sie um 12:00 Uhr in mein Büro. Verspäten

Sie sich nicht. Zudem erwarte ich, heute kein Ausstempeln zur

Mittagspause entdecken zu müssen. Die haben Sie nämlich bereits

zu Beginn Ihres Arbeitstages gemacht. Habe ich Recht?“ Ohne

eine Antwort zu erwarten, drehte sich Bergmann von Mark weg

und betrat sein Büro. Einen kurzen Augenblick später, stand Mark

allein auf dem Flur. Aus dem Büro neben dem des

Geschäftsführers erklangen zaghaft Tastaturgeräusche, welche sich

nun allmählich beschleunigten.

Die dämlichen Tippsen haben jedes Wort gehört, dachte Mark und presste

seine Zähne zusammen.

„Sie haben gesagt, dass dieser Bohrer auch durch Metall bohrt.“,

empörte sich ein Kunde und fuchtelte mit einem Bohrer vor der

Nase Marks herum.

-

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„Das ist ein Holzbohrer. Holzbohrer bohren durch Holz und

manche durch Kunststoff. Für Metall benötigen Sie einen

Metallbohrer, wie der Name schon verspricht.“

„Haben Sie mir nicht so gesagt. Sie haben mir diesen Bohrer

verkauft und wussten, dass ich AUCH in Metall bohren möchte.“,

klagte der Kunde. Die Brille des Kunden saß schief auf der Nase.

Aus der Nase lugte ein Popel hervor. Mark musste immer wieder

darauf starren.

Er rollte mit seinen Augen. Es war immer dasselbe. Wie war das

Zitat nochmal in „The Last Boy-Scout“ von Bruce Willis?

„Das Wasser ist nass, der Himmel ist blau, Frauen haben

Geheimnisse“ hieß es im Film. Mark möchte nur einen Fakt

hinzufügen und die Weisheit des Lebens ist vollendet.

„Das Wasser ist nass, der Himmel ist blau, Frauen haben

Geheimnisse und Kunden haben immer Recht!“

Mark räusperte sich, er musste jetzt vorsichtig sein. Ein falsches

Wort und der Kunde würde sich bei der Geschäftsleitung

beschweren. Er sah es dem Mann an.

„Entschuldigen Sie, aber ich erinnere mich nicht daran, dass wir

uns unterhalten haben. WENN wir uns unterhalten hätten, hätte

ich Ihnen dasselbe gesagt, wie jetzt.“ Er hat nicht nur ein falsches

Wort gesagt, die ganze Antwort war falsch. Mark bemerkte es

sofort. An dem Blick des ohnehin schon auf Konfrontation

eingestellten Kunden und auch an den Worten an sich.

Du Idiot, es geht nur um einen Bohrer von 2 € und es wird so oder so

umgetauscht, dachte er noch, da ging der ganze Spaß richtig los.

„Verstehe ich Sie richtig?“, begann der Kunde und funkelte Mark

an. „Sie behaupten, dass ich lüge?“

Nein, dachte Mark.

„Ja.“, sagte Mark.

„Das ist eine absolute Unverschämtheit. Ich will sofort Ihren Chef

sprechen.“, schrie der Kunde Mark an. Der Kopf des Kunden

wurde rot und sah aus, als würde er jeden Moment zerbersten.

Während der Kunde immer lauter wurde, fing er an sich

unkontrolliert zu bewegen. Er fuchtelte mit den Armen und

schleuderte seinen Kopf in alle Richtungen. Dabei, das sah Mark

wie in Zeitlupe, löste sich der Popel, der schon die ganze Zeit an

der Nasenöffnung des Kunden ausharrte und flog im hohen

Bogen zu den Meißeln.

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Ein Glück, endlich ist das Maurerbonbon weg, dachte Mark.

„Entschuldigung?“ Mark und sein Kunde drehten sich synchron

zu der Geräuschquelle. Hasan Borat stand lächelnd vor den

Beiden.

Hasan richtete seinen Kragen, rückte sein Namenschild zurecht

und sagte: „Kann ich Ihnen helfen? Stimmt etwas nicht?“

Der Kunde starrte nun auf Hasan, seine Augen weiteten sich.

„Wie gesagt, ich möchte Ihren Chef sprechen!“, sagte er und

wischte sich mit dem Handrücken über sein verschwitztes Gesicht.

Hasan lächelte: „Möchten Sie meinen Chef sprechen oder seinen?“

Hasan deutete mit seinem Daumen auf Mark.

Mark stutzte, der Kunde stutzte.

Hasan fuhr fort: „Wenn Sie meinen Chef sprechen möchten,

müssten wir mal schauen, ob wir ihn in München erreichen

können. Wenn Sie seinen Chef sprechen möchten, dann wäre das

wohl meine Wenigkeit.“ Hasan grinste sein breitestes Lächeln.

Der Kunde schaute Hasan unverhohlen an. Die Skepsis war

deutlich in seinem Gesichtsausdruck eingemeißelt.

„Sie?“, fragte der Kunde und versuchte sein freundlichstes Lächeln

aus der Schublade zu holen.

„Ja, ich. Kann ich Ihnen denn nun weiterhelfen? Welches Problem

haben wir denn? Herr Sieger?“ Hasan starrte Mark streng an. Mark

wurde unruhig.

„Der Herr hat sich einen Holzbohrer gekauft und ihn auf Metall

verwendet. Nun möchte er diesen Bohrer reklamieren.“,

antwortete Mark.

Hasan lächelte beide an: „Nun, da sehe ich keine Problematik.

Herr Sieger, geben Sie dem Herrn einen passenden Metallbohrer,

bitte. Den defekten Holzbohrer reklamieren wir beim Zulieferer.“

Bevor Mark zu einem Protest starten konnte, richtete sich Hasan

erneut an den Kunden: „Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich

sein?“

„Ihr Mitarbeiter hat mich der Lüge bezichtigt. Darum wollte ich

mich an Sie richten, Herr…“ Der Kunde blickte auf das

Namensschild.

Hasan wurde nervös und antwortete übereilt: „Bergmann! David

Bergmann. Geschäftsführer von „Schrauben-Manny“. Mein

Großvater hieß Manfred Bergmann, daher der Name. Und was

Ihren Vorwurf angeht.“ Hasan verschränkte seine Arme und

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bedeckte dadurch das Namensschild, an dessen Entzifferung der

Kunde immer noch arbeitete. „Ich habe das alles mitbekommen

und bin zutiefst erschüttert.“, sagte Hasan und richtete sich nun

erneut an Mark: „Hierbei handelt es sich ganz klar um einen

Beratungsfehler, Herr Sieger. Ich kann und werde es nicht weiter

dulden, dass Sie Ihre Verfehlungen auf dem Rücken unserer

Kundschaft austragen. Das ist inakzeptabel. Ich bitte Sie daher

darum, sich in 10 Minuten in meinem Büro einzufinden.“

Der Kunde verkniff sich nicht einmal das hämische Grinsen,

welches er Mark nun präsentierte.

Hasan kam in Fahrt: „Herr Sieger, begleiten Sie den Herrn nun

bitte zur Kasse und beenden sie den Umtausch. Ich erwarte Sie

gleich in meinem Büro.“ Er nickte dem Kunden zu: „Auf

Wiedersehen, der Herr. Beehren Sie uns bald wieder.“

-

„Beratungsfehler? In zehn Minuten in deinem Büro? Glatter

Umtausch? Bist du eigentlich wahnsinnig, Hasan?“ Marks Gesicht

sah besorgt aus, als er knapp zehn Minuten später zu Hasan Borat

zurückkam.

Hasan grinste Mark an: „Hab‘ ich gern gemacht mein Freund.

Kannst mir in der Mittagspause das Essen ausgeben.“

Eigentlich fühlte sich Mark nicht zum Lachen, aber das feixende

Gesicht seines Kollegen und Freundes hatte diesen Zauber. Egal,

wie schlecht Mark sich fühlte, sein Freund Hasan schaffte es

immer, dass er den Ernst der momentanen Situation kurz mal

vergessen konnte. Das funktionierte nur bei Hasan. Trotzdem.

Das, was Hasan da gerade gemacht hatte, war so brandgefährlich,

dass es Mark heiß und kalt zugleich wurde, sobald er daran dachte.

„Stell Dir mal vor, der Alte wäre in dem Moment nach unten

gekommen.“, sagte Mark, seine Augen von der Vorstellung

aufgerissen.

Der „Alte“, dachte Mark, ist ungefähr fünf Jahre jünger als ich und genauso

alt wie Hasan.

„Ja, stell dir vor, wie er mit seiner Gehhilfe die Treppe

herunterhumpelt, um uns auf frischer Tat zu ertappen, wie wir hier

Identitätsdiebstahl zelebrieren.“, lachte Hasan und verriet damit,

dass auch er sich über die Bezeichnung „der Alte“ amüsierte.

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Somit stand wieder einmal fest, dass Hasan und er sich die

Gedanken teilten. Hasan pflegte stets zu sagen: „Wir teilen uns

einen Kopf… Meiner sieht nur besser aus.“

Die Absurdität dieser Feststellung hat Mark schon immer lachen

lassen und Mark war sich sicher, dass dies den Zauber der

Freundschaft und Kollegialität ausmachte. Das Lachen. Die beiden

lachten über alles und waren somit auf alles vorbereitet, was am

Tag auf sie zukam.

Vor fünf Jahren, hatten Hasan und Mark versetzt Urlaub gemacht.

Hasan in den ersten beiden Wochen der Sommerferien und Mark

in den letzten beiden Wochen. Das ist danach nie wieder

geschehen. Sie haben vor David Bergmann gekämpft wie Löwen,

um gemeinsam in Urlaub gehen zu können. Sie behaupteten,

gemeinsam gebucht zu haben, was allerdings nicht stimmte. Es

ging nie darum, gemeinsam Urlaub zu haben. Es ging darum, das

einer nicht ohne den anderen auf der Arbeit sein wollte.

Hasan schlug Mark freundschaftlich auf die Schulter: „Komm

schon. Freu dich einfach, dass ich dir den Arsch gerettet habe. Der

Typ hat seinen richtigen Bohrer und ist weg. Was willst du noch

mehr? Der Alte hat dich sowieso auf dem Kieker, was glaubst du,

was er mit dir macht, wenn ein Kunde sich über deine Anmache

beschwert?“

„Ja, du hast Recht. Danke Hasan.“, antwortete Mark und stellte

dabei fest, dass er tatsächlich jetzt zum ersten Mal heute lächelte.

Hasan umarmte Mark kurz: „Hey, kein Ding mein Freund. Komm

schon, wir haben zwei Paletten Eisenwaren bekommen, lass uns

den Scheiß zusammen einräumen. Dann ist Bergmann zufrieden,

wenn er durch seine Kameras auf uns glotzt, weil wir was zu tun

haben und du kannst mir mal sagen, was mit dir los ist. Du gefällst

mir gar nicht, arkadaş.“

Mark blieb abrupt auf dem Weg zum Lager stehen. Er schaute zu

Hasan: „Was meinst du? Ist alles okay.“

Hasan drehte sich zu Mark und lächelte ihn schief an: „Erzähl das

dem Kunden, der da grade raus gewankt ist, Alter.“

Mark lachte: „Hast du seinen ekelhaften Popel gesehen?“

„Hallo? Wie lange arbeiten wir hier? Das ist unser Job, sowas zu

sehen. Rotz in der Nase, welcher sich gefährlich in Richtung Mund

bewegt. Brillen, die schief sitzen.“, Hasan lachte laut auf „Und

erinnerst du dich an den Typen, der seine Brille falsch herum

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aufhatte? Oder der, der seine Brille gesucht hat und sie die ganze

Zeit in den Haaren hatte?“

Mark lachte: „Ja stimmt! Als er sie dann entdeckte, war er super

wütend, weil wir ihm nichts gesagt haben.“

Hasan wieherte vor Lachen: „Genau! Und du ganz trocken: Ach

diese Brille meinten sie. Entschuldigen Sie, ich konnte doch nun

wirklich nicht wissen, dass Sie genau diese meinen.“

Beide lachten und schluckten ihr Lachen umgehend wieder runter,

weil Kollege Feist aus der Sanitärabteilung kopfschüttelnd an

ihnen vorbeilief.

Hasan lachte nochmal kurz und rief Feist hinterher: „Was los,

Feist? Das nennt man Lachen, Mann. Falls du mal deinen rektalen

Besenstiel wieder los werden solltest, kannst du dich mal darin

üben. Ich stehe dir zur Verfügung.“ Zu Mark gewandt sprach

Hasan weiter: „Ich schwöre dir Mark, es macht diesen Spinner

fertig, dass ein Türke einen größeren Wortschatz als er hat.“

Mark lachte: „Auf jeden Fall. Aber jetzt lass uns loslegen. Ich muss

um 12:00 Uhr zum Chef. Der ist noch nicht fertig mit mir und ich

möchte dich nicht mit so viel Ware zu lange alleine lassen.“

„Kein Problem, der ganze Kram läuft uns nicht weg.“, sagte Hasan

und riss bereits den ersten Karton auf. Erzähl, wie ist es in

Waldhausen?“

„Waldesruh.“, korrigierte Mark. „Ist ganz nett. Aber ich komme

mir halt vor, wie am Arsch der Welt. Ich habe heute eine Stunde

und fünfundvierzig Minuten bis hier gebraucht. Scheiß auf Google

Maps, stimmt alles gar nicht. Laut Maps brauch ich von zuhause

bis hier 45 Minuten und ich habe mir extra noch 15 Minuten

einkalkuliert. Eine dreiviertel Stunde Verspätung. Kein Wunder,

dass der Alte im Dreieck springt.“

„Ruf halt beim nächsten Mal an.“, antwortete Hasan und räumte

dabei schon den zehnten Karton mit SPAX Schrauben ein. Mark

bemerkte jetzt, dass er noch gar nichts eingeräumt hat, weil er

damit beschäftigt war, sich bei seinem Freund auszuheulen. Er

griff sich den erstbesten Karton und suchte das Fach, um die

Holzschrauben einzuräumen.

„Willst du mich verarschen?“, fragte Mark während er am

Schraubenregal entlanglief. „Mindestens fünf Mal habe ich bei

Bergmann durchklingeln lassen. Festnetz und Handy. Ich sage dir,

der ist extra nicht drangegangen. Der wollte, dass mir so etwas

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passiert. Damit ich aufhöre, ihn wegen der Stelle zum

stellvertretenen Marktleiter, zu nerven. Wie lange bettle ich schon

darum?“

Hasan ließ seine Hand sinken und sah Mark an: „Also erstens

meinte ich damit, du sollst MICH beim nächsten Mal anrufen.

Natürlich hat er deinen Anruf gesehen. Wenn du aber mich

anrufst, kann ich ihm Bescheid geben und dann weiß ich, dass er

es auf jeden Fall weiß. Und du kannst dir dann auch sicher sein,

dass Bergmann über deine Verspätung informiert ist.“

„Wird sowieso nicht mehr passieren. Ab morgen fahr ich um

sieben Uhr los damit ich um neun hier bin. Sowas mache ich nicht

nochmal mit.“, antwortete Mark und fand endlich die Lücke in

dem Fach für 3x40er Holzschrauben. „Und zweitens?“

Hasan dachte kurz nach, dann erhellte sich seine Miene:

„Zweitens: Du bettelst um diese Position schon mindestens zwei

Jahre. Du lässt dich verarschen mein Freund. Der alte Alte hat dir

die Stelle zugesagt. Das haben wir alle auf der Weihnachtsfeier

mitbekommen.“

Mark lachte. „Der alte Alte“ war auch so ein interner Gag

zwischen Hasan und Mark. Damit war der Vater von David

Bergmann bekannt. Harald Bergmann hatte sich, schweren

Herzens, letztes Jahr zur Ruhe gesetzt und seinem Sohn die Firma

überlassen. David Bergmann war den Mitarbeitern von

„Schrauben-Manny“ nur durch sporadisches Auftauchen an

Feierlichkeiten bekannt und somit waren alle überrascht, dass

ausgerechnet er die Firma weiterleitete. Mark zuckte resigniert mit

den Schultern: „Offenbar hat der alte Alte es seinem Sohn nicht

mitgeteilt.“

„Mag sein. Aber du hast es mitgeteilt, ich auch und zwei der

Kassenhilfen auch. Jeder weiß, dass dir die Position zugesprochen

wurde. Hast du ihm das jemals so mitgeteilt?“, fragte Hasan.

Mark schnaubte: „Jemals? Ich habe ihm gefühlt hunderte Mal

damit in den Ohren gelegen.“

Hasan klopfte die Metallspäne, welche immer aus den Schachteln

der Schrauben rieselten, von der Hose. Er deutete auf seine

Armbanduhr und sah Mark auffordernd an: „Dann sag es ihm jetzt

gleich zum hundert und ersten Mal. Es ist fünf vor zwölf. Viel

Glück.“

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-

„Eine Abmahnung?“ Mark konnte es immer noch nicht fassen.

Zugegeben, er hatte bereits im Flur festgestellt, dass sein

bevorstehendes Gespräch keine gute Ausgangslage hatte, als ihm

der Kunde von vor knapp zwanzig Minuten entgegenkam. Das

Grinsen auf dem Gesicht des Kunden machte diesen Eindruck nur

noch sicherer. Aber mit einer Abmahnung hatte nun wirklich nicht

gerechnet.

„Für diese Verständnislosigkeit müsste ich Ihnen gleich noch eine

Abmahnung aushändigen, Herr Sieger.“, schnauzte David

Bergmann Mark an. „Das beweist mir nämlich, dass von einer

Einsicht Ihrerseits nichts zu verbuchen ist. Zudem beweist es mir

auch, dass Sie mir in den letzten Minuten entweder gar nicht oder

nur halbherzig zugehört haben.“

Mark schluckte. Bergmann hatte tatsächlich Recht, Mark war zwar

ins Büro gegangen, hatte sich aber die Vorwürfe seines Chefs

wirklich nur halbherzig angehört. Gedanklich war er bereits wieder

auf der Verkaufsfläche und überlegte, was er heute noch zu tun

hatte. Zudem dachte er noch an den Streit mit Teresa. Gestern

Abend hatte Mark sich nicht von seiner besten Seite gezeigt, hatte

einmal den „Ich-will-das-nicht-Bengel“ heraushängen lassen und

es seiner Frau richtig schwer gemacht.

Er hatte, zu seiner Verteidigung, aber auch wirklich nur damit

gerechnet, seine Verspätung nochmal als Vorwurf präsentiert zu

bekommen. Dass der Kunde von eben tatsächlich beim Chef war,

konnte er sich zu Beginn des Gespräches einfach nicht vorstellen.

Doch genau das war offenbar geschehen.

„Wissen Sie, ich fasse Ihre Vergehen gerne nochmal für Sie

zusammen. Sie werden schnell feststellen, dass Sie mit einer

Abmahnung gut davongekommen sind. Eine fristlose Kündigung

wäre einer adäquaten Reaktion dieser Frechheit naheliegender. Ihre

Verspätung ist schon Grund genug, das können Sie mir glauben.

Aber dann sorgen Sie auch noch dafür, dass Herr Borat sich für

mich ausgibt.“ Herr Bergmann hielt in seiner Ansprache an, um

auf eine Reaktion von Mark zu warten.

Marks Magen krampfte sich zusammen. Er steckte in einer

Zwickmühle. Egal, was passieren würde, er würde Hasan nicht ans

Messer liefern.

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Ich wusste, es war eine blöde Idee dachte er und versuchte seine Mimik

im Zaum zu halten.

Bergmann schien nicht die gewünschte Reaktion in Marks Gesicht

zu entdecken, also sprach er weiter: „Urkundenfälschung?

Identitätsdiebstahl? Schon mal gehört?“

Mark traute seinen Ohren nicht. Er wehrte sich: „Also bitte, Herr

Bergmann. Wir wollten Sie nicht mit dieser Lappalie belästigen

und haben uns diesen Scherz erlaubt. Das war harmlos.“

„Ach so? Meinen Schwager der Lüge bezichtigen und dann den

Kollegen Borat dazu anstiften meine Identität anzunehmen ist also

eine Lappalie und außerdem harmlos?“ Man sah den Triumph

förmlich im Gesicht seines Chefs. Er feierte sich für diese

Offenbarung, das konnte Mark deutlich erkennen. Ihm kam eine

zündende Idee: „Ja natürlich.“

David Bergmann stutzte: „Wie bitte?“

Im Büro herrschte für einen Bruchteil einer Sekunde absolute

Stille.

Marks Gedankten kreisten, formierten sich und schossen ins

Sprachzentrum: „Ja glauben Sie, das hätten wir mit einem Kunden

gemacht, den wir nicht kennen? Wir kennen Ihren Schwager doch

von der letzten Jubiläumsfeier.“

„Weihnachtsfeier.“, korrigierte Bergmann und erkannte im selben

Moment seinen Fehler. Er hatte hiermit praktisch Marks Versuch

angenommen.

Mark strahlte seinen Chef an.

Eigentlich ist das Gespräch jetzt beendet, dachte er, aber lass mich die

Geschichte doch ein wenig aufhübschen.

„Ja genau. Und da war er doch so lustig, Ihr Schwager. Er hat uns

von seinen Streichen erzählt und da haben wir gedacht, er macht

unseren Spaß auch mit.“, erklärte Mark mit Unschuldsmine. „War

das etwas kein Spaß? Hat er wirklich einen Holzbohrer für Metall

benutzt? Ich dachte, er wollte uns einen Streich spielen. Er ist

doch Ingenieur oder was war es nochmal?“

Bergmann hüstelte: „Doch, ist schon richtig. Nun, Herr Sieger. Ich

muss Ihnen das wohl glauben. Dennoch möchte ich Ihnen ins

Gewissen reden. Meine Identität anzunehmen ist kein

Kavaliersdelikt.“

„Ich verstehe das, Herr Bergmann. Ich wäre auch vollkommen

Ihrer Meinung, wenn ich mich als Sie ausgegeben hätte. Aber es

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war eindeutig ein Scherz. Ich mein, Hasan Borat sieht nicht aus

wie David Bergmann, oder?“

Mark wusste nicht, was ihm besser gefiel, das Schweigen oder das

überforderte Gesicht seines Chefs.

-

Marks Laune war ohnehin nicht vielversprechend, als er seinen

Golf auf die Einfahrt seines Hauses fuhr. Als er jedoch feststellte,

dass sein Nachbar mit seiner Frau Kathrin schon wieder im

Wohnzimmer saß und sich mit Teresa unterhielt, sank die

Stimmung Marks noch ein ganzes Stück nach unten.

Was sollte das immer? Es verging kaum ein Abend, an dem die

beiden nicht hier ein- und ausgingen.

Haben die kein Zuhause oder andere Nachbarn, dachte Mark verbissen

und betrat das Wohnzimmer.

„Guten Abend Herr Nachbar, so spät erst zu Hause?“, rief

Dietmar, sprang auf und kam mit ausgestreckter Hand auf Mark

zu.

Mark wechselte seine Arbeitstasche schnell von seiner linken Hand

zu seiner rechten und ließ damit die angebotene Hand Dietmars

„verhungern“.

Nimm dies, dachte Mark und grinste innerlich.

„Hallo zusammen. Tja, was soll ich sagen? Dieselbe Uhrzeit wie

gestern und vorgestern. Öffnungszeiten, was will man machen?“,

antwortete Mark, schlängelte an seinem Nachbarn vorbei und

setzte seine Tasche ab.

Der giftige Blick Teresas hielt Mark nicht davon ab, ihr einen

Begrüßungskuss zu geben. Allerdings war er sich im Klaren, dass

es für diese schroffe Art noch im Anschluss Ärger geben würde.

Man sah Teresa an, dass ihr sein Verhalten unangenehm und

peinlich war.

Selbst schuld, dachte Mark, sie braucht ja nicht ständig Tür und Tor für die

Nachbarn offenhalten. Irgendwann möchte ich mal meine Ruhe haben.

Sollte Dietmar von der verwehrten Hand enttäuscht gewesen sein,

sah man es ihm nicht an. Er ließ seine Hand unverrichteter Dinge

sinken, schlenderte wieder zurück zum Esstisch und setzte sich zu

seiner Frau und Teresa. Mark stand nun wie Trottel im Raum und

ärgerte sich.

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„Tja, wie drück ich mich da immer aus, Kathrin-Maus? Augen auf,

bei der Berufswahl.“, rief Dietmar nun vom Esstisch aus Mark zu.

Und außerdem noch: „Ein Bierchen, Herr Nachbar?“

Bot sein lästiger Nachbar ihm gerade tatsächlich sein Bier an?

Frechheit!

„Nee, lasst mal. Ich geh mal nach den Kindern schauen.“,

antwortete Mark und verließ die „Dreieinigkeit des Dorfes“.

Er musste jetzt den genauen Zeitpunkt abpassen. Teresa war jetzt

schon außerordentlich sauer, das sah er ihrer Mimik an. Wenn er

nun bei den Kindern blieb, bis sich seine Nachbarn

verabschiedeten, würde es richtig Ärger geben.

Er musste es also so abpassen, dass er sich kurz vor dem Aufbruch

der Nachbarn wieder zu ihnen gesellen würde. Das könnte ihn

glimpflich davonkommen lassen. Ein wenig Gemeckere hier, weil

er mit einer miesen Laune nach Hause kam und ein wenig Vorwurf

da, weil er Dietmar so rigoros hatte stehen lassen. Dann wäre es

genug gewesen und Mark könnte damit beginnen, seine

Abmahnung zu beichten. Im oberen Stockwerk angekommen,

öffnete er vorsichtig die Tür zu Danis Schlafzimmer. Das Zimmer

lag im Dunkeln, nur das Licht der seltsamen Katzenlampe erhellte

den Raum spärlich.

Das Dani diese Lampe so liebt, dachte Mark und fröstelte. Es war

eines dieser japanischen Katzen, die ihre Augen so gruselig

aufrissen und permanent winkten. Unheimlich.

Dani hat vor allem und jedem Angst, aber diese Psychokatze lässt sie nicht

nur kalt, nein, sie hängt förmlich an diesem Teil. Mark schloss die Tür

wieder vorsichtig und wendete sich zur Tür von Dennis’ Zimmer.

Dumpf klang ihm bereits auf halbem Weg der Bass eines der

Songs von diesen „durchnummerierten Rappern“ entgegen. Das

sagte Mark immer, um seinen Sohn zu ärgern, „durchnummeriert“.

„Ali471“, „Ufo361“, „Apache 207“ und „Corus 86“ waren solche

Typen. Bevor er in die Höhle seines pubertierenden Sohnes

eintrat, ermahnte sich Mark noch, dieses Mal auf seine Sticheleien

zu verzichten. Zum einen führte das zu nichts und zum anderen

kam Mark sich alt vor, wenn er über den „fehlenden

Musikverstand“ seines Sohnes argumentierte. Marks Vater hatte

ihm nämlich immer Ähnliches vorgeworfen. Mit dieser Erinnerung

im Hinterkopf vergaß er zu klopfen, trat ein und glaubte seinen

Augen nicht zu trauen. Er musste dämlich ausgesehen haben, als

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er mit offenem Mund starrend die nächsten Worte überlegte und

unbeholfen sagte: „Ist das etwa Gras?“

-

Als Teresa bemerkte, dass oben etwas nicht stimmte, musste sie

sich beeilen Dietmar und Kathrin zu verabschieden. Es klang so,

als würde ein Sturm in Dennis‘ Zimmer toben.

Was ist jetzt schon wieder, dachte sie und sendete übelste

Verwünschungen in Marks Richtung. Nicht nur, dass er wiederholt

mit schlechter Laune nach Hause kam und ihre neuen Nachbarn

abweisend behandelte. Nein, er musste natürlich das ganz große

Geschütz auffahren und sich lauthals mit Dennis streiten.

„Möchtest du nicht mal nachsehen, Teresa Süße?“, fragte Kathrin

nun mit Sicherheit zum dritten Mal.

Teresa atmete tief durch und lächelte den beiden entgegen: „Ja, das

mache ich gleich. Das hat auch noch Zeit, wenn ich euch

verabschiedet habe.“

Kapiert es endlich. VERSTEHT MEINE WORTE, schrie sie

gedanklich ihre begriffsstutzigen Nachbarn an.

„Kathrin-Maus, lass uns mal heimwärts gehen.“ Dietmar richtete

sich auf, Teresa seufzte erleichtert. Kathrin blickte noch ein wenig

irritiert, schien im nächsten Moment aber die mehr als deutliche

Situation endlich zu begreifen und stand auf.

„Darf ich dir noch beim Aufräumen helfen, Teresa Süße?“, fragte

Kathrin und verharrte unentschlossen.

„Ich bitte dich, die paar Gläser räume ich später weg.“ Teresa

lächelte Kathrin entgegen und die Verzweiflung wuchs in ihr.

Offenbar beruhigte sich der Streit zwischen Mark und Dennis

nicht, mehr noch, die Lautstärke schien noch zu steigen. Teresa

kam der Verdacht, dass Kathrin nicht darauf bedacht war, Teresa

bei den drei Gläsern zu helfen. Sie schien eher zu befürchten, dass

sie etwas Wichtiges verpassen könnte.

„Komm, mein Schatz.“ Dietmar streckte seine Hand zu Kathrin

aus. „Ich muss morgen früh raus. Sitzung mit der Stadt, du weißt

schon.“

Dietmar wendete sich an Teresa: „Komm doch morgen mal zu

uns rüber. Dann kannst du zur Abwechslung mal unser Gast sein

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und dir auch mal ein wenig Ruhe gönnen. Auch du brauchst mal

Pause von all dem Lärm und Chaos. Bis morgen.“

Dietmar und Kathrin gingen durch die Haustür der Siegers und

ließen Teresa verdutzt stehen.

Das hat er jetzt nicht gesagt, dachte sie, schnaubte entrüstet und eilte

danach zur Treppe nach oben.

-

„Jetzt chill‘ mal, Dad. Das ist das natürlichste, was es gibt und es

beruhigt mich.“ Dennis sagte es zu Mark in einer so

unerträglichen, besserwisserischen Art, dass Mark nach Jahren

nochmal eine Tracht Prügel in Betracht zog. Dabei war es stets bei

dem „in Betracht ziehen“ geblieben. Mark war kein Mensch, der

Streitigkeiten körperlich ausfocht. Aber gerade dieser Moment ließ

ihn erneut bedauern, es nicht einmal mit einem Klaps auf dem

Hintern versucht zu haben.

Er hatte seinen Vater immer für seine Sprüche gedanklich

verwünscht, wenn er sowas sagte wie: „Eine ordentliche Tracht

Prügel hat mir nicht geschadet und dir auch nicht. Du wirst schon

sehen, Mark. In ein paar Jahren tanzen dir beide auf der Nase

herum.“

Hatte er Recht? Niemals. Oder?

Er besann sich eines Besseren und stieg erneut in den verbalen

Kampf: „Komm mir nicht mit deiner belehrenden,

klugscheißerischen Art hier an. Du brauchst mir nicht erklären,

was Marihuana ist und es in den Himmel loben. Es ist illegal, du

bist 14 Jahre und dafür zu jung und dies hier ist ein

Nichtraucherhaushalt. Punkt!“

Dennis sah Mark mit halb geöffneten Augen an.

Der Rapperblick, dachte Mark und biss seine Zähne zusammen.

Seine linke Gesichtshälfte pulsierte. Diesen Blick fuhr Dennis

immer auf, wenn er es auf Provokation anlegte. Darin waren alle,

von Dennis so geschätzten, Rapper gleich. Sie glotzten wie

grenzdebile Vollidioten.

Noch bevor Dennis etwas erwidern oder Mark zu einer weiteren

Argumentation ausholen konnte, flog die Tür auf und Teresa stand

plötzlich im Zimmer.

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„Sagt mal, seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Ihr habt sie

doch nicht mehr alle, so einen Lärm zu machen. Dani schläft

nebenan und wir hatten bis gerade Besuch.“ Nur Teresa, so war

sich Mark sicher, schaffte es flüsternd zu schreien. Obwohl sie

akustisch kaum merkbar sprach, war es als würde sie das ganze

Haus zusammenbrüllen. Eine Kombination von Druck in der

Stimme und ihrer unübersehbaren Wut, die ihr ins Gesicht

geschrieben stand, führte zu diesem Phänomen.

Dieser Abend ist komplett im Eimer dachte Mark noch, bevor er sich

zur Verteidigung rüstete.

Dennis kam ihm zuvor: „Papa kommt einfach so in mein Zimmer

und brüllt mich an. Das ist MEIN Zimmer.“

„Dennis raucht Gras in seinem Zimmer, in MEINEM Haus.“,

verteidigte sich Mark und verfluchte den Zustand, dass er sich

generell verteidigen musste und zudem, dass sich diese Situation

merklich zu einer kindischen Farce entwickelte.

Als ob sich zwei Kinder um ein geklautes Förmchen streiten und Teresa ist die

Mutter, die den Streit gleich beurteilen muss. Unfassbar. Mark fühlte sich

nicht mehr wohl in seiner Haut.

Von dem Moment an, an dem er den Joint bei Dennis bemerkt

hatte, hatte Mark sich vorgenommen Dennis zwar die Leviten zu

lesen, ihn aber nicht bei Teresa anzuschwärzen. Ein „Gentlemen

Agreement“ sollte es werden. Eine stille Vereinbarung, dass dieses

Kapitel geschlossen wird, WENN Dennis sich diesen Fauxpas

nicht nochmal erlauben würde UND er zusätzlich sich wieder ein

wenig mehr innerhalb der Familie einbinden würde.

Der Unterschied war nämlich, dass Mark, so sehr er auch das

Konsumieren illegaler Substanzen ablehnte und verurteilte, ein

wenig mehr Toleranz für solche Experimente entgegenbrachte als

Teresa. Teresa war in dieser Hinsicht intolerant und hochgradig

urteilsbereit. Sie würde Dennis niemals verzeihen, dass er Gras mit

nach Hause brachte und hier rauchen würde.

Und jetzt hatte Mark diese Taktik verschossen, indem er sich auf

das Niveau eines Teenagers einließ. Idiot schimpfte Mark sich

noch, bevor Teresa endlich antwortete und alles, was Mark zu

wissen glaubte, mit Füßen trat. Triumphal mit Füßen trat, musste

Mark sich eingestehen.

„Naja, besser er raucht es hier als irgendwo auf der Straße.“, sagte

Teresa, schaute Mark mit einer Mischung aus Vorwurf und

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Herausforderung an und verließ das Zimmer ihres Sohnes mit

einem genervten Seufzer.

-

Mein Sohn raucht, mehr oder weniger heimlich, Gras in unserem Haus und

ich bekomme es ab, dachte Mark, während er sich sämtliche Vorwürfe

Teresas anhörte. Es schien sich einiges bei Teresa angesammelt zu

haben und sie verstand es, einen Spannungsbogen von Lappalien,

über die schlechte Laune Marks (welche Teresa nervte) bis zur

heutigen Spitze aufzubauen. Die Spitze bestand aus Marks

peinlichem Auftritt seinen Nachbarn gegenüber, gefolgt von dem

lauthalsen Streit zwischen ihm und seinem Sohn, bei dem selbige

Nachbarn ungewollt Zeuge wurden und jetzt auch noch Marks

Geständnis.

„Weißt du eigentlich, was das bedeutet? Eine Abmahnung?“, fragte

Teresa und sie schaffte es wieder, dass Mark sich wie ein

Schuljunge fühlte, der von seiner Klassenlehrerin zum Rapport

gerufen wurde.

Mark wehrte sich: „Entschuldige mal bitte. Ja, natürlich weiß ich,

was es bedeutet eine Abmahnung zu bekommen. Ich bin ja nicht

erst seit gestern berufstätig. Der Bergmann ist ein Arschloch, er

hatte es von Anfang an auf mich abgesehen. Das habe ich dir

schon ein paar Mal gesagt.“

„Ja, hast du, und die einzige Reaktion auf seine Art einzugehen, ist

natürlich ihm fleißig Futter zu liefern und zur Arbeit zu trödeln“,

schnaubte Teresa und schaute Mark herausfordernd an.

Mark seufzte: „Ich habe nicht getrödelt, ich stand im Stau. Aber

bitte, wenn Du meinst.“

Mark drehte sich weg, um sich dem Kühlschrank zu widmen. Er

öffnete die Kühlschranktür und inspizierte den schwindend

geringen Inhalt.

„Das wars?“. Teresa folgte Mark. Offenbar war sie noch nicht

zufrieden.

Mark hielt ein. Verwundert sah er Teresa an.

„Was meinst du? Das wars? Was möchtest du hören?“ Mark

schloss den Kühlschrank unverrichteter Dinge und setzte sich an

den Esstisch. Es bahnte sich ein Streit an, das spürte Mark. Und

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beim ersten Signal von Streit, benahm er sich fahrig und unruhig.

Das mit dem Kühlschrank war nur eine von vielen unnütz

aussehenden Aktionen, die er dann zu tun pflegte. Egal, was er bei

einem Streitgespräch tat, er musste in Bewegung bleiben. Er konnte

nichts dagegen tun.

Teresa nahm sich gar nicht erst die Zeit, um lange zu überlegen.

Sie fuhr gleich die Lautstärke hoch, nicht in Dezibel also nicht

akustisch lauter, sondern in Marks Kopf. Es war wieder dieses „im

Flüsterton schreien“, was Teresa so gut beherrschte.

„Immer dann, wenn es brenzlich wird, gibst du klein bei und lässt

mich wie eine Furie stehen.“, warf sie ihm vor.

„Ich gebe dir Recht, das möchtest du doch?“, hielt Mark dagegen.

Teresa schnappte empört nach Luft: „Ja, das möchte ich. Aber du

gibst mir nicht Recht. Du ziehst dich zurück und lässt meinen

Vorwurf oder mein Argument in der Luft verhungern. Das ist

deine Taktik, Mark. Und diese Taktik ist unfair und gehört sich

nicht.“

Mark stand wieder auf, schritt zum Kühlschrank, um ihn erneut zu

öffnen. Er starrte ins Innere und antwortete ohne Teresa

anzusehen.

„Schön. Und ich finde es unfair in einen Streit einzusteigen,

obwohl ich von Beginn an weiß, dass ich verliere.“ Er schloss die

Kühlschranktür, nachdem er sich eine halbvolle Tüte Orangensaft

geschnappt hatte. Seine erneute Übersprungshandlung wurde ihm

beim erneuten Öffnen der Kühlschranktür und dem Starren

bewusst. Deswegen nahm er sich den Saft, den er nicht mochte, als

Alibi. Um sein Alibi zu unterstreichen, nahm er sich aus dem

Hängeschrank ein Glas und schenkte es halb mit Orangensaft voll.

Er trank in kleinen Schlucken, um die Streitfortsetzung, so gut es

ging, hinauszuzögern.

Teresa sah ihn mit großen Augen an. Sie hatte seine Masche

durchschaut. Trotzdem wurde es ihr nach einer Weile zu

langatmig.

„Und?“, forderte sie Mark auf weiterzusprechen.

„Was und? Also dachte ich mir, ich gebe dir Recht und habe meine

Ruhe. So, wie immer. So, wie bei allen Entscheidungen, die WIR

gefällt haben.“ Mark bereute umgehend den letzten Satz.

Teresa stürzte sich kampfbereit auf seine letzten Worte, wie ein

Raubtier auf seine Beute: „Das habe ich mir gedacht! Ich wusste,

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dass du diesen Umzug nochmal auf den Tisch bringst. Bis zum

Schluss hast du dich dagegen gewehrt. Du weißt genauso gut wie

ich, warum wir das gemacht haben.“

Mark war hin und her gerissen. Er wollte diesen Streit nicht. Nicht

nur aus dem Grund, weil er sich ohnehin ungern stritt, sondern

hauptsächlich, weil er jetzt schon sah, dass dieser Streit ihm keinen

Vorteil brachte. Am Ende des Streites, und es war wirklich nicht

schwer sich davon ein Bild zu machen, stände er als schlechterer

Mensch vor seiner Frau als jetzt.

Was aber stattdessen tun? Wieder zurückrudern? Auch das würde

Teresa durchschauen, wie sie es vor ein paar Minuten schon

bewiesen hat, als es drum ging, dass er Streitgesprächen

ausweichen würde. Er befand sich wortwörtlich ein einer

Sackgasse. Es gab keine Chance, sich heil aus dieser Affäre zu

ziehen. Worte sind gesprochen worden, es gab keinen

Radiergummi oder Tintenkiller, der seine letzten Worte

ungeschehen machen konnte. Es gab nur einen Ausweg, und es tat

ihm beinahe körperlich weh, sich dies einzugestehen. Eine einzige

Möglichkeit.

Er biss gedanklich seine Zähne zusammen und tat das einzig

„Richtige“: „Es tut mir leid, Schatz. Das war dumm. Ich wollte dir

einen Dämpfer geben und habe zu unfairen Mitteln gegriffen.

Natürlich weiß ich, warum wir das gemacht haben und dass es das

Beste für Dani ist.“

Er hasste sich dafür.

„Ui, na, da hast du deiner Frau aber mal die Meinung gesagt. Bin

stolz auf dich.“ Hasan tätschelte Marks Schulter, um seine Häme

gestenreich zu unterstreichen.

Bei jedem anderen, wäre Mark der Kragen geplatzt, aber Hasan

entlockte Mark selbst bei offensichtlichem Sarkasmus und Spott

ein Lächeln.

„Halt die Klappe, du Blödmann“, antwortete Mark und boxte ein

wenig unbeholfen in der Luft.

Hasan hatte heute offenbar richtig gute Laune und ließ seinem

inneren Schelm freien Lauf: „Blödmann? Ui, jetzt hast du mir aber

mal die Meinung gesagt. Nichts hält dich mehr auf, du Fighter!“

-

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„Mann, jetzt hör schon auf oder möchtest du mich die ganze

Mittagspause lang aufziehen? Da habe ich keinen Bock drauf.

Oder ich erzähle dir so etwas einfach nicht mehr.“ Mark stocherte

lustlos mit seinem Strohhalm im Milchshake herum.

Hasan bedachte Mark noch einmal mit seinem siegessicheren

Lächeln, beugte sich dann aber vor, so dass sich beide

Nasenspitzen beinahe berührten und flüsterte ihm verschwörerisch

zu: „Hey, arkadaş! Als ob du mir nichts mehr erzählen würdest. Du

weißt es, ich weiß es. Ich bin deine einzige Hoffnung in dieser

trostlosen Welt.“

Bevor Hasan den Satz beendet hatte, riss er die Arme nach oben,

sprang in die Höhe und drehte eine theatralische Pirouette, um „in

dieser trostlosen Welt“ angemessen zu unterstreichen.

Gott, er hat verdammt gute Laune dachte Mark und sank peinlich

berührt tiefer in seinem Plastikstuhl.

Das „Subway“ war heute nur spärlich besucht. Die wenigen

Menschen in und um das Schnellrestaurant drehten sich neugierig

zu ihnen um, angezogen von Hasans Laiendarstellung.

Es gab Tage, an denen Mark und Hasan kaum Platz bekamen. Sie

verbrachten immer ihre Mittagspausen hier. Am Anfang holten sie

sich noch Einkäufe vom Supermarkt, und machten dann

gemeinsam Pause im Aufenthaltsraum. Als sich aber die störenden

Anrufe häuften, entschlossen sie sich, die Pause außerhäusig zu

verbringen.

Natürlich, es waren immer nur kurze Anrufe. Jedoch zogen sie

unendlich scheinende Folgedialoge nach sich. Zum Beispiel:

Kasse: „Kannst du mir mal den Preis von dem Akkubohrer

nennen?“

Mark: „Tschuldige Lisa, wir haben mehr als einen Akkubohrer.“

Kasse (mit Stolz in der Stimme): „Es ist ein BOSCH Akkubohrer.“

Mark: „Wir haben auch mehrere Akkubohrer von Bosch. Ruf

doch mal den Feist an.“

Kasse (jetzt im Tonfall maximaler Gereiztheit): „Geht nicht ran!“

Mark: „Dann ruf ihn aus.“

Kasse (jetzt kurz angebunden und schnippisch): „Hab’ ich!“

Mark: „Hast du nicht, ich sitze im Pausenraum. Ich würde das

hören.“

Es endete dann immer damit, dass aufgelegt wurde und knapp eine

Sekunde später das Mobiltelefon von Hasan klingelte.

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Weil Hasan aber ein absoluter Charmeur war und nicht zu einem

Streitgespräch wie Mark bereit war, gab er immer nach und verließ

den Pausenraum, um der Kassendame preislich aushelfen zu

können. Das war dann auch meistens das Ende der Pause, denn

Hasan schaffte es meistens nicht, nochmal zurückzukommen.

Deswegen: Auswärtige Mittagspause.

Mark schaute sich das lächelnde Gesicht seines Gegenübers noch

ein wenig an. Hasan schien lächelnd eingeeist zu sein. Man sah

deutlich, dass Hasan seinen eigenen Gedanken nachhing und diese

recht vielversprechend waren.

„Raus damit!“, forderte Mark nun Hasan auf, ein wenig lauter und

genervter als beabsichtigt. Mark schob schnell sein eigenes Lächeln

nach, um keinen falschen Eindruck zu hinterlassen.

Hasans Blick wurde umgehend klar, er war jetzt wieder ganz bei

Mark.

Begleitet von einem noch breiteren Grinsen, spielte Hasan den

Unwissenden: „Was denn?“

„Komm schon, jetzt tu nicht so. Was ist dir heute Großartiges

widerfahren, dass du so abnormal gute Laune hast? Das Essen

geht doch wohl nicht auf mich heute?“ Mark überlegte einen

Moment, war sich aber sicher, dass nichts dergleichen anlag.

Hasan lachte kurz auf: „Och du, wehren würde ich mich da nicht

sonderlich. Dann bestelle ich mir wohl noch etwas nach.“

„Vergiss es.“, zwinkerte Mark ihm zu. „Dann mal raus mit der

Sprache. Worüber freust du dich so?“

Hasan lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter seinem

Kopf und sinnierte schelmisch in die Ferne: „Türkei!“

„Kenn ich!“, sagte Mark und verbarg durch seine saloppe Antwort

die Ahnung, sich wie eine dunkle Wolke über seine Stimmung

schob.

„Ich auch“, spielte Hasan das Spiel weiter „und genau da werde ich

hinfliegen, mein Bester. Es hat geklappt. Hab den Urlaub doch

zwischenschieben dürfen und kann zur Hochzeit meines Cousins.“

Mark wusste es zwar besser, aber wollte nicht die Hoffnung völlig

aufgeben: „Hast du den Freitag bekommen? Damit du ein langes

Wochenende hast?“

Hasan stutzte, sah Mark lange an und seine Augen verrieten, dass

er Marks Frage durchschaut hatte. Er lächelte, nun

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verständnisvoller und lehnte sich zu Mark: „Arkadaş, ich bleibe

zwei Wochen. Das lohnt sich nicht für ein Wochenende, auch

nicht, wenn es ein langes Wochenende ist.“

Mark rang sich ein Lächeln ab: „Freut mich für dich, wann geht’s

los?“

Hasan zwinkerte ihm zu: „In drei Wochen. Und keine Sorge, die

zwei Wochen gehen um wie im Flug, versprochen.“

Mark lachte kurz auf, er gestand sich ein, dass sein Lachen bitterer

als geplant klang.

Schnell blickte er auf seine Armbanduhr, um der peinlichen Stille

zu entkommen, die unausweichlich auf sie zu schlich.

„Oh Shit, wir müssen noch zahlen. Es ist schon viertel vor zwei.

Wenn wir um Punkt 14:00 Uhr nicht in der Abteilung sind, kann

ich gleich wieder beim Bergmann antanzen.“ Mark sprang auf.

Hasan schaute Mark verständnisvoll an und stand gelassen auf,

schob seinen Stuhl zurück unterm Stuhl und griff nach seiner

Jacke.

„Ist schon bezahlt, mein Freund.“, sagte er und warf sich die Jacke

über. „Ich hab’ dich eingeladen, weil ich wusste, dass meine

Neuigkeiten dich ein wenig aus der Fassung bringen würden.“

Er legte seinen Arm freundschaftlich im Marks Schultern: „Komm

schon, ab in die Drachenhöhle.“

-

Ein paar Tage später saßen Mark und Hasan wieder auf der

Terrasse vom „Subway“, als völlig unerwartet das Handy von

Mark klingelte. Es war Teresa und Mark befürchtete vom ersten

Moment an, dass etwas vorgefallen sein musste, Teresa klang

beunruhigt.

Mark hatte seine Schwierigkeiten, überhaupt irgendetwas aus dem

Wortschwall heraushören zu können.

Wenn er irgendetwas verstehen wollte, musste er ihren Monolog

beenden: „Teresa. Schatz. Ich verstehe wirklich kein Wort. Was ist

passiert?“

Jetzt konnte Mark verstehen, was Teresa sagte. Er lauschte den

hitzigen Worten seiner Frau und blickte sich dabei an dem

fragenden Gesicht Hasans fest. Hasan konnte sehen, wie Marks

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Gesichtsfarbe sich erhellte und sekündlich mehr und mehr einer

Blässe wich.

Nach knapp zwei Minuten legte Mark sein Handy zur Seite und

starrte in den Verkehr, welcher sich auf Schrittgeschwindigkeit in

der City fortbewegte.

Hasan wusste, es muss etwas wirklich Schlimmes passiert sein.

Trotzdem fasste er sich ein Herz und fragte: „Hey mein Freund?

Was ist los?“

„Mein Sohn hat einen Schulverweis.“, antwortete Mark trocken.

Seine Stimme schien zu bröckeln, es war kaum anzuhören.

„Trink einen Schluck, arkadaş.“ Hasan schob ihm seinen halben

Becher Cola zu. Mark hatte seinen schon geleert.

Wie aus weiter Ferne, schien Mark wieder ins Hier und Jetzt

zurück zu kommen.

Er nahm sich Hasans Becher und zog gierig am Strohhalm. Seine

Kehle schien aus Sandpapier zu bestehen.

Nachdem Mark ein paar kräftige Schlucke getrunken hatte, ging es

ihm bereits besser und er konnte wieder einigermaßen sprechen.

„Er hat sich auf dem Schulhof geprügelt.“, sagte Mark und sah

seinem Kollegen traurig in die Augen.

Hasan lachte: „Alter! Na und? Wer prügelt sich nicht in der

Schule? Und dafür gleich einen Verweis? Was ist denn das für eine

Schule bitte?“

Mark besah Hasan mit einem falschen Lächeln: „Er hat sich mit

einem Lehrer geprügelt.“

Hasan war kurz vor dem Kopf gestoßen, dachte kurz nach und

versuchte seinen Humor wieder zu finden.

Bevor ihm das gelang, fügte Mark noch einen weiteren Satz hinzu,

um Hasan zum Schweigen zu bringen: „Er hat sich mit dem

Lehrer geprügelt, weil der ihm sein Gras weggenommen hat.“

-

Mark wusste, als er nach Hause kam, dass es jetzt doppelten Ärger

geben würde. Einmal grundsätzlich wegen Dennis und einmal, weil

er seinen Arbeitstag ganz normal wie üblich beendet hatte.

„Wow,“ kam es gleich vom Flur aus Teresas Richtung „du hast dir

ja ein Bein ausgerissen, um schnell hier zu sein.“

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Sie stand mit verschränkten Armen und blassem Gesicht am Fuß

der Treppe und würdigte Mark keines Blickes.

Doch, es gab hin und wieder einen Blick von ihr, stellte Mark fest

und wünschte sich gleichzeitig, dass sie ihn doch lieber weiterhin

mit Nichtbeachtung strafen sollte. Ihre Blicke waren vorwurfsvoll

und eisig.

Mark dachte nach. Vorsichtig setzte er zu einer Erklärung an:

„Teresa. Schatz. Ich habe vor ein paar Tagen eine Abmahnung

erhalten. Erinnerst du dich?“ Er ging auf sie zu. „Da kann ich doch

nicht gleich für einen halben Tag Urlaub fragen. Das musst du doch

verstehen.“

Teresa blickte ihn kurz an: „Hast du es wenigstens mal versucht?“

Mark war dran, zweifellos.

„Versucht?“, Mark riss seine Arme hoch um seine folgende

Erklärung gestenreich zu unterstützen. „Schatz, da gibt es keinen

Versuch. Wie soll ich es denn versuchen einen halben Tag frei zu

bekommen? Entweder man fragt danach oder man fragt nicht. Ich

habe nicht für einen halben Tag gefragt. Ich möchte nämlich lieber

beim Alten unterm Radar bleiben.“

Teresa verdrehte ihre Augen: „Wie kann man nur so einen Schiss

vor seinem Chef haben. Ehrlich Mark, wir sind deine Familie und

hätten dich heute gebraucht.“

„Ich weiß, Schatz.“, log Mark. In Wirklichkeit hatte Mark kein

Verständnis für Teresas Anschuldigungen. Sie war zu Hause, er war

eine Stunde entfernt auf der Arbeit. Sie hatte keinen Arbeitgeber, sie

war nämlich als Webtrainerin für Marktanalyse ihr eigener Chef. Er

hatte einen Arbeitgeber, der momentan nicht sonderlich gut auf

Mark zu sprechen war. Vielleicht tat er seiner Frau unrecht, aber er

fand, dass, wenn Teresa temporär kein Webtraining abhalten musste,

sie sich sehr wohl um das Wohlergehen von Dani und Dennis

kümmern konnte und auch sollte. Und wenn es Diskussionsbedarf

gab, konnte das auch sicherlich bis zum Abend nach seiner Arbeit

warten.

Die Streitzeremonie der Siegers stellte sich auch dieses Mal als

routiniert heraus. Mark gab nach und sagte Sachen wie „Ich weiß,

Schatz“ und eigentlich signalisierte eine Aussage wie diese die

Resignation Marks. Teresa aber, und darin war sie Meisterin ihres

Faches, lokalisierte in dieses verbale Entgegenkommen Marks gleich

die nächste Angriffsstelle.

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„Na, das ist ja toll. Du weißt es und kommst trotzdem erst abends.

Tja, dann danke ich Dir doch mal von ganzem Herzen.“, sprach

Teresa und schritt energisch zur Küche.

Mit drei großen Schritten war Mark bei ihr. Er versuchte seinen Arm

um sie zu legen, sie schüttelte den Arm ab. Mark kannte das Ritual.

Wie erwähnt, war es eine Zeremonie des Streites, beinahe ein Tanz,

dessen Schritte Mark nach den Jahren der Partnerschaft zu Teresa

studiert hatte.

- Erster Schritt: Umarmungsversuch 1 – Wird abgewiesen

- Zweiter Schritt: Schritt zurück, was sagen – Wird ignoriert

- Dritter Schritt: Umarmungsversuch 2 – Wird rigoros

abgewiesen

- Vierter Schritt: Gegenfeuerversuch 1 (Selbst beleidigt

spielen) – wird vollkommen ignoriert Versuch Abbruch!

- Fünfter Schritt: Entschuldigung 1 – Wird blockiert mit

Aussagen wie „Sagst du jetzt nur, weil…“

- Sechster Schritt: Umarmungsversuch 3 – Wird zaghaft

angenommen

- Siebter Schritt: Auf Teresa einreden während Umarmung 3

noch erfolgreich ist.

Wenn der siebte Schritt vollzogen war, ging es individuell weiter,

aber zumeist mit einer positiven Kapitulation von beiden.

So gut Mark diese Tanzschritte auch kannte und auch wenn sie ihm

so vertraut waren, nutzte ihm dieses Studium an diesem Tag nichts.

Teresa erhöhte ihr Tempo, erreichte die Küche vor Mark und

schloss die Tür, sowohl physisch als auch symbolisch. Hier war

nichts mehr zu holen, der Tanz würde nicht stattfinden.

Mark entschied sich dazu, Teresa zunächst abreagieren zu lassen

und sich seinem Sohn zu widmen, welcher sicherlich in seinem

Zimmer saß und entweder schon bestraft wurde oder auf seine

Bestrafung wartete.

Auf dem Weg zur Treppe spielte Mark mehrere Situationen, die ihn

erwarten würden, durch. Entweder Dennis erwartete Mark mit

vorgestrecktem Kinn, gefeit auf alles, was auf ihn zukommen möge

oder er saß wie ein Häufchen Elend, das Gesicht in seinen Händen

geschützt und am Boden zerstört.

Zweitere Vorstellung wurde von Mark umgehend wieder aus der

Vorstellung gelöscht. Der „neue“ Dennis würde sich nie diese Blöße

geben.

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Wann ist das passiert? Wann haben wir unseren Sohn verloren, dachte Mark

zum wiederholten Male, als er den Fuß der Treppe erreichte.

Es reichte noch zu einem weiteren flüchtigen Gedanken (Dennis

mit Joint in seinem Schreibtischstuhl chillend und seinem Vater die

allumfassende Frage stellend, was denn wohl so gehen würde.)

bevor Mark alle Gedanken, wie die Hoffnung, fahren ließ. Auf

halber Treppe kam ihm Dietmar entgegen, strahlend und

gestikulierend, Mark sollte leise sein. Mit beiden Händen machte er

wischende Bewegungen, die Mark signalisieren sollten, den Rückzug

Trepp abwärts anzutreten.

Mark gehorchte, was ihn später noch mehr ärgerte als jetzt, und

starrte Dietmar mit offenem Mund an.

Dietmar und Mark erreichten das untere Stockwerk und Dietmar

legte seinen kräftigen Arm um Marks schmale Schulter. Väterlich

nahm er Mark ins Gebet: „Der arme Junge ist völlig fertig. Er schläft

jetzt. Kopf hoch, Mark. Ich bin hier der Bürgermeister. Wir

bekommen das schon wieder hin. Kümmere dich mal lieber um

Teresa, es scheint sie mitzunehmen. Und beim nächsten Mal,“ er

schlug Mark freundschaftlich auf sie Schulter „komm einfach etwas

eher nach Hause, okay?“

Sprachs und verschwand durch die Haustür, als wäre er nie

dagewesen.

Mark stand immer noch im Flur, starrend, mit geöffnetem Mund

und völlig überrumpelt.

Nun fand Mark sich im Flur, am Ende der Treppe und lauschte in

die Stille. Wo sollte er hin? In die Küche? Dort saß Teresa und

kochte sicherlich immer noch vor Wut. Mark sah sie förmlich am

Küchentisch sitzen mit einer Tasse Hagebuttentee. Den brühte sich

Teresa immer auf, wenn es ihr nicht gut ging. Zwar war die Teesorte

nicht für seelische oder emotionale Auswirkungen bekannt, aber

trotzdem war es immer dieser Tee, zu dem Teresa griff. Bei Mark

rief der Duft des Tees ein gegensätzliches Gefühl auf. Der Duft

beruhigte ihn keineswegs. Er erinnerte Mark an seine Klassenfahrt

zu einem abgelegenen Ort im Osten, an dem er mit seiner

Schulklasse direkt nach der Wende gefahren war. Diese

Klassenfahrt ist, gelinde gesagt, suboptimal in seiner Erinnerung

verblieben und er fühlte sich durch den Geruch des Tees an die

knapp 10 Tage „Jugendarrest“ ungewollt erinnert.

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Nach oben? Sollte er stattdessen besser Dennis aufsuchen und den

Tag und die Vorfälle besprechen? Was hat Dietmar alles mit Dennis

besprochen? Hatte sein Sohn sein Herz bereits dem Nachbarn

ausgeschüttet und sich damit „leergesprochen“? Dann wäre jetzt

nichts mehr aus Dennis rauszuholen, oder?

Mehr um sich abzulenken entschied Mark sich dazu in Danis

Zimmer zu gehen. Er überlegte, ob er den Tag einfach damit

beenden sollte, indem er sich einfach zu seiner Tochter legt.

Morgen ist ein neuer Tag und der wird frisch besser zu bestreiten sein als heute.

Heute ist alles geschehen und lässt sich nicht mehr reparieren, dachte Mark.

Er zog sich seine Schuhe aus und schlich die Treppe nach oben,

damit weder Teresa noch Dennis hörten, dass er im Haus

umherwanderte.

Vielleicht ist es trotzdem falsch und vielleicht ist es genau diese Art von mir, die

Teresa letztens andeutete, gestand Mark sich ein, als er im oberen

Stockwerk ankam. Vielleicht wartete Teresa just in diesem

Augenblick darauf, dass sie endlich mal zu einem echten Streit kamen.

Ein vor und zurück, ohne Abbruch aber dafür mit einer Aussprache

und einer anschließenden Versöhnung. Mark wusste, dass das

besser wäre, als sich mal wieder aus der Affäre ziehen zu wollen,

aber zeitglich war ihm auch bewusst, dass er sich nicht dazu

durchringen würde.

Mark mochte keinen Streit, das war leider Fakt und ließ sich nicht

leugnen.

Vorsichtig öffnete er die Tür zu Danis Zimmer und hörte sie bereits

im Türspalt ruhig atmen. Mit diesem Geräusch stahl sich umgehend

ein Lächeln auf Marks Gesicht.

Auch wenn es ihm im Alltag nicht bewusst war, war das Geräusch

seines schlafenden Kindes das schönste Geräusch dieser Welt.

Sein selig schlummerndes Kind. Keine Sorgen, keine Probleme.

Einfach nur schlafen, um am nächsten Tag wieder kindliche

Abenteuer zu erleben.

Er tappte auf den Zehenspitzen zum Bett seiner Tochter und sah

sie an. Sie sah aus wie ein Engel.

Er beneidete sie um ihre Sorglosigkeit und zeitgleich beneidete er

auch sich um diesen Moment, der morgen schon wieder vergessen

sein würde. Morgen hätte er wieder seine Sorgen. Seinen Job. Seine

definitive Auseinandersetzung mit Dennis. Morgen würde er nicht

mehr an diesen friedlichen Moment denken.

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Mark wusste das, und der Mark von morgen beneidete den Mark

von jetzt.

Ist schon ganz schön albern, dachte er. Zur selben Zeit fasste er den

Entschluss, sich nicht zu seiner Tochter zu legen.

Er strich Dani ihre Haare aus dem Gesicht, drückte ihr einen sanften

Kuss auf ihre Stirn und verließ genauso leise das Zimmer, wie er es

betreten hatte.

Mark hatte sich entschieden. Er schloss von außen die Tür zu Danis

Zimmer, atmete tief durch und schritt der Küche entgegen.

Auf in den Kampf, dachte Mark bitter und schritt, zum gefühlt ersten

Mal bewusst, einem Streit entgegen.

-

„Und jetzt müssen wir jedes Mal einen Streit vom Zaun brechen?“,

fragte Teresa und zwinkerte Mark an. Sie lehnte ihr Kinn auf

Marks Brust, es tat ein wenig weh, weil ihr Kinn so spitz war.

Trotzdem wagte Mark es nicht, sie darauf aufmerksam zu machen.

Er wollte diesen Moment so lange wie möglich festhalten, niemand

sollte sich bewegen.

Mark lachte als Antwort: „Lieber nicht. Ich wäre dafür, dass wir

immer gleich zur Versöhnung übergehen, statt einen Streit als

Vorspiel zu missbrauchen.“ Mark küsste Teresas Stirn.

Beide schwiegen und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Mark

hatte jetzt, obwohl er den Sex genossen hatte, das Gefühl, dass der

Sex trotzdem nicht das Ende des Streites eingeläutet hatte, sondern

eher eine Art Unterbrechung war, eine Pause. Beide mussten

Dampf ablassen und hatten sich gemeinsam für eine schöne

Auszeit entschieden, da war er sich sicher. Damit das Ende der

Pause auch zeitgleich das Ende des ganzen Streites wäre und er

sich wirklich gut fühlen könnte, wollte er nun einen Schritt weiter

gehen und das Ruder übernehmen.

Kaum vorstellbar, dass es gleich weiter gehen würde oder

bestenfalls morgen.

„Schatz, es tut mir leid. Ehrlich.“, sagte Mark und meinte es

ehrlich. „Ich habe die Situation mit Dennis‘ Verweis nicht richtig

erfasst.“

Teresa schwieg.

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Immerhin liegt ihr Kinn noch auf meiner Brust dachte Mark und

versuchte, seine Brust einen Millimeter weiter zu drehen.

Sie sollte bleiben, wo sie war, aber bitte nur einen Millimeter weiter.

Teresa richtete sich auf.

Verdammt, dachte Mark, zu hoch gepokert.

Teresa sah Mark in die Augen, dieses Mal ohne Wut und Vorwurf,

sondern verständnisvoll.

„Schon gut,“ sagte sie „Du hast ja auch deine eigenen Baustellen.

Mir tut es auch leid, dass ich dich noch zu deinem ganzen anderen

Kram mit häuslichem Scheiß belästige. Der Bergmann hat es auf

dich abgesehen und verweigert deine Beförderung. Und dann

komme ich dir noch mit so einer Geschichte.“

Marks Erleichterung war kaum in Worte zu fassen. Endlich

tauschten sie sich mal aus und siehe da, beide hatten nach wie vor

Verständnis füreinander. Auch wenn Teresa ihm soeben sehr stark

entgegenkam, konnte er es trotzdem nicht so ganz hinnehmen.

„Ja, teilweise hast du Recht, aber ihr seid meine Familie und

kommt an erster Stelle. Ich neige nur leider dazu, das immer

wieder zu vergessen oder es auf zweite Stelle zu schieben.“ Er

setzte sich auf, legte seine rechte Hand auf die Brust und sprach

feierlich: „Ich schwöre, dass ich den jungen Alten von der Arbeit

nie wieder vor euch stelle.“

Teresa lachte: „Du Spinner.“ Sie gab Mark einen Kuss und

schlüpfte aus dem Bett. Mark sah sie verwundert an.

Als sie sich Jeans und Bluse überstreifte, fragte er verwundert:

„Was tust du? Willst du nochmal weg? Es ist schon zehn Uhr

abends.“

„Nur kurz rüber zu Dietmar und Kathrin. Dietmar möchte mit mir

besprechen, wie wir unseren Trottel von Sohn da wieder

rausholen.“ Sie umrundete das Ehebett und gab Mark einen Kuss.

„Bleib nur hier und ruhe dich aus. Vielleicht möchte ich gleich

noch eine zweite Versöhnung.“ Teresa zwinkerte Mark zu und

legte ihre Hand bereits auf der Türklinke.

„Hey, Moment mal!“, rief Mark und starrte Teresa fassungslos an.

Teresa sah Mark groß an: „Was ist?“

Fassungslos versuchte Mark die nächsten Worte zu finden: „Ist das

nicht ein wenig übertrieben, so spät abends noch ein „Kriegsrat“

beim Nachbarn abzuhalten?“

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„Je eher, desto besser.“ Teresa war nur kurz angebunden. Wenn

sie eines überhaupt nicht mochte, dann war es, sich rechtfertigen

zu müssen. Mark wusste das, aber verdammt nochmal, er hatte doch

auch ein Mitspracherecht.

Mark sprach nun vorsichtig, trotzdem musste er was loswerden:

„Dennis ist auch mein Sohn. Sollte ich da nicht mitentscheiden,

wie wir was machen?“

„Das hättest du machen können. Heute Nachmittag. Ich bin in

höchstens einer Stunde wieder da. Bis gleich, Schatz.“ Teresa

verließ das Schlafzimmer.

Mark lauschte den Schritten auf der Treppe nach unten, der

Haustür, die sich öffnete und schloss und der darauffolgenden

Stille.

Eine weitere Geheimwaffe Teresas hatte sich ihm soeben wieder

offenbart: Vorwurf getarnt als Gag.

Und der hatte gesessen.

-

Mark hatte keine Ahnung, wann Teresa von der abendlichen- eher

nächtlichen- Krisensitzung der Familie Husenkamp

zurückgekommen war. Es musste deutlich länger als eine Stunde

gedauert haben, denn Mark hatte sich letzte Nacht im Bett noch

lange unruhig hin und her gewälzt, bevor er endlich einschlief.

Nun saßen alle schweigend am Küchentisch und aßen, jeder

scheinbar in seine eigenen Gedanken vertieft.

Dani schien die Stille deutlich zuzusetzen, weswegen sie zu einer

ihrer Fantasy-Diskussionen griff, welche sie liebte.

„Was will Gargamel eigentlich mit den Schlümpfen?“, fragte sie

und sah jeden nacheinander groß an.

Mark fühlte sich überrumpelt, aber da von Teresa nichts kam und

von Dennis nur ein genervtes Schnauben, entschied Mark, sich auf

die neueste Frage aus Danis kindlichem Kopf einzulassen.

„Was meinst du, Liebes?“, fragte Mark und lächelte seine Tochter

an.

Sie sieht wirklich besser aus. Hat mehr Farbe im Gesicht bekommen. Vielleicht

hatte der Pillendreher doch recht, dachte er beiläufig, während er

versuchte Danis Frage zuzuordnen.

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Dani schien vorab schon zufrieden zu sein, dass sich überhaupt

jemand um ihre Frage kümmerte, Mark konnte es an ihrem eifrigen

Gesichtsausdruck feststellen und freute sich.

Sie schob sich noch eine Gabel Rührei in den Mund, kaute

bedächtig, blickte zur Decke und dachte nach, wie sie ihre Frage

besser ausdrücken konnte. All dies konnte Mark in ihrem Gesicht

lesen. Es ist faszinierend, wie offen eine Kindermimik ist, fand Mark, und

sein Lächeln wurde breiter.

„Naja, Gargamel rennt immer hinter den Schlümpfen her und ist

immer gemein. Die Katze auch.“ Dani blickte Mark erwartungsvoll

an.

„Ja, Anatoll.“, sagte Mark.

„Azrael.“, korrigierte Teresa und grinste. Mark grinste zwinkernd

zurück, signalisierte damit, dass er es extra falsch gesagt hatte, um

Dani aus der Reserve zu locken. Teresa nickte und lächelte ihr

schiefes „Sorry“ Lächeln.

„Du, Schatz. Gargamel ist einfach ein ekliger Zauberer und will die

Schlümpfe fangen, mehr nicht.“, sagte Mark und stand auf, um sich

einen weiteren Kaffee nachzuschenken.

Dani dachte nach: „Was würde er denn machen, wenn er es mal

schaffen würde?“

„Mein Schatz, ich bin mir sicher, dass er es nicht schafft.“ Mark

setzte sich wieder hin und trank einen kräftigen Schluck. Zehn

Minuten noch, dann müsste er los. Sollte er noch versuchen mit

Dennis zu sprechen? Oder lieber heute Abend? Was hatte das

Nachbarskollektiv eigentlich ausgetüftelt? Sollte er sich nicht lieber

vorab darüber informieren?

Was geht das eigentlich diesen Dietmar an?, fragte er sich zum

wiederholten Mal.

Dani war nicht zufrieden: „Aber wenn doch, Papa? Was würde er

dann machen?“

Mark zwinkerte seiner Tochter zu: „Na schön. Wenn Kargamel…“

Dani unterbrach lachend: „PAPA! Der heißt Gargamel.“

„Okay, okay. Also, wenn Gargamel wirklich mal einen Schlumpf

fangen würde, was ich aber nicht glaube, denn dafür ist er zu

dumm...“, sprach Mark weiter und achtete auf eine wohlportionierte

Prise Humor. Dani sollte lachen, aber es nicht zu albern finden und

dadurch aufgeben.

Dani lachte wieder: „PAPA!“

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„Schon gut, schon gut. Also ich bin mir sicher, dass wenn Gargamel

einen Schlumpf fangen würde, dann wüsste er auch nicht, was er jetzt

damit machen sollte.“ Mark lachte Dani an und streichelte über ihre

Haare.

„Sind wir jetzt fertig mit dieser Kinderkacke?“, schnauzte Dennis

über den Tisch.

Stimmt, da war ja noch was, dachte Mark, sah seinen Sohn an und

schaltete auf Krawall. Er entschied kurzfristig.

„Ja, wir sind fertig mit der Kinderkacke.“ Mark stand auf, ging zur

Garderobe und holte seine Jacke. Über seine Schulter sah er zu

Teresa, sie stand kurz vorm Weinen. Dies galt es zu verhindern. Er

nahm seine und Dennis Jacke.

„Hier,“ Mark warf Dennis seine Jacke entgegen. „Mein lieber Mister

Schulverweis, du kommst jetzt mit.“

Alle sahen Mark überrascht an.

„Wohin?“, fragte Dennis mit der größtmöglichen Abneigung in

seiner Stimme. Mark hörte, wie Dennis sich anstrengte, seine

Neugierde zu überspielen, es gelang ihm nicht.

„Na, zu Schrauben-Manny. Zur Arbeit.“, strahlte Mark seinen Sohn

an. „Dachtest du, du kannst dir ein paar Tage Urlaub gönnen? Das

kannst du vergessen. Und auf dem Weg dahin unterhalten wir uns

mal.“

-

„Wo hast du das Zeug her?“ Mark verlor sich gar nicht erst in

großzügigen Startfloskeln, sondern fragte direkt das, was er wissen

wollte.

„Sag ich nicht.“, sagte Dennis und verschränkte seine Arme bockig

auf der Brust. „Ich bin doch kein Snitch.“

Mark verdrehte seine Augen: „Rede nicht so bescheuert, wie diese

dämlichen Rapper, die du pausenlos hörst. Davon bekomme ich

Kopfschmerzen.“

Beruhige dich und bleib mal locker, das hilft nichts, versuchte sich Mark

gedanklich auf den Boden zu holen.

„Snitch heißt Verräter, Papa.“, belehrte ihn Dennis und er klang

dabei wieder furchtbar altklug.

„Ich weiß, was das bedeutet, Dennis. Das ist nicht der Punkt und

das weißt du auch. Du sollst dich einfach nicht permanent so

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benehmen, wie diese Scharlatane, die sich Rapper nennen und vor

allem sollst du dir nicht so eine dämliche Gangsta-Attitüde

zulegen.“ Mark sah Dennis nur kurz an und konzentrierte sich

dann wieder auf die Straße. „Du bist so ein cleverer Kerl, Dennis.

Guck nicht so, ich meine das ernst. Du kannst deine

Klassenkameraden und deine Freunde dreimal in die Tasche

stecken, aber was machst du? Du stufst dich runter und redest und

benimmst dich so dumm wie alle anderen. Das ist falsch und das

weißt du genau.“

Dennis wurde laut: „Du hast keine Ahnung. Du weißt nichts über

mich.“

„Ich weiß alles über dich, Sohnemann. Tut mir leid, dass das nicht

dem Ghettorap-Image entspricht, welches dir immer vorgespielt

wird, aber ich weiß einfach alles über dich. Warum? Weil ich dein

Vater bin und du mein Sohn. Du bist nicht im Milieu

aufgewachsen, du hast ein intaktes Elternhaus und Menschen um

dich herum, die dich lieben. Du machst es einem sehr schwer, aber

wir lieben dich. Das ist zwar schlecht für „Dan the D“, aber

definitiv gut für dich, Dennis.“

Dennis wusste darauf nichts mehr zu erwidern und auch Mark

schien den richtigen Moment verpasst zu haben, um das, was Mark

von Dennis wissen wollte, nein, wissen musste,

herauszubekommen. Der Rest der Fahrt zu „Schrauben-Manny“

wurde deswegen in einvernehmlichem Schweigen zurückgelegt.

-

„Sie können nicht einfach ihren Sohn mit zur Arbeit nehmen, Herr

Sieger.“ David Bergmann schien zu gleichen Teilen amüsiert, wie

auch schockiert zu sein. Mark war unsicher und ärgerlich auf sich,

weil er so kurzentschlossen diese Lektion für seinen Sohn erdacht

hat, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, dass dies beim

Arbeitgeber nicht gut ankommen könnte.

„Kann ich verstehen, Herr Bergmann.“, Marks Gedanken kreisten,

wirbelten und überschlugen sich. Er musste eine geeignete Lösung

finden. Wenn Dennis jetzt den ganzen Tag im Pausenraum sitzen

würde, weil sein Chef es nicht zuließ, dass er einen Tag im

„Schrauben-Manny“ aushelfen durfte, würde sein Sohn sich ins

Fäustchen lachen. Er hätte zwar den langweiligsten Tag seit

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Ewigkeiten, weil er kein Handy, keine Konsole und kein

Comicheft dabeihätte, trotzdem wäre es sein Triumph.

„Können wir ihn nicht einen Tag als Aushilfe betrachten? Ohne

Bezahlung natürlich, das würde ich übernehmen.“, fragte Mark

vorsichtig.

David Bergmann lachte auf: „Wie stellen Sie sich das vor? Das

muss alles versichert werden. Ich muss jeden Praktikanten, jeden

Auszubildenden und auch jede Aushilfe versichern. Das geht nicht

so abrupt.“

Mark versuchte weiter sein Glück: „Und wenn ich ihn nur im

Lager einsetzen würde? Kartons zerkleinern und entsorgen?

Außerdem könnte das Lager mal aufgeräumt werden.“

David Bergmann grinste widerlich: „Hat er Scheiße gebaut, Ihr

Sohnemann?“

Mark antwortete zerknirscht: „Könnte man so sagen.“

„Passen Sie auf: Auch im Lager muss Ihr Filius mit einem Messer

die Kartons zerkleinern. Ich kann das so nicht verantworten.“

Bergmann sah Mark eindringlich an. „Aaaaber, Sie haben Recht.

Das Lager sollte tatsächlich aufgeräumt werden. Da sammeln sich

Rückgaben und Defektware von Wochen. Also, ich lasse Ihren

Sohn das machen, okay?“

Mark strahlte: „Danke, Herr Bergmann, das hilft mir wirklich

weiter.“

Bergmanns Grinsen wurde breiter: „Mit Ihnen, Herr Sieger.“

Mark war sich nicht sicher, ob er das richtig verstanden hatte. Das

konnte unmöglich Bergmanns Ernst sein.

„Ich verstehe nicht.“ Mark schaute seinen Chef unsicher an.

„Sie sagen jetzt Ihrem Kollegen, Herrn Borat, Bescheid. Er soll

sich heute um Ihre beiden Abteilungen kümmern. Sie sind heute

für die Organisation des Lagers verantwortlich. Schauen Sie nicht

so. Das nennt man „Win – Win“. Sie haben Ihren Sohn im Griff

und auch unter Beobachtung und ich habe heute Abend ein gut

organisiertes Lager.“ David Bergmann wendete sich zum Gehen,

eine letzte bissige Bemerkung konnte er sich aber dennoch nicht

verkneifen. „Zumindest hoffe ich, dass ich heute Abend ein gut

organisiertes Lager habe. So, und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich

habe noch wichtige Telefonate zu führen.“ Bergmann ging. Das

hämische Grinsen konnte Mark im letzten Moment dennoch

sehen und er kochte vor Wut.

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-

„Jetzt lass mich das doch einfach machen.“, sagte Hasan, als Mark

ihm den Tagesplan, welcher exklusiv von Bergmann persönlich

erdacht worden war, erklärte.

Mark wusste, dass Hasan so reagieren würde, aber sein Entschluss

stand fest.

„Erstens musst du schonmal nicht meine Schwachsinns-Ideen

ausbaden und zweitens möchte ich mir gar nicht ausmalen, was der

Alte dazu sagen würde, wenn du die Organisation des Lagers gegen

seinen Befehl übernimmst.“ Mark gestikulierte das Wort

„Organisation“ mit in der Luft schwebenden Gänsefüßchen.

Hasan nickte verständnisvoll: „Ja, da bin ich komplett bei dir. Aber

wie willst du dich denn mit deinem Sohn unterhalten? Deine „Du

lernst heute mal zu arbeiten“ – Strategie soll doch ein Ziel haben,

oder?“

Mark dachte nach: „Du hast Recht. Er lässt nichts und niemanden

an sich heran. Ich habe es auf der Hinfahrt schon ein paar Mal

probiert.“

Stimmt nicht, dachte Mark.

„Aber er wollte einfach nichts sagen.“

Das stimmt, dachte Mark.

Hasan sah Mark erwartungsvoll an. Mark sah zurück und wusste

nicht, worauf Hasan hinauswollte.

„Also spricht doch einiges dafür, dass ich mit deinem Sohn

abhänge. Ich bin ein Türke.“, sagte Hasan und grinste sein

breitestes Grinsen.

Mark stand auf dem Schlauch: „Ja? Und?“

„Na der denkt doch krass, dass ich auch Gangsta bin, oder? Real

recognize Real, Digger!“ Hasan klang so bescheuert, dass Mark

losprusten musste. Natürlich kam in diesem Moment wieder

Kollege Feist vorbei und schüttelte den Kopf.

Als würde er es ahnen, dass wir Spaß machen, dachte Mark noch, da

legte Hasan richtig los.

„Hey Feist, Alter. Was guckst du so schräg, Mann. Soll isch disch

heute Abend mal besuchen? Isch bring auch Freundin mit. Die

heißt Kalaschnikow, du Opfer!“ Hasan konnte sich kaum noch

beruhigen und schüttelte sich vor unterdrücktem Lachen. Mark

ging es nicht besser. Er platzte beinahe innerlich vor Lachen, legte

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sich aber als Tarnung eine Miene auf, die eher nach „Biss in die

Zitrone“ aussah.

Feist blieb stehen, sah ungläubig zu den beiden rüber, dachte nach

und kam dann tatsächlich zu den beiden gelaufen.

Zuerst mit zaghaften Schritten, die sich aber immer mehr

verfestigten.

Oh nein, bitte nicht, dachte Mark noch, da stand Feist bereits vor

ihnen.

Kurz angebunden und unfreundlich fragte er: „Was war das?“

Hasan hielt für ein paar Sekunden seinen Blick mit Feist stand,

dann brach es aus ihm raus. Er lachte laut und schlug Feist auf die

Schulter.

„Sorry, Mann. Ehrlich. Wir wollten nur was ausprobieren. Hast du

mir den Gangsta abgenommen? Hast du es geglaubt?“ Hasan

beruhigte sich und sah Feist erwartungsvoll an.

Feist schien nachzudenken. Marks Augen wanderten von Feist zu

Hasan zu Feist, wie ein Schiedsrichter im Tennismatch.

Feist zog eine hässliche Grimasse, die wohl mal ein Lächeln

werden sollte: „Ich dachte, was ist das für ein Idiot. Das habe ich

gedacht. Und weißt du was?“

„Was?“ Hasan lächelte.

Feist verzog sein Gesicht angewidert: „Das denke ich jedes Mal,

wenn ich dich sehe. Egal wann, egal wo!“

Damit drehte er sich weg und schlenderte wieder in seine

Abteilung.

Hasan dachte kurz nach, dann wandte er sich an Mark: „Ich

schlage dir einen Deal vor. Du lagerst heute ein wenig mit deinem

Sohn durch die Gegend, dafür mache ich mit ihm Mittag und

versuche mal etwas herauszufinden.“

„Klingt gut.“, sagte Mark und deutete bereits an zu gehen, um

seinen Sohn aus dem Pausenraum zu „befreien“ und ihn ins Lager

zu begleiten.

Hasan hielt ihn auf: „Das war nicht der ganze Deal.“

Mark hielt überrascht inne und zuckte mit den Schultern: „Okay?

Dann mal her mit dem Rest des Deals.“

„Dafür, dass ich den Tiefen der menschlichen Psyche deines

Sohnes herumbohre, tust du mir einen Gefallen.“ Hasan wartete

ein paar Sekunden, wahrscheinlich der Dramatik zugunsten. Da

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nichts mehr kam und Hasan wohlmöglich eine Art Spannung von

Mark erwartete, kam Mark ihm entgegen.

„Dann mal raus mit der Sprache.“, sagte er „Was soll ich

machen?“

Hasan trat einen Schritt näher und sprach so leise, dass es beinahe

wie ein Flüstern bei Mark ankam: „Komm morgen Abend zu mir.

Wir statten unserem Kollegen Feist einen Besuch ab.“

Mark musste sehr erschrocken ausgesehen haben, denn Hasan

fügte noch rasch hinzu: „Ohne Kalaschnikow, natürlich.“

-

Mark schlug den Kragen seiner Jacke hoch.

Wo bleibt Hasan? fragte er sich nun schon zum wiederholten Mal.

Mark war nicht sonderlich guter Dinge. Der Nachmittag war nicht

so toll verlaufen, gestand er sich ein. Nach der Mittagspause, die

Mark allein verbracht hatte, weil Hasan mit Dennis unterwegs war,

kam Dennis schweigend ins Lager zurück und es wurde auch

weiterhin schweigend aufgeräumt. Kein Wort kam von Dennis

über seine Unterredung mit Hasan. Mark zweifelte streckenweise,

ob es überhaupt ein Gespräch zwischen den beiden gegeben hatte,

wären da nicht die Blicke von Dennis zwischendurch gewesen.

Hin und wieder, wenn sich ihre Blicke trafen, erwischte Mark

seinen Sohn dabei, wie er schuldbewusst zu Boden blickte. Etliche

Male stand Mark kurz davor, das Gespräch zu seinem Sohn zu

suchen, verschob es aber immer wieder. Einerseits wollte er sich

unbedingt mit seinem Sohn austauschen, andererseits befürchtete

er, er könnte dadurch Sachen erfahren, die er eigentlich nicht

wissen wollte und all dies würde zu einem Streit führen, welchen er

heute nicht haben wollte. Seine ganzen Überlegungen führten

letztendlich dazu, dass schneller Feierabend war als erhofft und er

sich in der Situation wiederfand, die Rückfahrt für ein klärendes

Gespräch zu nutzen.

Auch die Rückfahrt stellte sich Minuten später als Sackgasse

heraus. Nach einem kläglichen Versuch Marks fuhr sein Sohn ihm

ins Wort, indem er Mark versicherte, dass er kaum einen

kläglicheren Versuch als den, seinen Kollegen auf ihn zu hetzten,

kennengelernt hatte und er sich seine gewünschten Informationen

doch bitteschön bei Hasan abholen solle. Besiegelt wurde das

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Ende des Gesprächs, indem Dennis sich seine Kopfhörer

(AirPods von Oma geschenkt… einfach so) in die Ohren stopfte

und damit seinem neuesten Idol „UFO361“ das Wort überließ und

zwar so laut, dass Mark jedes grenzdebile Wort des Rappers hören

musste.

Zuhause angekommen stand der nächste Streit schon geduldig

wartend bereit. Teresa freundete sich nicht mit der Idee an, dass

Mark am selben Abend schon wieder nach Köln fahren würde, um

seinem Kollegen bei einer „Sache“ zu helfen. Sie fand es

(vorsichtig ausgedrückt) schade, dass Mark lieber den Abend mit

einem Kollegen verbringen wollte, den er den ganzen Tag lang sah,

statt bei seiner Familie zu sein. Das Mark statt mit dem seinem

„Arbeits-Golf“ mit dem neuen SUV fahren wollte, konnte und

wollte sie auch nicht begreifen. Allerdings räumte sie Mark auch

ein, dass er ja bereits “ein großer Junge” sei und er sich sicherlich

darüber im Klaren sei, was für ihn das Beste wäre. Eine Antwort

hatte sie nicht mehr abgewartet, sondern sich ihrem Handy

gewidmet und Mark stehen lassen.

Und jetzt?

Jetzt stand Mark seit einer halben Stunde auf dem Parkplatz von

„Schrauben-Manny“ und wartete auf Hasan. Sie hatten sich für 20

Uhr verabredet. Hier.

Seufzend griff Mark zu seinem Handy.

Es läutete, doch niemand nahm den Anruf in Empfang. Mark legte

auf, um es direkt danach nochmal zu versuchen. Das Ergebnis war

gleich, niemand nahm ab. Beim dritten Versuch stellte Mark

jedoch fest, dass er nicht nur das Läuten in seinem Lautsprecher

hörte, er hörte auch ein Handy klingeln, ganz in der Nähe. Die

Mailbox von Hasan meldete sich und in dem Moment hörte das

Handy in der Nähe auf zu klingeln.

Mit vorsichtigen Schritten begann Mark. sich dem Klingeln von

vorhin zu nähern. Er wählte erneut Hasans Nummer, hielt sich

jedoch nicht sein Handy ans Ohr. Das andere Handy erwachte

wieder zum Leben, lauter als vorhin. Mark musste sich also dem

Handy nähern.

Was ist da los? Ist Hasan schon hier und versteckt sich, dachte Mark und

ging weiter auf die Geräuschquelle zu. Mit jedem weiteren Schritt

stieg das Unbehagen. Es war Herbst und bereits dunkel und es

gefiel ihm gar nicht, dass er nun im Dunkeln auf dem Parkplatz

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seines Arbeitgebers eine akustische Schnitzeljagd nach einem

Handy nachgehen musste. Hasans Handy korrigierte Mark sich,

denn dass es Hasans Handy war, stand mittlerweile außer Frage.

Er näherte sich der Ecke zum Außenlager von „Schrauben-

Manny“, das Klingeln des Handys war mittlerweile so laut, dass

Mark sich sicher war, dass es sich unmittelbar hinter der Ecke

befinden musste. Hasan zog Mark auf, die Gewissheit überkam

Mark plötzlich und brachte sowohl Erleichterung, als auch Wut

mit sich.

Der lässt mich hier auf dem Parkplatz warten, damit er mit mir so einen

Lausbubenstreich aushecken kann dachte Mark, sprang um die Ecke

und schrie: „Was soll der Scheiß, Du A…“

Es stand keiner hinter der Ecke, kein Hasan und auch niemand

sonst. Auch von einem Handy war keine Spur zu sehen. Auf dem

Boden vor dem großen Tor zum Außenlager stand eine kleine,

schwarze Lautsprecherbox. Sie gab keinen Ton von sich, trotzdem

konnte Mark das statische Rauschen aus dem Lautsprecher

summen hören. Die Lautsprecher waren eingeschaltet. Sie

übertrugen nur momentan nichts.

Mark hielt sich sein Handy ans Ohr.

„…ihr wisst, was zu tun ist, Leute. Sprecht auf die Mailbox oder

nicht und ich ruf zurück oder nicht und zwar sofort.“

Typisch Hasan. Mark legte auf und wählte erneut.

Aus den Lautsprecherboxen erklang wieder das Klingeln von

Hasans Handy.

Was zur Hölle sollte das? Mark legte auf (das Klingeln erstarb aus

den Lautsprechern) und starrte ratlos auf die Lautsprecher. Was

sollte er mit dieser Entdeckung anfangen? Was hatte das zu

bedeuten?

„Wenn Sie Ihren Kollegen wiederhaben wollen, sagen Sie: Ja, ich

will!“ Mark schreckte zusammen, als er die verzerrte Stimme aus

den Boxen vernahm. Gleichzeitig musste er auch widerwillig

lachen.

„Was soll das, Du Arsch!“, lachte Mark und deutete an, gegen die

Lautsprecher zu treten.

Aus den Boxen erklang dieselbe Stimme erneut: „Hey. Ich habe

gesagt, Du sollst JA, ICH WILL sagen.“

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„Komm jetzt raus bitte oder ich mach die Dinger platt. Was soll

das eigentlich?“ Mark drehte sich einmal im Kreis um zu sehen,

wo Hasan sich versteckt hielt.

Hinter den Büschen, die das Außengelände von „Schrauben-

Manny“ und der Straße trennte, schraubte sich Hasan plötzlich in

die Höhe. Er keuchte, streckte seinen Rücken durch, Mark hörte

es deutlich knacken und Hasan schlenderte nun auf Mark zu.

„Ohne Scheiß? Du stehst hier eine halbe Stunde lang herum, bevor

du anrufst?“ Hasan grinste ihn an und Mark sah wieder das

altbekannte Blitzen in Hasans Augen, was immer dann

aufleuchtete, wenn Hasan eine „wirklich gute Idee“ hatte.

Oh Mann, was auch immer Hasan vorhat, es wird auf jeden Fall verrückt

werden, dachte Mark und ging Hasan grinsend entgegen.

-

„Und er hat dir nichts von unserem Gespräch erzählt?“ Hasan sah

Mark immer noch ungläubig an.

Mark biss die Zähne zusammen. Er fand es ja selber peinlich, dass

sein Sohn sich ihm offenbar nicht anvertrauen wollte, musste

Hasan jetzt darauf herumreiten?

„Nichts. Gar nichts. Würdest du mich denn bitte jetzt aufklären?“,

sagte Mark, während er mit dem Lautsprecher bepackt hinter

Hasan hertrottete.

Sie erreichten das Haus von Feist, dem Kollegen, dem Hasan

offenbar einen Streich spielen wollte. Hasan hatte Mark darum

gebeten, ein paar Häuser zurück zu parken, damit Feist niemanden

parken sah.

„Pssst.“ Hasan sah über seine Schulter zurück zu Mark. Als würde

sein Zischen nicht reichen, hob er zusätzlich noch seinen

Zeigefinger an die Lippen.

Mark rollte die Augen und versuchte mit seinen Händen die Frage

zu stellen, wann Hasan ihm denn vom Gespräch mit Dennis

erzählen würde. Es sah eher wie ein epileptischer Anfall, als

gestikulieren, aus.

Trotzdem schien Hasan seine vorgetanzte Frage deuten zu

können.

„Gleich. Versprochen.“, raunte er Mark zu. „Jetzt gib mir die

Lautsprecher.“

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Mark ging in der Hocke auf Hasan zu, fragte sich selber zum

hundertsten Mal, wie alt er sei und überreichte ihm den

Lautsprecher. Hasan unterdrückte ein Prusten, offenbar stellte er

sich schon vor, wie Feist auf seine Planung reagieren würde. Mark

hoffte, dass es wirklich so lustig würde wie in Hasans Vorstellung

und nicht zu einer Katastrophe, die zu jeder Menge Ärger ausufern

könnte.

Er versuchte zu lächeln: „Komm, mach schnell!“

Hasan pirschte vorsichtig Richtung Haustür. Irrte Mark sich oder

summte Hasan tatsächlich die Melodie von „Mission: Impossible“

vor sich hin?

So ein Trottel, dachte Mark, konnte sich ein Grinsen aber nicht

verkneifen. Mark sah, wie Hasan sich umsah, einen Zierbusch

gegenüber der Haustür entdeckte und darin seine Lautsprecher

verstaute. Hasan blickte über seine Schulter zu Mark, grinste und

streckte seinen Daumen hoch.

Er huschte auf demselben Weg wieder zurück und summte

tatsächlich die Melodie des Films.

„Komm weg hier“, raunte er Mark zu und beide zogen sich

zurück.

Sie huschten über die Straße und versteckten sich hinter der

Bushaltestelle, von wo aus sie einen perfekten Blick zur Einfahrt

von Feist hatten.

„Sagst du mir jetzt endlich, was du vorhast? Übertreib es nicht.“

Mark wollte sich nicht ausmalen, was er für einen Ärger

bekommen würde, falls das heute Abend schieflief.

Hasan sah Mark mit einem Augenzwinkern an: „Keine Sorge. Das

wird einfach nur lustig. Feist fährt einen 3er BMW. Weißt du

eigentlich, wie schwierig es war, den Alarmton eines 3er BMW im

Netz zu finden?“

Während Mark noch versuchte, die Worte Hasans zu verstehen,

betätigte dieser einen Button auf seinem Smartphone.

Umgehend wurde die Einfahrt von Feist zu einem akustischen

Höllenfeuer. Ein Alarmsignal schrill so laut, dass es Mark teilweise

in den Ohren schmerzte. Und das alles von diesem kleinen

Bluetooth Lautsprechern.

Hasan schien seine Gedanken zu lesen: „Bose, einfach die Besten.

Mein Schwager arbeitet für die. Bluetooth 3.0, mega Reichweite.

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Wenn du mal was brauchst, sagst du Bescheid.“ Er knuffte Mark

in die Seite und zwinkerte.

In dem Moment erhellte sich das Haus von Feist. Zuerst das

Wohnzimmer, dann der Flur.

Die Haustür wurde energisch aufgerissen und in dem Moment

drückte Hasan erneut auf sein Handy.

Der Ton erstarb. Feist stand auf der Einfahrt. Im Pyjama. Er sah

verschlafen aus und trug eine Art Brett oder Holzleiste mit sich.

Er ging vorsichtig zu seinem BMW, schaute sich um und

umrundete sein Auto ein paar Mal. Unverrichteter Dinge und sich

am Kopf kratzend, schlenderte Feist wieder ins Haus, lugte

nochmal kurz aus der Haustür und schloss sie dann zügig.

Mark vernahm ein Zischen neben sich.

„Cola?“ Hasan streckte ihm eine Büchse entgegen, hockte sich im

Schneidersitz und öffnete eine eigene Büchse. Er trank einen

großen Schluck, machte einen erbärmlichen Rülpser und sah Mark

groß an: „Wir lassen Feist jetzt 10 Minuten in Ruhe, dann wird’s

lustig. Wir haben also genug Zeit für etwas Ernstes. Wir

unterhalten uns jetzt mal über Dennis.“

Mark sank zu Boden, seine zittrigen Hände führten seine Büchse

an seine Lippen. Er nippte. Danach brach seine Welt zusammen.

-

Mark wusste, dass Dennis in irgendwelchen Schwierigkeiten

stecken würde. Allerdings rechnete Mark eher mit Schwierigkeiten

wie „Ärger mit den Eltern“ und „Ärger mit der Schule“ und vor

allem „Ärger mit einer möglichen Anzeige“, weil Dennis einen

Lehrer auf dem Schulhof angegriffen hatte. Dass zu all diesem

offensichtlichen Ärger auch ein Problem außerhalb von „Gesetz

und Ordnung“ inner- sowie außerhäuslich hinzukommen könnte,

lag bis jetzt nicht in Marks Erwartungen und damit fühlte er sich

nun gnadenlos konfrontiert.

„Das kann nicht sein. Wir sind hier doch nicht bei „4 Blocks“ oder

einer anderen Gangverfilmung.“ Mark hatte noch ein wenig

Hoffnung, dass es sich um einen Scherz von Hasan handeln

würde. Gleichzeitig wusste er natürlich, dass Hasans Humor nicht

so grenzüberschreitend funktionierte, wie Mark es sich momentan

erhoffte.

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„Tut mir leid, Mann“, zerschlug Hasan nun verbal die vage

Hoffnung, klickte auf sein Handy und drehte sich schnell zur

Einfahrt zurück. „Runter!“

Mark duckte sich wieder. Die Boxen heulten auf und Sekunden

später stand Feist wieder in der Einfahrt, dieses Mal wieder

angezogen. Offenbar hatte Feist sich vorausschauend wieder aus

seinem Pyjama geschält.

Hat er mit einem weiteren Alarm gerechnet? Weiß er, dass es ein Streich ist?

Marks Gedanken überschlugen sich. Er wollte jetzt seinem

nervenden Kollegen keine Streiche mehr spielen. Er musste mit

Hasan reden und danach dringend mit Dennis.

„Hasan. Lass uns abhauen. Wir müssen über Dennis reden. Ich

hab’ da jetzt keinen Bock mehr drauf.“ Mark richtete sich bereits

auf.

Hasan hielt ihm am Ärmel fest. Er sah Mark eindringlich an.

„Glaubst du, ich lass dich heute Abend hier auftauchen, nur damit

wir diesem Idioten da vorne eins auswischen?“ Hasan hatte noch

nie so ernst ausgesehen. Er sprach weiter: „Wir müssen nicht mehr

über Dennis reden, Mark. Wir müssen etwas unternehmen. Jetzt

gleich. Das hier,“ er deutete mit seinem Kopf in Richtung Einfahrt

„war nur, damit wir vorher noch ein bisschen Spaß haben. Denn

gleich haben wir keinen Spaß mehr.“

Er blickte nochmal zur Einfahrt, in der Feist sicherlich die fünfte

Runde um sein BMW drehte, lächelte noch einmal dünn, wie zu

einem Alibi, und stand auf, als Feist erneut in der Haustür

verschwand.

„Komm, lass uns zu Deinem Auto gehen.“ Hasan schlenderte vor.

-

Es war genau diese „4 Blocks Geschichte“ in die Dennis da wohl

reingeraten war. Mark fuhr und Hasan erzählte.

„Viktor ist einer der schlimmsten Gangster in Köln. Dein Sohn

hat sich an die falschen Typen gerichtet und ist bei ihm gelandet.“

Hasan war ernst, kein Lächeln kam über seine Lippen.

Er fuhr fort: „Viktor Romanov. So heißt er wirklich. Naja, so nennt

er sich wirklich. Mittlerweile gibt es im Kölner Untergrund das

Gerücht, dass Viktor nur vorgibt ein Russe zu sein. In Wirklichkeit

soll er ein Deutscher sein. Wer weiß das schon. Ist auch eigentlich

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egal, denn gefährlich ist er auf jeden Fall. Einer seiner loyalsten

Freunde, praktisch seine rechte Hand, ist Arda Borat.“

Hasan pausierte und schielte zu Mark, nach ein paar Sekunden

nickte er, als hätte Mark etwas gesagt: „Genau Mann. Arda ist

mein Cousin. Deswegen glaube ich, wir haben noch eine Chance.

Wenn ich ihm sage, dass du mein kardeş, also mein Bruder im

Geiste bist, kommt er uns vielleicht entgegen.“

Mark wurde das alles zu viel: „Kölner Untergrund? Sowas gibt es?

Hat dieser Viktor etwas gegen meinen Sohn? Hat Dennis ihm

etwas geklaut? Ist das Zeug von Viktor?“

„Ja!“ Hasan sah Mark unverwandt an. „Zu allem „JA“ mein

Freund. Ja, es gibt einen Kölner Untergrund. Ja, Viktor hat etwas

gegen Dennis. Ja, Viktor fühlt sich von Dennis bestohlen und ja,

das ganze Zeug ist von Viktor. Wenn ich sage „Das ganze Zeug“,

will ich dir gleichzeitig auch mitteilen, dass das bisschen im

Rucksack nur ein klitzekleiner Teil des Stoffes ist. Wir müssen

nochmal zu eurer alten Wohnung. Da liegt der Rest.“

Mark fühlte sich schwindelig, er hatte Mühe das Steuer gerade zu

halten. Er brachte nur gebrochen ein: „Was?“ heraus.

Hasan versuchte zu erklären: „Ja Mann. Dennis wollte sich

scheinbar ein wenig Kohle dazuverdienen. Er und seine Kumpel

haben daraus eine Art Wettstreit gemacht. Wer kann am meisten

Dope und Pillen verkaufen. Koks war da auch bei. Sie haben sich

hochgepusht und irgendwann hat Dennis wohl den Deal

gewonnen.“

Mark versuchte sich zu sammeln: „Gewonnen ist gut.“

„Ja Mann.“ Hasan sah Mark schuldbewusst an.

Als hätte ich ihm das zu verdanken, dachte Mark und war einerseits

voller Angst und Panik und andererseits unheimlich dankbar,

Hasan an seiner Seite zu haben.

Hasan erzählte weiter: „Jetzt ist es so, dass Dennis offenbar einen

riesigen Vorrat von Drogen in eurer alten Wohnung verstaut hat,

aber nicht mehr rankommt, weil ihr umgezogen seid. Und Viktor

denkt, dass Dennis sich mit dem Zeug aus dem Staub gemacht hat.

Er hat Dennis mit Drohanrufen konfrontiert, weswegen dein Sohn

panisch versucht hat, den geringen Teil loszuwerden.“ Hasan

lehnte sich seufzend zurück: „Mein Plan ist jetzt folgender: Wir

fahren zu eurer alten Wohnung. Dennis sagte, das Zeug liegt hinter

einem losen Paneel in seinem Zimmer. Schnappen uns den Scheiß,

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fahren damit zu Arda und Viktor und geben alles zurück. Eine

Tüte fehlt ja, die versuchen wir auszugleichen und dann dürften

wir aus dem gröbsten raus sein.“

„Danke Hasan.“ Mark versuchte sich zu beruhigen, er atmete tief

durch, verließ sich auf die Worte seines Kollegen und Freundes

und plante bereits den Einstieg in die alte Wohnung.

„Dank mir erst, wenn es vorbei ist, akradaş.“

-

„Sie können nicht einfach nochmal in Ihre Wohnung. Es ist nicht

mehr Ihre Wohnung.“ Fritsche sah Mark mit kleinen Augen an.

Offenbar hatte er schon geschlafen oder war kurz davor gewesen.

Skeptisch lauerte er von Mark zu Hasan zu Mark zurück.

Krächzend fügte er noch hinzu: „Erst recht nicht, zu so einer

späten Stunde… und mit dem da.“ Er machte bereits die Anstalten,

seine Haustür wieder zu schließen, als Mark seinen Fuß in den

Türspalt schob. Marks Herz hämmerte. Das sah blöd aus. Das mit

dem Fuß in die Tür machte man einfach nicht. Warum tat er das?

Offenbar dachte das auch sein alter Vermieter, denn er riss

ungläubig seine Augen auf und sah ängstlich auf die beiden späten

Besucher.

Mark beeilte sich mit seiner Entschuldigung: „Tut mir leid, Herr

Fritsche. Ehrlich. Sowohl mein spätes Erscheinen als auch das mit

dem Fuß jetzt. Es ist nur so, dass ich wirklich etwas Wichtiges in

der Wohnung vergessen habe. Ich brauche das heute noch. Ich

wäre nicht hier, wenn es nicht drängen würde.“

Mark sah zu seiner Erleichterung, dass der ängstliche

Gesichtsausdruck aus Fritsches Gesicht verschwand. Die neue

Mimik gefiel Mark aber auch nicht sonderlich, denn Fritsche kniff

seine Augen zu einem skeptischen Blick und fixierte Mark damit.

„Ich war heute noch mit einem potentiellen Nachmieter in Ihrer

ehemaligen Wohnung, Herr Sieger.“, sagte er mit einem prüfenden

Ton.

„Sie meinen wohl mit Ihrem Enkel!“, korrigierte Mark und konnte

sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.

Hasan mischte sich ein: „Ist egal jetzt, arkadaş!“ Hasan richtete

sich zudem gleich an Fritsche: „Herr Fritsche. Mein Name ist

Hasan Borat. Ich bin ein Freund und Kollege von Mark Sieger. Ich

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verspreche ihnen, dass wir nur die vergessenen Sachen abholen

und ihnen den Schlüssel heute Nacht noch einwerfen.“

Fritsche wurde langsam lauter: „Da ist nichts mehr in der

Wohnung! Jedes Zimmer ist komplett geleert.“ Er setzte noch

einen drauf und dieses Mal war es Fritsche, der ein schiefes

Grinsen zur Schau stellte: „Außerdem mussten wir alles nochmal

neu streichen, Herr Sieger. Ihre Adresse ist noch korrekt? Die in

Waldhausen?“

Mark antwortete unwirsch: „Waldesruh!“

Fritsche nickte: „Ja, stimmt. Waldesruh. Ich sende Ihnen

spätestens am Freitag eine Rechnung zu.“

„Herr Fritsche, ich habe alle Räume weiß gestrichen, wie

vereinbart. Ich verstehe nicht.“, sagte Mark, während Hasan

ungeduldig an seinem Ärmel zupfte.

Fritsche zuckte mit den Schultern: „Dann müssen Sie eine andere

Vereinbarung gelesen haben, als die, die ich Ihnen überreicht habe.

Antiallergische weiße Farbe, Herr Sieger. Keine 0815 Baumarkt

Farbe. Und jetzt entschuldigen Sie mich, morgen wird es früh

Tag.“

Er begann die Tür zu schließen und knallte sie vollends zu, als er

sah, dass Mark im Begriff stand, die Tür erneut mit seinem Fuß zu

blockieren.

„Ich werde dir jetzt nicht vorwerfen, dass ich es dir doch gleich

gesagt habe, aber ich hab’ es dir doch gleich gesagt.“ Hasan

schlenderte bereits zurück zum SUV der Siegers.

Wenn wir dieses übertriebene Auto nicht noch abbezahlen müssten, könnte ich

es verkaufen und Dennis freikaufen, dachte Mark, als er Hasan

schweigend folgte.

Hasan stand bereits an der Beifahrerseite und rief ihm entgegen:

„Welche Straße? Mach doch mal auf, jetzt!“

Mark klickte auf seinen Schlüssel, der Wagen blinkte auf, und

antwortete: „Marienplatz 17. Warum?“ Er stieg ein.

Hasan schaute Mark groß an: „Naja. Das Zeug brauchen wir

immer noch, oder? Wir hätten uns die Fahrt hierhin sparen sollen.

Wenn wir jetzt Spuren hinterlassen, weiß der alte Sack da direkt,

wohin er die Anzeige schicken muss.“

„Du willst da einsteigen?“ Mark traute seinen Ohren nicht.

Hasan sah ihn überrascht an: „Nein Mann. Was ist bloß los mit

dir?“

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Mark seufzte erleichtert auf.

„DU steigst ein. Deine alte Wohnung, dein Sohn. Ich steh

Schmiere.“ Hasan konnte sich sein Lachen kaum verkneifen. Und

trotzdem sah Mark, dass es Hasan ernst war.

Mark startete einen kläglichen Versuch: „Dein Cousin?!“

„Netter Versuch, aber vergiss es. Jetzt mach dir nicht ins Hemd.

Ich pass auf, versprochen.“ Hasan schnallte sich an, sah dass Mark

unverrichteter Dinge hinterm Steuer saß, in seinen Bewegungen

erstarrt. „Worauf wartest du?“

-

Es ist ein komisches Gefühl, wieder hier zu sein und zu wissen, dass es nicht

mehr deine Wohnung ist, dachte Mark und blickte die Fassade hoch,

die im Dunklen lag.

Es gab eine Nachbarin, Frau Wessel, die immer einen

Zweitschlüssel im dritten Blumenkasten von links deponierte.

Jeder im Haus wusste das. Als Fritsche davon eines Tages erfuhr,

gab es offenbar mächtigen Ärger und Frau Wessel sah davon ab,

den Schlüssel an gewohnter Stelle zu verstecken.

Mark versuchte trotzdem sein Glück. Wenn der Schlüssel noch

dort liegen würde, wäre er zumindest im Hausflur und könnte sich

dann überlegen, wie er in die Wohnung kam.

Eine Tür nach der anderen, dachte er und wühlte bereits in der

Blumenerde.

Fehlanzeige. Frau Wessel schien immer noch ausreichend

eingeschüchtert von Fritsche zu sein. Mark ärgerte sich. Er sah auf

seine Uhr. 21:35 Uhr. Es ist viel zu spät, um bei irgendjemanden

zu klingeln. Er schlenderte an der Fassade entlang. Einerseits, um

nach eventuellen Möglichkeiten Ausschau zu halten und

andererseits, damit es nicht so auffällig aussah, wenn jemand aus

dem Fenster schauen würde. Ein sich bewegender Mensch im

Dunklen sah weniger verdächtig aus, als jemand der still und starr

am Eingang stand, fand er.

Er schaute hoch zum zweiten Stock, dort wo die ehemalige

Wohnung seiner Familie war.

Wir waren so glücklich in dieser Wohnung und dennoch hat Dennis hier mit

diesem ganzen Mist angefangen. Er konnte es sich immer noch nicht

vorstellen. Dieser ganze Mist, dieses illegale Treiben. Alles unter

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dem Radar von ihm und Teresa? Wie hat er das so durchführen

können? Wann hat er das „Paket“ unter dem Paneel verstecken

können? Als Teresa und Mark schliefen? Unmöglich. Mark schlief

tief und fest, Teresa versicherte ihm einmal, dass ein Flugzeug

neben ihm starten und landen könnte ohne das Mark davon wach

werden würde. Aber Teresa hatte einen sehr leichten Schlaf. Als

Dani noch klein war und ihre Kruppanfälle bekam, wurde Teresa

schon vom ersten schwachen Röcheln wach.

Er hatte es also nicht nachts gemacht. Also…

Mark riss seine Augen auf, er griff sofort zu seinem Handy. Es gab

nur eine Möglichkeit.

„Papa?! Was willst Du?“ Die barsche Stimme seines Sohnes ließ

Mark direkt wieder sein Vorhaben überdenken. Da waren zwei

erwachsene Männer, er und Hasan, die in ein Haus einbrechen,

Drogen aus der Wohnung nehmen wollten, um diese einem

deutschen Gangsterboss, der sich selber einen russischen Namen

gegeben hat, auszuhändigen. Ein völlig wahnwitziges Unterfangen.

Und dann ist da ein 14-jähriger Möchtegern-Gangster, der den

Schneid hat, seinen Vater am Telefon blöd anzumachen.

Bist Du eigentlich bescheuert, fragte sich Mark zum wiederholten Mal.

„Komm mir nicht so rotzig um die Ecke, du Dreikäsehoch, ja?

Hasan und ich versuchen die Scheiße, die du da gebaut hast,

wieder rauszuhauen. Okay? Da ist eine anständige Begrüßung ja

wohl drin.“ Mark hätte ihm den Satz am liebsten in voller

Lautstärke entgegengeschmettert, musste sich aber beherrschen,

weil er immer noch vor der Mehrparteienwohnung lungerte.

Dennis schnappte nach Luft: „Was macht ihr? Papa, halt dich da

raus. Bitte. Du weißt nicht, mit wem du dich da anlegst.“ Dennis

Stimme schien zu versagen. Sie drang nur brüchig und beinahe

jämmerlich durchs Telefon.

Sieh mal an, er ist doch noch ein Kind, dachte Mark und sein

Beschützerinstinkt wurde wider Willen aktiviert. Er riss sich

zusammen und versuchte souverän zu antworten.

„Sagt mein 14 Jahre alter Sohn. Zu mir. Du hättest es dir selber

sagen sollen, als du auf die schwachsinnige Idee kamst, auf diese

Art des Umgangs einzugehen, mein Lieber. Und nur damit das klar

ist, ich lege mich mit niemanden an. Wir bringen diesem Viktor

jetzt das Zeug zurück und gleichen das Fehlende aus. Punkt.“

Mark machte eine kurze Pause. Er hörte Dennis schwer atmen.

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„Papa. Du kannst dem das Zeug nicht einfach so zurückgeben. Es

muss verkauft werden. Das Zeug ist für ihn weg, jetzt braucht er

das dazu passende Geld. Der macht dich fertig, wenn du ihm sein

Zeug wiedergeben willst.“ Dennis begann zu schluchzen. Mitleid

überkam Mark. Er musste ihn wohl oder übel ein bisschen

beruhigen. Nur ein bisschen, die Schuldgefühle sollten ihn trotz

allem noch eine Weile begleiten.

„Hasan kennt diesen Arda. Er ist sein Cousin. Uns passiert schon

nichts. Warum ich anrufe: Hattest du das Zeug tagsüber bei uns

verstecken können? Darüber werden wir uns übrigens noch

unterhalten.“ Mark blinzelte zum Auto zurück, Hasan streckte

seinen Daumen hoch. Alles in Ordnung. Die Luft ist rein.

Dennis stimme drang dünn durchs Telefon: „Ja. Ich habe mir

einen Zweitschlüssel machen lassen.“

„Wann?“ Mark versuchte sich das Wundern abzugewöhnen, es

gelang ihm nicht.

„Als Mama ihren Schlüssel verlegt hatte.“ Dennis klang kleinlaut.

„Hast du ihn hier irgendwo versteckt?“ Mark kniff die Augen

zusammen und lauschte. Er zwang sich, keine Reaktion auf das

rotzfreche Geständnis zu zeigen. Fürs Erste.

„Ja, unterm Tonesel. Papa… Bitte, ich…“ Mark legte auf und

schnitt Dennis das Wort ab. Es fühlte sich gut an. Eine stumme

Bestrafung. Dennis sollte darüber nachdenken, wozu er seinen

Vater gerade treibt.

Der Tonesel also. Mark schlenderte zurück zum Törchen, welches

den Bürgersteig vom Vorgarten des Mehrfamilienhauses trennte.

Irgendwo hier vorne hat dieser Esel immer gestanden. Mittlerweile

war es schon dunkel und Mark wagte es nicht, die Taschenlampe

seines Smartphones zu aktivieren. Da der Tonesel (Mark war sich

nicht mal sicher, ob der Esel aus Ton war) grau war, erschwerte

das die Suche, dennoch hatte Mark nach ein paar Schritten Erfolg.

Es knirschte plötzlich verdächtig unter den Schuhsohlen und das

war der Zeitpunkt, als Mark sich sicher war den Esel gefunden zu

haben.

Mark bückte sich und hob die Scherben aus Ton auf.

Jahrelang hat er hier gestanden. Eine Schande. Ein wenig betrübt schaute

sich Mark die Bruchstücke in seinen Händen an. Dann erinnerte er

sich daran, wie oft dieser Esel aus grauem Ton seine kleine Dani

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geängstigt hatte und empfand das plötzliche Ableben der Figur als

gerechte Strafe.

Zudem, so stellte er erleichtert fest, offenbarte die Zerstörung der

kleinen Skulptur das Innere. Ein Schlüsselring mit zwei Schlüsseln.

Ein Schlüssel für die Haustür und einer für die Wohnungstür.

Mark ging sofort zur Haustür. Einer der beiden Schlüssel passte

und ließ sich drehen. Mark stand im Hausflur, erleichtert. Er zog

seine Schuhe aus, platzierte sie neben der Haustür und schlich in

den zweiten Stock. Seine jahrelange Erfahrung als Mieter in diesem

Haus hatte ihn gelehrt, dass der Hausflur hellhörig war. Er konnte

abends immer hören, wenn und wann jemand nach Hause kam,

jeden Schritt konnte er hören.

Im zweiten Stock angekommen, hielt Mark die Luft an, kniff seine

Augen zu und erwartete, an dieser Stelle nicht weiterzukommen.

Das lief bis jetzt zu glatt. Er war sich sicher, dass Feist die

Schlösser getauschte hatte. Stand das nicht sogar im Vertrag?

Während Mark darüber nachdachte, probierte er allen

Vorahnungen zum Trotz sein Glück. Der andere Schlüssel glitt in

das Schloss, wie ein heißes Messer in Butter. Mark drehte

vorsichtig den Schlüssel und die Tür sprang auf. Unfassbar!

Er beeilte sich, die Wohnung zu betreten und schloss hastig die

Tür. Unvorstellbar, wenn er doch noch von Anwohnern erwischt

werden würde, nur weil er wie ein Reh im Fernlicht vor seiner

ehemaligen Wohnung verweilen würde. Nicht nach dieser

Glückssträhne.

Kurz nach der Freude, kam der Ärger. Das erste, was Mark in

seiner alten Wohnung feststellte war der Geruch.

Strenggenommen, der fehlende Geruch. Er roch nämlich nichts.

Keine frische Farbe. Fritsche würde ihm also eine Rechnung über

Malerarbeiten schicken, die nicht stattgefunden hatten.

Und ich kann es ihm noch nicht mal beweisen, weil ich nicht zugeben darf,

dass ich hier war, dachte er und hätte vor Wut am liebsten geschrien.

Er steuerte gezielt Dennis’ ehemaliges Zimmer an. Die leere

Wohnung stimmte ihn kurz melancholisch, aber er lenkte sich

damit ab, dass er sich ins Gedächtnis rief, etwas zu tun zu haben.

Angekommen im damaligen Zimmer seines Sohnes, begann er

gleich die Wandpaneele abzuklopfen. Nach ein paar

Klopfversuchen begannen wieder Zweifel in Mark

hochzukommen.

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Scheiße, hier klingt ALLES hohl. Wie soll ich genau DIE Paneele finden,

hinter der Dennis das Zeug versteckt hatte? Mark bewegte sich schneller,

klopfte mal hier, mal da. Alles klang gleich. Als er sich dem Fenster

näherte, stutzte er. Er ging drei Schritte zurück. Klopfte.

Natürlich! Die Paneele, die NICHT hohl klingt ist es. Er versuchte die

Paneele, vor der er stand, zu lösen. Es war nicht so leicht, weil die

Wandpaneele ineinander verkeilt waren. Nach ein paar Versuchen

hatte er sie gelöst. Mit dieser Paneele lösten sich gleich vier weitere

und Mark stand nun vor einem beachtlichen Loch inmitten der

Wand des Jugendzimmers. Ein braungrauer Karton, etwas größer

als ein Schuhkarton steckte in einer Art Nische und wartete nur

darauf, abgeholt zu werden.

Ungeduldig öffnete Mark den Karton. Er wusste, dass die Zeit

drängte und das Hasan mit Sicherheit schon ungeduldig im Auto

auf Marks Rückkehr wartete. Trotzdem, er musste es sehen. Ein

bekannter Geruch kam ihm bereits entgegen, als er den Karton

entfaltete. Gras. Hastig öffnete er die Laschen und starrte kurz

darauf auf den Inhalt des Kartons.

Es sah aus, wie ein „Rundum-Sorglos-Paket“ für Junkies. Er

entdeckte eine große, transparente Tüte mit Marihuana. Daneben

lag ein Beutelchen mit weißen, kleinen Pillen. Mark vermutete, es

handelte sich um Speed oder Ecstasy, er kannte sich damit nicht

sonderlich aus. Irgendeine Partydroge, da war er sich einigermaßen

sicher. Dann noch zwei verschiedene Klarsichttüten mit Pulver.

Eines reinweiß, das andere etwas dunkler. Keiner der Beutel und

Tütchen hatte Beschreibungen oder Markierungen.

Mark gefiel der Gedanke gar nicht, dass sein Sohn offenbar diese

Kennzeichnungen nicht nötig hatte. Kannte Dennis sich so gut

damit aus? Mark fuhr es eisig den Rücken hinab bei der

Vorstellung, seinen eigenen Sohn so wenig zu kennen, wie es

offenbar der Fall war.

Er schloss den Karton, klemmte ihn unter den Arm und verließ

die Wohnung so leise, wie er sie betreten hatte.

An der Haustür angekommen, stellte Mark fest, dass seine Schuhe

nicht mehr neben der Haustür standen.

Ulf Rübel. Das muss Rübel gewesen sein. Mark ärgerte sich. Sein

Nachbar, Herr Rübel, war von allen Anwohnern des Hauses

derjenige, der es auch spät abends nicht lassen konnte, für „Recht

und Ordnung“ innerhalb des Hauses zu sorgen. Sei es, dass er

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nachts und lautstark den vergessenen Mülleimer eines Nachbarn

an den Straßenrand zu setzen, oder aber vergessene oder

zurückgelassene Objekte aus dem Flur „sicherzustellen“. Eines

Tages hatte Rübel Danis Lieblingspuppe im Treppenhaus

gefunden und in seine Wohnung mitgenommen. Teresa war das

erst am Abend aufgefallen, und nur weil es Dani auffiel. Es war

eine lange, sehr unruhige Nacht, erinnerte sich Mark. Dani hat

Teresa und ihn um den Schlaf gebracht, weil sie in einer Tour

geweint und gewütet hatte. Als Teresa am nächsten Morgen bei

Rübel klingelte, nur um zu fragen, ob er die Puppe zufällig

irgendwo gesehen hätte, händigte er ihr mit einer Unschuldsmiene

die Puppe aus und versicherte Teresa, dass er es nur gemacht

hätte, damit sie nicht wegkommt. Teresa verkniff sich die

Anmerkung, dass er die Puppe ja auch hätte abliefern können,

bedankte sich nur und ging.

Heute hatte Rübel also offenbar Marks Schuhe „sichergestellt“.

Marks Wut war riesig und sie steigerte sich sogar noch, als er

feststellte, dass seine Wut zu nichts führen würde. Was sollte er

tun? Er konnte nicht bei Rübel läuten. Die Uhrzeit war das eine,

die Nachfragen waren das andere. Mark konnte nicht seinem

ehemaligen Nachbarn Rede und Antwort stehen. Er musste sich

hier und jetzt geistig von seinen Schuhen verabschieden.

Zähneknirschend huschte Mark zu seinem Auto zurück, den

Karton fest unter seinem Arm geklemmt.

„Arkadaş! Das hat aber ganz schön lange gedauert.“, grinste Hasan

ihm vom Beifahrersitz entgegen. Er sah Mark fragend an: „Alter,

wo sind deine Schuhe. Was hast du da oben gemacht?“

Mark starrte Hasan ungläubig an: „Erstens: Es hat gar nicht lange

gedauert, du Depp. Es lief ja wohl wie geschmiert. Das ist immer

noch dieselbe Kippe, die du rauchst und im Auto wird nicht geraucht!“

„Das ist meine dritte Kippe!“

„Echt?“

„Nö!“

Mark schüttelte seinen Kopf, Hasan lachte. Hasans Stärke war es

stets, in den unpassendsten Augenblicken einen Witz zu machen.

Mark stieg ins Lachen ein.

„Aber jetzt mal ohne Quatsch, arkadaş. Warum läufst du auf

deinen Socken herum? Wo sind deine Schuhe?“, fragte Hasan,

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nachdem er sich zu einer erforderlichen Ernsthaftigkeit gezwungen

hatte.

Mark startete den Motor: „Wohin jetzt? Ich erzähle es dir,

während wir fahren.“

-

„Oh Mann, was für eine Gegend. Bist du sicher, dass wir hier

richtig sind?“ Mark schaute skeptisch aus seinem Fenster.

Hasan schnaubte kurz: „Gegenfrage: Sieht es für dich hier falsch

aus?“

Mark sah sich noch ein wenig intensiver um. Sie parkten in einem

Teil von Köln Meschenich. „Der Kölnberg“, so wurde es hier

genannt. Offenbar passierte hier gewerkschaftlich gar nichts.

Entweder, weil es Nacht war und damit alles geschlossen hatte

oder (und das hielt Mark für wahrscheinlicher) weil hier alles

stillgelegt wurde.

Mark kam es vor, wie in einem dieser Krimis oder Thriller, die

Teresa so gern schaute. Die meisten der Straßenlaternen

funktionierten gar nicht, ein paar flackerten und nur hier und da

fiel spärliches Licht von den wenigen funktionierenden

Lichtmasten. Mark kniff seine Augen enger, um besser sehen zu

können. Die Straße war nicht leer, definitiv nicht. Dafür, dass die

Gegend suggerierte, dass hier eigentlich nichts los war, schien ein

emsiges Treiben vonstatten zu gehen. Mehrere Trauben von

Meschen, lungerten an Mauern, sprachen miteinander. Mal laut,

mal leise.

Er entdeckte einen Menschen, der mitten auf dem Bürgersteig lag.

Offenbar reglos. Entweder betrunken, zugedröhnt oder

bewusstlos.

Es ist dieselbe Stadt, in der ich jahrelang gelebt habe. Nur ein paar Kilometer

weiter und trotzdem ist es eine ganz andere Welt. Mark erschauderte.

Er sah Hasan an: „Nein Mann. Leider sieht es hier verdammt

richtig aus.“

Eine kleine Gruppe von Jugendlichen, Mark schätzte sie auf

ungefähr 16 Jahre, näherte sich dem Wagen und starrte ungeniert

ins Innere. Einer aus der Gruppe griff in seine Hosentasche,

entfaltete wirbelnd ein Butterfly-Messer und setzte die

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Messerspitze mit einem herausfordernden Grinsen an der

Motorhaube an.

Hasan raunte: „Bleib ruhig.“

Mark schluckte: „Was machen wir hier, Hasan?“

Die Spitze des Messers fuhr kreischend durch den Lack der

Motorhaube.

Mark riss entsetzt die Augen auf: „Fuck! Was soll das?“

„Bleib jetzt ruhig, arkadaş. Arda, mein Cousin, weiß dass wir hier

sind. Er holt uns ab. Alles wird gut, mein Freund.“

Mark Atem begann zu rasen, er spürte den Puls in seiner

Halsschlagader pochen. Seine linke Gesichtshälfte begann im

Rhythmus seines Herzschlages zu zucken.

Als das Messer am oberen Ende der Motorhaube ankam, hob der

Junge das Messer an und schlenderte hämisch grinsend zur

anderen Wagenseite. Einfallslos und trotzdem überraschend

wirkungsvoll, wiederholte er dort angekommen seine Tätigkeit und

zog sein Messer wieder über den Lack.

Wenn wir heute mit heiler Haut davon kommen, bringt Teresa mich

spätestens morgen um, dachte Mark, als hinter dem Jungen mit dem

Messer plötzlich ein Hüne auftauchte und dem ritzenden

Jugendlichen eine Ohrfeige verpasste.

Der Begriff „Ohrfeige“ ist einerseits richtig (Schlag mit geöffneter

Hand), andererseits verharmloste dieser Begriff das, was Mark

vom Inneren des Wagens zu sehen bekam. Diese Ohrfeige wurde

mit solch einer Wucht ausgeführt, dass der Jugendliche vom einen

zum anderen Moment nicht mehr zu sehen war. Der Rest der

Jugendbande erstarrte.

„Arda iyki burdasın seni gördüğüme mutlu oldum.“ Hasan klang

erleichtert und lächelte den Hünen an.

Der Hüne, offenbar Hasans Cousin Arda, beugte sich über die

Motorhaube und stierte ins Innere.

Seine Stimme war tief: „Kommt raus!“ Er richtete sich wieder auf

und schaute wortlos den Rest der Gruppe von Jugendlichen an.

In die Gruppe kam Bewegung. Als Mark mit Hasan aus dem

Wagen stieg, sah er, wie zwei der Jugendlichen den stark

benommenen „Messerkünstler“ vom Bürgersteig aufhoben und

zusammen mit dem Rest der Bande das Weite suchten.

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„Was wollt ihr hier?!“ Arda richtete sich nun an Mark und Hasan.

Dafür, dass sie verwandt waren, klang die Stimme Ardas kein

bisschen herzlich. Noch nicht mal freundschaftlich.

Hasan lachte, allerdings klang sein Lachen nervös, stellte Mark fest:

„Arda. Kuzenim. Seni görmek için bir nedene ihtiyacım var mı?“

Arda starrte Hasan an: „Sprich deutsch mit mir! Hier sind alle

Sprachen, alle Länder und Herkünfte versammelt. Außerdem

brauchst du nicht zu glauben, dass ich gnädig mit dir bin, nur weil

du mich in meiner Muttersprache ansprichst, Hasan.“

Mark wusste nicht, ob und wie er etwas sagen sollte. Gedanklich

ging er einige Gesprächsmöglichkeiten durch, doch ließ alle

Varianten augenblicklich fallen und entschied sich dazu, erstmal im

Hintergrund zu bleiben.

Läuft doch gut, redete er sich ein und stellte fest, wie dämlich das

klang.

„Arda, warum sprichst du so mit mir? Habe ich dir etwas getan?“

Hasan ging ein paar Schritte auf Arda zu, Arda verlagerte seine

Haltung und sah aggressiv aus. Hasan blieb stehen: „Meine Fresse!

Was ist los mit dir? Ich bin’s Hasan. Ich versteh gar nichts mehr.“

Ardas riesige Hand fuhr plötzlich zu Hasans Kragen, Mark konnte

es nicht fassen, dass so ein Koloss sich so schnell bewegen konnte.

Mark schnappte nach Luft, er öffnete die Hintertür seines Wagens

und nahm den Karton vom Rücksitz. In dem Moment, als Mark

den Karton als „Ablenkung“ zwischen Hasan und Arda platzieren

wollte, schrie Arda Hasan ins Gesicht, welches nur knapp zwei

Zentimeter von Ardas Gesicht entfernt war.

„Du hast mir meine DJ BOBO CD nicht zurückgegeben, du

Arsch!“

Während Mark noch versuchte, das Gehörte zu sortieren, lagen

Arda und Hasan sich bereits in den Armen und lachten. Mark

stellte fest, dass Hasans Lachen durchaus hysterisch klang. Hasan

benahm sich zwar so, als wäre es das übliche und typische

Begrüßungsritual, was sie schon immer so zelebrieren würden,

aber sein Lachen verriet ihn. Er hatte nicht die geringste Ahnung,

was das eben war. Mit dieser Erkenntnis verringerte sich Marks

Nervosität kaum.

„Also, was macht ihr hier? Wer ist das?“ Arda klang nun

tatsächlich weniger aggressiv und nahm auch eine lockere Haltung

an. Mark atmete auf.

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Hasan sprach ruhig: „Wir müssen Viktor sehen, Arda. Wir müssen

ihm etwas zurückgeben. Kannst du uns zu ihm bringen?“

Arda riss seine Augen auf: „Bist du verrückt? Niemand Fremdes

fragt einfach so nach Viktor. Wenn ich zu ihm gehe und sage, dass

da zwei Typen sind, die nach ihm fragen, was glaubst du, was er

dann denkt? Zivilbullen, natürlich.“

Hasan starrte seinen Cousin fassungslos an: „Du sagst ihm

natürlich, dass einer davon dein Cousin ist.“

„Einen Teufel werde ich. Wer weiß, was du für Schwierigkeiten

mitbringst? Ich kenne dich, hala kızı. Du bringst Ärger.“ Arda

zwinkerte Hasan trotz seiner harten Worte zu.

Mark ging einen Schritt nach vorne: „Sag ihm, Dennis Vater ist

hier und bringt das Zeug zurück!“

Überrascht sah Arda Mark an. Seine Blicke wanderten von oben

nach unten.

„Verstehe. Sieger Senior ist da und hat seine Schuhe unter seinem

Bett vergessen.“

-

„Also nochmal,“ Arda drehte sich zu den beiden, während sie

einen Flur in irgendeinem der riesigen Gebäude entlangliefen. „Am

besten redet ihr so wenig wie möglich. Den Grund eures Besuches,

so bescheuert er auch ist, kann man ja ein einem Satz erklären. Es

ist nur so… Viel Gelaber, als viel „blabla“ macht Viktor wütend

und ihr wollt keinen wütenden Viktor sprechen, das garantiere ich

euch.“

„Ich danke Dir, hala kızı.“ Hasan sah eingeschüchtert aus, fand

Mark. Seltsamerweise spürte er in sich mehr eine Art Neugierde,

statt Angst. Natürlich, auch er war nervös und aufgeregt, zudem

hatte er das Gefühl, dass er noch nie zuvor so kalte Füße gehabt

zu haben. Nasskalt, korrigierte sich Mark gedanklich. Es gab auf

der ganzen Straße nur eine einzige Pfütze, Mark hatte das

(nachdem er in genau diese Pfütze getreten war) nur zu seiner

Bestätigung überprüft.

Arda hielt vor einer Wohnungstür: „Dank mir nicht, Hasan. Das

ist Wahnsinn, was du hier tust. Sieh dich vor, ich warne dich. Halte

bitte deine lockere Zunge in deiner Kontrolle, hala kızı. Das ist

mein letzter, guter Rat.“

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Arda wand sich ab und schlenderte den Flur zurück.

„Kommst du am Wochenende zum Grillen? Alle Borats

kommen.“, rief Hasan seinem Cousin hinterher.

Arda drehte sich um. Er grinste: „Worauf du einen lassen kannst,

mein Lieber. Danach Shisha-Bar?“

Hasan schien erleichtert und das konnte Mark gut verstehen: „Söz!

Auf jeden Fall!“

Als Arda aus dem Flur verschwunden war, richtete sich Hasan an

Mark: „Pass auf, mein Freund. Am besten sagst du gar nichts und

lässt mich reden, okay?“

Mark atmete tief durch: „Ich werde jetzt sprechen, Hasan.“ Er

legte seine Hand kurz auf Hasans Schulter und zwinkerte

aufmunternd. Mark hatte nicht die geringste Ahnung, woher diese

plötzliche Zuversicht kam, aber sie war da. Mark war nervös, da

gab es keinen Zweifel. Aber Angst? Nein, Angst war nicht zu

spüren.

Er klopfte kräftig an die Wohnungstür. Nach einer Weile hörte

Mark eine Stimme, die desinteressiert, ja beinahe gelangweilt klang:

„Komm rein.“ Mark drückte die Klinke nach unten und trat ein,

dicht gefolgt von Hasan.

Das Innere der „zweckentfremdeten Wohnung“ entsprach

komplett dem, was Mark aus Filmen und Serien kannte. Sie sah

verranzt aus, teilweise. Eine Tapete suchte man in dieser Wohnung

vergebens, hier und da zeugten Fetzen davon, dass es mal so etwas

wie Tapeten in dieser Wohnung gegeben hatte. Die Wände hatten

Löcher, aus denen der Putz rieselte. Der Boden, wenn man

zwischen all den Pizzaschachteln und anderem Überbleibsel

überhaupt einen Boden erblicken konnte, war alt, modrig und

verlebt. Zum Kontrast zu der verlotterten Wohnung, erblickte

Mark in sämtlichen Räumen, an deren Türen er vorbeiging,

Fernsehgeräte, Konsolen und Sofas auf denen Kids, Jugendliche

und Erwachsene herumlungerten und zockten oder mit ihrem

Handy beschäftig waren.

Dennis war auch hier gewesen! Diese Gewissheit gab ihm einen Schlag

in die Magengrube. Er wird sich hier nie wieder blicken lassen, dachte er

und richtete nun seine Aufmerksamkeit auf einen Mann, der

mitten in dem größten Raum der Wohnung saß. Wahrscheinlich

war es das ehemalige Wohnzimmer.

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Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, welcher mit Sitzkissen

und Teppichen in einem Kreis ausgelegt war. Vor sich hatte er eine

Shisha stehen, aus der permanent Dampf entstieg.

Auf dem aus Kissen und Teppichen hergestellten Kreis saßen und

/ oder lungerten noch ein paar Leute. Alle zogen und pafften

abwechselnd an der Wasserpfeife und starrten wort- und

regungslos auf ihre Smartphones.

Der Mann im Schneidersitz, den Mark als Viktor vermutete,

schaute nur kurz auf, um danach mit seinen Augen wieder in den

Tiefen seines Handys zu verschwinden. Unwirsch hing Mark für

den Bruchteil einer Sekunde seinen Gedanken nach.

Was mag so ein „Drogenboss“ wohl für einen Accountnamen bei Instagram

haben? „kaufeDrogen@Viktor“?

„Du hast keine Schuhe an!“ Diese Feststellung kam von dem

Mann im Schneidersitz.

„Das stimmt!“ Mark freute sich über seine feste Stimme. Er hatte

weder Angst, noch fühlte er sich Adrenalin-getränkt. Er fühlte

sich, wie sollte er es nennen, souverän und, ja, unbeeindruckt. Er

hielt das ganze Szenario für nichts weiter als eine Farce.

Der junge Mann im Schneidersitz blickte auf: „Warum nicht?“

Mark schnaubte: “Weil ich sie in meiner ehemaligen Wohnung

verloren habe. Du willst jetzt auch sicherlich wissen, warum ich

dort war, in meiner ehemaligen Wohnung.“ Mark drehte auf, Wut

mischte sich in seine Worte. „Ich war dort, um das hier

abzuholen.“ Mit diesen Worten warf Mark den Karton in den

Kreis. Um ein Haar hätte er die Shisha getroffen. Hasan begann an

Marks Jacke zu zupfen, doch Mark ließ sich nicht beirren. Er war

zu tief drin in seiner Wut. Er schien das ganze Szenario auf der

Straße, die Jungs, die mit einem Messer Marks Auto traktiert

hatten, die offene Brutalität Ardas, vergessen zu haben. Mark fuhr

fort: „Das ist das Zeug, das du meinem Jungen mitgegeben hast.

Er sollte es für dich verkaufen. Nun, Überraschung: Das wird er

nicht tun. Warum? Weil ich es sage. Ich bin sein Vater und erlaube

es nicht, verstanden? Ich komme dir entgegen. Ich gebe dir den

ganzen Scheiß zurück und du sagst mir, was fehlt und wieviel du

dafür haben willst. Das zahle ich dir aus und dann werden wir uns

nie wiedersehen. Okay? Die Alternative, also falls du nicht in

meinen Deal einsteigen möchtest sieht so aus, dass ich mir den

Karton wieder nehme…“

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„Welchen Karton?“ Die Stimme kam von der Seite, aus einer Ecke

des Zimmers, die Mark zuvor nicht beachtet hatte.

In der Ecke stand eine Sitzgruppe aus Leder. Aus dem mittleren

Sessel schraubte sich in diesem Moment ein Mann in die Höhe,

der in Anbetracht der anderen „Bewohner“ der Wohnung

deplatziert aussah.

Er war groß, breit und muskulös. Das sah Mark sogar durch das

silbrige Sakko, welches der Mann trug. Er ließ sein Feuerzeug

aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.

Mark erkannte seinen Fehler sofort. Das war Viktor!

Mark blickte zurück zum Mann an der Shisha. Mark stellte

zweierlei fest. Erstens, der Mann an der Shisha grinste und

zweitens: Der Karton war weg.

„Also? Was kann ich für dich tun?“ Der (echte) Viktor streckte

Mark seine Hand entgegen. Mark nahm sie, er hatte einen festen

Druck. Mark schielte zu Hasan, in der Hoffnung, dass er eine

zündende Idee habe. Hasan zuckte mit den Schultern.

Mark räusperte sich: „Nun, ich bin hier, weil ich dir den Karton

mit deinem Zeug zurückgeben muss.“

Viktor bedachte Mark mit einem triumphalen Grinsen: „Welchen

Karton?“

Mark wusste nicht, was der Auslöser war. War es das

wiederkehrende Zucken in seiner linken Gesichtshälfte, was ihn

mittlerweile rasend machte? Waren es die fehlenden Schuhe, die

neben der Peinlichkeit und der Blöße, auch dafür sorgten, dass

Mark eisige Füße bekam? War es die späte Uhrzeit, kombiniert mit

dem Wissen, dass er morgen schon wieder früh raus musste, um

sich nicht erneut zu verspäten? Vielleicht war es auch nur der

Geduldsfaden, der gerissen war, weil Dennis’ Verhalten und

dessen Konsequenzen Mark gehörig gegen den Strich ging?

Irgendetwas in Mark schien sich dafür entschieden zu haben,

jegliche Angst und jegliche Vorsicht abzulegen und „Nägel mit

Köpfen“ zu machen.

„Er stand da!“ Mark schritt hinüber zum Sitzkreis und deutete auf

die Mitte. „Genau hier und das weißt du ganz genau. Du kannst

vielleicht deine ganzen Lakaien mit deinen Taschenspieler-Tricks

beeindrucken, mich aber nicht.“

Mark hört Hasan scharf die Luft einziehen und für den Bruchteil

einer Sekunde schien Hasans Panik auf ihn überzugehen. Mark

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richtete sich auf und streckte seinen Rücken. Er wollte sich damit

ein wenig Zeit verschaffen, um danach mit gut gezielten Worten

fortzufahren und nebenbei verlor er auch wieder die

aufkommende Panik. Danach fühlte er sich besser. Seine Panik

zog sich zurück. Sie war nicht verschwunden, das spürte Mark. Sie

lauerte irgendwo tief in ihm, um jederzeit nach vorne zu schießen.

„Also, ich wette, Mister Wasserpfeife…“ Mark deutete auf den

Typen im Schneidersitz „…hat den Karton irgendwo hingeschafft.

Wie dem auch sei, ist nicht mein Problem. In dem Karton ist fast

alles, was ihr meinem Sohn zum Weiterverkauf ausgehändigt habt.

Ohne meine Einwilligung, möchte ich hier mal betonen. Es fehlt

nur eine Tüte Gras. Marihuana, meine ich. Das hat Dennis

versucht zu verkaufen und ist auch gleich erwischt worden.“

Mark machte eine kurze Pause und beobachtete sein Publikum.

Mittlerweile waren alle Nischen und alle Zimmer in der verfallenen

Wohnung leer und alle versammelten sich in dem ehemaligen

Wohnzimmer. Einige machten Drohgebärden und spielten sich

auf, aber die meisten schauten neugierig zu. Hasan hatte sich

mittlerweile zu ihm gesellt. Er zupfte an Marks Jacke.

„Ich habe eine Frage, arkadaş.“, flüsterte er. „Bist du eigentlich

total bescheuert, so mit ihm zu reden?“

„Halt dich einfach bedeckt, ich mach das schon.“, raunte Mark

zurück. Mark wand sich an Viktor: „Hast du eine Zwischenfrage,

einen Kommentar oder soll ich einfach fortfahren?“

Viktor grinste: „Sprich weiter.“ Er ließ sein Feuerzeug aufflammen

und löschen. Aufflammen und löschen.

„Okay. Also hier mein Vorschlag: Ihr nehmt den Karton zurück,

überprüft den Inhalt und sagt mir, was fehlt. Keine Verarsche,

okay? Ich weiß, dass Dennis nur die Tüte Gras versucht hat zu

verkaufen, also braucht ihr mir nichts von anderen Suchtstoffen zu

erzählen. Das, was fehlt, werde ich euch auszahlen und das wars.“

Viktor schlenderte zu Mark hinüber und strich dabei unentwegt

über sein Kinn. Es sollte wohl grüblerisch aussehen, aber Mark

stellte fest, dass es äußerst dämlich wirkte.

„Nun, ich muss schon sagen, du hast Mut, Herr Sieger.“ Viktor

sah Mark herausfordernd an. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen

und löschen. Aufflammen und löschen.

Mark lächelte matt: „Mark reicht vollkommen. Ich denke, wir

können uns jegliche Formalität sparen.“

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Viktor lachte: „Gut, gut, Mark also. Nun, ich muss dich

enttäuschen, Mark. Dein Sohn war ein blendender Verkäufer,

zumindest als er noch in Köln unterwegs war. Jetzt lässt seine

Euphorie zu wünschen übrig.“

Etwas Großes bahnte sich an, Mark spürte es. Sein Hals begann

trocken zu werden, er schluckte. Seine innere Panik hielt sich

bereit, wie ein Raubtier, das seine Beute entdeckte.

„Dieser Karton.“ Viktor unterbrach sich und richtete sich an den

Typen an der Wasserpfeife. „Gib ihn mir.“ Er ließ sein Feuerzeug

aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.

„Welchen Karton, Boss?“, grinste der Typ Viktor an.

Mark wusste nicht, wie er richtig darauf hätte reagieren sollen, was

sich nun vor seinen Augen abspielte.

Mark hatte schon unzählige Actionfilme gesehen. Filme, in denen

Gewalt und Brutalität in epischen Bildern zelebriert wurden und in

denen es immer cool aussah, wenn jemand erschossen oder

verprügelt wurde. Die Realität jedoch…

Viktor machte nur einen Schritt zu dem Typen vor der Shisha. Er

trat dem auf dem Boden sitzenden Menschen von der Seite gegen

den Kopf.

Der dumpfe Schlag und das begleitende Knirschen waren das

hässlichste Geräusch, das Mark jemals gehört hatte. Marks Magen

schien sich in dem Moment um die eigene Achse zu drehen.

Der junge Mann verdrehte seine Augen, ließ das Mundstück der

Shisha fallen und kippte ohne ein weiteres Wort zur Seite.

Die Stille, die sich in der Wohnung verbreitete, gesellte sich zu

dem dumpfen Schlag und dem Knirschen in dieser gesamten

Kombination zum Repertoire der „hässlichsten Geräusche“.

Viktor sprach zu dem reglosen Mann, als ob er sicher wäre, dass er

es noch hören könnte: „Du willst mich verarschen, Torben? Mich?

Da musst du früher aufstehen.“ Er ließ sein Feuerzeug

aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.

Viktor bückte sich und griff unter das Sitzkissen, das bis eben

noch von dem Typen, offenbar Torben, besetzt war. Er holte den

Karton von Mark hervor.

Er starrte Mark an, nachdem er den Inhalt des Kartons inspiziert

hatte: „Das ist einer von vier Kartons, Mark. EINER von

VIEREN. Wo sind die anderen Kartons oder noch besser: Wo ist

mein Geld?“

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-

„WO IST DAS GELD?!“, brüllte Mark in sein Handy, während er

mit Hasan und Torben durch die Innenstadt Kölns jagte.

Torben lag bewusstlos auf der Rückbank. Hasan, blass wie ein

Eimer voller Kalk, saß auf dem Beifahrersitz, den Blick

abwechselnd auf Torben und zur Straße gerichtet. Mark fuhr

schnell, zu schnell. Aber es ging schließlich um Leben und Tod,

oder?

Viktor hatte ihnen erlaubt zu verschwinden, um nach den

restlichen drei Kartons zu suchen. Noch lieber wäre es Viktor

gewesen, dass sie nicht die Kartons, sondern das Geld, also den

Erlös finden und ausliefern würden.

Nebenbei hatte er auch von Mark und Hasan verlangt, den

„hoffentlich-nur-bewusstlosen“ Torben mitzunehmen und ihn

irgendwo abzuliefern.

Mark hatte einen Puls gefühlt, aber nur schwach und Mark kannte

sich auch nicht mit der Intensität, wie ein Puls zu schlagen hat, aus.

Am Telefon war nun sein selten dämlicher Sohn und auf ihn war

Mark besonders schlecht zu sprechen. Aber er musste mit ihm

sprechen.

„Was? Hey, Alter, es ist mitten in der Nacht. Was los mit dir?“,

rotzte Dennis in seiner unnachahmlichen, pubertierenden Stimme

Mark entgegen.

„WAG ES NICHT!“, brüllte Mark. „Wag es nicht, so mit mir zu

reden. Hasan und ich hatten bisher die mieseste Nacht unseres

Lebens. Und warum? Weil du, du Möchtegern Tony Montana,

meinst, mit Drogen handeln zu müssen. Wir waren bei Viktor,

weißt du? Viktor hat den Karton, von dem du uns erzählt hast,

angenommen. Aber er sagte mir auch, dass es nur einer von vieren

ist. Du lügst uns an und erzählst uns nur von einem Karton? Bist

du eigentlich völlig bescheuert? Was denkst du, hätte der mit uns

machen können?“

Am anderen Ende der Leitung schien die Gangster-Fassade seines

Sohnes zu bröckeln. Hörte Mark tatsächlich ein Schluchzen? Ein

leises, leichtes Weinen?

Hasan meldet sich zu Wort: „Mark. Wir sind fast da. Hier links

runter ist die Uni-Klinik.“

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Mark nickte Hasan zu und bog ab.

„Dennis? Sprich jetzt!“, forderte Mark seinen Sohn auf, während

er sein Auto der Zufahrt entgegensteuerte.

Dennis schluchzte und klang jämmerlich: „Papa… ich…“

Mark unterbrach ihn: „Bleib in der Nähe des Telefons. Ich muss

etwas erledigen und ruf dich in fünf Minuten zurück.“

Mark bremste abrupt vor der Uni-Klinik und sah Hasan

entschlossen an: „Du musst jetzt etwas tun, was dir nicht gefallen

wird.“

-

„Bana yardım et!“ Hasan taumelte in den Eingang mit Torben in

den Armen. Torbens Kopf schlackerte von einer Schulter, zur

anderen. Die Panik in seiner Stimme gestattete keinen Zweifel.

„Yaralandı. Bir kaza geçirdi. YARDIM!“ Hasan rollte mit seinen

Augen und drohte in der Eingangshalle zusammenzubrechen.

Drei Pfleger stürmten auf Hasan und Torben zu. Sie nahmen

Torben aus den Armen von Hasan, welcher sich umgehend auf

seine Knie fallen ließ und die Hände vors Gesicht schlug.

„Was ist passiert?“ Ein Pfleger legte behutsam seine Hand auf

Hasans Gesicht. „Sind sie ein Verwandter oder ein Freund?“

Hasan sah mit leidendem Gesichtsausdruck zum Pfleger auf und

schien seine Worte abschätzen zu wollen.

„Ben anlamıyorum.“, sagte er und klang verzweifelt.

Der Pfleger stutzte: „Was?“

Hasan zuckte mit den Schultern und deutete auf seine Ohren:

„Almanca konuşamıyorum.“

Der Pfleger seufzte und blickte sich hilflos um. „Gottfried“ stand

auf seinem Namensschild und Hasan musste sich anstrengen nicht

zu grinsen und in seiner Rolle zu bleiben. Die Kombination aus

dem Namen und das jugendliche Aussehen des Pflegers machte es

Hasan sehr schwer.

Nachdem Gottfried sich verzweifelt und ergebnislos vergewissert

hatte, dass keine Hilfe zu erwarten war und auch kein Wörterbuch

„Türkisch – Deutsch / Deutsch – Türkisch“ plötzlich von der

Decke der Klinik fiel, griff er zu seinem Handy.

„Ja… Ja, ich bin‘s Frieda.“, sagte der Pfleger und Hasan krümmte

sich. Er ließ es so aussehen, als würde er sich aus Übelkeit

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krümmen, jedoch in Wirklichkeit schüttelte er sich innerlich vor

Lachen, als er die Offenbarung des Spitznamens vom Pfleger

hörte.

„Kann mal jemand kommen, bitte? Der Typ, der den Verletzten

hierhergebracht hat, spricht offenbar nur arabisch und ich verstehe

ihn nicht.“ Der Pfleger begann ungeniert in der Nase zu bohren.

Offenbar fühlte sich Gottfried ob der Sprachbarriere nun völlig

unbeobachtet.

Leute gibt’s, dachte Hasan. Trotzdem war er erleichtert. Wenn

Gottfried, Gott möge sich seines Kleingeists erbarmen, sein

Türkisch mit Arabisch verwechselte, standen die Chancen gut, dass

Gottfried einen marokkanischen oder einen arabischen Kollegen

zu Hilfe kommen ließ. Das würde ihm die Zeit verschaffen, um im

Trubel dann zu verschwinden.

„Entschuldigen Sie“, erklang es nun plötzlich hinter Hasan und

das tiefe Timbre in der Stimme des Neuankömmlings ließ Hasans

Hoffnung fahren.

Der Pfleger sah auf und blickte zu dem Mann hinter Hasan. Er

war groß und hager, seine grauen Locken standen wirr von seinem

Kopf ab.

„Ja bitte?“, sagte der Pfleger und schob sein Handy zurück in seine

Tasche.

„Das, was der junge Mann da spricht, ist Türkisch, nicht Arabisch

und er sagte, dass er nicht Deutsch sprechen kann.“ Der Mann

schlenderte vorsichtig zu Hasan, der immer noch auf seinen Knien

inmitten der Eingangshalle hockte, und legte sachte beide Hände

um Hasans Schulter. „Alles wird gut. Her şey iyi olacak.“

Eine Mischung aus Angst, dass er nun auffliegen würde, und

schlechtem Gewissen legte sich wie eine kratzige Decke über

Hasan und ein Notfallplan nahm nur schleppend Gestalt an.

Gottfried, der Pfleger mit dem für Hasan ältesten Vornamen der

Welt, seufzte erleichtert: „Vielen Dank. Können Sie mir beim

Übersetzen helfen? Ich muss immerhin später der Polizei erzählen,

was mit dem Verletzten passiert ist und wo er überhaupt

herkommt.“

„Kein Problem, ich kümmere mich um den jungen Mann.“, sagte

der alte Mann und sah Hasan liebevoll an. „Benimle gel. Kommen

Sie, mein Freund.“

Es gab für Hasan nur eine Chance.

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Plötzlich krümmte Hasan sich und presste einen unterdrückten

Schmerzensschrei durch seine zusammengekniffenen Lippen. Um

seine Gefühlslage noch deutlicher auszudrücken, schlug er seine

Hände vor seinen Mund und riss die Augen auf.

Gottfried sprang reflexartig nach hinten: „Iiiiih, muss der kotzen?“

Er stellte dem alten Türken die Frage und schien dabei zu

vergessen, dass er der Pfleger war und nicht sein Ansprechpartner.

Toller Pfleger, dachte Hasan und fuhr mit seiner Schmierenkomödie

fort. Er sprang von seiner knieenden Position in eine stehende,

wankte ein wenig und rannte ziellos umher, stets darauf bedacht,

seine vor den Mund gepressten Hände dort zu halten. Er eilte den

Flur auf und ab, presste würgende Geräusche durch seinen doppelt

und dreifach versiegelten Mund und tat, als ob er etwas suchen

würde.

Hoffentlich kapieren die endlich, was ich hier veranstalte, dachte er und

steigerte seine gepressten Geräusche.

Der alte türkische Mann richtete sich mit einer Ruhe, die Hasan

insgeheim bewunderte, auf, während er selbst weiterhin die Rolle

seines Lebens spielte: „Entschuldigen Sie, junger Mann. Ich

befürchte, dass er sich übergeben muss. Wo haben Sie denn eine

Toilette?“

In dem Moment, als Gottfried den Flur entlang deutete und

dadurch Hasan aus seinem Blick entließ, rannte Hasan zum

Ausgang, immer noch würgend, damit er nicht noch kurz vor dem

Ziel aufgehalten würde.

Es gelang: „Hey, nicht vor dem Eingang kotzen. Das bekommen

wir nie wieder weg.“ Gottfried klang verzweifelt.

Der alte Mann sah Hasan hinterher. Er sprach immer noch ruhig,

doch Hasan verstand jedes Wort und es traf ihn wie ein

Faustschlag im Magen, als er aus der Klinik flüchtete: „Bana ihanet

ettin. Tanrı seni cezalandıracak.“

Du hast mich betrogen. Gott wird dich bestrafen., waren die Worte ins

Deutsche übersetzt und Hasan glaubte jedes einzelne davon.

Mark parkte ein paar Straßen weiter, sie hatten sich auf den

Standort vorab geeinigt.

Als Hasan ins Auto einstieg, plagte ihn sein schlechtes Gewissen,

wenn er an den freundlichen, alten Mann dachte, und Mark sprach

bereits aufgebracht mit Dennis am Telefon. Dennis, der Sohn

seines Lieblingskollegen. Dennis, der dumme, verzogene Teenie.

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Dennis, der Junge, der alles begonnen hatte, was nun noch auf sie

wartete. Hasan setzte sich auf den Beifahrersitz, lehnte sich zurück

und seufzte. Mark stand offenbar im Begriff, das Gespräch zu

beenden. Hasan hörte nur noch, dass Mark seine Enttäuschung

gegenüber Dennis erwähnte und danach auflegte.

Er hatte ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Geschichte. Ein sehr

schlechtes Gefühl.

-

„Ich bring dich jetzt nach Hause, mein Lieber. Es ist schon 4 Uhr

und morgen müssen wir beide arbeiten.“ Mark startete den Motor.

„Hat alles geklappt? Gab es Schwierigkeiten?“

Hasan reagierte überrascht: „Jetzt plötzlich? Was ist mit den

anderen drei Kartons?“

Mark sah Hasan an und Hasan zuckte zusammen: „Alter, wie

krass.“

„Was ist?!“ Mark klappte seine Sonnenschutzblende herab und sah

in den Spiegel.

Hasan sprach weiter: „In den paar Stunden hast du solche dunklen

Augenringe bekommen? Das ist krass, willst du nicht lieber bei mir

schlafen, statt nochmal eine Stunde zu fahren?“

Mark seufzte: „Wäre eigentlich das Beste. Aber ich kann nicht

einfach bei dir übernachten. Teresa würde sich sorgen, aber

einfach nachts anrufen will ich auch nicht. Außerdem muss ich

nach Hause, damit ich die drei Kartons morgen mitnehmen kann.“

Hasan reagierte so, wie Mark es erwartet und (zugegeben) auch

erhofft hatte. Ihm fiel praktisch die Kinnlade herab.

„Die drei Kartons? Weißt du etwa, wo die sind?“ Hasans

Gesichtsausdruck wechselte zwischen absolutem Unverständnis

und riesiger Freude. Mark grinste und ließ sich gerne von Hasans

Euphorie mitnehmen. Er gestand sich selber auch ein, dass er

mehr Erlösung als Wut empfand.

„Ja, ich weiß es. Sie sind zu Hause, in Waldesruh. Mein Sohn, der

Aushilfsgangster hat sie einfach kaltschnäuzig in seinem großen

Umzugskarton verstaut. Nur dieser eine Karton hat scheinbar

nicht mehr gepasst. Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung, ob

das jetzt tatsächlich die ganze Wahrheit ist, aber die drei Kartons

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habe ich jetzt theoretisch.“ Mark lächelte Hasan müde an und

zwinkerte ihm erleichtert zu.

Hasan stutzte: „Wir! Wir haben die drei Kartons, meinst du

wohl…“

„Hasan, ich“, Mark versuchte seine Gedanken zu erklären, wurde

aber sofort von seinem Lieblingskollegen unterbrochen.

„Du kannst da nicht allein hinfahren. Keine Ahnung, was du heute

Abend erlebt hast. Wenn du dasselbe wie ich gesehen, gehört und

gefühlt haben solltest, wüsstest du, dass du da niemals allein

hinfahren kannst. Also vergiss alles. Du bringst die Kartons mit

zur Arbeit und wir fahren nach Feierabend direkt dorthin, geben

den Scheiß ab und das wars.“

Mark seufzte, teilweise um seinen Protest zu äußern, aber mehr aus

Erleichterung: „Na schön, danke mein Freund.“

Mark startete den Motor und fuhr los.

-

Mark kam sich vor, wie ein Teenie, der seine „Party-Zeit“ deutlich

überschritten hat und sich in tiefster Nacht nach Hause ins Bett

schlich. Strenggenommen traf auch beinahe alles zu. Bis auf Teenie

und Party. Er wollte soeben seine Schuhe ausziehen, um sich im

Flur lautloser bewegen zu können, als er bemerkte, dass er nach

wie vor keine Schuhe trug. Er setzte sich auf die unterste Stufe der

Treppe und zog die schmutzigen und klatschnassen Socken aus. Er

betrachtete beinahe ehrfürchtig seine pechschwarzen Füße und

seine schnuddeligen, durchlöcherten Strümpfe und entschied sich,

seine Füße im Bad zu waschen und seine Socken unehrenhaft aus

ihrem Dienst zu entlassen. Zweiteres erledigte er sofort, ging zur

Küche und warf die Socken naserümpfend in den Hausmüll. Ein

Blick auf den Backofen ließ ihn zusammenzucken und schlagartig

ermüden. Die digitale Anzeigetafel zeigte „05:17“ an. Somit hatte

er noch eine Nettoschlafzeit von 73 Minuten, bevor sein Wecker

klingeln würde. Mark befand sich irgendwo zwischen absurder

Wut und tiefster Verzweiflung. Schlafmangel. Das war etwas, mit

dem Mark nie zurechtkam. Er war immer der erste, der Partys,

Weihnachtsfeierlichkeiten oder Betriebsfeiern verließ. Zu wenig

Schlaf war Marks Achillesferse.

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Dann verzichte ich lieber ganz drauf, dachte Mark und entschied sich zu

einem Vollbad statt eines Fußbades. Barfuß, ignorierte man die

Schmutzschicht, die schon unter Marks Fußsohlen zu bröckeln

begann, stieg er die Treppe empor, öffnete leise die Tür ins

Badezimmer und stellte augenblicklich fest, dass bereits Licht im

Badezimmer brannte. Kein Bad für Mark, soviel stand fest.

„Kannst du mir mal sagen, was in dich gefahren ist? Du kommst

jetzt erst nach Hause und musst gleich wieder los.“ Teresa streckte

ihren Kopf aus der Duschkabine. Mark stellte erleichtert fest, dass

ihr Gesichtsausdruck milder aussah, als ihre Stimme klang. Mark

setzte sein berühmtes, verlegenes Lächeln auf. Er fand immer, er

sah dann aus wie Kevin Costner, Teresa fand, er sah mit dem

Lächeln aus wie ein süßer Dackelwelpe. Auch gut.

„Es tut mir leid, Teresa. Ehrlich. Du weißt, ich hasse es, zu wenig

zu schlafen. Aber es ging nicht anders. Es war wirklich wichtig.“

Teresa schaute Mark von oben nach unten an. Ein Wassertropfen

wanderte seinen Weg von ihrem Scheitel über den Nasenrücken

und fiel beinahe in Zeitlupe zum Boden.

„Also das, mein Lieber,“ ihr Blick blieb an den Füßen von Mark

hängen „sind die schmutzigsten Füße, die ich je im Leben gesehen

habe.“ Sie öffnete die Tür zur Duschkabine und trat einen Schritt

zurück. „Komm rein, du Schmutzfink.“ Sie lächelte und ihre

Augen blitzten auf.

Ein Hoch auf Ulf Rübel, den elenden Schuhdieb, dachte Mark, streifte

seine Klamotten ab und sprang in die Dusche.

-

„Ist das jetzt wirklich alles?“ Mark war sich bewusst, dass er diese

Frage seinem Sohn nun sicherlich zum fünften Mal stellte,

dennoch musste er sich sicher sein. Zudem, so gestand er sich

selber ein, gefiel es ihm irgendwie, auf dem Fauxpas seines Sohnes

herumzureiten.

„Ja Papa, ich schwöre.“ Dennis Aussprache schwankte zwischen

einem jämmerlichen „Tut mir leid“ und einem auflehnenden „Jetzt

lass mich endlich in Ruhe“. Offenbar hatte sein Sohn den größten

Schreck überwunden, leider. Dies musste gleich im Keim erstickt

werden. Die Eskapaden seines Sohnes reichten Mark mindestens

für die nächsten zehn Jahre. Er setzte den ersten der drei Kartons

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in den Kofferraum und drehte sich abrupt zu Dennis um: „So,

mein Freund. Deinen Ton kannst du dir in die Haare schmieren.

Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich alles auf mich

genommen habe, um dich da rauszuholen. Geschweige denn, dass

ich den armen Hasan da mit reinziehen musste. Dein Getue geht

mir mächtig auf die Nerven, das kannst du mir glauben. Wenn ich

heute Abend zurück bin und alles diesem Viktor zurückgegeben

habe, sprechen wir uns. Bis dahin…“ Mark deutete am Haus

vorbei in Richtung Garten. „…mähst du den Rasen und holst

Moos aus den Fugen der Terrassenplatten. Ich will davon heute

Abend nichts mehr sehen.“

Mark holte den nächsten Karton. Er setzte ihn vorsichtig zum

ersten in den Kofferraum.

Dennis setzte zu einem Protest an.

Mark vereitelte es, indem er seine Hand hochhob: „Ruhe! In den

nächsten Tagen gehst du deiner Mutter zur Hand. Und du

kümmerst dich um den Garten. Was könntest du dagegen haben?

Musst du etwa zur Schule? Eher nicht, oder? Du hast schließlich

immer noch einen Verweis.“

„Hat er nicht.“ Dietmar stand plötzlich in der Einfahrt und schlug

Mark beherzt seine breite Hand auf die Schulter. „Er kann morgen

wieder zur Schule. Hat doch einen Vorteil, einen Bürgermeister als

Nachbarn zu haben, nicht war Mark?“

Mark sah ungläubig zu seinem Nachbarn und danach in das breit

grinsende Gesicht seines Sohnes.

Das darf nicht wahr sein, dachte Mark und ging schweigend ins Haus,

um den dritten und letzten Karton zu holen.

Kaum trat er aus der Haustür, vernahm er wie Dietmar väterlich

den Kopf seines Sohnes tätschelte und ihn aufforderte den letzten

Tag in Freiheit zu genießen.

„Morgen geht der Ernst des Lebens wieder los. Geh schon und

mach was Feines aus dem Tag.“ Dabei strahlte er Mark an.

Mark sah, dass Dennis im Begriff war, auf sein Fahrrad zu

springen.

„Stopp! Du hast gehört, was ich gesagt habe.“, rief Mark und

balancierte unbeholfen mit dem Karton.

„Lassen Sie ihn doch, Mark. Er kommt schon früh genug zum

Arbeiten. Ich werfe einen Blick auf ihn, fahren Sie ruhig zur

Arbeit. Kommen Sie, ich helfe Ihnen mal beim Tragen.“ Dietmar

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langte unverhofft zum Karton. Vor Überraschung oder vor

Schreck, Mark wusste es wirklich nicht, ließ Mark den Karton

fallen.

Er kannte diese Situation, hatte sie schon tausende Male erlebt.

Gläser oder Flaschen, die ihm aus der Hand glitten. Die

Kommunionkerze, die er als Kind trug und ihm aus der Hand fiel,

weil Wachs auf seinem Handrücken getropft war.

Immer schien es, als ob alles in Zeitlupe fiel und dennoch war er

nie in der Lage gewesen, das Unglück abzuwenden.

Der Karton fiel auf eine Ecke und der Inhalt schoss aus dem

Deckel, als hätte es ein Eigenleben und wollte nur raus.

Vier eingeschweißte Tüten mit Tabletten purzelten heraus und

blieben nach ein paar Aufprallen reglos liegen.

Mark starrte mit offenem Mund abwechselnd auf die Bescherung

und zu seinem Nachbarn, der wiederum die Tüten ansah.

Nach einigen Sekunden brach Dietmar sein Schweigen: „Oh

Mann, Mark, das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.

Aber sagen Sie mal, was ist das? Ist es das, was ich denke?“

Ungefragt bückte Dietmar sich und griff zu einer der vier

Umverpackungen und betrachtete die blauen Pillen darin. Ohne

eine Antwort abzuwarten, vermutete er lautstark weiter: „Haben

Sie einen zweiten Job, von dem ich nicht weiß oder verkaufen Sie

Viagra in ihrem Kölner Baumarkt?“

Mark lachte auf. Er bemühte sich, sein Lachen unverwechselbar

heiter klingen zu lassen. Ihm kam es aber selbst so vor, als würde

viel zu viel Hysterie in seinem Lachen mitschwingen.

Mark bemerkte, dass sein Lachen bei Dietmar nicht ankam.

Dietmar starrte ihn weiterhin unvermittelt an und bestand

offenbar auf einer Antwort.

Mark versuchte stockend eine weitere Lüge zu seinen unzähligen

Unwahrheiten und Ausreden einreihen zu lassen. Er hatte das

Gefühl, dass er so langsam in Übung kam. Jede neue Lüge und

jede neue Ausflucht kam ihm einfacher über seine Lippen als die

davor.

„Viagra? Quatsch Dietmar. Das ist doch kein Viagra.“ Mark musste

sich unbedingt etwas einfallen lassen. Dietmar würde seine Aussage

nicht einfach so akzeptieren, auch nicht (oder erst recht nicht) wenn

Mark sie zur Verdeutlichung wiederholte.

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Denk nach, Mark, denk nach, ermahnte er sich und wollte soeben das

Wort erneut ergreifen, als Dennis wieder zurückkam.

„Papa, ich hab’s mir überlegt. Du hast Recht, ich werde den

Garten… Oh mein Gott.“ Dennis schlug ungläubig und panisch die

Hände vor seinem Mund und starrte mit weit aufgerissenen Augen

auf die vier Päckchen auf der Einfahrt.

Sollte mein neugieriger Nachbar noch keinen Verdacht gehabt haben, ist es jetzt

soweit, dachte Mark und beschloss, einfach zu sprechen: „Ist nicht

schlimm Dennis. Die funktionieren noch. Alles halb so schlimm.“

Er bückte sich und hob nun endlich die Päckchen auf und verstaute

sie wieder in seinem Karton. Er murmelte vor sich hin: „Ist ja

schließlich nicht aus Glas und elektrische Geräte sind das auch

nicht.“

„Was sind das denn jetzt für Pillen, Mark?“ Dietmar verschränkte

seine Arme und stand breitbeinig vor Mark.

Mark belud weiter emsig seinen Kofferraum und antwortete kurz

über seine Schulter: „Darf ich nicht sagen.“

Er starrte in seinen Kofferraum, schob die drei Kartons von der

einen in die andere Ecke und versuchte dadurch den Anschein zu

verlängern überaus beschäftigt zu sein. Irgendein Teil von ihm (ein

kindlicher Teil, wie Mark zugab, der offenbar der Theorie „Ich seh

dich nicht, du siehst mich nicht“ folgte) hoffte darauf, dass Dietmar

das Interesse oder die Lust verlor und sich abwandte.

Das schwere Atmen hinter Marks Rücken verriet ihm, dass Dietmar

immer noch dort stand und keineswegs sein Interesse verlor.

„Was meinst du mit: Darf ich nicht sagen?“ Dietmar Stimme klang

weder ärgerlich noch verdächtigend. Das ließ Mark ein wenig

aufatmen.

Als Mark sich umdrehte, um sich Dietmar zuzuwenden, fiel sein

Blick wieder auf Dennis, der nach wie vor an derselben Stelle stand

und seine Hände gegen seinen Mund presste und ängstlich vor sich

hinstarrte.

Das darf doch alles nicht wahr sein, als nächstes legt er mir hier noch ein

dramatisches Geständnis auf der Einfahrt ab.Vor Dietmar. Mark schüttelte

innerlich seinen Kopf.

„Ja komm, Dennis. Ist gut. Es ist nichts passiert. Geh jetzt bitte in

den Garten und mach das, was du mir eben sagen wolltest. Okay?

Weißt du was? Überrasch mich, gut?“ Mark lächelte und merkte, wie

seltsam sein Lächeln sich in seinem Gesicht anfühlte.

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Dennis drehte sich auf der Achse um und stakste davon, wie ein

Roboter.

Endlich, dachte Mark, jetzt noch Dietmar.

Er ging auf Dietmar zu, legte seinen Arm um seine Schultern und

ging ein paar Schritte mit ihm. Er kam sich vor wie ein

Autoverkäufer, der einem naiven Kunden das Geschäfts seines

Lebens versprach.

„Okay, pass auf“, begann Mark und zwinkerte Dietmar

verschwörerisch zu „Ich darf dir das eigentlich nicht sagen, aber ich

kann dir doch vertrauen, oder?“

Marks Psychologie-Stunde hatte begonnen. Er drückte sich

innerlich die Daumen, dass es funktionieren würde und sein Gehirn

arbeitete in Hochtouren.

Dietmar warf sich stolz in die Brust: „Aber Mark, ich bitte dich.

Natürlich kannst du mir vertrauen.“

Mark schlug Dietmar auf die Schulter, zugegeben ein wenig kräftiger

als nötig: „Das ist prima. Diese Pillen, die du dort gesehen hast,

werden nämlich den Bereich des Kleisterwesens revolutionieren,

mein Lieber.“

Er breitete seine Arme aus und strahlte Dietmar erwartungsvoll an.

Das Schauspiel, das Mark nun in Dietmars Gesicht begutachten

durfte, war es beinahe der Mühe wert.

Dietmar strahlte zunächst zurück, daraufhin bildeten sich vereinzelt

Grübelfältchen in seinem Gesicht und die Gesichtsakrobatik endete

in einem Ausdruck absoluten Unverständnisses.

Mark biss sich von innen auf die Wange, um nicht lachen zu müssen.

„Kleisterwesen? Ähm, ist das Kleister?“, fragte Dietmar und sah

Mark unsicher an.

„Das, mein Lieber, ist Tapetenkleister.“ Mark setzte alles auf eine

Karte, holte nochmal eine der Tüten heraus und hielt sie Dietmar

unter die Nase. „Hochkonzentriert. Ein Eimer Wasser, eine Pille

und du kannst 55 Quadratmeter damit tapezieren. Und, das Beste

ist, den Rest verdünnt man wieder mit Wasser und kann es über

seinen Abfluss entsorgen. Ist nämlich komplett wasserbasierend.“

Dietmars Grübelfalten verschwanden und machten Platz für ein

breites Grinsen: „Mensch, das ist ja toll. Wissen Sie, Kathrin möchte

gerne das Wohnzimmer neu tapeziert haben und…“

Mark hatte geahnt, dass sowas kommen würde und reagierte sofort:

„Verstehe ich Dietmar. Nur, davon kann ich Ihnen noch nichts

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geben. Das ist alles vom Chef abgezählt und ich habe es gestern aus

den Niederlanden besorgt. Die Niederländer sind uns in so vielen

Sachen kilometerweit voraus, meinen Sie nicht, Dietmar?“

Mark war stolz auf sich. Er konnte es noch. Er hatte immer noch

die Verkäufer-DNA in sich.

Dietmar schien überrumpelt: „Jaja, sicher. Die Holländer sind uns

schon um ein paar Jahre voraus. Aber, kommen Sie, Mark, als ob

Ihr Chef es bemerken würde, wenn ein oder zwei Pillen fehlen.“

Mark sah Dietmar streng an: „Ich möchte meinen Chef nur ungern

betrügen, Dietmar. Ich denke, dass Sie das verstehen.“

Punktlandung. Sieg auf ganzer Linie.

Dietmar antwortete beflissen: „Ja natürlich, Mark. Entschuldigen

Sie, bitte.“

Mark schlug Dietmar freundschaftlich auf den Rücken: „Keine

Sorge. Ich lass die Pillen heute über die Warenannahme ins

Betriebssystem einlisten und bringe Ihnen was mit. Es muss nur

seinen richtigen Weg gehen. Oder wissen Sie was? Ich bringe Ihnen

ein ähnliches Produkt von „Metylan“ mit. Davon haben wir sogar

noch kostenlose Probeexemplare und es ist noch besser.“

Mark stieg in sein Auto, startete den Motor und winkte strahlend

Dietmar zu, der hocherfreut zurückwinkte und zu seinem Haus

zurückschlenderte.

-

Teresa hasste es, wenn man sie morgens bereits hetzte. Sie

brauchte morgens zwei (am liebsten drei) Tassen Kaffee und

ungefähr 30 Minuten für sich, nur für sich. Dass sie diesen

„Luxus“ für sich in Anspruch genommen hatte, konnte sie an

einer Hand abzählen. Sie und Mark hatten sich mal auf einen

Handel eingelassen: Sie würde Dani anziehen, Dennis Dampf

unterm Hintern machen, damit er fertig wurde und würde sich

anschließend ums Frühstück kümmern, während Mark sich fertig

machen konnte. Anschließend wäre es seine Aufgabe, die Kids zur

Schule oder zum Schulbus zu begleiten.

Mark fand die Übereinkunft super und hatte es zwei- vielleicht drei

Mal genauso gemacht. Danach rutschte alles wieder in das alte

Schema zurück, welches so aussah, dass Teresa alles machte und

Mark lediglich seinen Kadaver aus dem Bett hievte, sich anzog,

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einen Kaffee trank und zur Arbeit fuhr. Für den ganzen Tag,

wohlgemerkt. Vorwerfen konnte sie es ihm nicht, nein falsch, sie

wollte es ihm nicht mehr vorwerfen. Immer dann, wenn sie sich

auch nur beklagte, dass er ständig durch Abwesenheit glänzte,

kassierte sie Sprüche wie: „Hallo? Ich fahre zur Arbeit, nicht auf

die Kirmes.“ Oder: „Du tust grad so, als wurde ich das alles zum

Spaß machen. Ich verdiene nur Geld…“

Sie hatte es irgendwann mal aufgegeben, sich zu beklagen. Im

Grunde genommen hatte er Recht, trotzdem fand sie, dass seine

Arbeit (so zeitintensiv sie auch war) ihm keinen „Familien-

Freifahrtschein“ gab, der ihm erlaubte, sich aus allem rauszuhalten.

Sie hatte weiß Gott auch keine Kirmes zu Hause. Sie hatte eine

ungeduldige, aktive Daniela zu versorgen und zu unterhalten und

einen pubertierenden Dennis, der momentan die „Alles ist

Scheiße“ Linie fuhr und nichts annahm, was Teresa ihm anbot:

Vom Essen bis zu den vorgeschlagenen Aktivitäten. Einfach alles

war scheiße für Dennis. Sie wusste, dass auch Mark nicht besser zu

Dennis durchdrang, aber warum musste sie sich neben all der

Hausarbeit und Dani auch noch um die Launen von Dennis

kümmern?

Gestern noch war Teresa erstaunt und hatte sich gefreut, weil

Mark auf die Idee gekommen war, Dennis mit zur Arbeit zu

nehmen. Ihr war es bewusst, dass Mark es mehr spontan

entschieden und nicht sonderlich intensiv bedacht hatte. Dennoch

begrüßte sie seine Entscheidung. Zum einen hatte sie damit

Dennis „vom Hof“ und zum anderen empfand sie die Botschaft,

dass er sich nicht „zur Belohnung“ für sein Fehlverhalten zu

Hause ausruhen durfte, angemessen und sah darin eine Lehre. Sie

hatte sich über Marks proaktive Unterstützung so gefreut, dass sie

ihm heute Morgen die spätnächtliche (eher fühmorgendliche)

Heimkehr verzeihen konnte. Aber auch die fürsorgliche Aktion

von gestern, so stellte sie ein wenig später fest, entpuppte sich als

eine einmalige Sache. Jetzt saß Dennis faul im Garten und spielte

an seinem Handy herum.

Teresa öffnete das Fenster: „Dennis?!“

Dennis sah noch nicht mal auf: „Was denn?“

„Hat Papa Dir nicht gesagt, dass du was zu tun hast? Ich denke,

mit dem Handy im Garten spielen gehört nicht dazu.“ Teresa

blickte auf die ihre Armbanduhr. 7:40 Uhr. Sie musste jetzt mit

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Dani los. Sie ärgerte sich. Den Bus hatten sie wieder einmal

verpasst, also musste sie Dani mit dem Auto zur Schule fahren.

Dabei hatte sie um 08:00 Uhr den Termin in der Bank.

Hatte Dennis etwas geantwortet? Sie wusste es nicht und eine

sonderlich geistreiche Antwort hatte sie ohnehin nicht erwartet.

„Ich fahr Dani jetzt zur Schule und danach zur Bank. Ich bin in

maximal zwei Stunden zurück.“, sagte sie durchs Fenster zu

Dennis, schloss das Fenster und rief lautstark ins Innere des

Hauses nach Dani: „Maus, wir müssen los.“

Nach ein paar Sekunden hörte sie die piepsige Stimme ihrer

Tochter von irgendwo im Haus: „Komme!“

Dieses Haus ist so groß, dass man nicht hören kann woher die Stimmen

kommen, dachte Teresa und gab gerne zu, dass sie Stolz dabei

empfand.

Sie hörte ihre Tochter die Treppe herunterkommen und griff zu

den Autoschlüsseln. Während sie zur Haustür schlenderte und ihre

Handtasche im Vorbeigehen schnappte, hoffte sie, dass der Tank

des SUVs von Mark nicht zu sehr geschröpft worden war, denn

Tanken passte jetzt nicht mehr in ihre Tagesplanung.

Sie schloss die Haustür und öffnete mit der Fernbedienung die

Zentralverriegelung des Autos. Dani stieg unverzüglich ein,

schnallte sich an und sang irgendwas von „Bibi & Tina“. Teresa

grinste und stieg hinters Lenkrad.

Als sie den Motor starten wollte und durch die Windschutzscheibe

sah, dachte sie, ihre Augen würden ihr einen Streich spielen. Sie

schaltete den Motor wieder aus, stieg aus, umrundete den Wagen

zur Motorhaube und blieb fassungslos davor stehen. Sie wusste

nicht, was sie von dem, was sie sah, halten sollte.

„Ach du Scheiße!“ ertönte es plötzlich neben ihr. Sie zuckte

zusammen und blickte erschrocken in Dietmars Gesicht. Dieser

Typ tauchte immer zur falschen Zeit völlig geräuschlos auf und

wusste offenbar immer, was er zu welcher Aktion sagen sollte.

Teresa stellte fest, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte und

schloss ihn beflissen: „Das kann man wohl sagen.“

Dietmar schüttelte fassungslos seinen Kopf und strich mit seiner

Hand über die zerkratzte Motorhaube: „Das wird teuer, Teresa

Süße. Was hat Mark damit gemacht?“

„Das möchte ich auch gern wissen.“, sagte Teresa und nahm sich

vor, nach dem Banktermin Mark anzurufen.

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-

„Wow, was du alles so erlebst.“ Hasan war ein sehr dankbares

Publikum. Als Mark von seinem Erlebnis mit Dietmar Husenkamp

berichtete, hörte er wie ein Kind am Lagerfeuer zu.

Mark lächelte: „Kann man wohl sagen. Aber irgendwie erlebe ich

das alles erst seit ein paar Tagen. Vorher war doch nicht sonderlich

viel los.“

Beide standen an einer brusthohen Palette mit Kleister- und

Farbprodukten.

Das kann dauern, dachte Mark und hob den ersten Karton von

unzähligen ab und entnahm die einzelnen Produkte.

Hasan stöhnte: „Also die nächsten zwei bis drei Stunden sind

schonmal gesetzt. Wer hat denn das alles bestellt?“

„Der Chef.“, murmelte Mark und entnahm zwei Verpackungen von

„Metylan Tabs“, erinnerte sich an das Versprechen, das er seinem

Nachbarn gegeben hatte und legte sich beide Verpackungen auf

seinem Abteilungstresen. Er würde sie später kaufen und Dietmar

als „Gratisprobe“ schenken. Damit wäre dieses Kapitel geschlossen.

Mark lächelte erleichtert.

Der ständig wiederholende Einkaufsradiosender unterbrach sich

und die Stimme von David Bergmann drang in die Verkaufsräume:

„Herr Sieger, bitte ins Büro, Herr Sieger bitte.“

Mark runzelte die Stirn und blickte auf seine Armbanduhr. Es war

8:15 Uhr und er und Hasan hatten bereits alle Türen geöffnet, die

Einkaufswagen von den Ketten befreit (eine Idee von Bergmann,

damit diese nachts nicht geklaut würden) und die riesige Palette aus

dem Lager geholt. Er war also schon mindestens eine halbe Stunde

hier und überpünktlich gewesen.

Was kann der Chef von mir wollen, fragte Mark sich, als er durch die

Verkaufsräume zum Büro von Bergmann schlenderte.

Er klopfte an der Bürotür, auf dessen Türblatt auf pompöse Art der

Name „David Bergmann“ stand. Während Mark auf das

allbekannte, schnodderige „Herein“ Bergmanns wartete, konnte er

sein Schmunzeln nicht unterdrücken. Wie deplatziert das aussah.

Wir befinden uns hier in einem Baumarkt und jede Tür auf diesem Flur sieht

gleich aus, außer der vom Chef. „David Bergmann“steht da. Mit

messingfarbenen, gotischen Buchstaben. Also Geschmack hat er AUCH nicht.

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„Herein“ klang es dumpf durch die Tür und Mark trat ein.

Das erste, was Mark realisierte, war Feist, der am Schreibtisch von

David Bergmann saß und Mark entgegengrinste.

Das Grinsen erinnerte Mark an seine Schulzeit. Es gab da diesen

einen Klassenkameraden, Mark überlegte wie der Name lautete.

Kevin, da war er sich ganz sicher, Kevin Braun. Dieser

Klassenkamerad hat alles und jeden sofort bei dem erstbesten,

griffbereiten Lehrer verpfiffen und genau dieses Grinsen in seinem

Gesicht getragen.

Aber was könnte dieses Grinsen auf Herbert Feists Gesicht

bedeuten?

-

Teresa stopfte wütend ihr Handy in die Handtasche zurück. Das

gibt es doch nicht, keiner ihrer Männer hielt es für nötig ans

Telefon zu gehen. Zuerst hatte sie es mehrmals bei Mark probiert.

Zum einen um zu erfahren, was mit der Motorhaube passiert war

und zum anderen was er generell letzte Nacht so getrieben hatte.

Er sollte nicht glauben, dass dieses Thema ausgestanden ist, auch

wenn sie ein nettes Stelldichein unter der Dusche hatten. Teresa

ärgerte sich ohnehin jetzt über ihre Reaktion. Sie hätte ihn gleich

zur Rede stellen sollen und ihn mit den Zärtlichkeiten nicht in

Sicherheit wiegen sollen. Aber es nutzte nichts, passiert ist passiert.

Dann musste sie es heute Abend halt nachholen und konnte seine

schlechte Erreichbarkeit direkt mitansprechen.

Danach hatte sie es auch mehrfach versucht, Dennis zu erreichen.

Ohne Erfolg. Dabei hing er mit seiner Nase immer nur Zentimeter

über dem Display seines Smartphones. Er muss ihre Anrufe

gesehen haben, daran gab es keinen Zweifel. Wut rumorte in ihrem

Körper oder war es bereits der Beginn zu einem Magengeschwür?

Sie hatte mal gelesen, dass Stress und Ärger ein Magengeschwür

entstehen lassen kann.

Sie saß nun bereits seit zwei Stunden in der Bank, weil ihr

Bankberater noch einen Kunden beriet und scheinbar nicht zum

Ende kam. Mehrmals kam er aus seinem Büro, hatte sich bei ihr

entschuldigt und versichert, dass er gleich Zeit für sie hätte und

wenn sie jeden Kaffee, den er ihr anbieten wollte, auch genommen

hätte, würde ihr Herz bereits im Rave-Takt galoppieren.

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Deswegen versuchte sie Dennis zu erreichen. Dani würde jeden

Moment aus dem Bus aussteigen und niemand wäre da, um sie

abzuholen.

Sie dachte nach, rang mit sich und entschied sich schweren

Herzens etwas zu tun, was sie eigentlich nicht machen wollte.

Sie wählte, es tutete und nach zirka drei Tönen erklang seine

Stimme: „Husenkamp?“

Teresa schloss die Augen: „Dietmar, gut dass Du ans Handy

gehst.“

Dietmar Husenkamp klang erfreut: „Teresa Süße! Tja, was soll ich

sagen? Du rufst an, ich geh ans Telefon. Das ist der ganze

Zauber.“ Er lachte.

Teresa lehnte ihren Kopf gegen die verputzte Wand, die Augen

immer noch geschlossen: „Kannst Du mir bitte einen Gefallen

tun?“

-

„Eine Abmahnung? Schon wieder?“ Mark schwirrte der Kopf. Er

überlegte. War es nicht erst vor ein paar Tagen gewesen, als er

seine erste Abmahnung bekommen hatte? Ihm wurde heiß und

kalt zugleich. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie sollte er das

Teresa erklären? Vor allem der Grund der Abmahnung machte

ihm Schwierigkeiten.

David Bergmann zuckte unbeeindruckt mit seinen Schultern: „Tja,

was soll ich sagen? Die einen sammeln Porzellanfiguren oder

Briefmarken, manche sammeln sogar DVDs und manche scheinen

Abmahnungen sammeln zu wollen. Wird allerdings keine

sonderlich ertragreiche Sammlung, Herr Sieger. Denn eine weitere

Abmahnung sorgt für Ihre Entlassung. Ich hoffe, dass Ihnen das

bewusst ist?“

Mark schaute von Bergmann zu Feist und wieder zu Bergmann.

„Das ist mir bewusst Herr Bergmann. Aber jetzt mal im Ernst, das

war ein harmloser Scherz dem Kollegen Feist gegenüber und

außerdem außerhalb unserer Dienst- und Öffnungszeiten. Wie

können Sie daraus eine Abmahnung machen? Für mich hat es den

Anschein, als würden Sie Partei ergreifen.“ Marks Stimme

verfestigte sich während seines Vortrags immer mehr, stellte er mit

Genugtuung fest. Wenn der gestrige Abend etwas Gutes hatte,

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dann dass er sich plötzlich nicht mehr duckte, sich nicht mehr alles

gefallen ließ.

„Ihr vorpubertärer Streich, so albern ich ihn auch finde,

interessiert mich wirklich kein bisschen, Herr Sieger. Wenn Sie sich

für diesen Streich aber aus meinem Geschäft bedienen, dann geht

mich das sehr wohl etwas an.“ David Bergmann bückte sich und

holte den Bluetooth-Lautsprecher vom letzten Abend unter dem

Schreibtisch hervor und platzierte ihn auf seiner Tischplatte.

„Kommt Ihnen diese Box bekannt vor?“

Mark zuckte mit den Achseln: „Ja, na und? Den haben wir gestern

Abend genutzt, um den Kollegen Feist ein wenig zu ärgern.“

Jetzt war es Bergmann, der stutzte: „Wir? Was meinen sie mit wir?

Wer war noch bei Ihnen? Hasan Borat etwa?“

Mark sah, dass das Grinsen in Feists Gesicht breiter wurde. Am

liebsten wäre er seinem gehässigen Kollegen ins Gesicht

gesprungen.

Was für ein erbärmlicher, mieser Wichser, dachte er und ballte eine

Faust in seiner Hosentasche.

„Ich!“, sagte Mark schnell. „Ich meinte, den habe ich gestern Abend

genutzt, um den Kollegen Feist zu ärgern.“

Mark sah Bergmann an, dass er ihm kein Wort glaubte und er war

sich sicher, dass er nun auch endgültig seinen Fokus auf Hasan

erweitern würde.

Bergmann zuckte seinerseits mit den Schultern: „Sei es, wie es sei.

Und Ihnen kommen diese Lautsprecher nicht bekannt vor, Herr

Sieger?“

NEIN! Bitte nicht, dachte Mark und zog es vor, zu schweigen.

„Die sind aus unserer Hi-Fi Abteilung, Herr Sieger. Ich habe den

Verdacht, dass Sie diese Lautsprecher dort entwendet haben. Jetzt

sieht es folgendermaßen aus: Reichen Sie mir den Kassenbon nach

und ich wandle die Abmahnung in eine mündliche Verwarnung

um. Haben Sie keinen Kassenbon, bleibt die Abmahnung

bestehen. Wenn es nach mir geht, fliegen Sie. Aber Sie wurden

beim Diebstahl nicht gesehen, weswegen ich damit nicht

durchkommen würde.“ Bergmann fixierte Mark mit kalten Augen.

„Sie dürfen gehen!“

Mark wandte sich der Tür zu.

„Moment noch!“, rief Bergmann und hielt eine Hand hoch,

während er die andere nachdenklich an seine Stirn hielt.

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Das ist die schlechteste Columbo-Nachahmung, die ich je gesehen habe und zu

dem schlechtesten Zeitpunkt überhaupt, dachte Mark und sah zu seinem

Erstaunen die Begeisterung in Feists Gesicht.

Feist applaudierte, lachte und hüpfte sogar leicht in seinem Stuhl:

„Das ist Quincy, Chef. Das machen sie aber super.“

Mark rollte mit seinen Augen: „Columbo, Feist. Quincy schneidet

Leichen auf. Columbo ist der grenzdebile Kommissar, der immer

in derselben Taktik und mithilfe seiner imaginären Ehefrau Fälle

löst, die wiederum auch alle gleich sind.“

Feists Lächeln fror ein.

Mark richtete sich an Bergmann: „Was ist denn noch?“

„Sagen Sie unten im Kollegium Bescheid, dass es heute

außerplanmäßig eine kurze Betriebsversammlung nach Feierabend

gibt. Dürfte nicht länger als zwanzig bis dreißig Minuten dauern.

Die Mitarbeiter dürfen auch später stempeln.“ Bergmann stand auf

und reichte Feist seine Hand. „Viel Erfolg, Heribert.“

Mark riss ungläubig seine Augen auf. Er ahnte, was das zu

bedeuten hat, fragte aber trotzdem: „Erfolg? Wobei soll Feist

Erfolg haben?“

Bergmann blickte abschätzig zu Mark, dann wieder zu Feist. Er

legte einen Arm um Feists Schultern und sagte: „Tja, Ihnen kann

ich es ja jetzt schon sagen. Wir öffnen eine Zweitfiliale in Bergisch-

Gladbach.“

Bitte lass Feist nach Bergisch-Gladbach gehen, dachte Mark.

Bergmann fuhr fort: „Deswegen wird meine Anwesenheit dort

mehr verlangt als hier. Der Laden hier funktioniert ja, zumindest

die meisten Abteilungen.“

Meine Abteilung ist wie geleckt, du Arschloch, dachte Mark. Jetzt wusste

er, was kommen würde.

Bergmann beendete seinen Vortrag und sah dabei Feist an: „Also

dachte ich mir, ich ernenne Heribert Feist zum stellvertretenden

Filialleiter. Nur so lange, bis der Umbau in Bergisch-Gladbach

abgeschlossen ist.“

Mark stutzte: „Und was passiert, wenn der Umbau fertig ist?“

Bergmann grinste: „Dann werde ich vermutlich in der neuen

Filiale bleiben und Heribert Feist wird vom stellvertretenden

Filialleiter zum Filialleiter.“

Mark muss dämlich ausgesehen haben. Mit offenem Mund und

glasigem Blick, denn Bergmann richtete sich nun direkt an Mark:

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„Herr Sieger, schauen Sie nicht so. Ich weiß, dass Sie noch immer

auf diese Position gewartet haben. Aber so eine Position verdient

man nur durch Leistung und nicht, weil man sich gut mit meinem

Vater verstanden hat. Ich hoffe, Ihnen ist das jetzt endlich bewusst.“

-

Mark hatte nicht damit gerechnet. Er hatte sich auch keine

Hoffnung gemacht und trotzdem war seine Enttäuschung spürbar.

Für ihn und auch für Hasan.

„Bist du sicher? Kein Kassenbon?“ Mark ließ seine Schultern

hängen.

„Arkadaş, ich habe mir das Ding letztes Jahr gekauft. Als wir

Mitarbeiterprozente hatten. Davon hab ich keinen Kassenbon

mehr. Reg dich ab, ich gehe jetzt zum Alten und sag, dass ich das

war.“

Mark trat frustriert gegen die Palette, die nach wie vor brusthoch

gestapelt war.

Hat er jetzt gar nicht weitergemacht, während ich beim Chef war?, dachte

Mark und schaute verärgert auf die gestapelten Kartons.

Hasan schien seinen Blick richtig zu deuten oder er las neuerdings

die Gedanken von Mark: „Alter, guck nicht so. Hier war grad ein

Kunde nach dem anderen. Tut mir leid, dass ich nicht

weitergekommen bin.“

Hasans Stimme schwankte zwischen Verteidigung und Angriff. Es

lag Streit in der Luft und das konnte Mark nun wirklich nicht

gebrauchen.

„Vergiss es, schon gut. Aber lass die Chef-Idee bitte fallen. Das

sieht sonst abgesprochen aus.“ Mark seufzte und griff zu einem

der nächsten Kartons um ihn zu entpacken und einzuräumen.

Hasan legte seine Stirn in Falten und nahm seinerseits einen

Karton und schnitt ihn mit seinem Sicherheitsmesser auf:

„Warum? Ich sag ihm einfach die Wahrheit. Nicht mehr nicht

weniger.“

Mark legte seine Hand auf Hasans Schulter: „Das weiß ich, das

weißt du. Aber ernsthaft: Wenn ich jetzt, circa fünfzehn Minuten

später, plötzlich zum Bergmann gehe und sage, dass es deine Box

und auch deine Idee war…“

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Hasan unterbrach Mark: „Du sollst gar nichts machen. Ich sage

doch, dass ich das mache.“

„Kommt auf dasselbe aus,“ fuhr Mark fort. „Wenn du ihm das jetzt

steckst, kommt Bergmann der Verdacht, dass ich dich vorschiebe

und hält mich nicht nur für einen Dieb und Feigling, sondern auch

für ein Kollegenschwein. Ich mich übrigens auch. Wir haben beide

dem Feist einen Streich gespielt und nur ich wurde erwischt.

Insofern haben wir ja beinahe noch Glück gehabt.“

Hasan sah Mark betrübt an: „Nein, mein Freund. Ich habe Glück

gehabt und du bist mal wieder in die Kacke getreten. Das finde ich

zum Kotzen.“

„Vergiss es. Komm wir machen hier weiter und reden über Filme,

okay? Das lenkt mich am besten ab. Wir haben uns beim letzten

Mal über Sylvester Stallone unterhalten, richtig? Was liegt da näher,

als über Arnold Schwarzenegger, seinem österreichischen

Konkurrenten zu sprechen?“ Mark lächelte und griff zu einem

besonders großen Karton, dessen Entnahme dazu führte, dass der

Palettenstapel instabil wurde und die Palette wie ein perforiertes

Luftkissen zusammenfiel. Mark lachte. Hasan lachte nicht: „Heute

nicht, mein Bester. Heute mache ich etwas ganz anderes.“

Hasan legte sein Sicherheitsmesser auf die zusammengesackte

Palette, richtete sein Namensschild (irgendwie theatralisch, dachte

Mark) und stampfte los, Richtung Sanitärabteilung.

Die Abteilung von Heribert Feist.

Mark ahnte, dass Hasan im Begriff stand, etwas Unüberlegtes zu

tun und wollte ihm hinterher, als sich plötzlich eine Hand auf

seinen Arm legte: „WO HABEN SIE BLUMEN?“

Eine kleine, alte Dame stand vor ihm und brüllte ihm ins Gesicht.

Mark schaute hastig durch die Regale, doch Hasan war bereits

außer Sicht.

Er wendete sich der Dame zu: „Wir haben keine Blumen.“

„WAS?!“ Die Dame schaute verständnislos.

„WIR HABEN KEINE BLUMEN!“ Mark erhöhte seine

Lautstärke, in der Hoffnung, nicht den ganzen Baumarkt zu

beschallen.

Irrtümlicherweise ging er davon aus, dass das Kundengespräch

damit erledigt wäre und versuchte seinen Weg fortzusetzen.

Offenbar war die Dame aber nicht zufriedengestellt, denn sie griff

wieder zu seinem Arm, dieses Mal kräftiger. Mark war erstaunt

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über so viel Kraft, betrachtete man das zierliche, kleine

Persönchen.

„NATÜRLICH HABEN SIE BLUMEN! WO SIE SIND WEISS

ICH NUR NICHT.“, schrie sie Mark an.

Mark gestikulierte, dass sie ein wenig leiser sprechen sollte, da legte

die Dame trotzig richtig los: „ICH BIN 89 JAHRE ALT UND

LASSE MIR VON IHNEN NICHT DEN MUND

VERBIETEN! ICH KANN JA WOHL EIN BISSCHEN

BEDIENUNG VON IHNEN ERWARTEN.“

Ein wenig weiter hinten hörte Mark Hasan („Ich war das, du

mieser, kleiner Wichser!“) brüllen und wurde nervös. Es folgte ein

Tumult, welcher sich offenbar von der Sanitärabteilung bis zur

Kasse erstreckte. Er hörte nämlich die Kassenkollegin Lisa

aufschreien.

Scheiße, dachte er und merkte, dass die Dame ihn nach wie vor

anstarrte und mittlerweile sogar an seinem Ärmel zupfte um

Aufmerksamkeit zu erhalten.

Mark hob seine Stimme: „DAS HIER IST EIN BAUMARKT,

WERTE DAME. WIR HABEN WERKZEUGE UND

ZUBEHÖR! KEINE BLUMEN UND KEINE PFLANZEN.“

Die Dame blickte sich verwirrt um. Plötzlich erhellte sich ihr Blick

und sie sah Mark mit einem triumphalen Ausdruck an: „UND

WARUM HÄNGT DA EIN SCHILD AUF DEM

GARTENABTEILUNG STEHT? SAGEN SIE MAL, KANN

ICH MAL IHREN CHEF SPRECHEN?!“

Der Tumult von der vorderen Region der Verkaufsräume hob an,

Marks Unruhe stieg und dennoch musste er sich der Kundin

widmen: „IN DER GARTENABTEILUNG FINDEN SIE

SACHEN UM IN IHREM GARTEN ZU ARBEITEN.“

Er ahmte schaufelnde Bewegungen nach, gefolgt von einem

Pantomimenspiel, welches das Rasenmähen darstellen sollte und er

kam sich dabei dämlich vor, aber zu seiner Erleichterung stellte er

fest, dass die Dame nickte.

Er stoppte und sah die Dame an: „SIE MEINEN

GARTENCENTER HUMBOLDT. DAS IST EIN STÜCK DIE

STRASSE RUNTER. DORT FINDEN SIE PFLANZEN UND

BLUMEN.“

Die alte Dame lächelte. Mark lächelte zurück.

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Sein Lächeln gefror als er hinter sich die Stimme von Bergmann

hörte: „Hören Sie sofort auf unsere Kunden anzuschreien! Was

fällt Ihnen ein.“

Mark drehte sich um und erklärte sich: „Herr Bergmann. Die

Dame ist schwerhörig.“

Die Dame stutzte: „WER IST DAS?!“

Mark wendete sich der Dame zu und rollte verschwörerisch mit

seinen Augen: „DAS IST MEIN CHEF!“

Bergmanns offensichtliche Verwirrung ließ Mark innerlich vor

Freude hüpfen. Getoppt wurde dieses Hochgefühl, als die Dame

zurück brüllte: „DER?! DAS SOLL EIN CHEF SEIN? VON

EINEM BAUMARKT?“

Sie schüttelte ihren Kopf.

Die Dame öffnete ihre bestickte Handtasche, kramte darin und

fand nach zirka drei Taschentüchern, einem Hustenbonbon und

einem Rosenkranz ihr Portemonnaie und kramte wiederum darin

herum. Dann drückte sie Mark ein Geldstück in die Hand, brüllte

„FÜR IHRE FREUNDLICHE HILFE!“ und watschelte davon.

Bergmann sah der Dame verständnislos hinterher und richtete sich

nun an Mark: „Was anderes: Was zur Hölle ist eigentlich hier

unten los?“

Nun geschahen zwei Sachen gleichzeitig. Mark öffnete die Hand,

um das Geldstück zu begutachten und Hasan kam zur Palette und

damit zu Mark zurück und verkündete mit stolzem Klang: „Dem

Feist hab ich schön aufs Maul gehauen.“ Gefolgt von den weniger

triumphalen Worten: „Oh, Herr Bergmann.“

Mark schaute auf das Zehn- Cent -Stück in seiner Hand und

seufzte.

-

Teresa nippte an ihrer Tasse Kaffee und musste sich beherrschen,

sich nicht zu schütteln. Noch nie hatte sie einen solch bitteren

Kaffee getrunken, wie konnte man so eine Brühe den Kunden

anbieten? Sie lächelte gezwungen, als ihr Bankberater gegenüber

Platz nahm.

„Und? Schon eingelebt?“ Er lächelte sie an und begann umgehend

in Unterlagen zu blättern.

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Als ob er mir damit deutlich zu verstehen gibt, dass es eine rhetorische Frage

ist und eine Antwort nicht nötig ist, dachte sie, lächelte aber brav

zurück und antwortete trotzdem: „Ja, danke sehr.“

Er nickte, als hätte er keine andere Antwort für möglich gehalten.

Nachdem er noch ein paar Seiten hin und her geblättert hatte,

schloss er seine Mappe und sah Teresa an.

Teresa stutzte, als sie seinen Blick sah. Was sollte sie daraus

schließen? Der Kredit war doch genehmigt, schon vor Monaten.

Warum sollte sie heute hier erscheinen?

Endlich fing der Berater an zu sprechen und trotzdem spürte

Teresa keine Erleichterung: „Nun, Frau Sieger. Ich fürchte, um

ihnen den Kredit final zu genehmigen, verdient ihr Mann zu

wenig.“

Teresa schnappte nach Luft: „Aber wir haben doch eine

schriftliche Bestätigung von ihnen erhalten. Der Kreditvertrag

wurde von beiden Seiten unterschrieben, oder? Daraufhin haben

wir daraufhin das Haus gekauft.“

Der Berater rümpfte die Nase und sah Teresa an: „Das hätten sie

nicht machen dürfen.“

Obwohl Teresa den Ernst der Lage nicht vollkommen überblickte,

wusste sie, dass etwas gewaltig schieflief.

Es musste damals alles einfach viel zu schnell über die Bühne

gehen, damit ihre Familie das Haus bekam.

Teresas Vater hatte angerufen, erzählte von dem Haus und

organisierte auch sofort ein Telefonat mit Johan Erker, einem

Freund ihres Vaters, welcher in dieser Bank für Kreditwesen

zuständig war.

„Dürfte ich bitte mit Herrn Erker sprechen?“, fragte Teresa und

begann in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch zu suchen.

Der Berater verzog teilnahmsvoll sein Gesicht: „Ich bedaure, Frau

Sieger. Herr Erker hat sich in seinem wohlverdienten Ruhestand

zurückgezogen. Es ist so.“ Er straffte sich: „Sie haben ein Gehalt

angegeben, das sich nicht mit dem deckt, was Ihr Mann tatsächlich

verdient. Das ist uns nun aufgefallen, weil sie auch das

Gehaltkonto ihres Mannes auf uns umgelagert haben. Wir, als

Bank, stufen das als Betrug ein und müssen den Kreditvertrag

somit fristlos kündigen.“

Sie erinnerte sich an das Telefonat. Johan Erker hatte nach dem

Verdienst von Mark gefragt und auch seine Bedenken geäußert,

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dann hatte er nach Perspektiven gefragt und Teresa erzählte ihm

davon, dass der alte Bergmann Mark eine höhere Position

versprochen hatte. Immer deutlicher erinnerte sie sich nun an das

Telefonat.

„Was denkst du, verdient er dann?“, hatte Johan, welchen sie seit

Kindheitstagen Onkel Jo nannte, sie gefragt.

Teresa dachte damals nach: „Ich schätze, so vier- bis

viertausendfünfhundert Euro brutto.“

„Na, das klingt doch schon besser.“, hatte Johan am Telefon

gesagt.

Teresa erzählte es dem Berater. Dieser runzelte die Stirn. Nach

einigen langen Sekunden seufzte er: „Ich persönlich glaube auch

nicht, dass Sie uns betrügen wollten. Sonst hätten Sie nicht die

Dreistigkeit besessen, auch das Girokonto bei uns umgelagert.

Dennoch muss ich Ihren Kreditvertrag kündigen. Weil ich Ihnen

die Geschichte aber glaube, kündige ich Ihnen mit einer Frist von

drei Monaten.“

Teresa schwirrte der Kopf: „Das ist zwar nett von Ihnen, aber ich

brauche den Kredit. Ich habe das Haus gekauft.“

Der Berater stand auf: „Ich verstehe das, Frau Sieger. Aber mir

sind da die Hände gebunden. Sie haben jetzt drei Monate Zeit, um

uns den Kredit zurückzuzahlen.“ Er reichte ihr seine Hand, sie

nahm sie zögernd entgegen. Sein Blick wurde weich: „Sehen sie

mal. Wenn Ihr Mann bis dahin die erzielte Position erreicht hat

oder den Job zu diesen Konditionen wechselt, bringen wir das in

Ordnung, versprochen.“

Mark muss innerhalb von drei Monaten sein Gehalt beinahe verdoppeln,

dachte Teresa und alles um sie herum schien sich zu drehen.

Sie ließ sich in den Stuhl zurückfallen, sie konnte auf diesen

gummiartigen Beinen nicht mehr stehen.

Der Berater, Max Gerhards las sie auf dem Namensschild auf

seinem Schreibtisch, beugte sich erschrocken zu ihr runter: „Frau

Sieger. Geht es Ihnen nicht gut?“ Hilfesuchend blickte er sich um.

„Hallo?! Kann mal jemand kommen, bitte?“, rief er aus seinem

Büro heraus um sich danach sofort wieder um Teresa zu

kümmern.

„Beruhigen Sie sich, Frau Sieger. Das bekommen wir schon hin.

Drei Monate sind in diesem Fall eine lange Zeit.“, sprach er auf

Teresa ein. Das letzte, was sie hörte war: „Ihr Mann ist doch nach

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den zehn Jahren im Betrieb sicherlich hoch angesehen und sitzt

stabil im Sattel und wenn der Senior ihm diese Position

versprochen hat, wird es mit Sicherheit möglich sein, die

Beförderung vorzuziehen. Er steht sich doch gut mit seinem Chef,

oder?“

Danach wurde alles dunkel. Schwarz.

-

„Ich habe noch nie eine Abmahnung bekommen.“ Hasan nölte

Mark schon seit geraumer Zeit die Ohren voll, während Mark sich

darauf konzentrierte, die Straße von der vergangenen Nacht

wiederzufinden. Hasan konnte man momentan sicherlich nicht als

Navigator nutzen. Er war viel zu beschäftigt damit, sein Schicksal

an den Pranger zu stellen.

Mark seufzte: „Jetzt beruhig dich mal. Es ist nur eine Abmahnung

und da du so einen Blödsinn nicht wiederholst, wird sie auch bald

gelöscht sein.“

„Na du kennst dich ja aus.“ Hasan ranzte Mark an und Mark stellte

fest, dass es zwischen ihm und Hasan noch nie Streit gegeben

hatte, noch nicht mal Meinungsverschiedenheiten. Auf einmal

wurde alles anders in Marks Leben.

Die vergangene Woche begann an Mark zu saugen wie ein

übergroßes blutsaugendes Insekt. Er wollte nur noch alles in

Ordnung bringen, die Kartons abliefern, den Rest mit Geld

ausgleichen und dieses Kapitel schließen.

Danach würde er sich sofort um die Familie und speziell Dennis

kümmern und schlussendlich seinen Job wieder ins rechte Licht

rücken.

Eine Woche. Es war nur eine Woche Chaos, und er vermisste jetzt

schon sein „altes Leben“.

Er wandte sich Hasan zu, um sich zu entschuldigen, da kam Hasan

ihm zuvor: „Sorry arkadaş. Ich hab das nicht so gemeint.“

Mark grinste und sah wieder Licht am Ende des Tunnels.

„Wollte ich auch grad sagen. Tut mir leid, wie das für dich gelaufen

ist. Glaub mir, du bekommst keine Abmahnung mehr. Wir

machen ab morgen Dienst nach Vorschrift. Nicht mehr auffallen,

Witze auf die Mittagspause verlagern und weißt du was, wir bauen

morgen die Lacke so um, wie der Alte das schon seit Wochen

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wollte. Hört sich nach Geschleime an, das weiß ich. Letzten Endes

ist es aber unser Sieg, weil wir sowohl dem Bergmann, als auch

dem dämlichen Feist die Angriffspunkte immer mehr wegnehmen.

Was hältst du davon?“

Hasan grinste: „Gute Idee, schlecht verkauft. Natürlich ist das

Geschleime, aber ich bin dabei.“

Hasan schaute anschließend zum ersten Mal aus dem Fenster:

„Arkadaş, wo fährst du eigentlich hin? Ich glaube, wir sind noch

nicht mal mehr in Köln.“

Mark zuckte die Schultern und grinste, worauf Hasan anfing

schallend zu lachen.

Wir schaffen das, dachte Mark, ließ sich vom Lachen anstecken und

wendete den Wagen.

-

Viktor schloss die Deckel der vier Kartons, holte tief Luft und sah

Mark und Hasan groß an: „Könnt ihr mir mal sagen, wie ich das

Zeug jetzt loswerden soll?“ Er ließ sein Feuerzeug aufflammen

und löschen. Aufflammen und löschen.

Mark räusperte sich: „Nun ja, also ehrlich gesagt, Viktor, hab ich

keine Ahnung. Aber ich finde, das ist auch nicht unser Problem.“

Mark war sich nicht sicher, ob Viktor überhaupt in den letzten drei

Minuten gelächelt hatte, aber falls in seinem Gesicht eine Spur

eines Lächelns gewesen war, so war es nun vollkommen

verschwunden.

„Wie bitte?“ Viktor richtete sich auf. Er ließ sein Feuerzeug

aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen. Das

Gemurmel in der Wohnung auf dem Kölnberg wurde lauter.

Viktors „Mannschaft“ wurde nervös und steckte sowohl Mark als

auch Hasan an.

Mark ruderte zurück: „Versteh mich nicht falsch, Viktor. Ich kann

deine Probleme nachvollziehen.“

„Ich habe nie Probleme.“ Viktor wurde laut. „Ich mache Probleme,

Sieger.“

Mark zwang sich, ruhig zu atmen: „Ja, ich weiß. Aber mal ehrlich,

du hast das ganze Zeug einem Jugendlichen, der mitten in der

Pubertät steckt und sich auf wahnwitzige Weise behaupten wollte,

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in die Hand gedrückt. Du hast doch nicht wirklich mit einem

erfolgreichen Verkauf gerechnet, oder?“

Mark sah sich um und fuhr fort: „Du hast hier die kompetenteren

Leute, die sich darum kümmern können.“

Viktor grinste: „Die sind alle völlig ausgelastet. Das Management

meines Teams musst du schon mir überlassen.“ Er ließ sein

Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.

Mark ließ die Schultern hängen: „Kannst du mir nicht einfach

sagen, wieviel von den Pillen und anderen Drogen fehlen und ich

zahl dir das aus?“

„Zehntausend Euro.“ Viktor überlegte noch nicht einmal, er

sprach die unverschämte Forderung einfach aus.

Mark lachte auf: „Was? Niemals.“

Viktor straffte seinen Körper und sah Mark ohne jeglichen Humor

an: „Ich bekomme von dir zehntausend Euro.“

Mark wehrte sich: „Das ist doch willkürlich, was du da sagst. Wie

willst du mir das beweisen?“

Viktor grinste: „Gar nicht. Hier geht es nicht um Beweise. Hier

geht es nicht um Recht und Unrecht. Keine Zeugen, kein Alibi

oder sonst welche gerichtlichen Grundlagen. Ich sage, ich bekomme

zehntausend Euro von dir. Punkt. Du stehst nicht vor Gericht, du

bist bei mir.“ Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.

Aufflammen und löschen.

-

Teresa ließ Mantel und Handtasche auf den Boden des Flurs fallen

und eilte ins Wohnzimmer.

„Dietmar? Dani? Dennis?“, rief sie im Wechsel und erschrak über

ihre eigene, laute Stimme, die durch den Flur hallte.

Hier müssen unbedingt Teppiche hin, dachte sie unwirsch und riss die

Tür zum Wohnzimmer auf. Leer.

„Hallo? Wo seid ihr?“, rief sie lauter und versuchte ihre Hysterie

weitestgehend aus ihrer Stimme zu verbannen. Es gelang ihr nicht

sonderlich gut.

Sie eilte die Treppe nach oben, klopfte nur nebenher an Danis Tür

an und öffnete sie im gleichen Moment. Leer.

Das gibt es doch nicht, dachte sie und blickte auf ihre Armbanduhr.

Es war 21:12 Uhr, eigentlich eine Uhrzeit, über die sie sich sonst

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immer freute. Sie mochte solche Zahlenspiele, wenn man zufällig

auf die Uhr sah. Elf Uhr elf oder zwölf Uhr vierunddreißig. Als sie

ein Teenie war, mochte sie solche Zufälle so sehr, dass sie es sich

in einem kleinen Heftchen notierte, wenn sie auf solche Uhrzeiten

stieß.

Jetzt konnte sie sich nicht dafür begeistern. Sie verstand nicht, was

hier los war.

Hatte Dietmar Dani nicht von der Bushaltestelle abgeholt? Das

wäre eine Katastrophe. Das würde bedeuten, dass sie nicht wüsste,

wo Dani war.

Sie öffnete die Tür zu Dennis‘ Zimmer. Leer.

Sie griff zu ihrem Handy, um Dennis anzurufen.

Seitdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie

es bei Dennis, Mark und auch bei Dietmar probiert. Niemand

nahm den Anruf entgegen.

Auf dem Weg nach Hause hatte sie sich bereits eine Standpauke

(zumindest für Mark und Dennis) zurechtgelegt.

Es konnte nicht sein, dass die Beiden ein Handy hatten und

trotzdem nicht in der Lage waren, ranzugehen wenn es klingelte.

Jetzt gab es aber Wichtigeres. Wo waren alle?

Einem inneren Impuls folgend, eilte sie die Treppe wieder hinab

und öffnete die Haustür. Sie lief praktisch in die Arme von

Dietmar, welcher selber erschrocken grunzte und mit weit

aufgerissenen Augen Teresa anstarrte.

„Hoppla. So schnell unterwegs, Frau Nachbarin? Alles in

Ordnung?“ Dietmar strahlte sie an und tat dabei so, als wäre es ein

ganz normaler Abend wie jeder andere.

Teresa versuchte sich zu sammeln: „Guten Abend Dietmar, ich

wollte gerade kommen. Sind meine Kinder bei euch?“

„Ja, was denkst du denn?“, sagte Dietmar und sah Teresa erstaunt

an.

Teresa ärgerte sich über die Selbstverständlichkeit, die von

Dietmar ausgestrahlt wurde. Wie konnte er so selbstgefällig sein?

„Warum sind sie denn bei euch?“, presste sie zwischen ihren Zähne

durch und blickte dabei provokativ auf ihre Armbanduhr.

Dietmar stutzte: „Teresa Süße.“

HÖR AUF MICH SO ZU NENNEN, dachte Teresa und merkte,

wie ihre Wut stieg.

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Einerseits wollte sie ihren Frust und ihre Wut deutlich zeigen,

andererseits wollte sie sich zurückhalten und versuchte, ein

gequältes Lächeln hinzubekommen.

Dietmar fuhr fort: „Du hattest mich angerufen, ob ich Daniela von

der Bushaltestelle abholen könnte. Als du nach drei Stunden

immer noch nicht zurück warst, haben wir die beiden rüber geholt.

Sie mussten schließlich was essen und Daniela musste ihre

Hausaufgaben machen.“

Teresa nickte und wollte es auf sich beruhen lassen. Überrascht

stellte sie die Selbstständigkeit ihrer Zunge fest, die unkontrolliert

„Und wir haben hier nichts zu essen, oder wie soll ich das

verstehen?“ losfeuerte, ohne dass sie diese Worte vorab filtern

konnte.

Dietmar starrte sie eine Weile an.

Ist er jetzt vor dem Kopf gestoßen? Vielleicht sogar beleidigt? dachte sie und

fühlte sich bereits schuldig.

Nach einer Weile prustete Dietmar aber vor Vergnügen und

tätschelte Teresas Schulter: „Du bist gut. Was hättest du davon

gehalten, wenn ich oder Kathrin eure Schränke nach Vorräten

durchsucht und in eurer Küche gekocht hätten? Wo unsere Küche

doch nur ein paar Schritte entfernt ist? Nein, nein, Kathrin kocht

ohnehin jeden Tag frisch. Heute hat sie halt ein wenig mehr

gekocht und währenddessen hab ich mit Daniela die

Hausaufgaben gemacht. Ihr habt ein wahnsinnig schlaues

Mädchen, wisst ihr das?“

Teresa ärgerte sich wieder, dieses Mal jedoch über sich selbst. Ihre

vorwurfsvolle Art gegenüber dem Menschen, der ihr heute

geholfen hat, konnte sie sich selbst nicht erklären.

Ja, Dietmar und Kathrins Entscheidung war ein wenig übergriffig

und hätte abgesprochen werden müssen.

Aber mit wem, dachte sie. Niemand war erreichbar gewesen. Weder

sie, weil sie wie eine Drama-Queen in der Bank zusammenbrach,

noch Mark, der sich offenbar an einem Rekord der

„Unerreichbarkeit“ versuchte.

Sie seufzte: „Entschuldige bitte, Dietmar. Das war nicht mein Tag,

wirklich nicht.“

Dietmar legte seine Hand auf ihre Schulter: „Das kann ich mir

denken. Komm. Bevor wir hier die ganze Zeit in deiner Haustür

herumlungern, gehen wir lieber zu uns. Als Kathrin sah, dass du

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nach Hause kamst, begann sie bereits das Essen von heute

aufzuwärmen. Es ist noch jede Menge übrig.“

„Danke, aber ich muss die Kinder ins Bett bringen. Dennis ist

zwar schon größer, aber Daniela muss unbedingt ins Bett. Sie hat

morgen wieder Schule.“

Dietmar lachte: „Die beiden schlafen schon längst.“

Teresa wunderte sich: „Nein. Ich war eben in beiden Zimmern

und da war niemand.“ Eine Vorahnung breitete sich aus und

wurde kurz darauf von Dietmar bestätigt.

„Sie schlafen bei uns.“ Dietmar lächelte und drehte sich um, um

voraus zu gehen.

Teresa blieb wie angewurzelt stehen: „Was meinst du damit? Bei

euch?“

Dietmar drehte sich wieder zu ihr: „Bei uns. Wir haben zwei

Gästezimmer. Komm jetzt, mir wird es langsam zu ungastlich hier

draußen. Der Herbst wird, langsam aber sicher, zum Winter.“

Teresa folgte ihm wie ferngesteuert und ihre Gedanken kreisten.

Sie dachte ans Zähneputzen, ausziehen, Schlafanzug anziehen und

zu Bett gehen. Ans Vorlesen, zudecken und das Gute-Nacht-

Küsschen. An die innige Umarmung vor dem Schlaf, der lieben

Worte, die sie immer mit ihren Kindern austauschte, bevor sie das

Zimmer verließ.

Hatten ihre Kinder das heute Abend alles mit den neuen und recht

unbekannten Nachbarn gemacht?

Über all diese verwirrenden Gedanken schob sich nun ein

Gedanke, der sie ablenkte und gleichzeitig wütend machte:

Wo, zur Hölle, war eigentlich Mark?

Mark blickte ungeduldig auf seine Armbanduhr. Es war bereits

kurz vor zehn: „Ich weiß jetzt nicht, was das soll, Viktor. Wir

haben uns doch gestern darauf geeinigt, dass ich dir die anderen

drei Kartons bringe und es damit erledigt ist.“

Viktor lächelte nicht mehr, auch ein überhebliches Grinsen war

nicht mehr zu sehen: „Erstens: Das waren deine Worte. Ich habe

dem nie zugestimmt. Ich habe dir lediglich gesagt, dass drei

Kartons fehlen. Zweitens: Selbst, wenn ich über Nacht meine

Meinung ändere, dann ist das einfach so. Punkt. Fakt ist: Ich kann

-

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diese Drogen nicht unter die Leute bringen und dein Sohn

versicherte mir, dass er es könnte. Das bringt mich nun zu der

Feststellung, dass du dich darum kümmern musst, das alles zu

verkaufen.“ Er machte eine ausladende Geste und deutete damit

auf die vier Kartons.

Als würde ich nicht wissen, was er meint, dachte Mark.

Er hatte genug: „Ja toll, mach ich aber nicht.“

Er klang wie ein bockiges Kind und fühlte sich auch so.

„Dann haben wir ein Problem.“, stellte Viktor nüchtern fest. „Und

bedenkt bitte, dass Arda sich für seinen Cousin stark gemacht hat.

Wenn das also so laufen soll, dann hat natürlich auch Arda ein

Problem, ganz zu schweigen von Dennis.“

Hasan, der für seine Verhältnisse sehr lange, sehr leise gewesen

war, meldete sich mit einem triumphalen Ausruf zurück und

besiegelte damit endgültig das Schicksal, das Mark nun erwarten

würde.

„Darknet! Wir können das Zeug übers Darknet verticken!“ Hasan

breitete die Arme aus und blickte umher, um von irgendeiner Seite

eine Anerkennung oder mindestens eine Bestätigung zu erhalten.

Sie blieb aus.

-

Mark konnte kaum sehen und kniff seine Augen zu Schlitzen, als

ob das etwas ändern würde. Insgeheim lachte er immer über

solche Angewohnheiten, die Menschen an den Tag legten.

Wenn man schlecht sah, kniff man die Augen zusammen. Wenn es

regnete, zog man, wie eine Schildkröte, seinen Kopf auf seine

Schultern zurück und senkte den Blick. Wenn man etwas in weiter

Ferne erkennen wollte, machte man den „Indianer-Blick“ indem

man seine Handfläche über die Augen hielt, auch wenn die Sonne

hinter einem stand.

Er fand so ein Verhalten ulkig und erwischte sich jedes Mal dabei,

sich auch so zu verhalten.

So wie jetzt.

Die A61 war beinahe leergefegt. Kein Wunder, wenn man die

Uhrzeit betrachtete.

Es war 3:53 Uhr. Mitten in der Woche. Sein Wecker wartete

bestimmt schon, in seinen Modulen hämisch grinsend auf ihn,

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damit er Mark um Punkt 6:30 Uhr wieder aus den Federn läuten

konnte.

Und wenn er an Teresa dachte, meldete sich grummelnd sein

Magen.

Als er nach dem erfolglosen Treffen mit Viktor zu seinem Wagen

zurückgekehrt war, griff er nach einer gefühlten Ewigkeit erst

wieder zu seinem Handy und stellte sechs verpasste Anrufe fest.

Beinahe alle von Teresa, nur einer war von seinem Nachbarn

Dietmar.

Er war sich sicher, dass die Zeit der Geduld von Teresas Seite her

nun vorbei war. Dieses Mal kam er nicht an eine Erklärung vorbei,

das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Was sollte er ihr sagen? Mark wusste es nicht. Er hatte noch eine

Fahrt von ungefähr 40 Minuten vor sich, trotzdem war er sich

sicher, dass ihm bis dahin nichts Beruhigendes oder zumindest

Erklärendes einfallen würde.

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, so konnte er sich selbst den

Abend nicht rechtfertigen.

Alles war umsonst gewesen, mehr noch, er hatte das Gefühl, als

hätte er sich noch viel tiefer in den Schlamassel bugsiert als zuvor.

Und dann kam Hasan noch mit seinem „Darknet-Vorschlag“ um

die Ecke und schleuderte damit Mark und ihn selbst in eine Lage,

die momentan nicht auszumachen war.

Noch nie war Mark so wütend auf Hasan gewesen. Er war sich

sogar sicher, dass er noch nie auf überhaupt jemanden so wütend war,

wie eben noch auf Hasan.

„Hast du überhaupt eine Ahnung von dem Darknet?“, hatte er ihn

auf dem Weg zu Hasans Wohnung gefragt und versucht seine

bebende Stimme im Zaun zu halten.

Hasan war sich seines überstürzten Handelns bewusst und

antwortete deutlich kleinlaut: „Ich nicht, aber ein Cousin von mir

schon.“

Mark verdrehte sie Augen und fuhr Hasan barsch über seinen

Mund: „Verschone mich bitte mit deinen Cousins! Hast du eine

Ahnung, was du da gerade gemacht hast? Wir wären da auch

anders herausgekommen, aber du musstest ja unbedingt dieses

scheiß Darknet vorschlagen. Ich habe dir schon immer gesagt, du

guckst zu viele Filme. Schlechte Filme, möchte ich dazu sagen und

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das größte Problem ist: Du kannst nicht zwischen Film und

Realität differenzieren.“

Hasan verhielt sich ruhig, zu ruhig fand Mark. Mark wollte

unbedingt Dampf ablassen, doch Hasan zog nicht mit.

Den Frust, welcher sich durch den verwehrten Streit nur noch

steigerte, spürte Mark immer noch, während er sein Auto auf eine

Raststätte lenkte.

„Bedburger Land“, las Mark laut und griff in das Seitenfach der

Fahrertür, wo sein Portemonnaie verstaut lag.

Es war jetzt schon so spät, dass es auch nichts mehr ausmachte,

wenn er sich einen Kaffee und einen Schokoriegel aus der

Tankstelle holen würde.

Er parkte vor der Zapfsäule und verließ sein Auto, um ins Innere

der Raststätte zu gelangen.

Dabei dachte er weiter über das Gespräch mit Hasan von eben

nach, welches sich leider noch zu einem Streit entwickelt hatte.

Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Seine unterdrückte Wut

war unkontrolliert ausgebrochen und er hatte Hasan angeschrien,

was er nun bereute.

Er hatte ihm alles vorgeworfen: Seine Darknet-Idee, die er

offenbar irgendwo aufgeschnappt hatte, ohne Erfahrungen

darüber zu besitzen, wie man damit umgeht. Sein Einmischen ins

Gespräch und generell sein Einmischen in die ganze

Angelegenheit.

Der letztere Vorwurf war unfair, dessen war sich Mark bewusst.

Immerhin hatte Mark Hasan gebeten, sich mit Dennis zu

unterhalten und er kannte Hasan zu gut, um überrascht zu sein,

dass Hasan sich komplett dem aktuellen Problem widmete.

Mark trat wütend in eine leere Cola-Dose, die besitzerlos neben

einer Zapfsäule stand.

Nun ärgerte er sich über sich selbst. Er hatte alles an Hasan

ausgelassen, obwohl der es nur gut gemeint hatte.

Das betretende Schweigen Hasans, welches die einzige Reaktion

auf Marks Vorwürfe war, belastete Mark und drückte noch mehr

auf sein Gemüt.

Er nahm sich vor, sich morgen bei ihm zu entschuldigen und trat

in die Gaststätte ein.

Die Wärme in der Raststätte tat ihm gut. Der Geruch nach Kaffee

und sein Vorsatz, den Streit mit Hasan spätestens morgen zu den

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Akten legen zu können, ließ Mark lächeln und er fand für kurze

Zeit so etwas wie eine innere Ruhe.

Er schlenderte zu dem Vollautomaten. Diese gigantischen

Maschinen konnte man in mindestens jeder zweiten Raststätte

finden und Mark liebte den Cappuccino aus diesen Ungetümen.

Die Raststätte war groß und Mark würde wetten, dass es hier

niemals so wirklich menschenleer werden würde.

Trotzdem war er überrascht, so wenige Menschen hier

anzutreffen.

Im Restaurantabteil der Raststätte saß ein alter Mann, tief gebückt

über eine Zeitung und schlürfte dann und wann aus einer Tasse.

Zwei Jugendliche standen zwischen den Regalen, die mit Chips

und Süßigkeiten gefüllt waren.

Offenbar waren sie sich nicht einig, mit welchem Produkt sie sich

ihrem Heißhunger widmen sollten, denn sie diskutierten nun

schon eine Weile und tauschten immer wieder den Inhalt ihrer

Hände aus.

Mark grinste und fand Gefallen daran, das Nachtleben einer

Raststätte zu beobachten.

An der Kasse saß ein junger Mann und starrte gebannt auf den

Bildschirm eines Laptops.

Er sah so aus, als würde er von dem Geschehen innerhalb der

Verkaufsräume nicht viel mitbekommen.

Mark lehnte sich gegen den Kaffeeautomaten und ließ seinen

Gedanken freien Lauf. Er fühlte sich wunderbar entschleunigt und

hatte es plötzlich nicht mehr eilig nach Hause zu kommen.

„Dürfte ich mal?“ Die Frage riss Mark aus seinen Gedanken und

er zuckte zusammen.

Ein freundlich aussehender Mann mit einer rahmenlosen Brille

stand vor ihm, auf seinem Sakko fiel das Emblem der

Kaffeeautomaten-Marke auf.

Mark trat einen Schritt zur Seite und überließ dem Mann den

Automaten.

„Ich kann gerne warten, wenn sie sich gerade einen Kaffee ziehen

wollten.“, sagte der Mann und zwinkerte Mark mit einem breiten

Lächeln zu.

Mark lächelte zurück: „Ich hab es nicht eilig.“

Der Mann zuckte mit seinen Schultern: „Okay, danke sehr.“

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Er öffnete seinen kleinen Aktenkoffer, holte ein kleines Gerät

hervor und legte es neben der Maschine auf einem Stapel

Coladosen ab.

Dann durchwühlte er seine Hosentaschen und zog einen Schlüssel

hervor mit dem er die Abdeckung der Maschine öffnete und diese

zur Seite schwang.

Er sah Mark neugierig an: „Ärger zu Hause?“

Mark fühlte sich überrascht, verstand aber trotzdem, warum der

Mann ihm diese Frage stellte.

Verlegen rieb Mark sich an seinem Nacken und blickte zu Boden:

„Momentan nicht, aber es wird Ärger geben. Das ist das einzige,

was ich momentan mit Sicherheit von meiner näheren Zukunft

behaupten kann.“

Der Mann schloss mit einem Kabel das kleine Gerät an die

Maschine an und drückte ein paar Knöpfe. Der Vollautomat

begann zu brummen und der Mann lehnte sich mit seiner Schulter

gegen das Gehäuse des Vollautomaten: „Das klingt ganz schön

düster. Mein Name ist Töpfer. Harald Töpfer.“

Er reichte Mark die Hand. Mark griff zu und lächelte: „Angenehm.

Ich bin Mark, Mark Sieger.“

Harald strahlte: „Wow, was für ein Name. Mit so einem Namen

müssten dir die Türen eigentlich offenstehen.“ Er lachte und

widmete sich wieder seiner Aufgabe. Er gab ein paar kurze Befehle

in sein kleines Display ein und die Maschine begann Wasser

abzupumpen.

Mark grinste, damit seine folgenden Worte nicht zu jämmerlich

klangen: „Naja. Müsste sollte dürfte. Leider habe ich seit einiger

Zeit eher das Gefühl, als würde sich eine Tür nach der andern

schließen.“

„Privat oder beruflich?“ Harald war nur dumpf zu hören, weil ein

Teil seines Oberkörpers in der Maschine steckte um darin etwas zu

überprüfen oder zu korrigieren, Mark konnte es nicht erkennen. Er

überlegte kurz und sinnierte daraufhin lautstark: „Eher beruflich,

aber das kann über kurz oder lang ins Private übergreifen.“

Harald schraubte seinen Oberkörper wieder aus der geöffneten

Maschine heraus und sah zufrieden aus: „Sauber! Das ging schnell

heute.“ Er sah Mark an: „Ich verstehe genau, was du meinst. Du

bist im Handel, oder? Einzelhandel? Großhandel?“

Mark stutzte, stand Verkäufer auf seiner Stirn verewigt?

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„Einzelhandel“, sagte er und ärgerte sich, dass es so klagend über

seine Lippen kam. Er wollte nie offen über seinen Job klagen, weil

er es für erbärmlich hielt.

Harald lachte und schlug Mark kameradschaftlich auf die Schulter.

Es war kein unangenehmes Lachen, mein Auslachen.

„Ich weiß genau, was Du meinst. Ich habe das auch alles

mitgemacht, war jahrelang im Verkauf und habe den ganzen Frust

mit nach Hause gebracht. Ich brachte viel zu viel Frust und viel zu

wenig Geld mit nach Hause. Es hat mich eine Ehe gekostet, bis ich

das begriffen habe.“

Mark bemerkte jetzt erst, dass er Harald mit offenem Mund

anstarrte und schloss ihn abrupt. Seine Zähne schlugen

aufeinander und gaben ein leises „Klack“ von sich. Natürlich

sorgte auch seine Müdigkeit für seinen glasigen Gesichtsausdruck,

aber es lag mehr an dem, was Harald ihm sagte und vor allem wie

er es ihm sagte.

Er strahlte so viel Selbstbewusstsein aus, dass Mark sich

automatisch in seinen Bann gezogen fühlte. Mark musste einfach

mehr wissen.

„Und was hast du dann gemacht?“, fragte er und schielte auf das

kleine Gerät in der Hoffnung, das Ende der scheinbaren

Inspektion der Maschine ablesen zu können. Er wollte jetzt

unbedingt einen Cappuccino.

Harald schien sein Schielen deuten zu können, denn er grinste ihn

an und schloss die Maschine, nachdem er das Kabel gelöst und

wieder um das Handgerät gewickelt hatte.

„Ich gebe einen aus. Milchkaffee?“ Harald stellte einen Becher

unter die Düse und schwebte mit einem Finger über die Tasten des

Vollautomaten.

„Cappuccino“, sagte Mark und beobachtete Harald. Dieser grinste

wiederum und sagte: „Nimm Milchkaffee, vertrau mir.“

Er wählte „Milchkaffee“ und während der Automat das Getränk

zubereitete, richtete er sich wieder an Mark: „Cappuccino ist hier

in dieser Maschine beinahe dasselbe, die Milch wird nur

geschäumt.“

Das klang logisch für Mark: „Ich mag das aber, wenn es geschäumt

ist.“ Mark kam sich ein wenig vor, wie ein bockiges Kind.

„Wenn Du aber wüsstest, dass Cappuccino sehr selten gewählt

wird?“

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Mark zuckte mit den Schultern. Harald fuhr fort: „Das bedeutet,

der Milchschaum von der letzten Zubereitung liegt oft Stunden

zurück und ich muss dir nicht erklären, was mit Milch passiert, die

lange steht, oder? Die ersten Milliliter sind nämlich immer von der

Anwendung zuvor. Bei Milchkaffee ist das anders. Da wird nach

jeder Anwendung gespült. Glaub mir, du schmeckst auch kaum

einen Unterschied. Trink deinen Cappuccino lieber in einem

Café.“

Mark nippte an dem Milchkaffee und gab Harald recht. Es

schmeckte zwar nicht wie versprochen, aber sehr ähnlich.

„Ich habe meinen Job gewechselt, ganz einfach.“, sagte Harald,

verstaute seine Utensilien und sah Mark an.

Mark brauchte einen Moment um zu begreifen, dass Harald seine

gestellte Frage beantwortete.

„Und jetzt wartest du diese Maschinen?“, fragte Mark schnell um

deutlich zu machen, dass er zuhörte. Leider stellte er zu spät fest,

dass seine Aussage abwertender klang als beabsichtigt.

„Macht es Spaß?“, schob er noch schnell hinterher, um seine

wertungsfreie Absicht zu versichern.

Harald nahm ihm scheinbar sein Spruch nicht übel, denn er lachte

herzlich: „Das? Ich überprüfe heute nur die Maschinen, die ich

schon in meiner Region gesetzt habe. Wenn diese Maschinen

gewartet werden müssen, melde ich das bei der Zentrale an und

ein Monteur taucht hier morgen auf. Nein, ich bin im Vertrieb und

verkaufe die Maschinen. Ist ein Selbstläufer, glaub mir.“

Mark nippte an seinem Milchkaffee, er schmeckte ihm immer

besser, und sah Harald interessiert an.

„Das heißt, du fährst Raststätten und Tankstellen an und sprichst

mit den Leitern, um denen diese Geräte zu verkaufen? Ist also ein

Provisionsjob?“ Mark versuchte sich ein Bild über die Tätigkeit

Haralds zu machen und das Bild, das er sich machte, sah

zugegeben sehr attraktiv aus.

Harald griff in seine Innentasche und fischte darin herum: „Teilsteils.

Ich bekomme ein ordentliches Fixgehalt und eine noch

ordentlichere Provision mit jeder verkauften Maschine.“

Harald fand, wonach er suchte und holte ein Visitenkarten-Etui

hervor: „Aber glaub mir, das richtige Geld fließt, wenn deine

Maschinen hier stehen und arbeiten. Du brauchst praktisch nichts

mehr zu tun.“

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Mark sah Harald skeptisch an, nahm aber die angebotene

Visitenkarte entgegen und las:

„Harald Töpfer

Account Manager

Kaffee-Traum“

Darunter fand er sowohl seine E-Mail-Adresse, als auch seine

mobile Telefonnummer.

„Kaffee-Traum? Auf den Maschinen steht aber „Segafredo“,

oder?“ Mark kam sich ein wenig dämlich vor.

Harald schien solche Missverständnisse schon öfter aufgeklärt zu

haben, denn er lächelte immer noch entspannt.

Er nahm seinen Aktenkoffer und wanderte gemächlich zum

Ausgang: „Kommst du noch mit bis zu meinem Wagen? Ich muss

leider weiter. „Kaffee-Traum“ ist die Agentur, die mich

beschäftigt. Die Industrie stellt kaum noch Mitarbeiter für den

Vertrieb ein, wird alles ausgelagert.“

Harald und Mark traten aus der Raststätte und schlenderten zu den

Parkplätzen.

„Glaub mir, gerade wenn du aus dem Verkauf, also Einzelhandel,

kommst, wirst du diesen Job lieben. Es muss ja nicht genau dieser

sein, aber Außendienst. Ich kann es dir nur empfehlen.“ Harald

griff in seine Hosentasche, holte seinen Autoschlüssel heraus und

öffnete per Fernbedienung den Kofferraum eines Mercedes C-

Klasse. Während er seinen Aktenkoffer in den Kofferraum

platzierte, sprach er weiter: „Allerdings ist es ein toller Zufall, dass

wir uns gerade heute begegnen. Wir suchen nämlich Verstärkung

für dieses Gebiet, also für den Kölner Raum. Normalerweise bin

ich nämlich in Frankfurt unterwegs, vertrete nur meinen Kollegen,

der momentan Urlaub hat und in drei Monaten den Job an den

Nagel hängt.“

Mark bestaunte den Wagen und bekam gefühlt nur die Hälfte mit.

Für eine Nachfrage reichte es trotzdem: „Warum wechselt dein

Kollege denn?“

Irgendwo muss ein Haken sein, dachte er und sah Harald interessiert

an.

Harald zog sein Sakko aus, öffnete die Tür zur Rückbank und

hängte das Sakko an einem Haken auf: „Du, ich würde es genauso

tun, wie mein Kollege. Ich würde auch wechseln.“

Mark nickte und fühlte sich in seiner Skepsis bestätigt.

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Harald fuhr allerdings fort und wischte damit Marks

Gedankengänge weg: „Er tauscht seine C-Klasse gegen eine

Hängematte. Rente, mein Freund.“

Er schlug Mark ein letztes Mal auf die Schulter und stieg in sein

Auto ein.

Mark starrte überrumpelt durch das Fenster ins Innere, während

Harald den Motor startete und das Fenster herabließ.

„Es ist spät. Du musst morgen bestimmt früh raus und ich muss

weiter, wenn ich den Rest der Woche frei haben möchte. Pass auf,

lass es dir durch den Kopf gehen. Du hast meine Karte und kannst

mich jederzeit anrufen. Wir bekommen einen ordentlichen

Zusatzbonus, wenn wir gute Leute empfehlen und du machst mir

einen sehr guten Eindruck. Bis dann Mark.“

Er ließ kurz den Motor aufheulen und fuhr los. Mark nippte

nochmal an seinem Kaffee und schlenderte zu seinem Auto. Er

ließ die letzte halbe Stunde noch einmal Revue passieren.

Im Auto wechselte er vom Radiosender zu seiner „Guns n‘ Roses“

CD, drehte auf volle Lautstärke und gab Vollgas.

Nächster Halt: Bett!

-

Sein Plan, welchen er im Geiste schon mehrmals durchleuchtet

und verfeinert hatte, schlug in dem Moment fehl, als er das

Schlafzimmer betrat.

Laut seinem Plan sollte Teresa im Bett liegen und schlafend auf

ihn warten. Das hätte den Vorteil gehabt, dass sie zwar wusste,

DASS Mark furchtbar spät nach Hause gekommen war, aber nicht

WIE spät genau.

Sie schlief nicht. Sie saß in ihrem Bett gegen die Wand gelehnt,

hielt ihr Smartphone in der Hand und starrte Mark mit einem Blick

an, der seinem Magen einen dumpfen Schlag gab und ihn

ungebremst in den Keller seines Körpers stürzen ließ.

So hatte Teresa ihn noch nie angesehen.

Sie öffnete ihren Mund und Mark rechnete mit einer Lautstärke,

die Axl Rose, dem er eben noch im Auto zugehört hatte, mit

Sicherheit vor Scham verstummen lassen würde.

Stattdessen erklang eine ruhige und wohldurchdachte Stimme aus

Teresa und diese gefasste Stimme machte Mark noch nervöser.

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„Mit wem triffst du dich? Wer ist es?“ Teresas Lippen bebten.

Sie meinte es ernst, das sah Mark ihr an.

Sie fragte auch nur so offen „Wer ist ES?“, um nicht ein

klischeebehaftetes Drama zu starten, indem sie „Wer ist SIE?“

fragen würde.

„Teresa, ich bitte dich. Was denkst du denn von mir?“ Mark

überlegte krampfhaft, was er ihr nur sagen könnte ohne Dennis

und sich in Ungnade zu stürzen.

Sie steckten so tief im Schlamassel und er wünschte sich, er hätte

Teresa frühzeitig eingeweiht. Nun war es dafür zu spät. Zu viele

Weichen waren gesetzt worden und zu viel war geschehen.

Wenn er jetzt reinen Wein einschenken würde, würde es fatale

Konsequenzen geben.

Teresas Augen formten sich zu engen Schlitzen: „Was ich über

dich denke, möchtest du momentan nicht wissen. Ich sage dir, was

ich von dir verlange. Ich verlange von dir die Wahrheit. Wo treibst

du dich zwei Nächte nacheinander herum? Warum gehst du nicht

an dein scheiß Handy? Was hast du mit Dennis besprochen?

Warum bekomme ich von dir nichts mehr zu hören? Was zum

Beispiel mit deinem Job ist? Mit deiner Beförderung?“

Mark stutzte. Job? Beförderung? Wie passte das zu den anderen

Vorwürfen?

Suchte sie aus ihrem gesamten Repertoire aus Vorwürfen lediglich

alles Mögliche ungefiltert heraus um ihm diese um die Ohren zu

hauen?

Nein. Er war sich sicher, dass die Jobfrage etwas anderes war. Sie

sprach nie darüber, hatte sogar immer durchblicken lassen, dass es

sein Wunsch und sein Anspruch auf eine höhere Position war. Sie

hatte dem Ganzen nie eine großartige Bedeutung zugeführt und

ihm stets versichert, dass er sich nicht unter Druck zu setzen

brauche und dass sie auch so über die Runden kämen.

„Warum fragst du nach meinem Job?“, fragte er deswegen frei

heraus.

„Warum möchtest du ausgerechnet nur auf deinen Job

antworten?“, spielte sie den Ball zurück und schaffte es, ihre

Augen zu noch engeren Schlitzen zu verjüngen.

Vor seinem geistigen Auge sah Mark eine Rettungsinsel aus dem

Ozean der Argumentlosigkeit auftauchen. Mehr noch, ein

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Gestrandeter stand auf dieser Rettungsinsel und winkte mit einem

Zaunpfahl.

Mark griff die Gelegenheit beim Schopf und feuerte siegessicher

den Satz heraus: „Weil ich wegen dem Job so lange weg war.“

Teresa schnaubte: „Mark. Es ist halb sechs. In einer Stunde

klingelt dein Wecker. Was hattest du nachts für deinen Job zu tun?

Ernsthaft, ich hab die Nase voll.“

Teresa schwang ihre Beine aus dem Bett und verließ schnellen

Schrittes das Schlafzimmer.

Das tat sie immer im Streit. Sie musste dabei laufen.

Mark lief ihr wie ein Schuljunge hinterher und erklärte und

argumentierte, als hinge sein Laben davon ab.

„Nicht für meinen jetzigen Job. Für meinen nächsten!“ Mark

begann in der Hosentasche nach der Visitenkarte von Harald zu

fischen, während beide die Treppe hinabstiegen. Er fand sie.

Teresa war indessen in der Küche stehengeblieben und sah Mark

überrascht an: „Für deinen nächsten Job? Was meinst du damit?“

Mark hielt ihr die Visitenkarte entgegen: „Hier! Kaffee-Traum.

Außendienst mit vielversprechenden Verdienstmöglichkeiten. Das

mit dem Baumarkt wird nix mehr.“

Er machte eine Pause, seufzte und gestand Teresa seine nicht

vorhandene Wertschätzung bei seinem Chef: „Bergmann wird

mich nicht befördern, Teresa. Er hasst mich. Heute hatte er mich

wieder auf dem Kieker und hat mir in einem Atemzug mitgeteilt,

dass Feist befördert wird.“

Teresas Reaktion kam unverhofft und warf Mark aus der Bahn.

Sie sagte: „Scheiße!“, wurde blass und sackte auf einem

Küchenstuhl zusammen.

Mark griff zu ihren Schultern und drückte sie beruhigend: „Ich

weiß. Ich dachte nicht, dass du dich dafür interessierst. Das geht

nämlich schon länger so. Das mit dem Bergmann wird auch nichts

mehr. Scheinbar verträgt der Junior nicht, dass ich mich so gut mit

seinem Vater verstand.“

Teresa sah Mark an. Ihre Augen waren feucht. Tränen drohten zu

fließen: „Kannst du nicht nochmal mit dem alten Bergmann

sprechen?“

Mark runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht. Woher das

plötzliche Interesse?

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„Was ist los?“, fragte er aufs Geratewohl. „Haben wir

Geldprobleme, von denen ich nichts weiß?“

Teresa riss sich zusammen, das sah Mark. Die Tränen bildeten sich

zurück und ihre Mimik verhärtete sich wieder: „Nein! Haben wir

nicht. Wir haben Anwesenheitsprobleme, Mark. Du bist nie hier

und jetzt willst du mir erzählen, dass du dich nachts mit einem

Harald triffst um über „Kaffee-Traum“ zu sprechen?“

Mark sah die Gelegenheit und griff zu: „Nein natürlich nicht. Ich

habe mich mit Hasan getroffen, um ihm zu helfen. Das hatte ich

dir doch gesagt.“ Hatte er nicht.

„Dabei“ fuhr er fort „hatte er mir von einem Bekannten erzählt,

der bei „Kaffee-Traum“ beschäftigt ist und von seinem Beruf

schwärmt.“ Hatte er nicht. Mark strengte sich an, sein Ruder jetzt

wieder Richtung Wahrheit zu lenken.

„Also rief er ihn an und wir fanden heraus, dass er heute auf der

Raststätte „Bedburger Land“ anzutreffen ist.“ Hatten sie nicht. Mark

wurde innerlich unruhig.

Komm schon, das war die letzte Lüge, dachte er und schloss seine

Ausführung: „Und dort habe ich Harald getroffen, der mir alles

über seinen Job erzählte und mir seine Visitenkarte gab. Die

suchen für den Raum Köln jemanden. Mit Dienstfahrzeug und

allem. Ich ruf da morgen an.“

Mark atmete auf. Teresa schien es zu schlucken.

Vor seinem geistigen Auge sah Mark wieder die Rettungsinsel. Der

Gestrandete war nicht mehr allein. Neben ihm standen Dennis,

Hasan und auch Mark selbst war zu sehen. Alle hielten die

Daumen hoch und grinsten.

Alle bis auf Mark selbst. Dieser stand auf der Insel mit einem

Schild in der Hand. Sein Gesichtsausdruck beschrieb Trauer und

Enttäuschung. Auf dem Schild prangte anklagend in roter Schrift:

„LÜGNER!“

Teresa sah noch nicht gänzlich überzeugt aus, allerdings auch nicht

mehr so wütend, was Mark beruhigte.

Teresa drückte auf den Knopf der Kaffeemaschine und schlang

ihre Arme um sich. In ihrer Wut hatte sie vergessen, sich einen

Morgenmantel überzuwerfen und sie fröstelte.

„Ich hole dir etwas Warmes zum Anziehen.“, sagte Mark und

hechtete bereits die Treppe hoch.

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Als er zurück in die Küche kam, blieb er entsetzt stehen und

starrte zum Küchentisch, an dem seine Teresa saß.

Der Kaffee lief schon durch und verbreitete diesen wohligen Duft,

den nur ein Kaffee am Morgen verbreiten kann. Zu diesem

herrlichen Duft gesellte sich allerdings auch ein anderer Geruch

hinzu und versetzte Mark in noch größerem Entsetzen.

Teresa saß nämlich am Küchentisch und rauchte eine Zigarette. Sie

hatte vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, noch vor der

Schwangerschaft mit Daniela.

Mark fühlte sich mies und vor dem Kopf gestoßen. Er wusste

nicht, was er am schlimmsten an diesem Bild fand.

Generell, dass sie wieder mit dem Rauchen angefangen hatte?

Dass sie es einfach für sich entschieden hatte?

Woher sie die Zigaretten hatte?

Wie voll oder leer die Schachtel war?

Hatte ER dafür gesorgt, dass sie sich ins Rauchen stürzte oder war

etwas vorgefallen, was sie ihm verschwieg?

Teresa zog an der Zigarette und sah Mark mit einer Mischung aus

Trotz und Skepsis an: „Guck nicht so! Ich hör damit wieder auf,

sobald hier wieder Ruhe einkehrt.“

Mark setzte sich ihr vorsichtig gegenüber und starrte Teresa an,

während er krampfhaft versuchte, sie eben nicht so anzustarren,

wie er es tat.

Es gelang ihm ein misslungenes Lächeln aufzusetzen und ein

zaghaftes „Okay“ herauszuquetschen, den geholten Morgenrock

ließ er unbeachtet auf seinen Schoß sinken.

„Ich muss sagen, ein Jobwechsel klingt gut. Wenn er besser

bezahlt wird, ist das sogar wunderbar.“, sagte Teresa und drückte

ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus.

Wir haben sogar wieder Aschenbecher? dachte Mark und fühlte sich

immer miserabler.

Teresa stand auf, öffnete den Hängeschrank und nahm zwei

Kaffeebecher heraus. Sie goss den heißen Kaffee ein und kam

zurück zum Küchentisch: „Aber ich kann mir einfach nicht

vorstellen, dass du nachts um zwei oder drei Uhr ein

Vorstellungsgespräch auf einer Raststätte hast. Das kannst du mir

nicht erzählen.“

„Nein, natürlich nicht.“, sagte Mark und nippte an seinem Kaffee.

„Das war doch kein Vorstellungsgespräch. Das war nur ein

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Gespräch mit Harald. Er wäre nicht mein Vorgesetzter, sondern

mein Kollege, verstehst du? Das war rein informativ. Ohne

Wertung. Nur um zu abzugleichen, ob ich mir sowas vorstellen

könnte. Und ich kann es mir vorstellen. Was genau er verdient, hat

er mir nicht gesagt, aber es klang nach viel. Hinzu kommt ein

Firmenfahrzeug und scheinbar völlige Entscheidungsfreiheit der

Arbeitszeit. Er sagte, und ich zitiere: Ich muss weiter, wenn ich

den Rest der Woche frei haben möchte. Ist das nicht genial? Ich

ruf da morgen in der Mittagspause an.“

Teresa ließ ein leichtes Lächeln erahnen, sah aber im Großen und

Ganzen so unglücklich aus, dass Marks Herz schwer wurde:

„Teresa? Was ist passiert? Was ist los? Geht es um Dennis? Die

Schule?“

Teresa schob mit ihrem Fuß einen Küchenstuhl vom Tisch weg

um Mark wortlos aufzufordern, sich hinzusetzen.

Mark rückte den Stuhl zurecht, setzte sich hin, nahm einen

weiteren Schluck Kaffee und harrte der Dinge, die seinem Gefühl

nach nun kommen würden.

Kurz danach brach seine Welt in tausend Teile.

-

Die beste Voraussetzung, um einen Arbeitstag mit furchtbar

schlechter Laune zu starten, ist, eine kurze und schlafarme Nacht

zuvor gehabt zu haben. Eine Feststellung, die zwar profan und nur

logisch ist, die aber Mark nun am eigenen Leib zu spüren bekam.

Schon allein die Fahrt zu Schrauben-Manny entpuppte sich zu

einer quälend langen Odyssee, in der Mark, nicht nur einmal,

beinahe die rechte Spur der Autobahn, auf der er in gefühlter

Schrittgeschwindigkeit tuckerte, wechselte. Mal nach links, wo er

umgehend von viel schnelleren Fahrzeugen angehupt wurde und

mal nach rechts, wo sich die Leitplanke der A61 bedrohlich

näherte und ihn immer wieder aufschrecken ließ.

Ich hätte mich krankmelden sollen, dachte er wiederholt, während er

seinen Golf in eine Parklücke vor dem Baumarkt bugsierte.

Der gestrige Abend hatte sich zu einem der schlimmsten Abende

entwickelt, die er sich nur vorstellen konnte und Teresas Tag trug

nicht unbedingt zu einer harmonischen Versöhnung zu dem

Gestern bei.

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Zunächst berichtete sie von ihrem Bankbesuch, was Mark schon

sämtliche Farbe aus seinem Gesicht trieb. Ohne Mark aber auch

nur eine Atempause zu gönnen, fuhr sie direkt mit ihrem

Ohnmachtsanfall, nebst anschließendem Krankenhausaufenthalt,

fort und endete schließlich mit dem Bericht über die Dreistigkeit

ihrer Nachbarn, die Kinder bei sich ungefragt einzuquartieren.

Mark fasste es nicht. Schön, es war zwar „nur“ für eine Nacht,

aber wo lag das Problem, die Kinder hier zu Bett zu bringen und

sich bis zu Teresas Rückkehr hier aufzuhalten?

Mark gelang es nicht, sich all diese Fakten zurechtzulegen und sie

nach Logik zu sortieren.

Wie sollte er auch? Teresa garnierte ihre Erlebnisse nämlich

kontinuierlich mit Vorwürfen.

Vorwürfe wegen der Unerreichbarkeit von Mark.

Vorwürfe wegen Marks „heimlichtuerischer Art und Weise“ der

letzten Tage.

Vorwürfe darüber, dass die Motorhaube des SUVs so aussieht, als

ob Mark am Abend zuvor eine kleine Testfahrt im „Jurassic Park“

unternommen hätte.

Irritiert aber erleichtert stellte Mark allerdings fest, dass Teresa

offensichtlich nicht auf Antworten oder Erklärungen bestand,

zumindest noch nicht. Sie wollte sich scheinbar nur freireden und

Mark sah eine Last nach der anderen von ihrer Seele plumpsen.

Dass sie ihre Probleme lediglich „umlagerte“, von sich auf ihn,

interessierte seine Frau offenbar nicht und Mark wollte ihr das zu

diesem Zeitpunkt auch sicherlich nicht aufbinden.

Sie hatten einen riesigen Sack voller Probleme, soviel stand fest,

und kein Problem schien schwerer oder leichter als das andere zu

sein.

Mark war kein Typ, vorschnell die Flinte ins Korn zu werfen, aber

heute war ein Tag, an dem eine Möglichkeit der Resignation zum

Greifen nah war, das spürte er.

Er betrat den Baumarkt über den Personalzugang und stieg die

schmale Treppe zum Pausenraum empor. Als er seinen Spind

öffnete, warf er noch rasch einen Blick auf seine Armbanduhr.

„Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Deutschen Pünktlichkeit.“,

murmelte er vor sich hin und griff zu seiner Stempelkarte, um

seine Anwesenheit abzustempeln.

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„Bei uns heißt es aber zehn Minuten vor der Zeit.“ Die Stimme

erklang so plötzlich, dass Mark seinen Rucksack, welchen er gerade

in seinem Spind deponieren wollte, fallen ließ.

Er wirbelte herum und blickte in das breite, hämische Grinsen,

welches das Gesicht von Feist zierte.

Mark erholte sich schnell von dem Schrecken, sah Feist kurz an

und brummte: „Was willst du?“

Er hob seinen Rucksack auf, klopfte ihn (zugegeben recht

theatralisch) ab und stellte ihn nun endlich in den Spint. Die

Herkunft des Klirrens, welches er eben aus dem Inneren hören

musste, würde er wohl oder übel später inspizieren müssen.

„Pünktlichkeit!“, sagte Feist und starrte dabei provokant auf seine

abartig pompöse Armbanduhr.

Wer, zur Hölle, trägt heute noch goldene Armbanduhren? Hatte er die gestern

auch schon? dachte Mark. Er sah Feist erwartungsvoll an.

Da Mark nichts erwiderte, schien Feists Grinsen zu straucheln. Er

hatte sich offenbar auf ein Wortgefecht eingestellt und jetzt, wo es

ausblieb, schien er sich seiner Sache nicht mehr ganz so sicher zu

sein.

Mark genoss diesen Augenblick. Es war, als ob immer mehr

Energie in seinen müden Körper floss, je länger dieser Augenblick

andauerte.

Äußerlich versuchte Mark sich seine Freude über die Unsicherheit

seines Gegenübers nicht anmerken zu lassen. Er behielt seine

unbeeindruckte, marmorierte Fassade, zumindest hoffte er das.

„Sonst noch was oder kann ich jetzt endlich in meine Abteilung?“,

fragte Mark und sah weiterhin Feist an. Er addierte eine Prise

Verachtung in seine Mimik und hoffte, dass ihm das gelang.

Ein Königreich für einen Spiegel, dachte er. Mark musste einfach

blindlings auf den gelungenen Ausdruck seiner Mimik vertrauen.

Die Reaktion von Feist bestätigte seine mimischen Mühen. Feists

Körperhaltung fiel beinahe wie ein Kartenhaus zusammen und er

machte Mark, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, Platz.

Nachdem Mark den „schlimmsten Kollegen der Welt“ passiert

hatte, brach sein siegreiches Grinsen aus seinem versteinerten

Gesicht hervor. Lautlos.

Jetzt durfte er grinsen, niemand konnte es sehen.

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„Sieger?“ Marks verbesserte Laune hielt genau bis zu der Ankunft

in seiner Abteilung an. Als er nämlich wieder die tristen Regale sah,

vollgestopft mit Lacken und Lasuren, die sich immer wieder

leerten und füllten, wie der Kreislauf des Verderbens, sank die

eben noch mühselig erhobene Laune in einen Tiefpunkt, den er in

all den Jahren, an denen er sich um diese Abteilung gekümmert

hatte, nie erreicht hatte.

Er spürte es im tiefsten Inneren: Er war fertig mit all dem. Es

kotzte ihn einfach an, hier zu sein. Er hasste diesen Ort. Und jetzt

rief auch noch die Kasse an. Er meldete sich mit rotziger Stimme

und hielt den alten Knochen, welcher sich Telefon nannte,

krampfhaft an das Ohr.

„Hallo Mark, hier ist Lisa.“, knätschte ihm die ewig

kaugummikauende Lisa entgegen.

Umgehend zog sich alles in Mark zusammen. Er konnte es nicht

leiden, wenn ihm jemand ins Ohr kaute. Es klang schlicht abartig.

„Ja schön. Hör bitte auf zu kauen, ich versteh dich nicht.“, log er,

denn er konnte jedes Wort verstehen.

„Ja sorry.“, sagte Lisa und schluckte.

Mark schüttelte sich vor Ekel: „Hast du den jetzt

runtergeschluckt?“

Aus dem Telefon drang kurzzeitig Stille, gefolgt von einem

zaghaften: „Ja?!“

Mark seufzte: „Was gibt’s?“

Lisa schien sich an den Grund ihres Anrufs zu erinnern und fuhr

geschäftig fort: „Kannst du mir mal bitte den Preis von der

Bohrmaschine geben?“

Mark verdrehte seine Augen. Wieder einmal fragte er sich, nach

welchem Kriterium diese Hupfdohle diesen Job bekommen hatte.

Er hatte ihr schon so oft geholfen, immer wieder und auch so oft

mit sich ständig wiederholenden Sachen, aber sie hatte sich nichts

von all dem gemerkt.

„Hallo?“ Lisa schien verunsichert, weil Mark so lange schwieg.

„Natürlich kann ich dir den Preis von der Bohrmaschine nennen,

denn wir haben zum Glück ja nur eine. Auf dem Karton steht auch

zum Glück „Die Bohrmaschine“, richtig?“ Mark wanderte bereits

vorausschauend zur Maschinenabteilung.

Er war sich sicher, Lisa würde seinen Sarkasmus nicht verstehen.

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„Nee, da steht „BOSCH GBM 10 RE“ auf dem Karton.“

Er hatte recht.

„Prima.“, sagte er und erreichte soeben das Regal mit den Bosch-

Maschinen.

„Warum rufst du denn nicht Hasan an?“, fragte er und ließ seinen

Blick über die verschiedenen Bohrmaschinen gleiten, auf der

Suche nach dem richtigen Modell.

„Hasan?“, klang es aus dem Hörer. „Der hat sich doch heute frei

genommen. Wusstest du das nicht?“

Mark ließ seine Schultern sinken. Der Tag würde heute nicht

besser werden. Kein bisschen.

„Töpfer?“ Die Stimme klang freundlich und leicht blechern aus

dem Hörer aus Marks Handy. Das blecherne kam mit Sicherheit

nicht von Haralds Stimme, sondern von dem immer schlechter

werdenden Samsung Galaxy S7, welches Mark nun schon Jahre

nervte, aber sich offenbar immer noch nicht die Blöße geben

konnte endlich das Zeitliche zu segnen.

„Hi Harald, ich bin es, Mark.“ Marks Herz raste.

Nachdem er ein paar Mal versucht hatte, Hasan zu erreichen, fiel

er ins tiefe Grübeln. „Insinking“, so nannte Teresa das immer.

Nachdem er grübelnder Weise seine gesamte Abteilung auf

Vordermann gebracht und kartonweise für Nachschub gesorgt

hatte, fiel sein Entschluss. Er hatte keine Lust mehr auf diesen

Laden. Harald hatte ihm gestern eine Welt gezeigt, na gut, einen

kleinen Teil einer möglichen Welt, die ihm minütlich immer

attraktiver wurde. Er wollte es versuchen und vor allem wollte er

sich nicht in zwei Monaten im Spiegel ansehen und sich dafür

schämen, dass er es nicht zumindest versucht hatte.

Er wollte was Neues, auf jeden Fall. Am liebsten gleich zu

„Kaffee-Traum“.

Wenn es nicht funktionierte? Was solls, dann würde er es

irgendwo anders probieren.

„Schrauben-Manny“ war Geschichte, so oder so.

Er hatte beinahe schon gute Laune, war auf seine eigene

Entschlossenheit stolz und hatte vor ein paar Minuten zu seinem

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Handy gegriffen und Haralds Nummer gewählt, während er sich in

den hinteren Reihen der Tapeten verkroch.

Privatgespräche waren für Bergmann (und damit auch Feist) ein

beinahe ebenso großes Gräuel, wie zu spät am Dienst zu

erscheinen.

„Mark? Welcher Mark?“, klang es aus dem Hörer und Mark fror

sein Lächeln in die Gesichtszüge.

Na gut, versuchte er sich gedanklich zu beruhigen, Harald trifft

täglich etliche Leute. Warum sollte er sich diesen kurzen Moment merken?

Als Mark schon ansetzte, um sich nochmal ins Gedächtnis zu

rufen, schallte es lachend aus seinem Handy.

„Ich nehme dich doch nur auf dem Arm, mein Bester. Mark

Sieger, richtig? Na? Wie sieht es aus, was verschafft mir die Ehre?“

Haralds Stimme sprühte förmlich vor guter Laune und Mark

erwischte sich mit einer Mischung aus Vorfreude (in der

Hoffnung, auch einmal auf der Arbeit eine solche Freude zu

verspüren) und Neid (weil er auf seiner Arbeit nie solch eine

Freude hatte).

Mark räusperte sich. Er fragte sich, ob es angemessen sei, sofort

seine Absichten hier und jetzt auf dem Tisch zu legen, oder ob er

zunächst ein wenig Smalltalk halten sollte.

Smalltalk? Mit Harald? Er kannte diesen Mann doch kaum, eher

sogar gar nicht. Was sollte er mit ihm sprechen?

„Fußball war gut, oder?“ Mark war sich nicht sicher, wer das

gesagt hatte. Sein Verdacht legte ihm nahe, dass das aus seinem

Mund kam und als er sich umsah und niemanden in seiner Nähe

ausfindig machen konnte, war er beinahe sicher.

Das Lachen, welches durch das Handy schallte, bestätigte Marks

Verdacht.

Mark wurde rot und dachte kurz darüber nach, einfach aufzulegen,

die Visitenkarte, welche er verkrampft in seinen Händen hielt,

wegzuwerfen und sich mental auf eine quälend lange Zeit, welche

bis zu seiner späten Pensionszeit reichen würde, im verhassten

Baumarkt einzustellen.

Da fing Harald sich und sprach: „Keine Ahnung, Mark. Ich gucke

kein Fußball. Aber weißt du was? Ja, die Stelle ist immer noch frei

und zufälligerweise komme ich soeben aus der Zentrale in

Frankfurt. Ich habe meinen Chefs von unserem gestrigen Treffen

erzählt und die würden gerne mal mit dir sprechen.“

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Marks Atem wurde flacher, er glaubte sich verhört zu haben.

„Bist du noch dran?“ Harald schien unsicher zu werden.

„Ja“, krächzte Mark.

Harald lachte wieder kurz auf: „Deswegen bin ich nämlich so froh,

dass du anrufst. Ich habe dir tatsächlich nur meine Karte gegeben

und hatte von dir gar nichts. Ich habe also gehofft, dass dir der

Eindruck von letzter Nacht zumindest für einen Anruf ausreichen

würde. Das scheint immerhin der Fall zu sein.“

Marks Gesicht machte sich selbstständig. Ein breites Lächeln

erschien darauf und sofort fing sein ganzer Körper an zu kribbeln.

Gleichzeitig versuchte er seine aufkommende Euphorie zu

bremsen. Das war eine reine Schonungshaltung, zu viel war ihm

gerade in der letzten Zeit passiert. Schlichtweg, das klang alles

einfach zu schön.

„Ja absolut.“, antwortete er mit belegter Stimme. Er räusperte sich,

um seine Stimme zu befreien.

„Das ist gut. Pass auf, schreib mir doch bitte eine SMS mit deiner

Telefonnummer und am besten auch deine E-Mail-Adresse. Ich

schicke dir dann umgehend eine E-Mail mit der korrekten Seite

zum Bewerberportal. Aber jetzt kommt das Beste: Du landest mit

dem Link nicht auf dem normalen Bewerberportal, sondern bist

sofort im Pool meines direkten Chefs, verstehst du?“ Harald

wartete geduldig ab, ob Mark mitkam.

Mark kam nicht mit: „Äh, leider nein. Pool?“

Harald erklärte geduldig: „Ja. Bewerberpool oder Topf. Also,

normalerweise schreibst du eine Bewerbung über das Portal und

über 70 % der Bewerber werden dort bereits aussortiert, ohne dass

auch nur ein Mensch diese Bewerbung liest. Ist traurig, aber die

Wahrheit. Der Job ist hochbegehrt und die können nur durch

Logarithmen den Ansturm ausdünnen. Das, was von den

Bewerbungen übrigbleibt, wandert zur HR-Abteilung. Human

Resources. Das ist das Personalbüro, nennt sich aber nicht mehr

so. Muss halt alles englisch betitelt werden, ist halt so.“

Soweit, so gut, dachte Mark und signalisierte mit einem deutlichen

„Okay?!“, dass er noch folgen konnte.

„Schön.“, sagte Harald. „Und wenn die Damen und Herren aus

der HR-Abteilung fertig sind, geht es zum Chef. Verstehst du?“

„Ja“, sagte Mark und meinte es auch vollkommen ernst. Er begriff

nun endlich, was Harald ihm zu erklären versuchte. „Du meinst,

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du schickst mir mit deinem Link eine Art Abkürzung. Ich

überspringe das Auswahlverfahren und dein Chef liest sofort die

Bewerbung.“

Harald lachte auf: „Correctamundo, mi amigo. Du hast es

verstanden. Und glaub mir, der Rest wird ein Spaziergang. Die

haben bis jetzt auf jede Empfehlung, die ich ausgesprochen habe,

gehört.“

Mark fühlte sich plötzlich federleicht, er hatte eine solche Wucht

an Glücksgefühlen schon lange nicht mehr gefühlt.

Alles sah so aus, als ob er endlich mal Glück hätte und über kurz

oder lang diesen Laden verlassen könnte.

Er sprach laut ein „YES!“ aus und streckte seine Faust zur Decke.

Er sah aus wie Rocky nach dem Sieg über Apollo Creed, nur dass

sein Gesicht nicht dieselben Blessuren hatte.

In dem Moment betrat Feist mit einem Kunden die

Tapetenabteilung und beide starrten Mark verwirrt an. Mark ließ

schnell seine siegessichere Faust sinken und drehte sich weg.

„Hör mal Mark,“ klang es aus dem Handy. „Ich muss jetzt mal

weitermachen und du sicherlich auch.“

Eine Hand legte sich auf die Schulter von Mark und drehte ihn

um. Feist sah ihn mit hochrotem Kopf an: „Ist das ein

Privatgespräch, Sieger? Kein Wunder, dass der Kunde sie im

ganzen Markt suchen muss.“

Mark schüttelte hastig den Kopf und versuchte noch nebenher

Haralds Worten zu lauschen.

Harald fuhr fort: „Mach das gleich mal bitte mit der SMS und wir

unterhalten uns später, okay?“

Feist begann nun tatsächlich an Marks Arm zu zerren. Um was

genau zu tun? Wollte er Mark tatsächlich sein Handy abnehmen?

Mark riss seinen Arm zurück und spuckte schnell seine Antwort

aus: „Ja, mach ich und vielen lieben Dank.“

Mark hörte noch die Antwort von Harald („Kein Problem. Und

denk dran, du kannst mich jederzeit anrufen. Du brauchst auch

keinen Vorwand wie Fußball, um mich zu sprechen.“), nur dünn,

da Feist ihm nun den Arm nach unten bog. Feists Gesicht war vor

Anstrengung puterrot und sein Blick hatte etwas Manisches.

Mark ließ plötzlich seinen Arm locker. Mit dieser Bewegung hatte

Feist nicht gerechnet. Er schnellte nach unten, verlor sein

Gleichgewicht und strauchelte verdächtig. Mark gab ihm noch

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einen kleinen Schubs und schon saß Feist auf dem Boden und sah

Mark verdattert an.

Der Kunde schnappte nach Luft.

„Bist du eigentlich bescheuert?“, fragte Mark und half Feist wieder

auf die Füße. „Was sollte das werden?“

„Das war ein Privatgespräch Sieger,“ schnappte Feist „und Sie sind

hier für die Kundschaft zuständig. Private Gespräche führen Sie

gefälligst zu Hause oder in Ihrer Mittagspause.“

Mark lächelte seinen Kollegen an: „Apropos Mittagspause. Ich geh

dann mal in Pause, Herbert. Hältst du die Stellung? Danke!“

Mark ließ den Kunden und Feist stehen, verließ seine Abteilung

und wählte auf dem Weg nach oben nochmal Hasans Nummer. Er

musste es einfach jemandem sagen.

-

Kathrin Husenkamp lächelte Teresa mit einer Mischung aus

Herzlichkeit und Unsicherheit an: „Ehrlich Teresa, du kannst auch

gerne reinkommen. Das hat uns auch wirklich nichts ausgemacht.

Wir mögen eure Kinder doch so gerne. Sie können jederzeit bei

uns sein und auch übernachten.“

Teresa stand vor der Haustür der Husenkamps, hielt Dani an der

Hand und versuchte sich gar nicht erst in einem halbherzigen

Lächeln. Es würde sowieso nicht funktionieren, weil Dani zu

quengeln und zappeln begann und loswollte. In solchen

Momenten erinnerte Dani Teresa immer an den Labrador ihrer

Eltern, der jegliche Art von Stillstand umgehend lautstark

kommentierte und teilweise sogar bitterlich zu heulen begann.

Dani, der Labrador, dachte Teresa. Das passt irgendwie.

Sie hatte soeben Dennis, der schon längst, ohne auch nur ein Wort

zu wechseln nach Hause entflohen war, und Dani vom Nachbarn

in Empfang genommen und fühlte sich immer noch von den

Husenkamps überrumpelt.

„Ehrlich gesagt, fand ich das von euch etwas übereilt.“, sagte

Teresa mit der (hoffentlich) richtigen Mischung zwischen

dezentem Vorwurf und lockerem Verhalten.

Kathrin blinzelte verständnislos, ihr Lächeln immer noch

aufrechterhaltend: „Was meinst du, Schätzchen?“

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Teresa versuchte erneut das „Schätzchen“ zu ignorieren: „Naja, ihr

hättet bei uns warten können, oder?“

Ein Funkeln blitzte in Kathrins Augen auf: „Teresa, Schätzchen.

Ich hatte das Essen auf dem Herd. Wie stellst du dir das vor? Wir

essen abends immer pünktlich.“

Teresa spielte gedanklich den weiteren Gesprächsverlauf durch.

Babyfon erwähnen? Nach dem Essen zurück nach Hause bringen?

Dennis abends auf Dani aufpassen lassen? Es hätte so viele

Möglichkeiten gegeben, bevor man die abwegigste hätte nehmen

müssen.

Mal im Ernst: Welcher Mensch nimmt die Kinder seines neuen

Nachbarn zu sich nach Hause und macht sie dort gleich bettfertig

und legt sie auch noch in einem fremden Zimmer, in einem

fremden Bett hin?

Sowas macht man doch nicht, oder?

Dachte Teresa in diesem Fall zu verbohrt und zu spießig?

Ist es das, was ein Dorfleben ausmacht?

Sie kam aus einem Dorf, zwei Dörfer weiter, um genau zu sein,

aber damals hatte es doch so etwas nicht gegeben, oder?

Sie kam auf keinen Nenner, war sich allerdings sicher, dass sie es

sich an dieser Stelle schenken konnte, die naheliegenderen

Möglichkeiten Katharina gegenüber auszubreiten. Sie hätte für jede

Möglichkeit ein Gegenargument liefern können, ob sinnvoll oder

sinnlos. Außerdem wollte sie Katharina nicht zu sehr vor dem

Kopf stoßen, denn undankbar wollte sie auf keinen Fall

erscheinen.

„Du hast sicherlich recht, Katharina. Ich habe es mir ja auch nicht

so ausgesucht.“ Teresa versuchte sich jetzt doch in einem

zaghaften Lächeln und stellte erfreut fest, dass es ihr offenbar

gelang.

Das Funkeln und die Unsicherheit in Katharinas Mimik

verschwanden umgehend und sie kam mit weit geöffneten Armen

auf Teresa zu.

Widerwillig ließ Teresa die Umarmung zu.

Ihre Nackenhaare sträubten sich, als Kathrin nun auch noch in ihr

Ohr flüsterte und dabei viel zu viel Atem in ihr Ohr pustete.

Das kannte sie noch von ihrer Oma mütterlicherseits. Auch sie

flüsterte Teresa ständig ins Ohr mit zu viel Atem. Sei es in der

Kirche, in der man nur flüstern (wenn überhaupt) durfte, sei es die

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Verschwörung um die Tafel Schokolade, die Oma Jutta ihr in den

Rucksack geschmuggelt hatte oder wenn sie ihr den ein oder

andern Tipp gab, was sie Teresa zum Geburtstag schenken würde.

Immer dieses „feuchte Raunen“ in ihr Ohr.

Teresa hatte es immer gehasst und sich zeitgleich für die Abscheu

geschämt, weil sie Oma Jutta eigentlich sehr lieb gehabt hatte.

„Wenn du Schwierigkeiten oder Probleme hast, meine Liebe,

kannst du jederzeit mit mir darüber reden. Wir sind schließlich

Nachbarn und keine Fremden.“, war dieses Mal das Ergebnis des

„feuchten Raunens“ und kam dieses Mal von Katharina

Husenkamp.

Sie ließ Teresa los und ihre wässrigen Augen schauten Teresa

aufmerksam an. Während Teresa noch grübelte, ob Kathrin

tatsächlich Tränen in den Augen hatte, tupfte diese ihre

Augenwinkel ab.

Alle Achtung. Sie ist von ihren eigenen Worten gerührt. Das muss man auch

erstmal hinbekommen, dachte Teresa und wandte sich zum Gehen.

„Danke Kathrin. Wer weiß, vielleicht komme ich darauf noch

zurück.“, sprach sie noch über ihre Schulter und verließ das

Grundstück der Husenkamps.

„Mit allem!“, rief Kathrin hinterher. „Auch mit unangenehmen

Sachen, Schätzchen.“

Teresa hob ihre Hand, um ihr Begreifen zu demonstrieren,

schüttelte sich jedoch innerlich.

Kaum hatte sie die Haustür erleichtert hinter sich geschlossen,

stand Dennis bereits vor ihr, sein Handy in der Hand.

Sein Stand war seltsam, irgendwie schwankend und unsicher.

Waren das etwa Tränen in seinen Augen?

Gott, was ist heute nur los, dachte Teresa noch, als Dennis ihr

plötzlich um den Hals fiel.

Er lachte und weinte zugleich: „Ich liebe dich Mama. Es tut mir

leid, dass ich in der letzten Zeit so furchtbar war. Ich mache das

alles wieder gut.“

Teresa verstand nichts, überhaupt nichts, aber ihr kam auch nicht

einmal der Gedanke, ihren Sohn wieder loszulassen.

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„Du hast was?“ Mark wäre vor Schreck beinahe das Handy aus der

Hand gefallen. Er begann zu zittern, seine Knie gaben nach und er

sah sich nach der erstbesten Sitzgelegenheit um. Kurzerhand setzte

er sich auf einem Karton Tapeten, in welchem er allerdings

umgehend einsank und sich so festsetzte. Er konnte nicht

dämlicher, als Mr. Bean oder Stan Laurel aussehen.

Welcher Idiot nimmt Tapeten aus dem Karton und lässt den Karton stehen?

Mark kletterte ärgerlich aus dem Karton, kippte dabei zu Seite und

setzte dem ganzen „Slapstick Szenario“ noch die Krone auf.

Endlich wurde er den Karton los, trat ihn in irgendeine Ecke und

richtete sich nun wieder an Hasan, der am anderen Ende der

Leitung geduldig wartete.

Hasan klang aufgeregt: „Bist du noch in der Pause? Kannst du

zum „Subways“ kommen? Am Telefon möchte ich das nicht

wiederholen.“

Mark verzweifelte: „Nein, meine Pause ist zu Ende. Ich habe die

ganze Zeit versucht, dich zu erreichen. Ich drücke mich die ganze

Zeit wieder in der Ecke bei den Tapeten herum, aber der Feist hat

mich eben trotzdem erwischt. Wahrscheinlich schreibt er schon

ein Protokoll für Bergmann.“

Hasan lachte und Mark konnte nicht anders und stimmte in

Hasans Lachen ein. Der Streit von der vergangenen Nacht schien

vergessen und das beflügelte Marks Hoch noch mehr, als das, was

er an diesem Morgen alles schon erlebt hatte.

„Bitte Hasan, sag es einfach nochmal. Du brauchst ja nicht alles

deutlich auszusprechen.“ Mark wollte es nochmal hören. Das

Unglaubliche, was Hasan eben gesagt hatte.

Hasan seufzte: „Na gut. Es ist vorbei. Alles ist weg!“

Mark bekam eine Gänsehaut. Das konnte er einfach nicht glauben.

An einem Tag?

Mark räusperte sich und fragte trotzdem nochmal nach: „Alle vier

Kartons?“

Hasan sog die Luft ein: „Mann, Mark, ist gut jetzt.“

„Meine Güte Hasan, ich spreche von Karton… von Schuhkartons.

Wo ist das Problem?“ Mark wollte es einfach so genau wie

möglich wissen, warum konnte Hasan das nicht verstehen?

Hasan schien es jetzt aber zu verstehen, denn er lachte und sagte:

„Ja genau. Alle vier Schuhkartons sind weg und ich habe Viktor

Klitschko schon Bescheid gegeben und…“ Hasan machte eine

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bedeutungsvolle Pause: „…Klitschko hat Dennis Rodman

angerufen und ihm gesagt, dass er raus ist. Verstehst du? Dennis

Rodman muss sich nicht mehr um Viktor Klitschko kümmern,

arkadaş!“

Mark dachte kurz nach und sprach mehr zu sich selbst: „Dennis

Rodman?“

Hasan grunzte verärgert, gab aber seufzend nach: „Was würde der

Vater von Dennis Rodman nur dazu sagen?“

Mark ärgerte sich über seine Begriffsstutzigkeit. Natürlich! Viktor

war also ausgezahlt oder stand kurz davor ausgezahlt zu werden.

Infolgedessen hat Viktor seinen Sohn Dennis aus seiner Pflicht

genommen und ihn offenbar auch schon darüber in Kenntnis

gesetzt.

Das war es also!

Keine Schulden mehr bei Viktor, dem „König von Kölnberg“.

Heute war offenbar der Tag des Aufräumens und Mark fühlte sich

so gut und lebendig, wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr!

Sollte er mit so einem Hochgefühl echt den Tag hier im muffigen

„Schrauben-Manny“ ohne Hasan verbringen? Zudem mit der

Gewissheit, dem Laden früher oder später (eher früher als später)

den Rücken zuzukehren?

„Bist du morgen wieder hier?“, fragte Mark und begab sich bereits

auf den Weg zur Abteilung für sanitäre Anlagen.

„Ich weiß noch nicht, arkadaş. Ich muss da über etwas

nachdenken.“ Hasan schien zu wanken und Mark wurde neugierig.

Er passierte hilfesuchende Kunden, winkte dem ein oder anderen

Kunden fröhlich- sarkastisch zu und bahnte seinen Weg weiter zur

Abteilung von Feist.

„Worüber denkst du denn nach?“, fragte Mark. Er versuchte

möglichst aufmerksam zu klingen, obwohl er in Gedanken schon

den kommenden Dialog abspielte.

Hasan antwortete, doch Mark kam in dem Moment bei Feist an.

Dieser hatte sich, wie immer, von Lisa einen Sub mitbringen lassen

und aß ihn (auch wie immer) an seinem Abteilungspult.

Feist aß immer im Verkaufsraum. Völlig unverständlich, dass

Bergmann ihm diese Abart durchgehen ließ. Scheinbar empfand

Bergmann diese Eigentümlichkeit als Hingabe und

Dienstbeflissenheit, Mark konnte sich keine bessere Erklärung

vorstellen. Er selbst empfand es als respektlos gegenüber der

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Kundschaft, aber nun gut. Sollten sie doch alle hier machen, was

sie wollten.

„Was gibt’s?“, fragte Feist und kaute dabei schmatzend weiter.

Wenn ich dein Kunde wäre, dachte Mark, kam jedoch nicht dazu, den

Gedanken weiter zu verfolgen. Er musste seinen Plan in die Tat

umsetzen. Jetzt!

„Herbert, ich muss nach Hause.“, sagt er und bemühte sich

äußerst gequält zu klingen.

Feist stellte für einen Moment das Kauen ein und sah Mark

verwundert an: „Was? Wieso?“

Es war soweit. Marks Zauberstunde begann. Er ließ seine

Schultern hängen, machte ein gequältes Gesicht und dachte gezielt

an eklige Sachen.

Der Käse, den Teresa und er vor Jahren in der hintersten Ecke des

Kühlschranks entdeckt hatten, half dabei immer.

Dieser Käseblock war so ekelerregend gewesen, dass allein die

Erinnerung an diesen schimmeligen Haufen undefinierbarer Masse

ein dumpfes Gefühl in Marks Magengegend hervorbrachte.

Es schien zu wirken, denn Feist legte sein Sandwich ab und wich

einen Schritt zurück: „Sieger! Was ist los mit Ihnen?“

Nun kam die Königsdisziplin: Marks leidende Stimme.

„Mir ist so schlecht.“, sagte er und klang dabei absolut

überzeugend. Wie immer.

Er hatte es einmal geschafft, nur mit dieser Stimmlage einen

Freund zum Erbrechen zu bringen. Natürlich hatte dieser zuvor

das ein oder andere Bier zu viel, aber dennoch hatte er es

geschafft.

Er toppte es noch, in dem er so tat, als würde er sauer aufstoßen

und bemerkte, innerlich voller Freude, wie die Farbe aus Feists

Gesicht wich.

„Ja, das sehe ich. Na gut, gehen Sie. Aber holen Sie sich ein

Attest.“ Feist riss sich zusammen, trat wieder näher an sein Pult

und nahm sogar sein Sub wieder auf.

„Ist gut, mache ich“, sagte Mark in leidendem Ton. „Ich weiß es

auch nicht, Herbert. Heute Morgen ging es mir so gut und kaum

bin ich aus der Pause, könnte ich mich ständig übergeben. Weißt

du, ich habe es echt versucht, Herbert. Ich will ja gar nicht krank

machen. Meine Abteilung ist dann ganz alleine.“

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Wenn es einmal läuft, dann läuft es, dachte Mark und gefiel sich

ausnehmend in seiner Rolle des leidenden Märtyrers.

Feist schien sich komplett gefangen zu haben, denn er biss jetzt

sogar wieder in sein Sandwich: „Komm. Lassen sie es gut sein,

Sieger. Den hingebungsvollen Abteilungsleiter kauft Ihnen jetzt

keiner mehr ab. Fahren Sie nach Hause.“

Frechheit, dachte Mark und setzte zum finalen Todesstoß an: „Ja ist

gut. Danke, Herbert. Ich glaube, ich weiß jetzt, warum das

Gesundheitsamt das Subways hochnehmen wollte, aber ich wollte

ja nicht hören.“

Mark gönnte sich noch ein paar Sekunden und sah genüsslich zu,

wie Feist immer langsamer kaute.

Um seine mühselig improvisierte Show nicht zu versauen, drehte

er sich abrupt weg und wankte zum Aufenthaltsraum, um seine

Sachen zu holen.

Als er hinter sich etwas Schweres in Feists Papierkorb plumpsen

hörte, konnte er sich ein Grinsen allerdings nicht verkneifen.

Das triumphierende Grinsen hielt nur an, bis Mark in seinem Golf

den Parkplatz von „Schrauben-Manny“ verließ, denn in dem

Moment fiel ihm erst wieder Hasans Antwort auf seine Frage

„Worüber denkst du denn nach?“ ein.

Mark würde jetzt wieder gerne die Zeit zurückdrehen können.

Wenn er das nämlich könnte, würde er definitiv auf Hasans

Antwort Fragen stellen.

Die Antwort schwirrte nun ständig und permanent in Marks

Ohren nach: „Wir haben nicht zehn, sondern siebzehn für die vier

Schuhkartons bekommen.

-

„Wir müssen es ja nicht übertreiben.“ Hasans Stimme klang

beinahe flehentlich, als würde er auf eine Art Segen von Mark

warten.

Diesen Segen wird er nicht bekommen, dachte Mark, lauschte jedoch

weiter den Worten Hasans.

Mark war an einem Parkplatz angefahren, als Hasan Mark endlich

zurückrief. Mark hatte es nur einmal gewagt, mit seinem Handy am

Ohr weiterzufahren. Er war umgehend von einer Polizeistreife

erwischt worden und musste sowohl eine Standpauke als auch die

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Herausgabe von 100 € über sich ergehen lassen. Der beflissene

Polizist versicherte ihm damals, dass er genauso gut ein Fahrverbot

von einem Monat und 150 € hätte aussprechen können, wenn

Mark es wollte.

Mark wollte nicht und zahlte zähneknirschend per EC die 100 €.

Direkt am nächsten Tag kaufte er sich im „Schauben-Manny“

einen Bluetooth-Lautsprecher, der im Zigarettenanzünder

eingesteckt wird. Sie hatten Wochen zuvor mehrere dieser

Lautsprecher für die Kassenzone eingekauft, um sie dort mit einer

Gewinnspanne von beinahe 70 % an ahnungslose Kunden zu

verkaufen.

Dieses dämliche Gerät hielt knapp zwei Wochen, danach

funktionierte nichts mehr an dem Ding.

Deswegen: Parkplatz.

Mark seufzte: „Hasan! Jetzt buch das um Himmels Willen als

glücklichen Zufall ab und vergiss das Ganze.“

Hasan klang leise, aber bestimmt: „Ich glaube nicht, arkadaş.“

Mark schloss die Augen und lehnte seinen Kopf gegen die Stütze.

Diese „Ups and Downs“ der letzten Tage zehrten an Mark, er

spürte es. Er war urplötzlich furchtbar müde.

„Also?“, fragte Mark und hörte seine eigene Bitterkeit in seiner

Stimme. „Möchtest du dich also vom Fachverkäufer von

Elektrowerkzeugen zu einem Drogendealer befördern?“

Hasan sog scharf die Luft ein: „Alter! Bist du bescheuert? Willst du

vielleicht lieber gleich zu den Bullen fahren?“

„Ach, Bullen? Du übst also schon fleißig den Fachjargon für deine

zukünftige Karriere?“, Mark hielt weiterhin seine Augen

geschlossen. Er musste sich beruhigen, das wusste er. Wenn er es

übertrieb, würde er Streit mit Hasan bekommen, dabei wollte er

den Streit, welcher gestern begonnen hatte, doch begraben.

Außerdem: Wer hat Hasan wohl in diese Lage gebracht? Mark!

Niemand sonst.

„Was heißt schon Karriere?“, sagte Hasan. Seine Stimme klang

immer noch ruhig, keine Spur von Aggression oder Verteidigung.

Hasan schien Mark nie irgendetwas übel zu nehmen und das

beschämte Mark.

„Schon gut.“, sagte Mark ruhig und lauschte in den Hörer.

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Hasan sprach, als wäre er selbst von seinem Plan noch nicht

restlos überzeugt: „Ich sehe es eher als Nebenverdienst. Ich

verdiene nicht gut im Laden, weißt du?“

Wusste Mark nicht. Sie haben sich nie über den Lohn unterhalten,

was eigentlich unüblich unter Kollegen ist.

Natürlich, erlaubt ist es ohnehin nicht, unter Kollegen die

verschiedenen Gehälter zu vergleichen, aber wer hielt sich schon

an so etwas?

Der Grund, warum die beiden ihre Gehälter nicht verglichen war

nicht, dass sie es nicht durften. Es gab einfach Wichtigeres, über

das man sich unterhalten konnte.

„Nein, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass ich auch nicht viel

verdiene. Wir sind im Einzelhandel, Hasan. Zumindest noch.“ Als

Mark seine eigenen Worte bemerkte, war es bereits zu spät sie

zurückzuhalten.

Kurz hoffte Mark, dass Hasan seinen saloppen Spruch überhört

hatte, weil er vielleicht seinen eigenen Gedanken zu sehr nachhing.

Die Stille am anderen Ende der Leitung nahm Mark aber jegliche

Illusion.

Er ärgerte sich, denn sein eventueller Jobwechsel war kein

„Telefonthema“ und er hatte sich das zwangsläufig kommende

Gespräch völlig anders vorgestellt.

„Zumindest noch? Was meinst du damit?“, Hasan klang

verwundert. Nicht sauer, nicht traurig, noch nicht mal skeptisch.

Nur neugierig.

Mark wollte es trotzdem vertagen: „Egal. Lass uns ein anderes Mal

darüber sprechen.“

Hasan brach in Jubelschreie aus: „Alter! Sag bloß du hast ein

Jobangebot bekommen!“

Was war das? Hörte Mark richtig? Hasan freute sich?

Mark zögerte: „Ähm… Ja. Es ist aber noch nicht spruchreif. Ich

hab noch ein Gespräch vor mir.“

Hasan jubelte nochmal und Mark konnte sein Grinsen nicht mehr

zurückhalten.

„Wie geil wäre das denn? Wir verlassen gemeinsam den Schuppen.

Legendär wäre das.“

Marks Lächeln eiste ein: „Hasan, jetzt warte doch bitte alles ab. Ich

wechsle vielleicht den Job, ja. Aber das, was du vorhast, ist kein

Jobwechsel, mein Freund. Das ist ein Abstieg.“

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Hasan antwortete und nun war sie da, die von Mark zuvor

erwartete Kälte in Hasans Stimme: „Hey, arkadaş. Urteile nicht

über mich. Du machst dein Ding und ich mach meins. Ich weiß,

dass Du mich nur warnen willst. Aber, mein Freund, die

siebentausend Euro, die auf meinem Konto liegen, sprechen eine

andere Sprache.“

Mark riss seine Augen auf: „Auf deinem Konto?! Bist du

wahnsinnig? Die können das doch sofort tracken, die Bullen.“

Hasan lachte: „Ach Bullen? Willst du einsteigen? Beruhig dich.

Natürlich nicht auf meinem Girokonto, für wie doof hältst du

mich? BitCoin! So funktioniert Geld heute. Mit BitCoin.“

Mark versuchte sich zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht: „Oh

natürlich. Ich vergaß doch glatt, dass ich mit einem „Darknet-

Experten“ spreche. Verzeih mir, großer Computerzampano aus

dem Abendland!“

Hasan lachte: „Die Türkei liegt nicht im Abendland, arkadaş. Aber

wusstest du, dass Deutschland mal Teil des Abendlandes war?

Deutschland, England, Frankreich…“

Mark unterbrach Hasan barsch: „Ja ist ja gut, Herr Professor. Ich

habe es verstanden. Und jetzt? Kommst du morgen wieder zur

Arbeit?“

Hasan seufzte: „Ich weiß nicht. Warum sollte ich?“

Mark überlegte nicht lange: „Wegen mir!“

„Du weißt zu überzeugen, mein blasser Leidensbruder. Ich hoffe,

du kannst dich in deinem Vorstellungsgespräch genauso gut

verkaufen. Jetzt erzähl mal, bitte. Wie lange weißt du das eigentlich

schon?“

Mark lächelte: „Seit letzter Nacht.“

Und er erzählte.

Teresa klopfte sich die schmutzigen Hände an ihrer Latzhose ab.

War da ein Gepolter in der Küche?

Sie kletterte aus dem Beet mit den soeben angepflanzten Tomaten

und machte sich bereits auf den Weg zur Gartentür, als es erneut

aus der Küche klirrte.

Sie blickte sich um. Wo war Dani?

-

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Sie entdeckte sie sofort auf der Picknickdecke mit ihrer

Lieblingspuppe und dem Porzellanservice, welches sie und Mark

zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatten.

Mark und Teresa hatten sich damals bereits am Abend über das

kitschige Porzellan lustig gemacht und sofort und einstimmig

beschlossen, dass sie es niemals benutzen würden. Sie haben auch

nie erfahren, wessen Geschenk dieses Service war. Es befand sich

kein Brief, keine Karte an und in der Verpackung.

Nun hat das Service wenigstens einen glücklichen Besitzer, dachte

Teresa, und zwar Danis Puppe.

Dani war also nicht in der Küche, dachte Teresa und setzte ihren

Weg fort.

Dennis ist mit dem Rad zu einem Klassenkameraden, die Hausaufgaben

holen, überlegte sie. Ihr wurde ein wenig mulmig und sprach zu

Dani: „Dani? Maus, ich bin sofort wieder da. Bleibt bitte auf

deiner Decke.“

„Okay Mami. Mafalda auch?“, fragte ihre Tochter und streckte ihr

die Puppe entgegen.

Ihre Puppe Mafalda war noch nie hübsch gewesen. Dani hatte sie

von Teresas Tante geschenkt bekommen und Teresa dachte

damals schon, dass diese Puppe Pate für diese „Puppen-

Horrorfilme“ stand.

Glubschige, gläserne Augen. Ein Lächeln, das wohl spitzbübisch,

neckisch aussehen sollte, aber eher kalt und berechnend wirkte.

Die Haare wirr und struppig und die Hände zu Fäusten geballt.

Nach ein paar Jahren hat sich das Aussehen der Puppe verändert

und das nicht zu seinem Vorteil.

Die Kleidung war zerrissen.

Es war bereits die zweite Bekleidungsgarnitur und Teresa konnte sich noch

sehr gut an die beschwerliche Beschaffung passender Kleidung für diese hässliche

Puppe erinnern.

eBay, eBay Kleinanzeigen und auch stationäre Trödelmärkte konnten ihr

nicht aushelfen.

Am Ende bekniete Teresa eine Freundin, die nähen konnte, um eine

Garnitur für Mafalda.

Das linke Auge öffnete sich nur noch halb.

An einem Herbsttag, war Teresa panisch in den Hausflur der Kölner

Wohnung gerannt, als sie von der Küche aus ein lautes Scheppern, begleitet von

Danis spitzem Geschrei hörte.

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Mafalda war Dani aus der Hand gerutscht und polternd Stufe um Stufe die

Treppe vom vierten Stock bis zum dritten herabgestürzt. Dieser Sturz kostete

Mafalda ein halbes Auge, denn seitdem klemmte das Augenlid aus Kunstoff.

Zu allem Überfluss hatte Teresa sich zusätzlich noch aus der Wohnung

ausgesperrt und musste Fritsch, den Vermieter, um den Zweitschüssel bitten.

Die Haare, welche immer schon abstoßend ausgesehen hatten,

waren mittlerweile am Hinterkopf geplättet und rundeten das

verheerende Aussehen Mafaldas noch ab.

„Ja, mein Schatz. Mafalda auch.“, sagte Teresa und trat durch die

Gartentür ins Innere.

Die äußerst freundliche Herbstsonne, die am heutigen Tag zeigte,

was sie konnte, sorgte dafür, dass Teresa zunächst kaum etwas

sehen konnte.

Spüren und hören konnte sie jedoch einwandfrei, stellte sie fest, als

sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte und eine tiefe

Stimme sprach: „Da bist du ja, Teresa Süße.“

Der Schreck durchzuckte Teresa und ihre Beine gaben nach.

Bevor sie jedoch zu Boden fiel, griffen zwei starke Arme beherzt

zu und bewahrten sie so vor dem Sturz.

„Hoppla, langsam.“, sagte die Stimme und Teresa erkannte jetzt

Dietmar, der sie halb erschrocken und halb belustigt anstarrte und

sie vorsichtig auf einem Küchenstuhl absetzte.

Während Teresa sich sammelte, eilte Dietmar mit gezielten

Schritten zu einem Küchenschrank, entnahm ein Glas und füllte es

mit Wasser.

Er kennt sich wirklich gut in MEINER Küche aus, dachte sie

benommen, als er mit dem Wasserglas zurückkehrte.

„Hier, trink. du musst viel mehr trinken. Den ganzen Tag in der

Sonne Gartenarbeit verrichten ohne zu trinken ist nicht gesund,

Teresa Süße.“, sagte Dietmar und sprach dabei so nonchalant, als

wäre es das natürlichste der Welt, den Tag seiner Nachbarin zu

beobachten und analysieren.

Teresa wollte zuerst das Trinken verweigern und ihren Nachbarn

gleich zurechtstutzen, nahm aber doch einen Schluck.

„Dietmar! Was machst du hier, himmelherrgottnochmal.“, sagte sie

und nahm einen weiteren Schluck.

Dietmar hob triumphierend ein Päckchen Zucker hoch: „Zucker!

Kathrin backt gerade einen Kuchen und hat vergessen, Zucker zu

besorgen.“

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Teresa schnappte nach Luft: „Und dann kommst du hier einfach

rein?“

„Ich hab doch von euch einen Schlüssel. Den habt ihr mir doch

gegeben.“ Dietmar sah Teresa so selbstverständlich an, als hätte sie

gefragt, ob er jemals von einem Tier namens „Hund“ gehört hätte.

Sie fasste seine Selbstverständlichkeit nicht und wollte es deswegen

wirklich wissen: „Und dann kommst du hier einfach rein?“

Dietmar legte seine Stirn in Falten.

Nach einer Weile erhellte sich sein Blick und er sagte: „Ich habe

zuerst geklingelt. Zwei oder drei Mal, aber niemand hat geöffnet.“

Okay, dachte Teresa, er versteht es nicht, wenn ich mein Erstaunen als

Frage formuliere.

„Du kannst doch nicht einfach so hier reinkommen.“, sagte sie

stattdessen und sah Dietmar wütend und vorwurfsvoll an.

Aber sie war wütend, so wütend wie schon lange nicht mehr.

„Ich kauf dir den Zucker ab.“, sagte er und bewies damit, dass er

Teresas Wut nicht verstand.

„Darum geht es doch gar nicht.“, sagte Teresa und stand vom

Stuhl auf.

„Meine Güte, Dietmar. Wo bleibst du denn?“, erklang es

überraschend von links und: „Hallo Teresa Süße, hättest du ein

bisschen Zucker für uns?“

Kathrin stand in fleckiger Schürze im Türrahmen der Küche und

lächelte Teresa strahlend an.

Teresa blickte verwirrt von Dietmar zu Kathrin; von Kathrin zu

Dietmar: „Und wie bist du hier reingekommen?“

Kathrin lächelte und hob einen Schlüsselbund in die Höhe: „Mit

dem Schlüssel, natürlich. Wir haben uns eine Kopie herstellen

lassen. Falls Dietmar mal nicht zu Hause sein sollte.“

„Ihr habt was?“ Teresa traute ihren Ohren nicht.

Kathrin sah verdutzt aus: „Was meinst du, Süße?“

„Den Schlüssel nachmachen lassen? Sowas könnt ihr doch nicht

machen.“

Dietmar lachte und winkte ab: „Teresa, das klingt teurer, als es ist.

Heutzutage machen die einen Schlüssel schon für 5 € nach und

weil ich Stammkunde beim hiesigen Schuster bin, macht der mir

einen Schlüssel für 3 € nach. Da brauchst du dir keine Sorgen zu

machen, Teresa- Süße. Machen wir halbe-halbe?“

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Er breitete die Arme wie ein Showmaster aus: „Die 1,50 € kannst

du uns ein anderes Mal geben oder weißt du was? Das hat sich mit

dem Zucker erledigt. Komm Kathrin-Maus, der Kuchen wartet.“

Dietmar schnappte sich das Päckchen Zucker, ging zum

Türrahmen, in dem Kathrin stand und beide durchquerten den

Flur zur Haustür. An der Haustür angekommen, gab Dietmar

seiner Kathrin einen Klaps auf den Po, Kathrin giggelte und beide

verließen das Haus. Bevor Dietmar die Haustür schloss, blickte er

noch einmal zu der überforderten Teresa und zwinkerte ihr zu.

Teresa blieb noch einige Augenblicke starrend im Flur stehen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

durch Ihren Mitarbeiter, Herrn Töpfer habe ich erfahren, dass Sie einen

Außendienstmitarbeiter für die Region West suchen.

Als ausgebildeter Einzelhandelskaufmann bin ich seit meiner

Berufsausbildung mit der Herausforderung des Vertriebs vertraut.

Ich bin Abteilungsleiter der Rubrik Farben und Tapeten in einem

renommierten Baufachhandel in Köln.

Zu meinen Tätigkeiten gehört die Beratung der täglichen Kunden, zudem die

Disposition von Ware. Auch Lagermanagement ist ein mir wohlvertrauter…

Mark las seine Bewerbung nun zum vierten Mal durch. Seufzend

rieb er sich die Augen und streckte sich.

Sein Gefühl verriet ihm, dass er bereits viel zu lange an der

Bewerbung saß und das nur, um hier und dort ein paar Wörter zu

tauschen oder zu ersetzen.

Kein Wunder, handelte es sich bei dieser Bewerbung schließlich

erst um die wievielte Bewerbung seines Lebens?

Mark dachte nach.

Seit immer, dachte er. Er konzentrierte sich. Konnte das stimmen?

Die erste Bewerbung hatte er an seine Ausbildungsstätte

geschrieben, allerdings nur im weitläufigsten Sinne, denn diese

damalige Bewerbung war Teil des Unterrichts in der höheren

Handelsschule, die er damals besuchte.

Wenn er ehrlich zu sich war, hatte er diese Bewerbung noch nicht

mal selber geschrieben, sondern von seinem Nachbarn

-

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abgeschrieben. Er hatte lediglich Adressen und Daten ausgetauscht

und war fertig.

Mark grinste, als er sich daran erinnerte.

Die Handelsschule. Zwei Jahre hatte er dort verbracht und

erinnerte sich kaum noch an sie.

Letzten Endes hatte er sich mit dem Besuch der Handelsschule

nur erfolgreich einen Aufschub seiner Entscheidung, was er denn

nach der Schule machen wollte, aufgeschoben.

Aber auch diese zwei Jahre vergingen und am Ende, war er sich

immer noch nicht sicher, welchen Beruf er ausüben wollte.

Er hatte nie berufliche Schwärmereien gehabt, sah man von den

Kindheitsträumen „Polizist“, „Tierarzt“, „Lokomotivführer“ und

„Feuerwehrmann“ einmal ab.

Am Ende ist es dann so gekommen, dass er die Sonntagszeitung

aufschlug und sich bei der erstbesten Stellenausschreibung im

Bereich Ausbildung mit einer geklauten Bewerbung bewarb und

auch umgehend die Ausbildungsstelle erhielt.

Die drei Jahre im OBI in Köln vergingen wie im Flug und kurz vor

der Prüfung stand plötzlich der alte Bergmann vor ihm und warb

ihn ab, ohne Bewerbung und ohne Lebenslauf, einfach so.

Deswegen benötigte Mark so eine lange Zeit, um diese Bewerbung

zu schreiben.

Er holte sich Ratschläge aus dem Netz, verglich die Optik, den

Schreibstil und das Layout.

Der Lebenslauf war schneller fertig, als es Mark lieb war. Es

befanden sich mehr Schulen als Arbeitsstätten auf seiner Vita.

War das schlecht oder gut?

Zu häufiger Arbeitgeberwechsel machte zwar den Bewerber zu

einer möglicherweise unsteten Person, zeugte aber auch von

vorhandener Flexibilität.

Zu wenige Arbeitgeber bewiesen zwar eine gewisse Treue und

Loyalität, könnten aber auch dem Lesenden eine Bequemlichkeit

oder gar Faulheit suggerieren.

All dies entnahm er dem ach so schlauen Internet und je länger

Mark an seiner Bewerbung saß, desto nervöser wurde er.

Es war zweifellos eine wichtige Bewerbung, sehr wichtig sogar. Er

wollte diese Stelle unbedingt haben, aber er wollte nicht durch

seine Bewerbung den Leser „anbetteln“.

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Er wollte eine gute Bewerbung erstellen, die allerdings eine gewisse

„mir doch egal“ Attitüde mitschwingen ließ.

Er klappte sein Laptop zu.

Am besten fing er an, seine gewünschte Nonchalance damit

hinzubekommen, dass er es für heute auf sich beruhen ließ.

Er hatte schließlich noch eine Familie, die seines Erachtens nach

zu oft auf Mark verzichten musste.

Kaum war er heute zu Hause angekommen, verkroch er sich

nämlich in seinen Kellerraum, wo er seinen Schreibtisch hin

bugsiert hatte, und schrieb an seiner Bewerbung.

Er schaltete das Licht aus und ging zur Treppe. Morgen früh

wollte er seine Bewerbung ein letztes Mal mit einem freien Kopf

durchlesen und sie dann absenden.

Im Wohnzimmer angekommen entdeckte er Teresa, die im

Schneidersitz auf ihrem Lieblingssessel saß und ein Buch las.

Sie blickte auf und lächelte ihm entgegen: „Na? Bist du endlich

fertig?“

Irritiert blickte Mark sich um: „Wo sind die beiden?“

Teresa sah ihn verständnislos an: „Hast du mal auf die Uhr

gesehen? Es ist bereits halb zehn. Was denkst du? Wo könnten die

beiden sein?“

Mark zuckte schuldbewusst zusammen: „Tut mir leid. Ich

verspreche euch, das wird alles besser.“

Teresa blickte Mark mit einem herzlichen Blick an, stand auf und

umarmte ihn.

Mark hatte das Gefühl, als würde er in der Umarmung versinken.

Es fühlte sich gut an und er fragte sich insgeheim, ob es wirklich

schon so lange her war, dass sie sich einfach nur umarmten.

„Komm, wir sollten ins Bett gehen. Morgen beginnt der Tag

wieder früh. Außerdem muss ich dir noch unbedingt etwas

erzählen.“, sagte Teresa.

Als hätte Teresa es heraufbeschworen, überkam Mark eine

plötzliche Müdigkeit.

Die letzten Nächte zollten nun also endlich ihren Tribut.

Auf dem Weg nach oben erinnerte sich Mark wieder der letzten

Worte von Teresa.

„Was musst du mir denn unbedingt erzählen?“, fragte er.

„Ach, nur Nachbarschaftstratsch.“, lachte Teresa. „Ich möchte nur

mal deine Meinung hören.“

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-

„Beni utandırma!“ Arda legte seine Hand auf Hasans Schulter. Ein

wenig zu fest, stellte Hasan sofort fest.

„Chill mal, Arda. Ich mache dir keine Schande, vertrau mir.“

Hasan befreite sich mit einem breiten Lächeln von dem

eisenharten Griff Ardas.

„Ich hoffe es, für dich.“, sagte Arda und öffnete die Tür zu

Viktors Wohnung. „Er erwartet dich. Auch wenn er es nicht

glauben kann, dass du so schnell wieder hier bist.“

„Da kannst du mal sehen.“ Hasan klopfte Arda freundschaftlich

auf die Schulter und trat in die Wohnung.

Die Wohnung sah noch exakt so aus, wie an dem Abend, an dem

Mark und er dort gewesen waren.

Erschrocken stellte Hasan fest, dass es erst gestern war, als er mit

Mark hier war. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit.

Wummernde Rap-Musik dröhnte aus den Ecken der Wohnung

und Hasan stellte auch ein wenig amüsiert fest, dass dieselben

Leute hier herumlungerten. Er würde darauf wetten, dass sie auch

dieselben Klamotten trugen.

„Ey, wo ist dieser Mark?“, drang es aus einer Ecke. Hasan

erkannte sofort den künstlich bekifften Tonfall von Viktor.

Offenbar musste er so tun, als wäre er rund um die Uhr high.

Wahrscheinlich würde seine Gang ihm sonst in den Rücken fallen, dachte

Hasan. Er zuckte mit seinen Schultern: „Nicht da. Ich mach das

schon, Viktor.“

„Du und welches Geld? Du hast nichts mit, wie ich sehe.“ Viktor

tauchte plötzlich aus der verdunkelten, hinteren Ecke hervor. Er

grinste breit, doch Hasan entdeckte auch ein aggressives Funkeln

in Viktors Augen. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.

Aufflammen und löschen.

Mit ihm ist nicht zu spaßen, dachte er, ließ es sich aber nicht

anmerken.

Stattdessen zuckte er erneut mit seinen Schultern und nahm sich

zudem sofort vor, sich eine neue Geste einfallen zu lassen. Zwei

Mal Schulterzucken hintereinander ist schon eine peinliche

Angelegenheit.

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„Wie hast du dir das denn vorgestellt? Soll ich mit einer

unauffälligen Sporttasche hier herumlaufen? Besser noch. Mit

einem Aktenkoffer? Mit Handschellen?“ Hasan lachte. „Auf dem

Kölnberg? Vergiss es!“

Viktor warf wütend die Bierflasche, welche er in seiner Hand trug,

gegen die Wand.

Sie zerschellte mit lautem Getöse, irgendwo in einem der

angrenzenden Räume schrie eine Frau oder ein Mädchen

erschrocken auf.

Noch bevor Hasan auf irgendetwas reagieren konnte, stand Viktor

bereits vor ihm und griff Hasan ungestüm an den Kragen und

presste ihn gegen einen Wandschrank: „Denkst du, du kannst

mich ficken, du Schwuchtel? Denkst du das?“ Er ließ sein

Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.

Bevor Hasan antworten konnte, trafen ihn bereits zwei saftige

Ohrfeigen.

„Du Wichser! Ich habe diesen Dennis bereits angerufen und ihm

seine Schuld erlassen und jetzt wagst du es, hier ohne Kohle

aufzutauchen?“ Viktor beugte sich so weit nach vorne, dass sich

die beiden Nasenspitzen beinahe berührten. Hasan roch den

unangenehmen Atem aus Viktors Rachen.

Eine Mischung aus Bier, Zigaretten und das wochenlange Fehlen

einer Zahnbürste.

Hasan riss der Geduldsfaden. Er hob sein Knie und rammte es

Viktor ungebremst in die Weichteile.

Zunächst stellte Hasan nervös keine Reaktion fest. Hatte er

daneben gestampft?

Dann wurde das Gesicht von Viktor aschfahl mit einem Hauch

von grün und er sackte zusammen.

Die Freude über seinen Treffer währte nur kurz, denn plötzlich

brach die Hölle los in der Wohnung.

Hasan bekam plötzlich einen PS4 Controller gegen den Kopf, zur

selben Zeit sprang ein schlaksiger Junge mit Kapuzenpulli über

den niedrigen Wohnzimmertisch und holte bereits mit der Faust

aus.

Hasan platzierte einen tiefen Tritt gegen das Knie des Angreifers,

woraufhin dieser mit einem lauten Klirren vornüber in die Shisha

landete, welche immer noch an derselben Stelle wie am Vortag

stand.

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Eine Zimmertür wurde aufgerissen und zwei kräftige Männer

stürmten ins Wohnzimmer. Hasan drehte sich und ließ sein Bein

nach oben schnellen. Er erwischte den ersten Angreifer mit seinem

Fuß an der Schläfe. Der hohe Tritt sorgte dafür, dass der erste

Angreifer durch die Wucht auf dem zweiten landete.

Beide stürzten auf den Wohnzimmertisch, welcher unter der Last

krachend zusammenbrach.

Bevor es zu weiteren Rangeleien kam, hob Hasan beschwichtigend

die Hände und brüllte: „HALT! Hört auf, bitte. Ich habe nie

gesagt, dass ich kein Geld mithabe!“

Um zu beweisen, dass sein Einwand zu spät kam, zerbrach Arda

von hinten einen Stuhl auf Hasans Rücken, so dass Hasan

zusammensackte.

Als Arda Hasan am Kragen emporhob, schrillte Viktors Stimme

auf: „Lass es gut sein, Arda.“

Hasan kam langsam zu sich und sah, wie Viktor sich aufrappelte

und an seinem Schritt zupfte, das Gesicht schmerzverzerrt.

„Was meinst du damit, du Penner? Hast du jetzt das Geld oder

nicht?“

Hasan brauchte ein paar Sekunden, um zu Atem zu kommen: „Ja

Mann. Natürlich hab ich das Geld. Du hättest mich nur ausreden

lassen müssen.“

Viktor griff in seine Tasche, holte ein Klappmesser hervor, ließ es

aufschnappen und setzte es Hasan an die Kehle: „Wo ist es?“

Hasan schaffte es, zu lächeln: „Hast du ein PayPal Konto?“

„Er hat was?!“ Mark konnte nicht glauben, was er hörte. Er hielt

mitten in der Bewegung, sich sein T-Shirt über den Kopf zu

ziehen, inne. Teresa sah Mark mit großen Augen an, ihre Wangen

gerötet. Mark sah, sehr erfreut, dass Teresa wieder diesen

begeisterten Gesichtsausdruck hatte, zu dem die roten Wangen

und die großen Augen gehörten. Sie liebte es, wenn Mark sich mit

ihr gemeinsam echauffierte. Dadurch fühlte sie sich nicht so allein

mit ihrem Gefühl.

„Krass oder? Einfach so stand der da. Als ob es sein Grundrecht

wäre oder sowas in der Art.“ Teresa pustete sich die Haare aus

dem Gesicht. Auch eine Eigenart, die Mark auswendig kannte und

-

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an seiner Frau liebte. Das tat sie immer, wenn sie sich eifrig

aufregte. Diese Art von Aufregung, die längst nicht mehr Wut war,

sondern lediglich zur Kommunikation diente.

Nichts war so befriedigend, wie sich gemeinsam über die Unart

von anderen einig zu sein.

Alle anderen sind Deppen, nur wir sind das einzig wahre Paar.

Das war einfach schön und Mark genoss es, wieder mit Teresa

einer Meinung zu sein.

Aber dennoch. Das, was Teresa ihm soeben berichtet hatte, war

nicht nur Stoff, um sich gemeinsam hochzuschaukeln. Das war

eine bodenlose Frechheit, wenn man mal ehrlich war.

„Also, Dietmar hat einen Schlüssel zu unserem Haus, soweit so

gut.“, fasste Mark zusammen. „Aber dann lässt er sich von seinem

Zweitschlüssel unseres Hauses eine Kopie für seine Frau

anfertigen? Ohne uns darüber in Kenntnis zu setzen, geschweige

denn zu fragen? Hab ich das richtig verstanden?“

Teresa nickte eifrig, ihre Augen blitzten: „Und er will sogar von

uns die Hälfte der Anfertigungskosten wiederhaben.“

Mark spürte es von ganz unten angerollt kommen. Durch die

Beine, durch seinen Magen hoch durch seinen Hals in den Rachen

und es platzte aus ihm heraus. Er prustete vor Lachen.

Das alles war so absurd, dass er nur noch Lachen konnte. Als hätte

Teresa auf eine Art Erlaubnis gewartet, stieg sie nun auch ins

Lachen ein. Zunächst zaghaft, dann immer lauter.

Mark nahm Teresa in den Arm und sah ihr in die Augen: „Also,

lass mich alles rekap… reklapt… Lass mich alles nochmal

wiederholen.“

Teresa giggelte bei Marks kläglichen Versuchen.

„Du bekamst gestern eine schlechte Nachricht von der Bank, um

die wir uns bald kümmern werden. Versprochen.“

Teresa sah Mark dankbar an.

„Dann machst du in der Bank schlapp und zum Dank entführt

Dietmar unsere Kinder und zwingt sie dazu, bei den Beiden zu

übernachten.“

Teresa fing wieder an zu lachen.

„Und die Krönung ist, er fertigt sich heimlich einen Schlüssel an

um bei uns Zucker zu klauen und will sogar, dass wir die Hälfte

des „Raubschlüssels“ bezahlen? Das nenn ich mal dreist.“

Teresa lachte laut auf und beide ließen sich heiter aufs Bett fallen.

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Alles in allem, dachte Mark, ist das seit längerer Zeit der schönste Abend.

Er nahm sich vor, an der Sache mit „Kaffeetraum“ dranzubleiben.

Seine gehobene Stimmung musste damit zusammenhängen, dass

ein Problem ihn nun weniger belastete. Sein Job lag ihm, er merkte

es nun überdeutlich, schwer auf der Seele.

„Weißt du was?“, fragte Teresa, während sie sich in seine

Armbeuge schmiegte. „Dennis war heute richtig gut drauf. Er hat

mich heute Morgen ganz feste gedrückt und, du glaubst es nicht,

sich für seine schlechte Laune entschuldigt. Er war fast wieder wie

ein Kind, verrückt oder?“

Ich korrigiere, dachte Mark und lächelte, ich habe zwei Probleme weniger.

-

Viktor sah Hasan irritiert an und ließ sein Messer langsam sinken:

„Ja klar hab ich ein PayPal Konto, warum?“

Hasan schob Viktor sachte von sich weg und griff in seine

Hosentasche.

Sofort hob Viktor sein Messer wieder und auch Viktors

Kumpanen wurden schlagartig wieder unruhig.

„Ganz ruhig“, sagte Hasan und hob beschwichtigend seine

Handflächen nach oben. „Ich nehme nur mein Handy aus der

Tasche.“

Hasan zog sein Handy heraus und begann emsig auf dem

Touchscreen zu wischen.

„Was machst du da?“, sagte Viktor. Er versuchte auf Hasans

Display zu schauen, doch Hasan drehte sich weg.

„Gib mir mal deine E-Mail-Adresse. Die mit der Du PayPal

bedienst.“ Hasan sah Viktor erwartungsvoll an.

„Warum?“ Die Skepsis in Viktors Stimme war deutlich zu hören.

Hasan versuchte den Tonfall zu ignorieren: „Mach einfach, siehst

du dann.“

„Ja, ist ja gut. Viktor.Romanov@aol.com.“ Viktor gefiel es

offenbar gar nicht, ihm seine E-Mail-Adresse mitzuteilen. Er ließ

sein Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und

löschen.

Hasan lachte: „Wow, du hast noch eine AOL Adresse? Respekt.

So, ich sende dir jetzt einen BitCoin. Den Rest kannst du behalten,

wir sind quitt. Gib mir nur einen Augenblick.“

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Viktor schnappte empört nach Luft: „Alter, willst du mich

eigentlich verarschen? Was soll das bedeuten, ein BitCoin? Ich habe

euch beiden Spackos gesagt, dass ich für die vier Kartons

zehntausend Euro bekomme. Ich dachte, ihr wolltet euren Dennis

aus der Scheiße holen? Das kommt mir im Moment nicht so vor.“

Hasan wandte sich endlich Viktor zu: „So, müsste geklappt haben.

Sieh mal nach.“

„Alter ich scheiß auf deinen beschissenen BitCoin, hörst du mir

eigentlich zu?“, schrie Viktor Hasan an.

Hasan lächelte weiter unbeeindruckt Viktor an: „Sieh halt mal

nach!“

Viktor schnaubte lautstark und griff widerwillig zu seinem Handy.

Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und

löschen. Nach ein paar Sekunden riss er ungläubig seine Augen

auf.

Hasan lachte: „Und?“

„Zehntausendneunhundertachtundsiebzig Euro und

vierundsechzig Cent! Was zur Hölle?!“ Viktor war perplex, was

Hasan sehr erfreute.

„Oh cool. Da hast du Glück, Viktor. Gestern entsprach es noch

Zehntausendachthundertvierundsechzig Euro und ein paar

Zerquetschte.“ Hasan verschränkte stolz die Arme vor der Brust.

„Eigentlich hätte ich dir nur 0,91 BitCoins auszahlen müssen, um

deine Zehntausend zu erreichen, aber ich schenke dir den Rest als

guten Willen und Vertrauensbeweis. Für unsere weitere

Zusammenarbeit, weißt du?“

Viktor blickte nun endlich von seinem Handy auf: „Weitere

Zusammenarbeit? Meinst du das Ernst?“ Er ließ sein Feuerzeug

aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.

Hasan präsentierte das breiteste Grinsen, das er zur Verfügung

hatte: „Ich hätte da Bock drauf und vor allem habe ich nun die

richtigen Kontakte. Da warten auf jeden Fall noch mehr Leute auf

dein Zeug zur Entspannung.“

Viktor lachte und dachte kurz nach: „Also du und dieser Mark?

Der Vater von Dennis?“

Hasans Lächeln verschwand: „Nein, lass Mark da bitte raus. Er hat

Familie und ist für so etwas nicht geschaffen. Ich mache das

allein.“

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Viktor trat ein Schritt von Hasan zurück und betrachtete ihn von

oben bis unten. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.

Aufflammen und löschen. Er nickte anerkennend: „Komm mit

und setz dich!“ Er ging voraus und nickte dabei Arda zu, der sich

daraufhin wieder in den Hausflur zurückzog.

„Möchtest du etwas trinken? Bier? Red Bull? Wodka und Red

Bull?“ Viktor wies mit einer Geste ein paar Leuten an, Platz zu

machen. Sie setzten sich auf eine Couch, die durch ihre dekadente

Optik völlig deplatziert in der Wohnung aussah.

Hasan ließ sich seufzend auf seinen Platz fallen: „Ein Red Bull

wäre super. Kein Alkohol, bitte.“

Viktor nickte wissend: „Ach ja, natürlich. Muslim.“

Hasan grinste: „Bin ich, aber ich muss noch fahren.“

Viktor nickte einem der Umherstehenden zu, der daraufhin eine

Dose Red Bull besorgte. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und

löschen. Aufflammen und löschen.

„Okay, Hasan. Dann lass mal hören: Wie viel möchtest du haben?“

Viktor lehnte sich interessiert vor.

Das, was jetzt kam, hatte Hasan auf dem Weg hierher eingeübt. Er

hielt sein Handy in der Hand, wischte gelangweilt über das Display

und tat so, als würde ihn nichts aus der Fassung bringen.

„Naja, ich dachte so an das Doppelte? Also, wenn du weiter in

Kartons bestimmen möchtest, acht Kartons.“

Viktor hob seine Augenbrauen: „Und die möchtest du jetzt

mitnehmen?“

Hasan hob beide Hände: „Nein. Heute nehme ich nur die vier

verkauften Kartons von Dennis mit, um sie zum neuen Besitzer zu

schicken. Ich möchte nur sicherstellen, dass ich acht Kartons

verkaufen kann.“

Nun war es Viktor, der breit grinste: „Kannst du! Also

zwanzigtausend Euro für mich?“ Er ließ sein Feuerzeug

aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.

Hasan gluckste vergnügt: „Vergiss nicht. Die zehntausend waren

mit Dennis ausgemacht oder besser gesagt mussten wir

zehntausend Euro mit den vier Kartons beschaffen um Dennis da

rauszuholen. Nein, mein Lieber, jetzt verhandelst du mit mir. Acht

Kartons wären fünfzehntausend für dich und der Rest ist für mich.

Das ist fair, oder?“

Hasan rechnete schnell nach:

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Er erhielt 1,55 BitCoins für die vier Kartons.

Das waren ca. 17.000 €.

Wenn Viktor darauf einging, hatte er zwei Mal 7.000 € von denen

Viktor nichts wusste, plus 5.000 € noch obendrauf.

Und angenommen, er könnte das immer und immer wieder so

machen, wurde ihm regelrecht schwindelig.

Viktor war allerdings in Verhandlungslaune: „Sagen wir

Siebzehntausend Euro für mich und wir sind im Geschäft.“

Hasan überschlug den Vorschlag schnell. Das wären insgesamt

19.000 € für ihn je Transaktion und wenn Viktor sich mit seiner

Verhandlung besser fühlte, sei es so.

„Deal!“ Hasan schlug ein. „Und ich könnte bei Bedarf immer

wieder auf dich zukommen?“

Viktor reckte stolz seine Brust vor: „Mach dir da mal keine

Gedanken. Ich habe eine nie endende Quelle.“ Er ließ sein

Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen.

Hasan reckte seinen gestreckten Daumen hoch, trank den letzten

Schluck aus der Dose, schlug auf seine Oberschenkel und stand

auf: „Super! Ich mach mich dann mal auf den Weg und schnappe

mir noch die vier Kartons. Wir sehen uns sehr bald, Viktor.“

Viktor stand auch auf und sie schlugen ein.

„Da kann man mal sehen,“ sagte Viktor „manchmal entstehen

Beziehungen aus seltsamen Begebenheiten. Eine Frage habe ich

aber noch.“ Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.

Aufflammen und löschen.

Hasan hielt inne und drehte sich nochmal um: „Ja bitte?“

Viktor sah Hasan respektvoll an: „Was war denn das für eine

Kung-Fu Aktion eben? Hast du das gelernt? War sehr

beeindruckend.“

Hasan lachte: „Nein, alles von Filmen abgeguckt. Aber ihr seid

hier alle so bekifft, dass ihr alles, was sich schneller als eine

Schnecke bewegt, als den nächsten van Damme anseht. Das war

nur Glück.“

Viktor lachte und winkte Hasan zum Abschied, bevor er sich

wieder auf die Couch setzte.

Hasan bekam die vier Kartons, schritt durch die Wohnungstür und

zwinkerte Arda zu.

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Er machte sich auf dem Weg zu seinem Auto und dankte innerlich

seinem Vater, der Hasan als Kind zum Taekwondo gescheucht

hatte.

-

Mark schloss sein Auto ab und schlenderte gut gelaunt in Richtung

„Schrauben-Manny“. Egal welche Schikanen sich Feist oder

Bergmann für heute haben einfallen lassen, es würde Mark nicht

aus der Ruhe bringen. Dafür waren die letzten zwölf Stunden zu

schön gewesen, fand Mark. Der vergangene Abend war toll

gewesen. Teresa und er hatten so viel gemeinsam gelacht und

gealbert, wie schon lange nicht mehr. Er hatte wie ein Stein

geschlafen und war heute Morgen ausgeruht aufgewacht. Er hatte

Dennis in der Küche getroffen, welcher ihm auch gleich um den

Hals gefallen war, sich bedankt und entschuldigt hatte. Dennis

hatte ihm auch versprochen, dass er sich zusammenreißen würde

und hatte ihm zudem zugeflüstert, dass er die Finger von solchen

Leuten und deren Verkaufsware lassen würde. Danach hatte er die

Überarbeitung seiner Bewerbung beendet, Teresa nochmal

gegenlesen lassen und sie abgesendet. Außerdem hatte er ein

kurzes Telefonat mit Hasan, der ihm versichert hatte, dass er heute

zur Arbeit erscheinen würde. Somit brach Mark seine

Krankmeldung ab und fuhr los zum „Schrauben-Manny“.

Mark traute seinen Augen nicht, als sein Handy in dem Moment

aufleuchtete, als Mark es gerade in seinem Spind verstauen wollte.

Eine Mail von „Kaffeetraum“ war im Vorschaufenster zu sehen.

Mark wollte sein Glück nicht erneut auf die Probe stellen und sein

Handy mit in den Verkaufsraum nehmen. Außer, dass er von Feist

gestern blöd angemacht worden, war Mark eigentlich glimpflich

davongekommen. David Bergmann hatte nämlich eine

Abmahnung versprochen für diejenigen, die mit einem privaten

Handy im Verkauf erwischt wurden.

Mark nahm kurzerhand sein Handy nochmal zu sich und aktivierte

das Display.

Jetzt spielte er also doch mit dem Feuer, denn er müsste bereits

seit zwei Minuten in seiner Abteilung sein.

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Er klickte sich schnell zu den Mails und huschte durch den

„Posteingang-Ordner“. Er las die kurze Mail drei Mal und spürte

innerlich eine Mischung aus Freude und Nervosität.

„Lieber Mark,

Deine Bewerbung hat uns sehr gut gefallen und wir würden Dich

gerne persönlich kennenlernen. Aus diesem Grund laden wir Dich

herzlich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Herr Nybel, unser

Geschäftsführer, und ich werden Deine Gesprächspartner sein.

Das Vorstellungsgespräch findet nächsten Mittwoch um 15:30 per

WebCall statt. Wir haben eine solche Art des

Vorstellungsgespräches als äußerst effizient kennengelernt und

möchten Dir und uns unnötigen Zeitaufwand sparen. Falls Du

diesen Termin nicht wahrnehmen kannst, setze Dich doch bitte

mit uns telefonisch (Telefonnummer in der Signatur) in

Verbindung und wir vereinbaren einen anderen Termin.

Mit freundlichen Grüßen,

Sophia Michels“

Er hatte es geschafft! Er hatte den ersten, großen Schritt geschafft.

Gestern Abend noch hatte er sich im Netz über die aktuellen

Bewerbungsprozesse informiert und erfahren, dass die meisten

Aussortierungen vor der Einladung zu einem Gespräch

stattfanden. Je nachdem, wie viele Stellen in einem Betrieb

ausgeschrieben waren, wurde nur ein geringer Teil zum Gespräch

eingeladen- im Schnitt drei Personen pro Stelle.

Statistisch gesehen, hatte er nun also lediglich zwei Konkurrenten

und das sollte doch zu schaffen sein, oder?

Er begann zu überlegen:

Sollte er zum Call mit seinem Handy den Link benutzen? Er hatte

die bessere Kamera in seinem Handy, aber wie wollte er ein starkes

Wackeln verhindern? Da war natürlich die Webcam in

Kombination mit seinem alten Laptop besser. Das Problem war

aber, dass sein Laptop eben das war: Alt. Die Kamera war

grobpixelig und der Akku war defekt, also musste der Laptop am

Stromkabel bleiben.

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Dies wiederum würde Mark an einen Platz mit Steckdose binden,

dabei würde er sich lieber an seinem Gartentisch einwählen, denn

das war die hübschere Kulisse.

Was sollte er eigentlich anziehen? Sakko mit Krawatte? Sakko

ohne Krawatte? War es nicht unglaubwürdig sich in seinem

eigenen zu Hause mit einem Anzug zu präsentieren?

Andererseits sah es doch sicherlich auch nicht seriös aus, wenn er

sich zu leger im WebCall geben würde.

Ein Poloshirt wäre doch sicher das gesunde Mittelmaß, oder?

Tief in Gedanken versunken, bemerkte Mark nicht, dass Feist

soeben den Pausenraum betrat.

„Hier stecken Sie also, Sieger. Wir haben bereits seit fünf Minuten

geöffnet und ihre Abteilung…“

Mark schaltete sofort und unterbracht seinen Kollegen: „Na. du

bist ja gut, Feist. Ich hab schließlich dich gesucht. Der Alte war

fuchsteufelswild, als er sah, dass deine Abteilung nicht besetzt war.

Er sagte etwas von wegen: Vielleicht muss ich alles nochmal

überdenken, oder so ähnlich. Also habe ich mich aus meiner

Abteilung geschlichen, um dich zu warnen.“

Mark schlug seine Spindtür zu und schlenderte an dem erblassten

Feist vorbei. Er legte Feist kameradschaftlich die Hand auf die

Schulter: „Wir Kollegen müssen doch schließlich zusammenhalten,

oder etwa nicht?“

Er musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen, als er

von Feist ein leises „Doch, danke, Sieger.“ hörte.

Teresa atmete tief ein, hielt die Luft an und pustete sie wieder aus.

Sie wiederholte es noch zwei Mal und klingelte endlich bei den

Husenkamps.

Sie wollte endlich klare Worte wechseln und hatte das kommende

Gespräch schon in ihrem Hausflur durchgespielt. Sie nutzte

mehrere mögliche Varianten. Auf alles sollte sie nun die richtige

Reaktion abrufen können.

Ja, es war nett, dass sie auf ihre Kinder geachtet hatten, aber beim

nächsten Mal bitte im Haus der Siegers.

Ja, natürlich mussten die Kinder ins Bett, aber beim nächsten Mal

bitte im Haus der Siegers.

-

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Ja, Teresa und Mark hatten den Husenkamps einen Zweitschlüssel

gegeben, aber nur für den Notfall zu nutzen und bitte keine Kopie

heimlich davon anfertigen.

Teresa wollte sich an diesem Morgen mindestens eine kleine

Distanz zu ihren Nachbarn zurück erkämpfen.

Die Haustür wurde geöffnet und ein strahlender Dietmar blickte

Teresa entgegen: „Mensch Teresa, Süße. Das müssen ja

telepathische Kräfte unter uns beiden sein, komm doch bitte rein.

Hey, das reimt sich.“ Dietmar lachte und ging bereits ins Haus

voraus. „Kaffee?“, rief er einen Moment später aus der Küche

heraus. „Setz dich doch bitte schonmal.“

Teresa schluckte, schloss die Haustür und betrat das

Wohnzimmer: „Nein danke. Ich hatte heute Morgen schon zu viel

Kaffee.“

In dem Moment kam Dietmar bereits mit zwei dampfenden

Bechern Kaffee ins Wohnzimmer: „Ach was, als könne man zu viel

Kaffee trinken. Die Milch ist bereits drin, setz dich.“

Teresa setzte sich, atmete wieder tief ein und versuchte sich zu

sammeln.

Übergriffig, so nennt man das doch, dachte sie. Er hat mich schon wieder

überlistet und mir eine Entscheidung weggenommen. Auch wenn es nur um

einen Kaffee geht.

In dem Moment, als sie allein aus symbolischen Gründen den

Kaffee abweisen wollte, sprach Dietmar wieder.

„Ich war eigentlich auf dem Weg zu dir, musst du wissen. Ich habe

nämlich gute Nachrichten.“, sagte Dietmar und strahlte Teresa an.

„Ich bin ja wirklich sehr gut mit dem Leiter der hiesigen

Realschule befreundet und ich habe mit Engelszungen auf ihn

eingeredet. Ich sagte ihm, dass euer Kevin ein toller und braver

Junge ist und es bei diesem einmaligen Ausrutscher bleiben wird.“

Teresa hob ihre Augenbrauen: „Dennis!“

Dietmar starrte irritiert in Teresas Augen.

„Unser Kevin heißt Dennis.“, stellte Teresa richtig. Sie lächelte

Dietmar an, obwohl ihr nicht nach Lächeln zumute war.

Er sprach hinter ihrem Rücken mit dem Direktor der Schule ihres

Sohnes und nannte ihren Sohn zudem noch „Kevin“.

Allein ihrer Neugierde war zu verdanken, dass sie das Gespräch

nicht beendete und ihm sofort ihre unzensierte Meinung mitteilte.

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Sie wollte wissen, was bei dem Gespräch herumgekommen war.

Zeitgleich ärgerte sie sich erneut über ihre Inkonsequenz.

Dietmar räusperte sich: „Ja natürlich. Dennis. Den Namen habe

ich auch selbstverständlich im Gespräch mit meinem Freund

Markus Lambertz genutzt. Keine Ahnung, wie ich plötzlich auf

„Kevin“ komme. Verzeih mir bitte, Süße.“

„Schon gut.“, quetschte sich Teresa durch ihre Zähne. Dieses

nervige „Süße“. Wie hatte sie das jemals zulassen können? Und

wichtiger noch, wie konnte sie diesen Titel wieder von den

Husenkamps entfernen? War das überhaupt noch möglich?

Übergriffig!

Immer häufiger tauchte dieses Wort in Teresas Kopf auf, wenn sie

an die Husenkamps dachte.

Dietmar riss sie erneut aus ihren Gedanken, indem er

weitersprach: „Nun ja. Lange Rede, gar kein Sinn.“ Er machte eine

Pause, um in schallendes Gelächter über seinen eigenen

misslungenen Witz auszubrechen. Verstohlen sah er Teresa aus

den Augenwinkeln an, um zu überprüfen, ob sie artig mitlachte.

Sie tat ihm diesen Gefallen nicht.

Schluss mit dem Schauspiel, dachte sie. Sie gab ihm noch einen

Moment, bevor sie um eine Weitererzählung bat: „Und?“

Dietmar brach sein furchtbares, künstliches Lachen ab, nahm noch

einen Schluck Kaffee und fuhr fort: „Nun ja. Er war sehr an

meiner Meinung interessiert. Das ist in Waldesruh immer noch so,

meine Liebe. Das Wort eines Bürgermeisters ist hier enorm

wichtig, musst du wissen.“

Teresa schloss kurz ihre Augen, damit Dietmar das Rollen eben

jener Augen nicht sah: „Ja, weiß ich. Ist im Dorf meiner Eltern

auch noch so.“

Dietmar lehnte sich zurück, (als hätte Teresa den Startknopf eines

Programmes gedrückt) legte seine Fingerspitzen aneinander und

sah Teresa besonnen an: „Ja Teresa, Süße. Das Dorfleben ist etwas

ganz Besonderes. Das kannst du mit dem Leben in einer Stadt

nicht vergleichen. Wirklich wahr. Jeder kennt hier jeden und jeder

hilft jedem. Zum Beispiel die Wiese der alten Frau Märtens. Das

Gras ist mittlerweile wieder so hoch, dass es einfach im Dorfbild

unschön aussieht. Ich habe es letzte Woche noch gemäht und es

wäre schön, wenn sich heute oder morgen jemand anderes mal

kümmern würde.“

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Dietmar und Teresa sahen sich schweigend an. Teresa wartete

darauf, dass Dietmar weitersprach, doch scheinbar wartete

Dietmar auch auf irgendetwas.

„Oh, ach so!“, sagte Teresa. „Du meinst uns? Sollen wir den Rasen

mähen?“

„Mensch Teresa. Toll, dass ihr Euch anbietet, ganz große Klasse.“

Dietmar strahlte Teresa an.

Was für ein mieser, dreister Penner, dachte sie und ballte ihre Fäuste.

Niemand hatte es mehr geschafft, sie dumm dastehen zu lassen

und Dietmar und Kathrin schafften es immer wieder. War sie

wirklich so kalkulierbar? War sie so ein leichtes Spiel für Dietmar?

Sie seufzte: „Also heute oder morgen, sagst du?“

„Besser heute als morgen. Möchtest du noch etwas Kaffee? Hat er

dir geschmeckt?“ Dietmar schielte auf den Becher in Teresas

Hand.

Teresa blickte in den leeren Becher und ärgerte sich noch mehr.

Noch nicht mal die stille Verweigerung des Kaffees bekommst du hin, schalt

sie sich.

„Ich kümmere mich.“, sagte sie. „Ich möchte keinen Kaffee mehr.

Was war denn nun mit dem Leiter der Realschule?“

Dietmar zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen, als ob er

nicht verstehen würde, was Teresa von ihm wollte. Ein paar

Sekunden später erhellte sich der Blick aber wieder.

„Stimmt, wo hab ich nur meine Gedanken. Also, Dennis darf ab

morgen wieder zur Schule. Ich habe mich für ihn verbürgt und

eine gelinde Strafe erkämpft.“

Strafe? dachte Teresa.

„Strafe?“, fragte Teresa.

„Nur eine leichte, kleine Strafarbeit.“, versicherte Dietmar und

lächelte. „Er muss drei Wochen lang den Schulhof säubern. In den

Pausen und nach dem Unterricht.“

Vor Schreck wäre Teresa beinahe der Becher aus der Hand

entglitten. Das war eine Katastrophe. Nach dem Unterricht, okay.

Aber in den Pausen? Was würden seine Schulkameraden mit

Dennis machen, wenn sie ihn drei Wochen lang täglich als

Schulhofräumer in den Pausen begaffen würden?

Dietmar lachte und für einen kurzen, dankbaren Moment glaubte

Teresa dadurch an einen Scherz. Fehlanzeige.

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„Mensch, Teresa, Süße. Dir hat es regelrecht die Sprache

verschlagen. Das habe ich gerne für euch gemacht, meine Liebe.

Ganz ehrlich. Und falls nochmal etwas sein sollte, bin ich jederzeit

zu Stelle. So, jetzt muss ich leider furchtbar ungastlich werden und

dich verabschieden. Ich bin untröstlich, aber ich habe noch das ein

oder andere Telefonat zu führen.“

Wie ferngesteuert erhob Teresa sich von der Couch und ging in

Richtung Haustür.

Dietmar rief hinterher: „Du findest allein hinaus? Klasse? Zieh die

Haustür ordentlich zu, bitte. Sie klemmt ein wenig, muss ich mal

nachschauen. Bis bald Teresa, Süße. Lass dich gerne nochmal

blicken.“

Teresa zog die Haustür kräftig zu, wie von Dietmar gewünscht

und ging nach Hause.

Das mit den klaren Worten üben wir aber nochmal, dachte sie sich und

legte sich geistig bereits ein paar Worte zurecht, um Dennis seine

neue Tätigkeit schmackhaft zu machen.

Was für eine Scheiße!

-

Mark wollte nicht der ewige Zweifler und Pessimist sein, erst recht

nicht, nachdem Hasan sich so über Marks erfolgreiche Bewerbung

und generell den gestrigen Tagesverlauf gefreut hatte.

Trotzdem gefiel ihm nicht, was Hasan ihm erzählte und da Mark in

Hasan mehr als nur einen Kollegen sah, fühlte er sich

verantwortlich. Es war seine Pflicht, wenigstens Bedenken zu

äußern, auch wenn Hasan diese vielleicht nicht hören wollte.

„Und jetzt willst du einen auf „Web Tony Montana“ machen, oder

was?“ Zugegeben, an der Art und Weise, wie er seine Bedenken

äußerte, musste Mark noch arbeiten. Leider merkte er das, wie

üblich, zu spät.

Hasan rollte mit den Augen: „Okay, ich verstehe schon. Du hältst

das für eine Schnapsidee.“

Halt dich zurück Mark, dachte Mark. Wenn du nicht subtiler an die Sache

herangehst, erzählt er dir gar nichts mehr.

„Aber hallo! Es ist eine Schnapsidee, Hasan!“, sagte Mark.

Gut gemacht, du Idiot., dachte er.

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Hasan blitzte ihn an: „Ist doch kein Problem, Mark. Deswegen

hab ich dich auch gleich rausgehalten. Das ist jetzt mein Problem,

wenn du so willst.“

Hasan drehte sich um und zog sich in seine Abteilung zurück.

Mark kämpfte mit sich, ob er ihm nachlaufen sollte, um die Wogen

zu glätten, entschied sich aber dafür, ihn zunächst in Ruhe zu

lassen. Mit abgekühltem Kopf konnte man sich sicherlich besser

unterhalten.

Mark stellte sich an seinen Computer, einem alten Gerät mit

Röhrenmonitor, welcher auf einer Art rollendem Sideboard stand

und tippte antriebslos im System herum. Vor einem Jahr noch

hatte jede Abteilung einen Schreibtisch gehabt. Abschließbare

Schränke für Ordner befanden sich darin, ein Telefon stand drauf

und das wichtigste: Es gab damals Stühle. Bürostühle, auf denen

sich der Abteilungsleiter oder auch Kollegen setzen konnten.

Doch kaum hatte David Bergmann die Leitung von „Schrauben-

Manny“ übernommen, wurden die Schreibtische entfernt und

plötzlich gab es keine Sitzmöglichkeiten mehr.

Die Begründung lautete damals: „Der Kunde fühlt sich nicht

betreut, wenn ein Verkäufer sich ihm sitzend widmet.“

Absoluter Schwachsinn, fand Mark auch heute noch.

Er würde sich jetzt gerne setzen. Nur für ein paar Minuten, um die

Zeit zu überbrücken.

Mark blickte auf seine Armbanduhr. Unmöglich! Er war erst seit

einer Stunde hier? Das bedeutete, es waren noch stolze vier

Stunden bis zur Mittagspause zu überbrücken.

Mark seufzte frustriert. Was war jetzt eigentlich mit der

Mittagspause? Würde er die Pause jetzt ohne Hasan verbringen

müssen? Nur wegen diesem blöden Streit? Nur weil Mark mal

wieder seine Meinung völlig ungefragt äußern musste?

Mark seufzte erneut, verließ seinen Computer und ging in Hasans

Abteilung, um sich zu entschuldigen.

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.“ Teresa stand

im Türrahmen von Dennis Zimmer. Dennis unterbrach seine

emsige Aufräumaktion, welche Teresa vor Staunen beinahe die

Sprache verschlug und sah Teresa lächelnd und neugierig an.

-

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„Okay. Dann möchte ich zuerst die schlechte Nachricht hören.

Setz dich doch bitte.“ Dennis strahlte Teresa an und rückte ihr

seinen Stuhl zurecht.

Was ist nur los mit ihm? Er scheint völlig ausgewechselt zu sein, dachte

Teresa, setzte sich aber auf den angebotenen Stuhl.

„Ehrlich gesagt, würde ich dir lieber zuerst die gute Nachricht

sagen. Das passt besser, glaub mir.“ Teresa versuchte sich in einem

Lächeln. Offenbar gelangt es ihr, denn Dennis Lächeln wurde

tatsächlich noch breiter: „Ganz wie du willst, Mama. Schieß los.“

„Okay,“ Teresa hüstelte ein wenig, um ihre Stimme frei zu

bekommen. „Du darfst ab morgen wieder zur Schule.“

Sie wartete eine Reaktion ab, irgendetwas? Freude oder Unlust, es

war ihr egal. Sie wollte nur eine kleine Pause zwischen dieser und

der nächsten Nachricht schaffen. Eine Reaktion blieb allerdings

völlig aus.

Teresa bohrte nach: „Freust du dich nicht?“

„Wenn du erlaubst, möchte ich mir jetzt zuerst die schlechte

Nachricht anhören, bevor ich mich freue.“, lachte Dennis und sah

sie weiterhin erwartungsvoll an.

Clever, dachte Teresa und hüstelte erneut.

Dennis griff in seine Hosentasche und holte ein Bonbon hervor:

„Bonbon? Gegen deinen Frosch im Hals?“

Teresa lachte auf: „Nein danke, schon gut. Also pass auf, mein

Großer. Dietmar, unser Nachbar, hat mit dem Leiter deiner Schule

gesprochen und einen Deal ausgemacht. Ich muss dazu sagen, dass

er das nicht mit uns vorab besprochen hat. Wir finden das wirklich

unmöglich, dass er einfach so für uns entschieden hat, das kannst

du mir glauben. Allerdings, das muss ich leider zugeben, hätten wir

es wahrscheinlich allein nicht hinbekommen, dich so schnell

wieder in die Schule zu bekommen. Von daher…“

Teresa hatte sich festgeredet und musste wieder auf die richtige

Spur kommen. Sie hatte die Befürchtung, dass mit dem nächsten

Satz der jetzige Dennis sich wieder verabschieden würde und das

für eine lange Zeit.

„Mama.“ Dennis kam auf Teresa zu und legte seine Hand auf ihre

Schulter. „Sag es ruhig. Was muss ich tun, damit der Deal

eingehalten wird?“

War es das jetzt? dachte Teresa. Hat sich das Kind in Dennis nun

endgültig verabschiedet? Ist er jetzt ein junger Erwachsener?

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Erstaunt stellte sie fest, dass dieser Gedanke sie mehr schmerzte

als vermutet.

„Du sollst drei Wochen lang den Schulhof säubern. Täglich in der

großen Pause und nach dem Unterricht.“, schoss sie aus sich

heraus. Sie bemerkte erst später, dass sie unbewusst dabei ihren

Kopf zwischen ihre Schultern gezogen hatte, als ob sie sich ducken

wollte. Nur ein Millimeter, aber sie spürte die Bewegung noch

immer. Innerlich schimpfte sie sich für diese dargestellte Schwäche

und kam sich blöd vor.

Vielleicht hat er es nicht bemerkt, dachte sie.

Dennis dachte kurz nach und zuckte ein wenig später mit seinen

Schultern: „Das klingt eigentlich fair. Ich habe schon für reichlich

Ärger gesorgt, wenn man mal ehrlich ist. Also, abgemacht.“

Teresa seufzte erleichtert: „Schön. Ich finde es klasse, dass du dich

dem offen entgegenstellst. Damit habe ich, ehrlich gesagt, nicht

gerechnet. Ich bin richtig stolz auf dich“

Dennis beugte sich zu Teresa hinab und gab ihr einen Kuss auf die

Wange: „Glaub mir Mama. Es gibt keinen Grund, stolz auf mich

zu sein. Sei lieber stolz auf Papa. Ich beeile mich mal, klar Schiff

zu machen. Ab morgen kann ich das ja nicht mehr.“

Beherzt griff Dennis zu einem Stapel Bücher und verteilte sie

ordentlich in seinem Regal. Teresa stand von Dennis Stuhl auf und

verließ leise das Zimmer ihres Sohnes.

Warum sie auf Mark stolz sein sollte, vergaß sie völlig zu

nachzufragen.

Noch nie war Mark der Fußweg bis zum Subways so andauernd

vorgekommen wie heute. Hasan und er schlenderten

nebeneinander her. Schweigend.

Mark stellte fest, dass es Unterschiede im Bereich des Schweigens

gab. Da es momentan, außer stupidem Gehen, nichts Besonderes

zu tun gab, hing er seinen Gedanken nach.

Es gab das „romantische Schweigen“. Dieses Schweigen, dem

Pärchen zumeist vor einer schönen Kulisse oder in besonderen

Momenten nachgingen.

Dann gab es noch dieses „Schweigen unter Freunden“. Freunde

mussten nicht permanent reden, sich nicht über alle möglichen

-

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Dinge unterhalten und das nur um des Redens willen. Nein,

Freunde verstanden es blendend, gemeinsam zu schweigen. Es

reichte in diesen Momenten einfach, dass sie zusammen waren und

sie hatten keinen Grund, Momente mit Geräuschen (und wenn es

nur die eigene Stimme war) zu stören.

Das „nachdenkliche Schweigen“ kannte Mark auch zu gut. Dieses

Schweigen hatte keinerlei Emotion. Es bestand nur aus dem

Grund, weil das Gehirn momentan damit beschäftigt war, etwas

herauszufinden und man fühlte sich nicht in der Lage, sich verbal

zu äußern. Noch nicht mal Kleinigkeiten, wie „Ja“ oder „Nein“

konnte dann über Marks Lippen gezwungen werden. Dieses

Schweigen führte Mark einmal in einem der heftigsten

Streitgespräche mit Teresa, die er jemals hatte. Und dabei war der

Grund so lapidar. Er hatte sich damals einen Virus auf seinem

alten PC geholt. Mittlerweile wusste er nicht mehr, wie er das

geschafft hatte und auch nicht, wie und warum er diesen Virus

festgestellt hatte. Auf jeden Fall saß Mark an diesem einen Abend

vor seinem befallenen PC und versuchte mit seinem

überschaubaren Sinn für Computerwesen das Virus zu finden und

im besten Fall zu entfernen. Er musste Stunden vor dem

Computer verbracht haben und war aufs Äußerste konzentriert.

Als Teresa ihn fragte, ob er Lust hätte mit allen zu Abend zu essen,

fühlte Mark sich nicht in der Lage zu antworten. Er hatte die

Frage genau gehört und wusste auch, dass er nicht mitessen wollte.

Er konnte aber einfach nicht antworten, weil er sich auf das

aktuelle Problem konzentrierte. Teresa hielt das damals für eine

unmögliche Eigenschaft und so entfachte der Streit.

„Betretenes Schweigen“ fiel Mark jetzt ein. Dieses Schweigen auf

Beerdigungen oder wenn ein Kollege, mit dem man sich gut

verstand, plötzlich vor einem steht, um mitzuteilen, dass der

Bergmann ihm soeben die Kündigung überreicht hatte. Das war

vor knapp einem Jahr, doch Mark erinnerte sich, als wäre es

gestern gewesen.

Oder aber nach einem Streit. Die Wogen waren zwar geglättet,

aber dennoch war da diese Stille, dieses betretene Schweigen.

Genau das war es, was momentan zwischen Mark und Hasan

herrschte. Sie hatten sich ausgesprochen und auch vertragen. Mehr

noch, Mark hatte sich für seine barsche Reaktion sogar

entschuldigt. Zugegeben, ein wenig gegen seine Überzeugung,

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denn innerlich hielt Mark Hasans Idee nach wie vor für

schwachsinnig und zudem brandgefährlich. Somit war der Streit

zwar beigelegt, aber dieses quälende Schweigen deutete an, dass da

etwas war, das tiefer saß als eine einfache Meinungsverschiedenheit

oder ein einfacher Streit.

Irgendetwas heute Morgen, an irgendeinem Punkt im Verlaufe des

Streites, hatte etwas in den Beiden verrückt. Etwas in ihrer

Freundschaft war zerbrochen worden und Mark hatte die

Befürchtung, dass es keinen Kitt und keinen Kleber für diesen

Bruch gab.

Als das Subways bereits in Sichtweite war, fing Hasan plötzlich an

zu summen.

Mark musste sofort grinsen. Er kannte den Song zu gut.

„I started this gangsta shit and this the motherfuckin thanks I

get?“, rappte Hasan und sah Mark erwartungsvoll an.

Mark lachte und sagte: „Hello!“

Hasan wiederholte: „I started this gangsta shit and this the

motherfuckin thanks I get?“

„Hello!“ Mark sagte es dieses Mal lauter und fühlte sich erlöst.

Sie rappten (oder zumindest taten sie so, als würden sie rappen)

den Song „Hello“ von Ice Cube die letzten Meter vor dem

Subways und mit jedem Schritt war Mark ein wenig leichter ums

Herz.

Vielleicht gibt es ihn doch, dachte er. Den Kitt oder den Kleber für den

Bruch.

Am Abend, zu Hause angekommen, wollte Mark es sich nicht

nehmen lassen, mit Dennis noch ein paar warme Worte zu der

ganzen Misere zu wechseln.

Der weitere Verlauf des Tages verlief ohne weitere

Besonderheiten. Mark und Hasan räumten gemeinsam gelieferte

Ware in die Regale, zuerst Farben und Lacke in Marks Abteilung,

danach Maschinen und Maschinenzubehör in Hasans Abteilung.

Bergmann ließ sich an dem Tag nicht blicken und auch Feist hielt

sich nach dem Treffen am Morgen bedeckt.

-

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Mark ging die Treppe hoch, um zu Dennis Zimmer zu gelangen.

Er lachte plötzlich auf, als er sich an Hasans Streich erinnerte,

welchen er eben noch im Laden ausgeübt hatte.

Ein Kunde wollte einen acht Millimeter Holzbohrer haben und

fragte Hasan, wo er diesen denn finden könnte.

Es war nicht die Frage selbst, die Hasan dann das machen ließ, was

er tat. Es war die Art, wie der Kunde nach seinem gewünschten

Bohrer fragte.

Er gestikulierte bohrende Tätigkeiten und sprach bedacht langsam,

überdeutlich und laut.

„WO… BOHRER… HOLZ… 8 MILLIMETER?“, schrie der

Kunde Hasan beinahe an.

Hasan aber blickte Mark nur fragend an und Mark war zu

verwundert, um darauf angemessen zu reagieren.

Diese Pause führte dazu, dass der Kunde sich an Mark richtete:

„Versteht er mich nicht?“

Mark antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Nee!“

Der Kunde seufzte genervt: „Können Sie mir denn helfen?“

Mark war jetzt voll im Spiel und die blinzenden Augen Hasan

stachelten ihn an, weiter zu machen.

„Wobei?“, fragte Mark also einsilbig.

Der Kunde seufzte erneut: „Naja. Ich brauche immer noch den

Holzbohrer.“

Mark begann Spaß zu haben: „Welche Maschine haben sie denn?

Bosch? Black und Decker? AEG?“

Der Kunde starrte Mark perplex an: „Ist doch völlig egal. Ich

brauche einen Bohrer für Holz. Acht Millimeter. Kein Ersatzteil.“

Mark riss seine Augen auf und schaute den Kunden groß an:

„Jahaaaa. Das meinen SIE! Kommen Sie mal mit.“

Zu dritt wechselten sie die Regale und betraten den Gang mit

Meiseln, Bohrern und Schraubbits.

Mark griff zu einer Verpackung und hielt diese dem Kunden nah,

zu nah, unter die Nase.

„Da schauen Sie. Da steht extra drauf Bosch, AEG, Black &

Decker und…“ Mark beugte sich vor und tat so, als würde ihn das

Lesen anstrengen „Meeeetaaaaabo!“

Der Kunde verlor in dem Moment die Beherrschung: „Ja, die

erwähnen einfach jede gängige Maschine, das ist doch nichts

Besonderes. Meine Güte. Der eine versteht die deutsche Sprache

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nicht und der andere ist völlig unfähig. Hier in dem Laden ist alles

im Eimer, das will ich ihnen mal sagen.“

„Eimer?!“, schrie Hasan plötzlich, so dass der Kunde und auch

Mark zusammenzuckten. Hasan eilte um die Ecke in die

Baustoffe-Abteilung und kam mit einem schwarzen Baueimer

zurück. Er hielt dem Kunden den Eimer stolz grinsend hin und

Mark musste sich auf die Zunge beißen um nicht zu lachen.

Mark grinste immer noch, als er an Dennis Zimmer ankam. Er

klopfte.

„Hallo? Komm rein.“, klang es von innen. Mark freute es sehr,

Dennis Stimme so hell und fröhlich zu hören. Er war die

mürrische, freche Art schon so sehr gewöhnt, dass er ein wenig

brauchte, um diese Stimme Dennis zuzuordnen.

Er trat ein und traute seinen Augen kaum. Das Zimmer war hell,

warm und penibel aufgeräumt.

Hell? Wie konnte Dennis es heller gemacht haben, dachte Mark

und versuchte sich zu orientieren. Natürlich! Das Zimmer schien

nur heller, weil Dennis den Fußboden endlich entrümpelt hatte.

Seine benutzten Klamotten waren weg, mutmaßlich in der Wäsche

und seine DVDs, CDs und Bücher waren ordentlich verräumt.

Zudem hatte Dennis die Poster seiner Videogames von den

Wänden entfernt.

Erstaunlich, dachte Mark, da fiel Dennis ihm auch schon um den

Hals.

„Danke Papa! Vielen, vielen Dank.“, schluchzte Dennis und

vergrub sein Gesicht an Marks Hals.

Mark spürte Tränen an seinem Hals und umarmte seinen Sohn

fest.

„Jederzeit, Dennis. Ich bin immer für dich da. Ich bin dein Vater

und das ist meine Pflicht.“, sagte Mark, drückte ein wenig fester zu

und streichelte seinem Sohn tröstend über den Rücken.

Nach einer Weile schob er Dennis ein wenig von sich weg, um

ihm in die Augen zu sehen.

„Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst. Das sind

Menschen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen und die

machen Sachen, mit denen wir erst recht nichts zu tun haben

wollen.“, sagte Mark. Er sprach ruhig, ohne Vorwurf. Trotzdem

war es ihm wichtig, dass Dennis merkte, wie wichtig es Mark war.

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Über Dennis Wangen kullerten noch zwei oder drei dicke Tränen,

während er eifrig nickte. Mark zog ihn nochmal zu sich.

„Alles wird gut, mein Großer. Wirst schon sehen.“, sagte er und

genoss dabei die Erwiderung seiner Umarmung.

War es das jetzt, dachte Mark. Hab ich jetzt meinen Sohn endgültig wieder?

Oder ist das nur eine Pause von der Rebellion?

Mark stellte fest, dass sich damit seine „warmen Worte“ erledigt

hatten und zudem stellte er auch fest, dass ihm diese Tatsache

völlig egal war.

Er hatte seinen Sohn wieder, so wie er immer gewesen war. Er

hatte Dennis wieder und war diesen Viktor los.

Für immer!

-

„ICH. WILL. ZUERST. DIE. WARE. SEHEN.“

Bereits seit Minuten starrte Hasan auf die großgeschriebenen

Worte.

Ob das so eine typische „DarkNet Art“ zu schreiben ist?, fragte Hasan

sich nun wiederholt. Zunächst gab es allerdings darauf keine

Antwort.

Der Grund, warum sein Kunde die Ware vorab sehen wollte,

bereitete ihm durchaus mehr Kopfzerbrechen.

„HALLO?“

Eine Aufforderung zu antworten erschien nun im Chat. Er musste

antworten, egal was. Zumindest zunächst war der Inhalt seiner

Antwort gleichgültig, er musste nur zeigen, dass er noch dort war.

„Warum?“, tippte Hasan hastig in seine Chatleiste und dachte

bereits fieberhaft über die nächsten Schritte nach.

Entweder würde sein Kunde nun wütend sein und den Chat

beenden oder er würde antworten. Sollte er den Chat verlassen,

musste Hasan komplett von vorne beginnen.

Einen neuen Interessenten ausfindig machen, in Kontakt treten

und neu verhandeln. Hasan wollte das um jeden Preis verhindern.

Er überlegte, ob er seinem „Warum?“ noch etwas hinterhersenden

sollte, entschied sich aber dagegen, da er seinem Ansprechpartner

auf keinen Fall auch nur die geringste Spur von Schwäche

übermitteln wollte.

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Er zog ein paarmal an seiner Shisha. Scheinbar waren die Züge an

der Wasserpfeife zu heftig, denn er begann augenblicklich zu

husten.

Zuerst begann es mit einem Hüsteln, doch das machte es nur noch

schlimmer. Ehe er sich versah brach in ihm ein Hustenanfall aus.

Er hustete, japste nach Luft und wurde puterrot. Eilig griff er zu

seinem Glas Cola und trank in langsamen, großen Schlucken um

sein Husten unter Kontrolle zu bringen. Es gelang ihm

einigermaßen. Ein kleiner, lästiger Reizhusten, war das, was noch

übrig blieb.

Er blickte sich nach dieser unfreiwilligen „One Man Show“

neugierig um und stellte fest, dass beinahe alle Gäste des „Internet

/ Shisha Cafés“ auf ihn starrten.

Super, dachte er. Ich gehe extra in eine Webgastronomie um inkognito zu

bleiben und richte die ganze Aufmerksamkeit auf mich. Klasse gemacht,

Hasan.

Er malte sich bereits aus, wie ein Verhör hier ablaufen könnte:

„Mein Name ist Kommissar Jupp Juppsen. Wir haben ihre IP bei illegalen

Internetverbrechen ausfindig machen können. Ist Ihnen etwas Seltsames

aufgefallen?“

„Jetzt, wo sie es sagen, Kommissar Jupp…“

„Bitte keine Vertraulichkeiten. Kommissar Juppsen, bitte.“

„Verzeihung, Herr Kommissar Juppsen. Jetzt, wo Sie es sagen. Der Hasan

Borat hat sich hier die Seele aus dem Leib gehustet und danach panisch auf

der Tastatur gehämmert. Wenn Sie mich fragen, war der gar nicht hier um

Shisha zu rauchen.“

„WEIL. ICH. NICHT. MEHR. VORHABE. MEINE.

GESCHÄFTE. BLIND. ZU. TÄTIGEN.“

Hasan schrak aus seinen Tagträumen auf und konzentrierte sich

auf die neue Nachricht, die auf dem Monitor auftauchte.

Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Was heißt blind?

Er schrieb: „Es ist derselbe Inhalt, wie unsere erste Transaktion.

Nur die doppelte Menge. Wie gewünscht.“

Er sah fasziniert zu, wie sich auch dieses Mal die Buchstaben

seiner Nachricht langsam in Luft auflösten. Dieser Dark Chatroom

war schon crazy. Offenbar wurde an alles gedacht. Keine

verfolgbare IP-Adresse (trotzdem beugte Hasan durch die

Anwesenheit in eben jenem Internet / Shisha Cafés vor), keine

Namen, keine Daten und selbst die dargestellten Nachrichten auf

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dem Monitor verschwanden nach ein paar Sekunden oder

Minuten. Je nach Internetverbindung.

„WARE. IMMER. NOCH. NICHT. DA.“

Hasan wurde es mulmig. Das konnte doch nicht sein. Er hatte

extra eine Spedition ergoogelt, die vertrauensvoll jede Art von

Paket auslieferte. Eine Paketnummer gab es zwar nicht, somit

konnte er keine Sendeverfolgung zu Rate ziehen, aber im Netz

wurde stets positiv von diesem Kurier geschrieben.

Siebzig Euro hatte er dafür heute Morgen gezahlt. Siebzig Euro,

damit das Paket noch heute in dem Postfach in Bochum deponiert

wurde. Laut der Annahmestelle sollte gegen 14:00 Uhr das Paket

deponiert werden.

Was war da los?

Er dachte kurz nach bevor er antwortete: „Kann nicht sein. Der

Kurier versprach mir eine Deponierung bis spätestens 14:00 Uhr

im genannten Postfach.“

Die Worte verschwanden wieder und Hasan begann mit den

Fingerkuppen auf der Tischoberfläche zu trommeln.

„DU. DENKST. ALSO. ICH. LÜGE.“

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Hasan zügig und merkte, wie

sein Schweiß langsam die Stirn benetzte. Zudem bildete sich

Schweiß in seinem Nacken und begann sich langsam seinen Weg

über den Rücken nach unten zu bahnen.

Ist es hier so heiß oder drehe ich gerade durch, dachte er.

„WENN. DAS. PAKET. MORGEN. NICHT. IM. POSTFACH.

IST. BEKOMMEN. WIR. SCHWIERIGKEITEN.“

Hasan starrte auf die aktuellste Meldung des Chats. Er traute sich

nicht zu blinzeln. Wenn er geblinzelt hätte, hätte er nicht

mitbekommen, wie sich die Nachricht in Luft auflöste und hätte

später an ihrer Existenz gezweifelt. Das war eine Drohung, daran

gab es kein Zweifel. Hasan schluckte. Sein Mund war trocken. Er

spürte, wie seine raue Zunge an seinem Gaumen schabte und

bereute, dass er sein Glas mit Cola bereits leer hatte.

Er hob seine Hand um den Inhaber des Cafés ein Zeichen für

Nachschub zu signalisieren.

Hasan tippte erneut: „Was soll ich denn machen? Das Paket ist

hundertpro auf dem Weg zu dir. Ich kann doch nichts mehr

machen.“

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„Noch eine Cola, Hasan Abi?“, schallte es von der Theke aus und

Hasan nickte mit einem erzwungenen Lächeln in die Richtung, in

der er den Inhaber vermutete.

„DOCH.“, stand nun mitten auf dem Bildschirm.

Hasan war im Begriff zu seiner Tastatur zu greifen. Er wollte, nein

MUSSTE, fragen, was er denn noch machen könnte.

Er hielt in seiner Bewegung ein. Eine neue Nachricht erschien.

Eine Nachricht, mit der Hasan niemals gerechnet hatte. Er ließ

seine Hände kraftlos sacken und blickte sich hilfesuchend um.

Vielleicht verarscht mich hier jemand, dachte er noch verzweifelt,

glaubte seinen eigenen Gedanken aber nicht.

Die geschriebene Nachricht begann soeben sich aufzulösen.

Trotzdem konnte Hasan den letzten Satz immer noch lesen:

„DU. KANNST. BETEN. HASAN.“

-

Er fand es Scheiße. Das hatte er mehr als deutlich gemacht. Der

gestrige Morgen war so unglücklich verlaufen, weil er es so deutlich

gemacht hatte. Er fand das alles regelrecht Kacke und wollte damit

nicht das Geringste zu tun haben. Kein Zweifel.

Wie konnte es also dazu kommen, dass er nun doch mit Hasan

zusammenstand und über sein Erlebnis von der letzten Nacht

nachgrübelte? War er doch nicht deutlich genug gewesen oder

hatte Hasan die Versöhnung zur Mittagszeit insoweit

missverstanden, als dass er Marks Entgegenkommen als Interesse

missdeutete?

Egal, wie es dazu gekommen war. Mark hörte sich Hasans

Geschichte an und, er musste es zugeben, dachte über das Erlebnis

nach. Eigentlich wäre der Punkt wieder erreicht worden, an dem

Mark Hasan sein Missfallen erneut ins Gedächtnis hätte rufen

sollen. Er tat nichts dergleichen. Er erwischte sich sogar dabei, wie

er mitfieberte und mögliche Theorien in den „Topf der

Eventualitäten“ warf.

„Bist du dir sicher, dass da „Hasan“ stand?“, fragte er und schalt

sich zur selben Zeit.

Hasan sah aber auch gebeutelt aus. So blass hatte Mark seinen

Kollegen und Freund noch nie gesehen.

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Hasan war sogar noch blasser als damals, als er trotz seiner

offensichtlichen Magen-Darm-Erkrankung an einem der heißesten

Tage im Sommer vor zwei Jahren zur Arbeit erschienen war.

Mark erinnerte sich so deutlich, dass er sogar den Geruch des

Erbrochenen wieder riechen konnte. Hasan ließ sich damals

nämlich nicht dazu überreden, schnurstracks nach Hause zurück

zu gehen. Erst als Hasan sich in seiner Infotheke übergab, räumte

er das Feld und sah ein, dass er zu Hause besser aufgehoben war.

Mark hatte infolgedessen das Vergnügen, sämtliche Spuren

wegzuputzen und hätte sich danach am liebsten auch

krankgemeldet.

Er verzog bei dem Gedanken an damals angewidert sein Gesicht,

Hasan sah es, reagierte aber nicht. Mark war froh darüber, denn er

wollte nicht unbedingt jetzt von seinen kruden Gedankensprüngen

erzählen.

„So sicher, wie ich grad vor dir stehe.“, sagte Hasan.

Mark seufzte: „Es kann ja auch sein, dass er auch Hasan heißt.“

Hasan sah ihn überrascht an: „Was? Wie? Kapier ich nicht.“

Mark dachte laut nach: „Naja. du sagtest doch, dass derjenige mit

dem du gechattet hast, permanent großschrieb und nach jedem

Wort einen Punkt gesetzt hat, richtig?“

Hasan versuchte sich zu sammeln und Marks Gedanken zu folgen.

Es schien ihm nicht so recht zu gelingen.

„Ja, stimmt. Und?“ Hasan zuckte mit den Schultern, um sein

Unverständnis visuell zu unterstreichen.

„Das bedeutet,“ fuhr Mark fort „eine Betonung können wir nicht

aus den Texten herauslesen.“

Hasan zog die Augenbrauen zusammen: „Mark. Ich brauche keine

Betonung. Ich möchte nur mal wissen…“

Mark unterbrach ihn: „Warte doch mal Hasan. Es kann also

folgendes sein. Entweder wollte er sagen: Du kannst beten, Hasan.

Oder er wollte sagen: Du kannst beten. Hasan.“

Hasan versuchte den Unterschied herauszuhören: „Verstehe ich

nicht.“

„Das würde bedeuten, dass der Typ, mit dem du geschrieben hast,

auch Hasan heißt. Zufälle gibt es.“ Mark breitete seine Arme aus

und drehte sich um seine eigene Achse, als ob er damit die

Verrücktheit der ganzen Menschheit gestikulieren wollte.

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„Ach Mark. Das glaubst du doch selber nicht. Wie wahrscheinlich

soll das sein? Zwei Hasans, die sich gegenseitig in illegale

Geschäfte ziehen?“ Hasan ließ seine Schultern hängen.

„Genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, als wenn dich

jemand tracken könnte, obwohl du mit dem Tor-Browser im

Darknet unterwegs bist.“, sagte Mark und verschränkte seine Arme

vor der Brust. „Ich bleibe dabei“, drückte diese Geste aus.

Hasan hielt inne: „Was für ein Browser?“

Mark ließ seine Arme sinken: „Naja. Tor-Browser oder halt

Onion-Browser. Was weiß ich, welchen du genutzt hast.“

Hasan dachte angestrengt nach.

Mark schwante schlimmes und eigentlich wollte er jetzt nur noch

wegrennen, wenn er sich vorstellte, dass seine aktuelle Befürchtung

der Wahrheit entsprach.

Bitte! Bitte, bitte, bitte, lass es nicht stimmen, dachte er.

„Hasan?“, fragte er drängend nach.

Hasan schien aufzuschrecken: „Was?!“

„Welchen Browser hast du benutzt?“, fragte Mark und zählte die

Sekunden.

Er war kein IT-Spezialist, mit Sicherheit nicht, aber selbst er,

welcher kaum Ahnung vom DarkNet und all den Tipps und Tricks

hatte, wusste, dass man nur mit einigen bestimmten Browsertypen

sicher und unauffindbar durchs DarkNet surfen konnte…

„Ich habe meinen Chrome-Browser benutzt.“, sagte Hasan.

…und der „Chrome-Browser“ war definitiv nicht dabei.

-

„Hey Dan the D, was geht denn so?“. Der pickelige Halbstarke

war aus Dennis Parallelklasse. Dennis hatte ihn schon ein paarmal

gesehen, hatte ihm aber bislang keine große Aufmerksamkeit

geschenkt. Nun stand er da, umgeben von vier Jungs, die alle vor

sich hin gackerten, als hätte die „Clearasil-Testfläche“ den größten

Witz aller Zeiten vom Stapel gelassen.

„Man schlägt sich so durch.“, antwortete Dennis beinahe schon

automatisch. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass

Mitschüler ihn blöd und semi-lustig von der Seite ansprachen. Um

ganz ehrlich zu sein, war „Mr. Pickel“ mindestens der vierte,

welcher Dennis einen blöden Spruch zurief, seitdem er seine

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„Schulhof-Reinigung“ nach dem Unterricht begonnen hatte. Alle

Nase lang hörte Dennis aus irgendeiner Ecke des Schulhofs

irgendeinen hämischen Zuruf. Bis jetzt hatte er erfolgreich alles

ignorieren können, er hatte ja auch schließlich genug zu tun.

Dieses Mal jedoch, das spürte er genau, würde er nicht so leicht

davonkommen. Seine Nackenhaare richteten sich auf und

verursachten dieses Kribbeln. Das Kribbeln, welches Dennis dazu

aufforderte aufzupassen.

Der Pickelige hielt seine Arme waagerecht und deutete seinem

Gefolge damit an, sich zu beruhigen. Sie verstummten.

„Machst du danach auch die Klassen sauber?“ Die Stimme verriet

Dennis, dass es nicht nur eine harmlose Nachfrage war. Auch die

Jungs um den Anführer herum verrieten die kommende

Provokation. Sie giggelten und pressten ihre Hände vor den Mund,

um ihr unterdrücktes Lachen zu demonstrieren.

Nicht drauf eingehen, Dennis. Er ermahnte sich gedanklich, merkte

jedoch zur selben Zeit, dass sein Puls sich bereits beschleunigte.

Das sind dumme Menschen, hör einfach nicht hin.

„Nein!“, antwortete er knapp. Es kam ruhig und gelassen über

seine Lippen und er gratulierte sich dafür innerlich.

„Das ist schade, weißt du?“, sagte die Nervensäge. Er kam Dennis

immer näher. Selbstverständlich weiterhin umzingelt von seinen

treuen Gefährten. Zwei von ihnen schubsten sich zum Spaß und

lachten, als wären sie sieben oder acht Jahre und gingen nicht zur

Realschule.

Dennis widmete sich erneut seinem Besen. Wenn er diese Fläche

„besenrein“ gebracht hatte, könnte er Feierabend machen. Er

wollte sich danach mit seinem Klassenkameraden Paul treffen und

nur noch diesen Abschnitt zu Ende bringen. Er freute sich bereits

den ganzen Tag drauf.

Auch ohne sich den Fünfen zuzuwenden, bemerkte Dennis, dass

sie sich nun in unmittelbarer Nähe befanden. Er hörte sie atmen

und er realisierte, dass keine Schritte mehr zu hören waren.

„Möchtest du nicht wissen, warum es schade ist, Dan the D. So

heißt du doch, oder?“ Die Stimme war direkt hinter ihm. Dennis

schenkte ihnen trotzdem keine Beachtung. Er beugte sich nach

unten und fischte Kehrblech und Handfeger aus dem Eimer und

begann den Müllhaufen vor seinen Knien aufzufegen.

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„Dennis. Einfach nur Dennis. Und nein, ich möchte es nicht

wissen, dankeschön.“ Er kippte den Müll in den Eimer und setzte

gerade nochmal an, um den Rest des Mülls aufzuschaufeln, als ein

kräftiger Tritt in seinem Rücken landete.

Dennis fiel hin und schlug sich beide Ellenbögen und sein Kinn

auf. Durch den Aufprall biss er sich zudem auf die Zunge, welches

von allen Verletzungen die schmerzhafteste war.

„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede, du Spasti.“, zischte der

Junge. Er wechselte allerdings umgehend wieder den Tonfall und

sprach wieder so herablassend wie zuvor. „Ja, schade dass du nicht

die Klassenräume säuberst. Ich habe nämlich eben in die Ecke

gerotzt, musst Du wissen.“

Die vier Jungs brachen erneut in schallendes Gelächter aus.

Währenddessen rappelte sich Dennis auf und begann seine

Kleidung abzuklopfen. Er antwortete nicht, versuchte stattdessen

weiterhin ruhig zu atmen.

Der Junge schien kurz irritiert zu sein, riss sich aber schnell

zusammen: „Aber weißt du was? Das macht nichts. Ich hab dir ein

wenig davon mitgebracht.“

Bevor Dennis reagieren konnte, zog der Picklige die Nase hoch

und spie aus. Dennis hatte nicht die Gelegenheit auszuweichen,

weswegen alles auf seinen Schuhen landete.

„Na? Was willst du dagegen tun?“, fragte der Junge.

Angewidert starrte Dennis zuerst auf seine Schuhe und danach

endlich auf die fünf Schulkameraden. Er realisierte, dass einer von

ihnen ein Handy hielt.

Filmten sie das etwa? Dennis schwante Übles.

Die wollen filmen, wie sie mich fertig machen, dachte er noch, da brach

die Hölle bereits aus.

Mark war nervös. Er hatte generell Schwierigkeiten damit, über

sich zu sprechen. Er empfand das Wort „Bewerbung“ als eben

das, wofür es stand: Für sich Werbung machen. Er empfand das

als unangenehm und hatte darin auch viel zu wenig Übung.

Jetzt sollte er das auch noch über einen sogenannten Webcall

machen. Computer an und sofort loslegen? Das war noch

unangenehmer, fand er.

-

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Bei einem Gespräch vor Ort konnte man sich wenigstens Schritt

für Schritt vorbereiten. Man hätte die Zeit der Anreise auf seiner

Seite, würde dort empfangen werden und somit den ersten

Kontakt haben.

Dann würde man wahrscheinlich nochmal warten und sich dabei

sammeln.

Zu guter Letzt begleitete man dann den Personalmanager zum

Büro, wo das Gespräch beginnen würde.

Mit der Möglichkeit des Webcalls (natürlich verstand er trotz all

der Bedenken die Vorteile) begann das Gespräch einfach sofort.

Der Bildschirm würde aufleuchten und SHOWTIME.

Mark schaute auf seine Uhr.

13.54 Uhr.

Um 14:00 Uhr sollte der Call stattfinden. Er ärgerte sich wieder

über sich selbst. Er hatte heute Morgen noch daran gedacht, aber

dann doch vergessen, seinen Laptop einzupacken und

mitzunehmen.

Hasan, der sich im Bereich Technik ein wenig besser auskannte,

versicherte ihm zwar, dass Webcalls auch mit Smartphones

funktionieren, aber Hasan wusste ja auch nicht um den Zustand

von Marks altem Samsung. Die Frontkamera machte nur sehr

schwammige Bilder (zugegeben, die eingebaute WebCam des

Laptops war auch nicht das Gelbe vom Ei) und die Akkuleistung

seines Smartphones schwankte von Tag zu Tag.

Im Augenblick war sein Akku auf 57%, was vermutlich ausreichen

würde. Es könnte aber auch sein, dass im nächsten Moment die

Kapazität auf 53% und so weiter dargestellt wird. Ohne Erklärung,

außer dem Alter des Gerätes.

13:56 Uhr.

War es eigentlich angebracht, den virtuellen Meetingraum vorab zu

betreten? Ist es in der Netzwelt so wie in der physischen Welt? Wie

war das nochmal: Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Soldaten

Pünktlichkeit? Oder war es der Maurer? Der Maler?

Muss ich gleich nochmal googeln, dachte Mark, während er sich seine

Handflächen an der Hose abrieb.

Oder sollte er jetzt nochmal schnell googeln? Er hatte ja noch 4

Minuten.

Oder eben nicht, wenn man auf das Sprichwort achtet, dachte er und rieb

erneut seine Hände an der Hose ab.

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Wie konnten Hände nur so schwitzen dachte er und googelte nach

dem Sprichwort.

„Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Deutschen Pünktlichkeit“, las

er einen Augenblick später.

Des Deutschen, dachte er. Das klingt irgendwie nach Nazischeiße. Wieso

sollen nur Deutsche pünktlich sein?

Vielleicht sollte er das gleich mal sein Gegenüber fragen. Oder

später den Bergmann?

Mark lachte kurz über seine wirren Gedanken, dann blickte er auf

seine Uhr.

14:01 Uhr.

Er erschrak. Wie konnte das sein? Er hatte doch noch 4 Minuten.

VIER MINUTEN. Das war ein ganzer Song. Hatte er sich eine

Liedlänge über so einen Schwachsinn Gedanken gemacht?

Der nächste Schrecken ließ nicht lange auf sich warten. Die

Akkukapazität lag nun bei 28%.

Wie, zur Hölle nochmal, konnte es sein, dass sich innerhalb von

vier (korrigiere fünf) Minuten 29% seines Akkustandes in Luft

auflösten?

Hektisch wischte er auf seinem Display durch die Apps. Er musste

zur Mailapp um den Link zu finden.

Da war sie.

Zu schnell, vorbei.

Der Bildschirm fror ein.

NEIN!

Das Samsung schien gnädig und gab nach ein paar Sekunden den

Bildschirm wieder frei und Mark konnte die Mailapp öffnen und

fand zum Glück zügig die Einladung, inklusive des Links zum

Webmeeting.

Er klickte auf den Link und schielte dabei auf seinen Akkustand:

24%.

Toi toi toi.

„Hallo Mark!“ Eine freundliche Stimme ertönte. Ein Bild war

jedoch nicht zu sehen.

Jetzt öffnete sich auch das Sichtfenster und Mark sah in zwei

Gesichter. Die seines Bekannten auf der Raststätte und die einer

hübschen Frau.

„Wir dachten schon, du hast kein Interesse mehr.“, sagte der

Mann.

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Mark grübelte. HARALD! So war der Name. Trotzdem konnte

Mark sich nicht freuen, denn er las nichts Gutes in den Gesichtern.

Waren sie sauer auf ihn? Er blickte auf seine Uhr.

14:05 Uhr.

Ihm fiel ein zweites Sprichwort ein:

„Pünktlichkeit ist die einfachste Form der Wertschätzung.“

-

Teresa rannte den Korridor entlang, hektisch von links nach recht

blickend, um die Gelegenheit zu erhalten, in die jeweiligen

Klassenräume zu spähen. Irgendwo hier mussten sie auf sie

warten.

„Im Klassenraum Ihres Sohnes“, war die Aussage der Sekretärin

der Realschule Waldesruh. Woher sollte sie wissen, wo sich dieser

Klassenraum befindet? Schließlich war sie nur einmal auf dem

Schulgelände gewesen. Das war zur Anmeldung für Dennis,

welche natürlich nicht in seinem Klassenraum, sondern im

Sekretariat stattgefunden hatte. Außerdem war es mittlerweile nicht

mehr erwünscht, dass Eltern das Realschulgelände betreten. Die

Grundschule, auf die Dani ging, fing sogar bereits damit an,

Eltern, die ihren vergesslichen Zöglingen den Turnbeutel, die

Brotdose, die gestrigen Hausaufgaben oder ein unterschriebenes

Klassenfahrtsformular nachtrugen wurden zwar nur mitleidig

belächelt, aber es kam auch schon vor, dass häufigen

„Nachträgern“ ins Gewissen geredet wurde.

Stichwort: Selbstständigkeit.

Teresa begrüßte diese Herangehensweise grundsätzlich, wenn nur

ausgerechnet Dani nicht so schusselig und vergesslich wäre.

Dani. Teresa seufzte. Sie hatte sich vorgenommen, beinahe schon

geschworen, nie wieder auf die Husenkamps zurückzugreifen,

wenn etwas Unerwartetes passieren würde. Die Sekretärin hatte

jedoch so dringlich geklungen und als Teresa mal wieder ihre

Eltern nicht erreichen konnte, musste sie schweren Herzens

wieder bei Kathrin klingeln und darum bitten, Dani bei ihr lassen

zu dürfen. Kathrin hatte natürlich nichts dagegen und versicherte

Teresa erneut, dass sie jederzeit auf sie zählen könnte. Teresa

bildete sich ein, dass das Grinsen auf Kathrins Gesicht breiter (und

war da eine Spur Häme?) war, als sonst. Dani war auch sofort

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einverstanden und sauste gleich durch den Flur ins Wohnzimmer

um „Onkel Dietmar“ (Kathrin und Dietmar mussten Dani den

Titel „Onkel“ und „Tante“ aufgeschwatzt haben, von Mark und

ihr kam das sicherlich nicht) zu begrüßen.

Natürlich hätte sie Dani auch mitnehmen können, aber sie wusste

einfach nicht, was ihr nun begegnen würde.

Die Dame aus dem Sekretariat hatte sich einfach zu schwammig

ausgedrückt. Von einer Schlägerei sprach sie. Teresa wurde

umgehend schlecht und ja, sie gab zu, dass sie auch sogleich

wütend auf Dennis wurde. Aber blieb man ehrlich, so wusste sie

nicht, was genau passiert war. Es gab schließlich auch den

schwindenden Hoffnungsschimmer, dass Dennis unschuldig war

und nur in eine Schlägerei hereingeraten war. Oder?

All dies ließ auf jeden Fall Teresa entscheiden, Dani nicht

mitzunehmen.

Teresa hielt inne. War das der Hausmeister, der in diesem Moment

aus dem Klassenraum kam? Sie steuerte auf ihn zu.

„Entschuldigen Sie?“, rief sie ihm entgegen, um zu verhindern,

dass er gleich wieder im nächsten Klassenzimmer verschwand. Der

Mann stoppte und sah sich um. Als er Teresa entdeckte, lächelte er

und wartete geduldig auf sie.

„Was kann ich für sie tun?“, fragte er mit einer brüchigen Stimme.

Vielleicht war er ein Mann weniger Worte, fuhr es Teresa durch

ihren Kopf.

„Ich suche den Klassenraum der 8c, bitte.“ Teresa riss sich

zusammen, konnte ein leichtes Schnauben aber nicht verhindern.

Das bisschen Rennen und ich könnte pusten wie eine alte Lok, dachte sie

peinlich berührt und nahm sich vor, so schnell wie möglich wieder

„irgendwas Sportliches in Angriff zu nehmen“.

Ein Leuchten war in den Augen des Hausmeisters (mittlerweile

war sich Teresa sicher, dass es der Hausmeister war) zu sehen:

„Ah! Sie müssen Frau Sieger sein.“

Teresa war sich nicht sicher, ob sie sich über die direkte Ansprache

freuen sollte oder nicht. Sie entschied sich zügig dafür, dass es sie

nicht freute, denn die Tatsache, dass ihr Name bekannt war stand

in einem momentan sehr unglücklichem Kontext.

„Ja, ich bin Teresa Sieger.“, nickte sie und streckte ihm ihre Hand

entgegen.

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Der Hausmeister blickte auf ihre angebotene Hand, zuckte jedoch

mit seinen Schultern. Ein bedauernder Blick ließ die „ablehnende

Geste“ aber freundlich wirken.

„Sehen Sie es mir bitte nach, Frau Sieger. Ich habe soeben drei

WCs und ein verstopftes Waschbecken gereinigt und befinde mich

praktisch auf dem Weg zu einem intakten Waschbecken. Ich

würde Ihnen nur ungern die Hand geben, verstehen Sie?“ Er

lächelte.

Teresa lächelte zurück: „Verstehe ich. Können Sie mir sagen, wo

ich den Raum finde?“

„Sie sind schon beinahe dort, wo sie hinwollen. Diesen Gang noch

durch bis zur Treppe und dann ist es das linke Klassenzimmer an

der Treppe.

„Dankeschön.“ Teresa beschleunigte ihren Schritt wieder und

stand bereits kurze Zeit später vor einer Türe hinter der gedämpft

Stimmen zu hören waren.

„Frau Sieger?“, rief der Hausmeister und hob dabei seine Hand.

„Ja?!“ Teresa hielt in der Bewegung ein, an der Tür zu klopfen und

schaute den Mann erwartungsvoll an.

„Ich habe es wirklich versucht, müssen Sie wissen. Ich habe alles

Mögliche versucht.“, sagte er und schaute so traurig, dass der Kloß

in Teresas Hals wieder umgehend auf sich aufmerksam machte.

Als sie gerade nochmal auf ihm zugehen wollte, um Näheres zu

erfahren, bevor sie in die Klasse ging, öffnete sich die Tür und ein

junger Mann stand plötzlich strahlend im Türrahmen: „Dachte ich

mir doch, dass ich etwas gehört habe. Frau Sieger, nehme ich an?“

Er streckte ihr seine Hand entgegen, sie nahm sie und antwortete

zaghaft: „Ja, ich bin Teresa Sieger.“

„Schön, dass Sie es so zügig einrichten konnten. Dann kommen

Sie mal rein, hier ist jemand, der sehnsüchtig auf Sie wartet.“ Der

junge Mann, offensichtlich ein Lehrer, machte ihr Platz und gab

den Blick auf einen zusammengesackten Jungen frei, der sie aus

blutunterlaufenen Augen ansah. Das, was dort saß, war nicht

Dennis. Nicht ihr Dennis. Sein Blick war der eines geprügelten

Hundes, der trotz allem um Verzeihung bat.

Teresas Herz bekam einen Stich und ihre Augen füllten sich

unweigerlich mit Tränen.

-

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1%.

Die Akkuanzeige von Marks altem Samsung teilte nur noch einen

kurzen Augenblick seinen Zustand mit, bevor das Display erlosch

und Mark sein mittlerweile heißes Smartphone sinken ließ.

Das war verdammt knapp, dachte Mark und seufzte.

„Hat es nicht geklappt?“ Die Stimme ließ Mark zusammenfahren

und er drehte sich blitzartig in ihre Richtung.

Auch Hasan fuhr zusammen, als Mark sich ihm so hektisch

zuwandte. Mit so einer heftigen Reaktion hatte Hasan wohl nicht

gerechnet.

Hasan hob beschwichtigend seine Hände: „Sorry. Tut mir leid, ich

wollte dich nicht erschrecken.“

Mark atmete auf. Natürlich war es Hasans Stimme gewesen, das

war ihm rückblickend (oder gab es rücklauschend) bewusst. Sein

erster Impuls war aber nun mal, dass entweder Feist oder direkt

der Bergmann ihn hier erwischen würde. Mark hatte sich nämlich

in der hintersten Ecke der Tapetenabteilung hinter dem

Nachfüllregal verschanzt, um den Videocall durchzuführen. Ganz

schön bescheuert, gab er gern zu. Eine andere Möglichkeit, so

verrückt dieses Versteckspiel auch war, gab es aber nicht. In den

Pausenraum konnte er nicht, weil nun Mittagszeit war und alle

möglichen Kolleginnen und Kollegen in den Pausenraum ein- und

ausgingen. Wahrscheinlich hätten sie seinen Videocall interessiert

verfolgt, aber das wäre Mark logischerweise sicherlich nicht Recht

gewesen. In seinem Auto wäre zwar möglich und auch Marks

bevorzugte Variante gewesen, aber sein Auto stand nun mal auf

dem Parkabschnitt des Personals und im absoluten Überblick aus

Bergmanns Büro. Er hätte praktisch in seinem Auto auf dem

Präsentierteller gesessen. Das Außenlager bot versteckte Winkel

und Gänge, die ihm eine gewisse Privatsphäre ermöglicht hätten.

Er hatte sogar mal mitbekommen, dass einer seiner Kollegen auf

die oberste Etage eines Hochregals geklettert war, um ein

Privatgespräch mit seiner Frau zu führen. Dieser Kollege, besser

gesagt Ex-Kollege, hatte zu der Zeit eine private Krise und

deswegen, über den ganzen Tag verteilt, Gesprächsbedarf mit

seiner Frau gehabt. Das Ende der Geschichte war, dass er (soweit

Mark wusste) seine Frau noch immer hatte, seinen Job aber nicht.

Damals fiel diesem Kollegen nämlich das Handy aus der Hand, als

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es in der Hochzone verbal hoch her ging und fiel einem Kunden,

der sich für Pflanzkübel interessierte auf den Kopf. Der Kunde

hatte eine riesige Platzwunde auf seinem Kopf und sein Kollege

die Kündigung.

Seitdem hatte Bergmann es sich zur Angewohnheit gemacht,

mehrmals täglich seine Runden durch „Schrauben-Manny“ zu

drehen. Auch ins besagte Außenlager. Hasan und er nannten diese

Kontrollrunden stets „Die Muppet Show“, weil Bergmann immer

von Feist begleitet wurde und beide philosophierten über mögliche

Erneuerungen und Ausbesserungen und Umbauten an den Stellen,

die sie soeben passierten. Eben wie „Waldorf und Statler“, die

beiden Balkon-Opas aus der Muppet-Show.

Eines Tages, als ein Kunde mehrere Rollen einer bestimmten

Tapete bei Mark bestellt hatte, diese aber nicht abgeholt hatte,

musste Mark sich einen Stauraum für überschüssige Tapeten oder

generell für nachfüllbare Ware herstellen und fand per Zufall diese

Lücke hinter dem Regal. Eigentlich existierte dieser Hohlraum

hinter den Regalen nur aus rein optischen Gründen und weil ein

Sicherungskasten an dieser Stelle hing. Als Mark die Tapetenrollen

dort verstaute merkte er zügig, dass er zwar aus seinem „Versteck“

heraus die Verkaufsräume durch die Löcher der Regalwände

überblicken konnte, aber niemand, der auf der Verkaufsfläche

stand, konnte ihn entdecken. Seitdem war dieser Platz sein

Versteck, wenn etwas Wichtiges war. Hier hatte er schon alles

Mögliche versteckt machen können:

- Sich mit Teresa am Telefon gestritten.

- Sich mit Teresa am Telefon versöhnt.

- Übers Internet Karten zu einem Konzert reserviert. (Er

musste damals minutenlang in der Warteschleife bleiben,

damit die Karten von „Die fantastischen Vier“ nicht direkt

wieder ausverkauft waren.)

- Übers Internet in letzter Instanz ein Geburtstagsgeschenk

für Teresa besorgt.

- Über Google die Frage „wie lange zahnt ein Kleinkind“

gestellt, als Dani ihm und Teresa eine schlaflose Nacht,

nach der anderen beschert hatte.

- Über den inkognito Modus seines Handys auf diverse

freizügige Plattformen gesurft, als es ihm langweilig war.

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Letzteres hatte er nach ein paar kläglichen Versuchen aber

schnellstens wieder sein gelassen, da ihm die Situation doch zu

seltsam und falsch vorkam.

Mark winkte ab: „Schon gut, du hast mich nicht erschreckt.“ Er

lachte. Einerseits aus Erleichterung, dass nur Hasan ihn hier in

seiner „Festung der Einsamkeit“ erwischt hatte und andererseits,

weil er bewusst so schlecht gelogen hatte.

Hasan stimmte mit ein: „Nicht erschreckt, ist klar. Nun sag schon,

was ist jetzt?“

„Lass mich erstmal raus hier.“, sagte Mark und begann, sich

zwischen Regal und Wand zum Ausgang zu schlängeln.

Kaum aus seinem Versteck heraus, begann Mark sich energisch

von allen Staubflocken und Spinnennetzen zu befreien, eine Rolle

Tapete zur Tarnung unterm Arm geklemmt.

„Jetzt sag schon!“, zischte Hasan zwischen den Zähnen hervor

und sah Mark mit großen Augen an.

„Tja, nun ja.“, begann Mark und sah Hasan an, als würde er

verzweifeln. Offenbar spielte er die Dramatik sehr schlecht, denn

Hasan begann umgehend einen kleinen Freudentanz:

„Du hast den Job? Du hast den Job!“

„Pssst! Sei leise!“, raunte Mark und wedelte mit seinen Händen.

Dann fing auch er an zu tanzen und schlug mit Hasan ein.

„Ja. Sie wollen mich haben und melden sich in den nächsten Tagen

zwecks Papierkrams. Ich bekomme zum Beispiel eine eigene

Firmenkreditkarte!“

„Sie sperren meine Kreditkarte?“ Teresas Kopf glühte vor Zorn.

Sie war laut, das wusste sie. Lauter, als es sich in einer Bank

geziemte, aber hatte sie nicht das Recht dazu, ihrem Frust freien

Lauf zu lassen?

Max Gerards, Ihr Berater auf der Waldesruher Bank zuckte auf

jeden Fall bei jedem lauteren Wort zusammen und sah Teresa

unglücklich an: „Frau Sieger. Ich habe Ihnen doch den Stand der

Dinge in unserem letzten Gespräch offengelegt. Möchten Sie

vielleicht etwas zu trinken haben? Kaffee? Wasser?“ Er stand auf,

um ihr ihren Wunsch zu erfüllen, tatsächlich erkannte Teresa in

seiner Bewegung aber den Wunsch zur Flucht.

-

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„Bemühen Sie sich nicht, Herr Gerards. Ich möchte nichts trinken,

ich möchte nur meine Kreditkarte wieder entsperrt haben.“ Teresa

sah ihr Gegenüber streng an.

Der Berater ließ sich wieder auf seinem Schreibtischstuhl

zurückfallen und faltete die Hände: „Das ist gänzlich unmöglich,

Frau Sieger. Sie befinden sich in einer Kündigungsfrist. Ihr Konto

wird geschlossen, all dies haben wir doch besprochen.“

„Sie haben mir zugesagt, dass wir drei Monate Zeit haben.“, sagte

Teresa und funkelte Max Gerards noch feindseliger an als

Sekunden zuvor. Wie konnte diese Drecksbank es wagen, sie in

dieser Form zu demütigen?

Gerards hüstelte und schielte zu seiner Tür. Er schien zu hoffen,

dass diese sich plötzlich öffnen würde und ein weiterer Kunde um

Besuch in seinem kleinen Büro bitten würde. Die Tür blieb

verschlossen und niemand klopfte an.

„Nun.“, sagte er. „Natürlich habe ich Ihnen die Frist von drei

Monaten in Aussicht gesetzt und daran halten wir uns auch.

Zeitgleich, ich bin mir sicher, dass sie das verstehen, möchten wir

natürlich auch dafür Sorge tragen, dass Ihr Konto bis dahin nicht

noch mehr belastet wird. Aus diesem Grund ist Ihre Kreditkarte

gesperrt.“

„Das ist eine regelrechte Unverschämtheit. Sie nehmen es sich

raus, mich finanziell zu entmündigen? Wo sind wir denn hier?“

Teresa sprach sich mehr und mehr in Rage und sie hatte nicht vor,

sich auf irgendeine Art zu bremsen. Dieser Fatzke sollte jetzt dafür

büßen.

„Bitte, Frau Sieger. Könnten Sie bitte etwas gedämpfter…“, weiter

kam der Bankberater nicht.

„Nein, kann ich nicht und ich möchte Ihnen raten mir nicht

nochmal über den Mund zu fahren, Herr Gerards. Sie erwischen

mich gerade in einem Gemütszustand, den man beinahe

Ausnahmezustand nennen könnte. Hat sich Johan Erker nicht bei

Ihnen gemeldet?“ Teresa versuchte, sich dennoch ein wenig zu

beruhigen. Es ging ihr dabei nicht um die gerechtfertigte

Lautstärke. Die sollte der Lackaffe ungebremst abbekommen. Es

ging ihr vielmehr darum, nicht unwirsch zu werden, nur weil sie

vor Wut beinahe platzen könnte.

Der Bankberater seufzte: „Wie ich Ihnen schon sagte, befindet

sich Herr Erker in seinem Ruhestand. Er hat keinerlei Befugnisse

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mehr. Aber, um Ihre Frage zu beantworten, er hat sich sehr wohl

bei uns gemeldet und den Sachverhalt geschildert. Es ist damals

ein Angebot erstellt worden, welches sich nicht vertreten lässt.

Deswegen befinden wir beide uns, nach wie vor, im selben Status

Quo. Die Sperrung der Kreditkarte sorgt dafür, dass Sie sich nicht

noch mehr verschulden. Das ist alles.“ Er erhob sich, um Teresa

zu verabschieden.

Frustriert musste Teresa nachgeben und stand auf. Eines wollte sie

aber noch wissen: „Wenn sich das Angebot von Johan Erker nicht

vertreten lässt, warum existiert es denn dann?“

„Johan Erker, Frau Sieger, kommt noch aus einer Zeit eines völlig

anderen Bankwesens, weswegen sein Ruhestand auch mehr als

überfällig war. Das, was er damals für sie tat, würden wir heute

Bankbetrug nennen.“ Max Gerards zog seine angebotene Hand

wieder zurück, als er merkte, dass Teresa sie niemals annehmen

würde.

Als Teresa die Tür öffnen wollte, sprach der Berater sie nochmal

an: „Wie gesagt Frau Sieger: Sollte sich das Gehalt Ihres Mannes

etwas nach oben korrigieren lassen, sind wir wieder im Gespräch

und dann stünde einer Entsperrung der Kreditkarte nichts mehr

im Wege.“

Teresa schnaubte und knallte die Tür hinter sich zu.

Eilig verließ sie die Bank und lief zu ihrem Auto, in dem Dennis

geduldig auf sie wartete.

Er hatte einfach schrecklich ausgesehen, als sie ihn im

Klassenzimmer auffand. Ein Auge geschwollen, wobei beide

Augäpfel rot und blutunterlaufen waren. Die Lippen

aufgesprungen und diverse Schrammen im Gesicht.

Mit seinem Lehrer hatte sie sich nur noch kurz unterhalten, bevor

sie Dennis mitnahm, um zum Arzt zu kommen. Der Lehrer stellte

sich nach dem ersten Schock mit Michael Wender vor und grinste.

Das Grinsen konnte Teresa allerdings nicht deuten, weil sie von

dem Anblick ihres Sohnes zu abgelenkt war.

„Warum lachen Sie?“, fragte Teresa ihn deshalb. Er schien ein

wenig überrascht, so als ob Teresa etwas Offensichtliches

übersehen hätte.

„Keine Sorge, ich kann nicht singen.“, sagte er, zuckte dann mit

seinen Schultern und fuhr fort: „Allerdings kann er das ja auch

nicht.“ Er lachte herzhaft.

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Teresa grübelte, kam jedoch nicht weiter: „Ich verstehe nicht.“

„Mein Name ist Michael Wender! Entschuldigen Sie, aber die

meisten springen sofort auf meinen Namen an.“ Der Lehrer hielt

plötzlich inne, so als ob er den deplatzierten Smalltalk nun endlich

begriffen hätte.

„Was ist passiert, Dennis?“ Teresa beugte sich zu ihrem Sohn

herab und nahm ihn in die Arme. Dennis hielt sich steif, als ob es

ihm unangenehm wäre. „Wer hat das getan?“, fragte Teresa. Sie

blickte abwechselnd ihren Sohn und den Lehrer an. Es war ihr

egal, wer ihr diese Frage beantwortete. Hauptsache, sie wurde

beantwortet.

Michael Wender räusperte sich: „Es waren ein paar Jungs aus der

Parallelklasse von Dennis. Einer von ihnen befindet sich auf dem

Weg ins Krankenhaus.“

Teresa spürte immer noch, während sie sich im Laufschritt ihrem

Wagen näherte, wie ihr Herz kurz stehen blieb.

Sie reagierte forsch und das tat ihr nun sehr leid: „Dennis! Du bist

gerade erst wieder in der Schule aufgenommen und dann…“

Der Lehrer hob beschwichtigend die Hände und unterbrach mit

einem Räuspern: „Frau Sieger, bitte. Ihr Sohn ist nur passiv an der

Sache beteiligt, das kann ich Ihnen versichern. Der Grund, warum

der Mitschüler Ihres Sohnes ins Krankenhaus muss, ist ganz

einfach erklärt. Dennis hier wurde massiv von den Fünfen

drangsaliert und, nachdem er keine Art der Gegenwehr offenbarte,

verprügelt und stark verletzt. Nur ein einziges Mal hat er sich

gewehrt und den Schüler Antonio von sich gestoßen. Dieser fiel

offensichtlich unglücklich auf seinen Arm und brach ihn dabei.

Das ist alles. Ihr Sohn hat disziplinarisch nichts zu befürchten, da

unser Hausmeister alles mitansehen musste. Leider war er zu weit

entfernt, um eigreifen zu können.“

Teresa fühlte sich immer noch schlecht, als sie ins Auto stieg und

ihren Sohn, der wie ein Haufen Elend im Beifahrersitz kauerte,

ansah.

„Und?“, fragte er und zuckte vor Schmerz zusammen.

„Die Karte ist gesperrt. Das dauert bestimmt nur ein bisschen.“,

antwortete Teresa und startete den Motor.

„Wie wollen wir denn dann die Medikamente in der Apotheke

bezahlen?“ Dennis sah unglücklich aus dem Beifahrerfenster.

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„Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich jetzt nach Hause, damit

du dich ausruhen kannst. Die Schmerzmittel hole ich dann gleich.

Zu Hause hab ich noch Bargeld, genug für deine Tabletten und ein

großes Eis. Ich möchte wetten, dass das Eis sogar noch besser

hilft, als die Tabletten. Steigst du in die Wette ein?“

Sie hielt ihm die Hand entgegen und zwinkerte ihm zu. Dennis

beäugte sie argwöhnisch, doch plötzlich grinste er, zuckte

schmerzerfüllt zusammen und schlug dennoch ein: „Ich steige in

die Wette ein. Top, die Wette gilt.“

Sie fuhren los. Teresa schaltete das Radio an und beide schwiegen

eine Weile. Es war ein angenehmes Schweigen, kein bedrückendes.

Dennis tat Teresa immer noch fürchterlich leid, doch war sie auch

ungemein erleichtert, dass er dieses Mal nicht für Schwierigkeiten

gesorgt hatte und sie spürte, dass auch Dennis so dachte. Sie griff

zu seiner Hand und drückte sie leicht. Dennis erwiderte den

Druck.

Aus dem Radio erklang plötzlich der Song „Sie liebt den DJ“ und

als Teresa gerade Anstalten machte, den Kanal zu wechseln (sie

hasste dieses Lied) fing Dennis an, laut zu lachen.

„Du hattest es wirklich nicht verstanden, oder Mama?“, fragte er,

gluckste vergnügt und sog dennoch vor Schmerz Luft ein.

„Was meinst Du?“, fragte Teresa und sah ihren Sohn verwundert

an.

„Wer singt da, Mama? Oder, besser gesagt, tut so, als ob er singt?“

Dennis sah sie schelmisch an.

„Das ist eine gute Frage. Ist das nicht dieser Michael Wendler?“,

antwortete Teresa und im selben Moment verstand sie den

seltsamen Spruch des Lehrers.

Beide lachten, als sie die Auffahrt zum Haus der Siegers auffuhren.

Das Haus, das noch den Siegers gehörte.

-

„So. Erklär mir das nochmal mit dem Browser.“, bat Hasan, als er

mit Mark an der Stempeluhr stand und wortwörtlich auf den

Feierabend wartete.

Mark überlegte, wie er seinem Freund das erklären sollte. Es war ja

nicht so, dass er der Computerspezialist in Person war. Er verstand

die Mechanik hinter dem Darknet und den zugehörigen

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Browservarianten, aber verstand er es so gut, dass er dieses

Verständnis weitergeben konnte?

„Pass auf. Diese Browser sind praktisch das Darknet, wenn du so

willst. Soweit ich weiß, gibt es mehrere davon, aber die

bekanntesten heißen „TOR“ und „Onion“. Ich weiß nicht,

welcher von beiden besser oder wirkungsvoller ist. Ich weiß nur,

dass, wenn du ein Link mit einem normalen Browser, wie

„Chrome“, „Explorer“ oder dieses „Edge“ nutzt, du so offen bist

wie ein Buch. Du musst dir das so vorstellen…“ Mark dachte über

seine Erklärung nach. Er musste es so bildhaft beschreiben, wie

möglich.

„Dieses „TOR“ ist eine Abkürzung von „The Onion Router“.

Kann also sein, dass es nur einen Browser gibt. Ich bin jetzt auch

nicht der Fachmann vom Dienst, Hasan. Ich weiß nur, dass es

Onion Router heißt, weil das System schichtweise arbeitet. Eben

wie eine Zwiebel. Wenn Du mit einem normalen Browser eine

Adresse ansteuerst, entsteht eine Verbindung von deinem PC zu

dem Server der angesteuerten Webadresse. Das bedeutet, dass

diese gradlinige Verbindung spielend leicht nachvollzogen werden

kann. Eben wegen der direkten Verbindung. Bei diesem Onion

Browser ist es aber so, dass deine Anfrage - also, wenn du jetzt

eine Adresse eingibst – zunächst zu anderen Knotenpunkten

gelenkt wird. Das sind dann wahrscheinlich andere PCs, die eben

auch den Browser nutzen. Keine Ahnung. Von dort aus zu dem

nächsten und weiter zum nächsten. Schicht für Schicht halt, wie

das Innere einer Zwiebel. Im Klartext: Angenommen dieser

Käufer möchte wissen, wer ihm das Zeug verkaufen will, guckt er

in einem bestimmten Trackingprogramm und sieht bei einem

dieser Onion Router nur ein Spinnennetz. Viel zu viele

Knotenpunkte, völlig unmöglich, die Quelle ausfindig zu machen.

Bei deinem normalen Browser, entdeckt er eine grade Linie. Von

seinem Server zu dir. Einmal geht sie in dieses Internetcafé aber

hin und wieder vielleicht auf deinen PC bei dir zu Hause. Oder

hast du den Link nie über deinen eigenen PC geöffnet?“

Mark hielt inne, um Hasan zu beobachten. In Hasans Gesicht

arbeitete es, Mark konnte es sehen.

„Hasan?“ Mark sah seinen Freund erwartungsvoll an.

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Hasan murmelte etwas als Antwort und Mark schien es verstanden

zu haben. Er wollte das, was er glaubte gehört zu haben aber nicht

verstanden haben.

„Sag das nochmal, bitte.“, forderte er Hasan auf und schloss seine

Augen. Teilweise um sich auf das zu konzentrieren, was Hasan

sagen würde, teilweise aber auch um sich – zumindest visuell – vor

dem zu schützen, was er vermutete. Er wollte seine Augen vor

dem verschließen, was unweigerlich kommen würde.

„Mit meinem Handy!“, wiederholte Hasan das, was Mark auch

akustisch verstanden hatte.

Mark ließ erschöpft seine Schultern sacken: „Prima Hasan. Jetzt

wundert mich gar nichts mehr. Wenn du das mit deinem Handy,

ohne TOR Browser machst, hat der Käufer jetzt alles von dir.

Name, Adresse, Telefonnummer und wenn er nur ein bisschen

schlau ist, kann er dich jetzt sogar live verfolgen. Der sieht dich

jetzt praktisch hier vor der Stempeluhr stehen.“

Hasan wurde bleich. Sein Atem beschleunigte sich und er suchte

nach den richtigen Worten: „Ich dachte, mein Cousin hätte mir

einen Link zum Darknet geschickt. Ich dachte, damit wäre alles

vorbereitet.“

„Das hab ich gemerkt. Deswegen war ich doch an dem Abend so

wütend. Wir haben beide keine Ahnung davon. Du offenbar noch

weniger als ich. Der Link ist nur ein Link, Hasan. Dieser Browser

macht daraus erst das Darknet.“, sagte Mark und markierte

Anführungszeichen in der Luft. „Weißt du denn, ob das Paket

mittlerweile angekommen ist?“ Mark ärgerte sich erneut über sich

selbst. Er kümmerte sich schon wieder zu intensiv um etwas, um

das er sich gar nicht kümmern sollte und wollte.

„Ich weiß es nicht. Ich wollte gleich zum Internetcafé und dort

den Link nochmal nutzen.“, antwortete er kleinlaut. Mark wurde

wieder weich, er merkte es.

„Alter, du bist aufgeflogen beim Käufer. Jetzt brauchst du auch

nicht mehr aufs Internetcafé zu warten.“ Mark blickte auf die

Armbanduhr. Feierabend.

Er griff zu seiner Stempelkarte und stempelte sich aus. Die

Stempeluhr gab den wohlklingenden Klacklaut von sich.

Plötzlich erschrak Mark. Ein Freudenschrei von Hasan ließ ihn

zusammenzucken: „Ja! Es ist da! Er schreibt: „Wurde auch Zeit,

Hasan. Das Paket ist da. Super Qualität, gerne mehr davon.“

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Mark ließ seine Stempelkarte langsam sinken. Er glaubte es einfach

nicht.

„Hast du jetzt gerade mit deinem Handy… Sag mal, hast du mir

eigentlich zugehört?“

Hasan starrte Mark an, das Lächeln zu einer Maske erstarrt: „DU

hast doch gesagt, jetzt wäre es auch egal.“

„Ja aber doch nicht, wenn wir hier im Laden sind, Mann. Willst du

jetzt deinem Kunden noch eine Führung durchs „Schrauben-

Manny“ spendieren, oder was? Du hättest…“ Weiter kam Mark

nicht.

Mit einem Getöse zerbarst Hasans Handy an der Wand zum Büro

Bergmanns. Die Einzelteile des Smartphones rieselten zum Boden.

„Jetzt besser?“, fragte Hasan. Er sah Mark erwartungs- und

hoffnungsvoll an.

Mark schüttelte ungläubig den Kopf: „Tut mir leid mein Freund.

Du hast dein Handy jetzt völlig unnötig zerstört. Die haben dich

doch längst gefunden.“

-

„Ich will aber Spaghetti!“, plärrte Dani in ihrem nervigsten Tonfall,

den sie zur Verfügung hatte.

„Dani, Schatz. Wir haben doch gestern erst Spaghetti gemacht.

Wir müssen auch mal was anderes probieren, sonst weißt du doch

gar nicht, was dir sonst noch alles schmeckt.“, versuchte Teresa

gegenzusteuern. Vergebens.

Dani ließ sich polternd zu Boden fallen und begann sich liegend zu

drehen. Ihr Kopf war hochrot vor Wut und sie schrie wie am

Spieß. Teresa hatte es meistens im Griff, ein solches Benehmen bei

Dani zu unterbinden, aber an manchen Tagen stand sie chancenlos

neben ihr und sah sich machtlos gegenüber einer solch geballten

Wutansammlung.

Das Telefon, welches im Flur klingelte, rettete Teresa vor der

Überlegung, ob sie dem unsachgemäßen Bitten Danis

ausnahmsweise nachgeben sollte oder nicht.

So überließ Teresa Dani ihrem rebellischen Aufbegehren und ging

in den Flur, um das Gespräch anzunehmen.

„Sieger?“ Teresa hielt sich den Hörer ans Ohr und bedeckte mit

einer Hand unbeholfen die Sprechmuschel, damit man das immer

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lauter werdende Wehklagen nicht hören konnte. Sie hoffte

inständig, dass es ihr gelang.

„Frau Teresa Sieger?“, drang aus dem Hörer. Teresa kam die

Stimme bekannt vor, konnte sie aber aufgrund des heimischen

Trubels im ersten Moment nicht zuordnen.

„Ja?“, antwortete sie, indem sie die Hand von der Muschel

entfernte, um sie gleich darauf wieder dagegen zu pressen.

„Hier ist Max Gerards, Frau Sieger.“

Natürlich, der Bankfuzzi, dachte Teresa. Sie blickte die Treppe

empor, in der Hoffnung, Dennis zu sehen. Er musste sich um die

sträubende Dani kümmern, damit dieses Telefonat wenigstens den

Hauch einer Chance hatte.

Sie betrachtete die Sprechmuschel, ob sie von ihrer Hand

ausreichend abgedeckt war und zischte daraufhin nach oben:

„Dennis! Komm mal her, bitte!“ Sie hatte keine Ahnung, ob es

von der Lautstärke her reichte, bildete sich aber ein, Schritte oben

zu hören, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatte.

„Frau Sieger? Können sie mich hören?“ Gerards Stimme drang aus

dem Hörer und holte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück.

„Ja schon, aber geben sie mir bitte eine Minute. Ich muss hier mal

für Ordnung sorgen.“, sagte Teresa. Sie legte den Hörer auf das

Telefontischchen (ein Geschenk von Marks Mutter) und eilte zu

der protestierenden Tochter. Sie beeilte sich, da sie keine Lust

hatte zum Bankgesprächsthema zu werden.

„Kennen Sie eigentlich die Siegers?“, bezeugte sie im Geiste ein

imaginäres Gespräch zwischen Gerards und einer willkürlichen

Kundin.

„Die Zugezogenen?“ fragte eben jene Kundin nach.

„Ja genau.“, bestätigte Gerards die Vermutung der Kundin, welche

plötzlich wie Kathrin Husenkamp aussah. „Ich habe dort letztens

angerufen und was glauben sie, habe ich da hören müssen? Die

Tochter der Siegers hat wie ein geprügelter Hund geschrien. Es tat

mir in der Seele weh, kann ich Ihnen sagen.“

Teresa griff beherzt zu der sich nach wie vor am Boden

windenden Dani uns hob sie auf.

„Pass auf, du kleines Teufelchen. Wenn du jetzt sofort mit deinem

Spektakel aufhörst, überlege ich es mir, ob wir jemals wieder

Spaghetti machen. Nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht

am Wochenende. Wenn du allerdings so weiter machst, kann ich

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dir versprechen, dass es hier, in diesem Haus niemals wieder Spaghetti

gibt. Hast du mich soweit verstanden?“ Teresa starrte Dani mit

einem Blick an, der Dani augenblicklich verstummen ließ.

Was für ein unrealistischer Bluff, dachte sie, hielt aber den Blick

aufrecht.

„Du würdest wirklich nie wieder Spaghetti machen, Mama?“, fragte

Dani zaghaft. Kein Nachschluchzen, keine Tränen. Was bewies,

welche Show ihr kleiner Donnerteufel da abgezogen hatte.

„Nie wieder!“, bestätigte Teresa. Kein Zucken und keine

Änderung ihrer Mimik durfte sie zulassen. Die geringste Änderung

ihres Gesichtsausdrucks würde das Kartenhaus sofort und

irreparabel zusammenstürzen lassen.

„Morgen vielleicht?“ Dani versuchte tatsächlich zu verhandeln.

Das konnte doch nicht wahr sein. Von wem hatte dieses Kind

diesen Dickkopf?

„Nicht morgen! Nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht am

Wochenende. Dani, hast du mich jetzt verstanden, möchte ich

wissen.“ Die Sekunden flossen dahin, während es in Danis Gesicht

arbeitete.

„Verstanden, Mama.“, sagte Dani endlich und Teresa nickte zur

Bestätigung.

„Das war eine gute Entscheidung, Dani. Ab nach oben mit dir. Ich

hab noch jemanden am Telefon. Wenn ich fertig bin, rufe ich dich,

dann kochen wir zusammen.“

„Spaghetti?“, fragte Dani, lachte aber einen Augenblick später und

schoss die Treppe rauf.

„Entschuldigen Sie, Herr Gerards. Ich hatte etwas zu erledigen.

Was kann ich für Sie tun?“, sprach Teresa etwas später ins Telefon.

„Es geht nicht darum, was Sie für mich tun können, Frau Sieger.

Ich wollte Ihnen lediglich mitteilen, dass Ihre Kreditkarte nun

wieder entsperrt ist.“, drang Gerards fröhliche Stimme durch den

Hörer.

„Das ist wirklich eine gute Neuigkeit, Herr Gerards. Vielen Dank

für Ihre Einsicht.“, sagte Teresa und freute sich tatsächlich.

„Oh glauben sie mir, Frau Sieger. Das hat mit Einsicht nicht das

Geringste zu tun. Das war die Entscheidung von höherer

Instanz.“, sagte Max Gerards. Er schaffte es, seine unüberhörbare

Abschätzung in freundlichen Worten zu verpacken.

Teresas Freude bekam einen Dämpfer: „Was meinen Sie damit?“

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„Nun ja. Der Bürgermeister ist auch unser Bankvorstand und hat

zu Ihren Gunsten entschieden. Bedanken Sie sich bei ihm.

Bedanken Sie sich bei Dietmar…“

„… Husenkamp.“, beendete Teresa des Satz von Gerards und

zeitgleich auch das Telefonat.

-

Das schrille Klingeln des Handys ließ sich nicht abbrechen. Zuerst

versuchte Mark es heimlich, indem er durch den Stoff seiner Jeans

nach seinem Smartphone fischte, um das Gespräch wegzudrücken.

Ohne Erfolg. Der Kunde, welcher mit einer Reklamation und

einem wütenden Blick vor ihm stand, quittierte Marks klägliche

Versuche mit einem Grunzen.

Es half nichts, Mark musste das Handy aus seiner Hosentasche

nehmen. Bevor er den eingehenden Anruf wegdrückte, blickte er

auf das Display. Das Handy versicherte ihm, dass der Anruf aus

Trier kam.

„Kaffee-Traum!“, sagte Mark, lauter als er es wollte. Der Kunde

starrte ihn verständnislos an. Der Gesichtsausdruck blieb nicht

lange und wechselte zügig wieder zu einer wütenden Grimasse.

Sogar noch wütender als zuvor. Konnte das sein?

„Wenn sie da jetzt rangehen, bin ich sofort bei Ihrem Chef, junger

Mann.“, sagte der Kunde und bestätigte damit die Wutsteigerung.

Wer kann mir beweisen, dass, wenn sie mich jetzt nicht erreichen, sie

NICHT den nächsten in der Bewerberliste anrufen? dachte Mark.

Er wog ab.

Diese Chance, hier aus dem Laden (in dem er sich bereits seit

gefühlt einer Ewigkeit nicht mehr wohlfühlte) heraus zu kommen,

konnte und durfte er einfach nicht verstreichen lassen.

Wenn es allerdings eine einfache Nachfrage wäre oder (um

Himmels willen) gar eine Absage, würde er sich massiven Ärger

einheimsen.

Zum einen, weil er einen Kunden hat stehen lassen und zum

anderen, weil er wieder einmal sein Handy mit in den

Verkaufsraum genommen hatte.

Die Reklamation des Kunden würde Bergmann ihm auch zu Last

legen, wenn er schon mal dabei wäre, Mark abzumahnen.

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Er würde es als Falschberatung auslegen und Mark würde sich

nicht wehren können.

Was tun?

„Ich muss da aber rangehen.“, startete Mark seine Erklärung. „Das

ist der Hersteller Ihres Lackes.“

Der Kunde riss verwundert die Augen auf: „Wieso ruft der

Hersteller Sie denn an?“

Mark nahm das Gespräch kurzentschlossen entgegen: „Mark

Sieger, einen Moment bitte.“

Mark deckte das Smartphone mit einer Hand ab. Natürlich, es gab

eine Funktion des Stummschaltens, aber Angewohnheit blieb

Angewohnheit.

Mark sah den Kunden eindringlich an: „Na, Sie wollen doch

wissen, was Sie falsch… Ich meine, Sie wollen doch wissen, was da

falsch gelaufen ist. Ich verschwinde mit dem Telefon mal ins

Lackregal, um das zu besprechen. Ich bin sofort zurück.“

Mark bog in das Regal mit den Lacken und gab sein Handy wieder

frei.

„Hallo? Tut mir leid, ich hatte gerade einen Kunden.“, sagte er und

horchte in die sphärische Stille.

Am anderen Ende der Leitung hörte er eine weibliche Stimme, die

sich offenbar köstlich amüsierte: „Welchen Lack hat ihr Kunde

denn verarbeitet, Herr Sieger?“ Die Frau auf der anderen Seite des

Gesprächs lachte schallend.

Mark stieg in Lachen ein: „Der übliche Fehler. Auf Wasserbasis

grundiert, auf Kunstharzbasis lackiert.“

Das Lachen der Frau erstarb. Mark horchte. War das Gespräch

unterbrochen?

„Sie haben noch Kunstharzlacke? Herr Sieger, was muss ich da

hören? Wie lange sind die jetzt schon verboten? 2010? 2011?“

Mark stutzte. Die Empörung klang zwar gespielt, trotzdem war

Mark perplex.

„Öhm. Mein Chef hatte damals sehr viel eingekauft.“, sagte er und

fand, dass das als Erklärung ausreichen sollte.

Die Frau lachte schallend: „Na das scheint mir ja ein Chef zu sein.

Da müssen sie unbedingt weg, Herr Sieger.“

Mark schwieg. Was sollte das?

„Deswegen, lieber Mark.“, sprach die Frau am Telefon weiter.

„Freuen wir uns, dich an Bord begrüßen zu dürfen. Wir würden

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uns freuen, dich in drei Monaten hier in Trier begrüßen zu

dürfen.“

Mark drehte sich der Magen. Seine Knie wurden weich und er hielt

sich am Regal fest. Er hatte es geschafft.

„Mark?“, fragte die Stimme nach. „Bist du noch da?“

Er konnte hier weg. Endlich konnte er hier weg.“

„Ähm… Also ich…“, fing Mark an.

Sag was! Ermahnte er sich. Sag irgendwas Vernünftiges. Wenigstens ein

„Danke“.

„Ich… Also…“, stotterte er.

Reiß Dich zusammen!

„Danke.“, sagte er und brachte einfach nicht mehr heraus.

Die Frau am Telefon schien es ihm nicht übel zu nehmen, denn

die lachte und sagte ihm, dass sie ihm noch eine Mail schicken

werde mit einem Link.

„Wir arbeiten ausschließlich elektronisch. Arbeitsvertrag,

Kontodaten, Abrechnung egal was, alles funktioniert bei uns ohne

Papier. Du wirst dich schnell damit zurechtfinden. Wir bräuchten

nämlich noch ein paar wenige Daten.“, sagte sie, wünschte einen

schönen Tag und beendete das Gespräch.

„Und?“, drang eine Stimme von hinten heran.

Mark drehte sich um und entdeckte den wartenden Kunden.

„Jaaaaaaa“, sagte Mark „Sie haben das falsch gemacht. Keine

Reklamation. Ich mach Feierabend.“

Mark ließ den verdutzten Kunden stehen und verließ den

Baumarkt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

-

„Ach Teresa, ich bitte dich. Mach da keine große Sache draus. Wir

sind doch Nachbarn… ach was sag ich? Freunde, wir sind

Freunde.“ Mit weit ausgebreiteten Armen stand Dietmar im Flur.

Es sah aus, als würde ein Showmaster die nächste großartige

Sendung ankündigen. („Schalten Sie auch nächstes Mal wieder ein,

wenn ich den Papst, Johnny Depp und Tom Cruise hier auf der

Couch für Sie eingeladen habe…“)

Teresa riss sich aus ihren Gedanken. Sie hat bei Dietmar geklingelt

um zu erfahren, warum er das getan hatte, was er getan hatte und

wie sie damit weitermachen sollten. Und jetzt, wo sie darüber

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nachdachte, drängte sich eine noch viel dringendere Frage in den

Vordergrund.

Was genau hatte er eigentlich gemacht?

Es sollte dieses Mal eine Begegnung völlig ohne Zorn sein. Keine

Vorwürfe, keine Rechtfertigungen (weder von ihm noch von ihr).

Einfach nur ein informatives Gespräch, vielleicht sogar garniert

mit einem Dankeschön ihrerseits. Je nachdem, was bei dem

Gespräch herauskommen würde.

Doch jetzt?

Jetzt, wo sie ihn sich wieder so gebärden sah, würde sie sich am

liebsten umdrehen und nach Hause gehen. Sie zögerte und

Dietmar erkannte in ihrem Verhalten direkt die falschen Signale.

„Ach Gott, wie unhöflich. Komm doch bitte rein. Kaffee?“ Er

ging voran ins Wohnzimmer.

„Schon gut.“, versuchte Teresa der Einladung auszuweichen, doch

ihre Entgegnung verlief sich nun ins Leere.

Seufzend betrat sie das Haus der Husenkamps (wie oft hintereinander

war sie nun schon hier gewesen?) und ging ins Wohnzimmer.

„Setz Dich doch, Teresa Süße.“ Dietmars Stimme war von der

benachbarten Küche aus zu hören. Er hatte sich die „Kaffee-

Frage“ mal wieder selbst beantwortet, stellte Teresa resigniert fest.

„Dietmar, hör mal. Was genau hast du denn jetzt gemacht, dass

meine Kreditkarte wieder frei ist?“ Teresa setzte sich in den

Ohrensessel, der aussah wie aus dem Hausrat ihrer Großeltern.

Grüner Stoff, der sich so komisch samtig anfühlte, ließ Teresa

beinahe den Pfeifentabak ihres Opas riechen. Der Stoff erinnerte

Teresa immer an die Pullover der 80er aus Nicki. Sie lächelte.

Diese Pullover hatte sie geliebt. Vor allem wenn sie so einen Pulli

trug und ihre Mutter auch. Das Umarmen war dann immer

besonders flauschig. Sie merkte gar nicht, dass sie

gedankenverloren den Stoff des Sessels streichelte, während sie

ihren Gedanken nachhing.

„Ich wünschte, ich wäre als Sessel zur Welt gekommen.“, lachte

Dietmar ihr entgegen. Er balancierte zwei Tassen Kaffee vor sich

hin und stellte sie auf dem Wohnzimmertisch ab.

Meine Güte, dieser Spruch schon wieder, dachte Teresa ärgerlich,

entschied allerdings zur selben Zeit, nicht darauf einzugehen. Als

hätte sie nichts von alldem gehört.

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„Hattest du mich verstanden? Also meine Frage?“, fragte sie

stattdessen.

Dietmar schien enttäuscht, dass keine Reaktion erfolgte. Er

räusperte sich und sagte: „Ja, wegen der Kreditkarte. Nun, ich bin

im Bankvorstand. Also, eigentlich noch. Ich bin da nicht mehr

allzu häufig, weil mein Job als Bürgermeister viel Zeit in Anspruch

nimmt, aber für manche Sachen werde ich noch kontaktiert.“

„Also hat dieser Gerards dich angerufen?“, fragte Teresa.

Dietmar lachte: „Nein. Um Gottes willen. Dieser kleine Schnösel

würde sich niemals die Blöße geben, irgendwo irgendjemanden um

Rat zu bitten. Der entscheidet stets selbständig und immer akkurat

und hochgradig unsympathisch.“

Teresa lächelte. Okay, der Gag war gar nicht mal so schlecht.

Außerdem traf Dietmars Aussage genau den Nerv von Teresa.

Wenn Teresa einen Menschen nicht leiden konnte, so war das

zweifellos Max Gerards. Teresa war kein Mensch, der Groll gegen

jemanden hegen konnte, dazu war sie einfach zu harmoniesüchtig,

ja beinahe zu weich. Aber dieser gelackte Bankmensch hatte ihr

nun mehrmals zugesetzt und das auf eine bloßstellende Art, die

widerlicher nicht sein konnte. Und er hatte ohne Vorwarnung die

Kreditkarte gesperrt.

Ja, sie konnte Dietmar dieses Mal nur zustimmen. Dieser Gerards

war ein Schnösel. Ein selbstverliebter, arroganter Schnösel.

„Okay.“, sagte sie. „Ich danke dir fürs Kümmern. Ist die

Kreditkarte nun auf Zeit wieder entsperrt? Oder muss ich mit

einer erneuten Sperrung rechnen?“

„Nun ja. Ich denke, wir können das auf Dauer entsperrt lassen.“,

sagte Dietmar. Er rührte nun schon mehrere Minuten in seinem

Kaffee, bemerkte Teresa. Er schien sich regelrecht aufs Rühren zu

konzentrieren, denn er starrte unablässig in seinen Kaffee. Wollte

er sie nicht ansehen? Teresa wurde es mulmig.

„Also?“, fragte sie. „Woher hattest du die Info? Also, dass die

Kreditkarte gesperrt ist?“

Dietmar setzte seinen Kaffeebecher ab, er hatte bis jetzt keinen

Schluck getrunken, und sah Teresa tief in die Augen: „Es geht

doch gar nicht um die Kreditkarte, Teresa.“

Oh Wunder, nicht „Teresa Süße“, dachte Teresa, bemerkte aber, dass

es jetzt ernst wurde.

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Dietmar stand auf und wandelte durch sein Wohnzimmer, die

Hände auf dem Rücken verschränkt: „Du hast den Kredit

verweigert bekommen. Entschuldige… IHR habt den Kredit

verweigert bekommen. Die Sperrung der Kreditkarte diente

lediglich dazu, dass vor der Schließung das Konto nicht noch mehr

belastet wird.“ Er machte eine Pause, sowohl verbal als auch mit

seiner Pilgerung durchs Wohnzimmer.

Er fixierte Teresa einen Augenblick, bevor er fortfuhr: „Johan

Erker, der Freund deines Vaters, rief mich gestern an und erzählte

mir davon. Er wollte einen Rat haben und jemanden, der noch

etwas tun konnte, da er ja nun keinen Zugriff mehr hat, dadurch

dass er nun Rentner ist. Er hat euch falsch beraten, da gibt es

keinen Zweifel, Teresa.“ Er schritt wieder durch das Wohnzimmer

und schien nachzudenken.

Teresa nahm nervös einen weiteren Schluck Kaffee, welcher bitter

schmeckte. War der Kaffee tatsächlich bitter oder war es eher ihre

Stimmung?

„Mark hat sich neu beworben. Wenn es so klappt, wie vermutet,

wird das Gehalt deutlich besser.“, sagte sie und lächelte Dietmar

hoffnungsvoll an.

Dietmar lächelte zurück: „Das klingt gut. Wie ihr das schafft, ist

eure Sache, Teresa. Tatsache ist, ihr müsst es schaffen. Verstehst

du?“

Nein! Sie verstand nicht. Sie ahnte etwas, traute sich aber nicht

diese Ahnung weiter zu denken.

„Nein. Was sollen wir schaffen?“, fragte sie und umklammerte

dabei die Kaffeetasse, als wäre sie eine Rettungsboje auf hoher See.

Dietmar nahm wieder Platz, griff zu seiner Tasse und nahm einen

großen Schluck: „Den Kredit abzuleisten, natürlich. Ich habe ihn

euch genehmigt.“

Teresa riss die Augen auf. Eine Last, groß wie ein Felsen, fiel von

ihrer Seele.

„800 € als monatliche Abzahlung. Bekommt ihr das hin?“, fragte

Dietmar skeptisch.

Teresa strahlte ihn an: „Mit Sicherheit, das schaffen wir. Vielleicht

kann ich noch etwas dazu verdienen. Ein Halbtagsjob oder so. Das

schaffen wir…“ Sie stand auf und umarmte Dietmar. All der

Gräuel um sein Benehmen war plötzlich vergessen. Er hatte den

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größten Teil ihrer Sorgen einfach so weggewischt. Das konnte

einfach kein schlechter Mensch sein.

„Wie kann ich dir jemals dafür danken?“, murmelte sie, während

Tränen über ihre Wangen liefen und auf Dietmars Schultern

tropften.

„Uns fällt bestimmt etwas ein.“, sagte Dietmar und legte seine

Hand auf ihren Po.

-

Das Auto, es war eine schwarze Mercedes S-Klasse, stand schon

eine geraume Zeit dort. Die kalten und toten Augen des

Scheinwerfers schienen die Umgebung zu inspizieren und das seit

Stunden. Bestimmt wäre die lange Parkdauer des Autos irgend

jemandem aufgefallen, wenn die Gegend eine Wohngegend wäre

und nicht eines von mehreren Industriegebieten in Köln. Es war

niemandem aufgefallen, so viel stand fest. Es stand und wartete

und wenn es sein musste, noch für weitere Stunden.

Gleiches galt für die Insassen des Fahrzeugs. Es waren zwei

Männer. Beide in dunkler Bekleidung und beide hatten die Geduld,

die man haben muss, wenn man das tat, was sie taten.

Sie sprachen kein Wort miteinander. Gesprochen wurde immer

erst nach Feierabend. Wenn sie im Dienst waren, waren sie Profis,

verhielten sich ruhig und warteten. Warteten und beobachteten.

Einer der beiden Männer griff wortlos zu seinem Smartphone,

aktivierte das Display, las und steckte es wieder weg.

„Gleich soweit.“, sagte er nur, beendete damit kurzzeitig die Ruhe

und griff unter seinen Sitz. Beide Männer hatten je eine

Sturmhaube griffbereit auf ihren Schößen liegen. Wort- und

geräuschlos griffen sie danach und zogen sie zur Hälfte über,

sodass sie wie Strickmützen aussahen.

Die Tür des beobachteten Gebäudes öffnete sich.

„Der nicht.“, raunte der andere der beiden Männer. Es verließen

noch zwei Personen das Gebäude. Die beiden Männer blieben

bewegungslos sitzen.

Dann passierte eine geraume Zeit nichts. Kein Grund zur

Nervosität. Sie waren Profis. Sie hatten das schon etliche Male

gemacht.

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Nach ungefähr zehn Minuten öffnete sich die Tür erneut. Der

Fahrer des Mercedes grunzte bestätigend und startete den Motor.

Die Strickmützen wurden heruntergekrempelt und bedeckten nun

die Gesichter der beiden Männer.

Die S-Klasse beschrieb einen kleinen Bogen, als der Wagen

gedreht wurde. Der Fahrer musste den Wagen wenden, damit sein

Partner auf dem Beifahrersitz besser sehen konnte. Das war

einfach so und niemand konnte es besser als sie. Sie waren Profis.

Niemand konnte das, was sie taten, besser als sie.

Der Beifahrer ließ beinahe geräuschlos das Fenster nach unten

gleiten. Das, was er unter seinem Sitz hervorgeholt hatte, war

bereit und lag schwer in seiner Hand. Noch war das Metall kalt,

jedoch würde sich das sehr bald ändern.

Er hatte mehrere dieser „Werkzeuge“, doch das, was er heute

nutzen würde, war sein liebstes. Es war eine Glock 17, er hatte sie

von einem französischen Freund, welcher nur ein Bruchteil von

dem haben wollte, was diese Pistole eigentlich wert war. Er legte

das Bild, welches neben seiner Sturmhaube auf dem Schoß gelegen

hatte auf das Handschuhfach und schraubte den Schalldämpfer auf

den Lauf der Pistole.

Der Fahrer drosselte das Tempo, sie näherten sich dem Mann, der

eben das Gebäude verlassen hatte. Sie konnten hören, wie er in

sein Handy sprach.

„Ja, das freut mich…“, lachte der Mann in sein Handy. „Trotzdem

hätte ich es besser gefunden, wenn…“

Die zwei Schüsse klangen wie knackende Zweige und klangen

überhaupt nicht so, wie es in zahlreichen Hollywood-Filmen

vorgegaukelt wird. Kein „Piu Piu“.

Auch fiel der getroffene Mann nicht theatralisch um und riss dabei

noch sämtliches Greifbare mit zu Boden.

Der Mann griff zunächst nur überrascht zu der getroffenen Stelle

und sackte daraufhin leise, unauffällig und völlig unspektakulär

zusammen. Das war immer so, zumindest so ähnlich. Nichts

Besonderes geschah, wenn Profis am Werk waren. Und bei den

beiden Männern handelte es sich zweifellos um Profis.

Ungeplant war allerdings lediglich, dass der Fahrer so abrupt

beschleunigte, dass das auf dem Handschuhfach gelagerte Bild aus

dem Beifahrerfenster flatterte und sich nach einem kurzen Flug auf

den regennassen Bordstein legte.

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Ein Foto war darauf zu sehen. Das Foto von dem Mann, der nur

ein paar Schritte zurück auf demselben Bordstein lag.

Unter dem Foto, nur ein Vor- und ein Zuname. Hasan Borat.

-

„Hasan?“ Mark sah auf sein Display, um seinen Empfang zu

überprüfen. „3G“ versicherte ihm sein Smartphone, was für die

ländliche Gegend, durch die Mark soeben fuhr, schon beachtlich

war. Ob Hasan einfach aufgelegt hatte? Er klang nicht sonderlich

beleidigt, hatte er nicht sogar gelacht? Mark ließ sein Handy schnell

in die Mittelkonsole verschwinden. Ein Polizeifahrzeug kam ihm

entgegen und er hatte keine Lust darauf, seine fehlende

Freisprechfunktion erneut zu erklären.

Nur noch ein paar Wochen, dachte er, dann hab ich ein Firmenfahrzeug

MIT Freisprecheinrichtung und kann diesen schäbigen, alten Golf endlich in

Rente schicken.

Das Polizeifahrzeug fuhr an Mark vorbei und Mark atmete

erleichtert auf. Er fischte nach seinem Handy, um Hasan nochmal

zurückzurufen. Eine SMS von Teresa war aufgeploppt und Mark

wischte sie auf.

„Wann kommst du? Ich muss dir was sagen.“, stand dort. Mark

wurde unruhig. Er fummelte auf dem Display herum, um mitteilen

zu können, dass er nicht mehr weit entfernt wäre, allerdings kam

nicht mehr als ein „Krumblfx“ dabei heraus und er ließ es

seufzend bleiben. Schließlich waren es nur noch knapp 10

Minuten, bis er ankommen würde.

Stattdessen versuchte er nochmal Hasan zu erreichen. Als er sein

Handy ans Ohr legte und es gleichmäßig tuten hörte, versprach er

sich, ab morgen seine Bluetooth-Kopfhörer in sein Auto zu legen.

Zuhause nutzte er sie selten, überlegte er, eigentlich sogar nie, also

sprach nichts dagegen, sie hier zu lagern. Vielleicht würde das mal

dafür sorgen, dass er nicht bei jedem Polizeifahrzeug, welches auch

nur in der Nähe fuhr, schuldbewusst zusammenzuckte.

Die Mailbox von Hasan nahm den Anruf mit einem Rülpser

entgegen. Einer von so vielen Gags Hasans, Mark grinste,

verzichtete darauf die Mailbox zu besprechen und legte sein Handy

weg.

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Hasan würde sehen, dass Mark versucht hatte ihn zurück zu rufen.

Wenn es Hasan wichtig war, würde er schon anrufen, wenn nicht

sahen sie sich spätestens morgen wieder.

Morgen werde ich mit Kündigung im „Schrauben-Manny“ erscheinen, dachte

Mark und war von seinen Empfindungen deswegen überrascht. Er

freute sich auf die neue Stelle, auf mehr Geld, eigenes

Firmenfahrzeug. Das war keine Frage. Aber er stellte zudem

plötzlichen Wehmut fest. Ein neues Kapitel würde morgen

geöffnet werden. Ein Kapitel ohne Hasan. Er spürte einen kleinen

Stich und fühlte diesem Stich nach. Ja, er war zweifellos traurig. All

die Jahre, die er mit Hasan täglich hier verbracht hatte, waren

plötzlich Teil einer Vergangenheit. Sie waren Freunde, keine

Kollegen. Sie unterhielten sich über alles, was ihnen in den Sinn

kam, sowas machten nur Kollegen, die zu Freunden geworden

waren. Da war Mark sich ganz sicher. Und natürlich sprach nichts

dagegen, dass sie sich weiterhin unterhielten. Am Telefon oder

auch einfach mal dann, wenn man sich gegenseitig besuchte. Sie

arbeiteten nicht mehr zusammen, okay.

Aber nichts würde ihre Freundschaft ändern, oder? ODER?

Mark bog in seine Einfahrt ein und sah seinen Sohn, welcher von

Teresa festgehalten wurde. Mark stockte der Atem. Wie sah sein

Sohn aus? Was brüllte er da und wieso war er so wütend? Mark

senkte seine Fensterscheibe.

„…ich mache diesen dreckigen Wichser fertig. Lass mich los!“,

brüllte Dennis. Teresa hielt ihn mit Mühe und Not fest und

schaute blinzelnd mit einem Hauch von Erleichterung in die

Scheinwerfer von Marks Golf.

„Zwei Kugeln. Eine schlug sich in die Schulter und die andere

zielte direkt aufs Herz.“ Doktor Martins pustete in seinen Kaffee

und blickte über den Rand der Tasse auf den Kommissar, welcher

ihm gegenübersaß.

„Kommt er durch?“, fragte der Kommissar. Er war nicht immer

so wortkarg wie in diesem Moment, aber der Tag schien einfach

kein Ende zu nehmen.

Er befand sich praktisch auf dem Weg nach Hause und hatte eine

Doppelschicht hinter sich, als der Anruf kam.

-

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Er ärgerte sich über seine verweichlichten Kollegen. Bei dem

geringsten Hüsteln machten sie schlapp und meldeten sich krank.

Sie waren Polizisten, verdammt, da musste man sich

zusammenreißen. Das Verbrechen feierte schließlich auch nicht

krank. Mag sein, dass er mit dieser Einstellung raubeinig schien

und den Ruf hatte „vom alten Schlag“ zu sein, aber wer musste

denn auch die Schichten übernehmen, wenn die Kollegen wieder

ein Ziepen verspürten? Er war es schließlich immer.

Und jetzt dies. Ein Schusswechsel mitten auf der Straße. Zum

Feierabend. Frechheit.

„Ich kann nichts versprechen, dafür ist die Operation noch zu

frisch. Hätte er sein Handy nicht in der Innentasche seiner Jacke

gehabt, hätte er keine Chance gehabt. Das Smartphone hat die

Kugel abgebremst und auch ein wenig umgeleitet, so dass sie das

Herz nicht getroffen hat. Trotzdem muss man bedenken, dass das

Geschoss verheerenden Schaden im Körper angerichtet hat.“

Doktor Martin nahm einen kräftigen Schluck, verzog angewidert

sein Gesicht und griff zu einem Päckchen Zucker. Er häufte zwei

Löffel Zucker in die pechschwarze Brühe und begann emsig zu

rühren. „Sicher keine Tasse Kaffee? Er ist zwar bitter, aber er hält

immerhin wach.“

Kommissar Brunner hob ablehnend die Hände: „Danke, aber nein

danke. Wenn ich nach 17:00 Uhr auch nur eine Cola trinke, kann

ich die Nachtruhe abhaken, dann bekomme ich kein Auge mehr

zu.“

Doktor Martins nickte verständnisvoll, der Löffel drehte immer

noch fleißig seine Runden in der Tasse: „Schon seltsam, wie

verschieden Menschen auf Koffein reagieren. Ich für meinen Teil

kann eine Tasse Kaffee trinken und danach sofort schlafen.

Wahrscheinlich bin ich das Zeug schon zu lange gewöhnt. Und

dann auch noch die Menge an Zucker. Ich weiß, dass das schlecht

ist, sie brauchen mich gar nicht so vorwurfsvoll anzusehen.“

Brunner zuckte mit den Schultern: „Ich habe keinen Grund,

vorwurfsvoll zu schauen. Ich bin einfach nur müde. Also Doktor

Martins, wann können Sie mir mehr zu seinem Zustand mitteilen

und ab wann kann ich mit Ihrem Patienten sprechen? Haben Sie

ein Ungefähr für mich?“

Doktor Martins wiegte seinen Kopf hin und her, als ob er geistig

eine Pro- und Contra Liste ausfüllte. Noch bevor er antworten

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konnte, flog die Tür zum Arztzimmer auf und eine Schwester

betrat eilig den Raum: „Herr Doktor, bitte kommen Sie schnell.

Der Patient mit den Schussverletzungen. Wir verlieren ihn.“

Doktor Martins sprang auf, riss dabei seine Tasse um und die

schwarze Brühe verteilte sich auf seinem Schreibtisch: „Scheiße!“

Der Kommissar sprang ebenfalls auf: „Lassen Sie. Ich mache

Ihnen das Gröbste sauber. Sehen Sie zu, dass sie den jungen Mann

retten.“

Mit einem dankbaren Gesichtsausdruck eilte der Arzt aus seinem

Büro und der Kommissar schaute sich suchend nach Papier- oder

Stofftüchern um. Im Schrank unter dem Waschbecken wurde er

endlich fündig. Er eilte, bepackt mit ein paar Tüchern, zum

Schreibtisch des Arztes und begann sämtliche Utensilien

(Stiftbehälter, Tastatur, Familienfoto und Unterlagen) von der

Tischplatte zu entfernen. Das meiste war verschont geblieben. Nur

eine Patientenakte schien es ordentlich erwischt zu haben. Die

Akte schwamm praktisch in der Kaffeebrühe. Der Kommissar riss

sie schnell an sich, betupfte die Akte mit den Tüchern und legte sie

danach auf dem Heizkörper unter dem Fenster. Bevor er sich dem

restlichen Chaos widmen konnte, erblickte er das Wort

„Schussverletzung“ auf der Akte und hielt inne. Er überflog die

Eintragungen, stellte fest, dass kaum etwas Neues zu erfahren war

und wollte sich gerade wieder dem Schreibtisch widmen, als sein

Blick auf den Namen fiel. „Borat“, las er laut vor.

„Danke, dass Sie mir mit dem Chaos geholfen haben. Den Rest

schaffe ich allein.“, sagte Doktor Martins, der plötzlich in der Tür

stand. Kommissar Brunner drehte sich zu ihm und erschrak. Der

Doktor sah müde aus, regelrecht niedergeschlagen. Kein Vergleich

mehr zu dem Menschen, der eben noch den Raum verlassen hatte.

Kommissar Brunner wusste was das bedeutete, fragte aber

vorsichtshalber trotzdem nach: „Hat er es nicht geschafft, Doktor

Martins?“

Der Arzt schüttelte langsam seinen Kopf: „Nein. Sein Körper

kollabierte. Ich konnte eigentlich nichts mehr tun. Herr Borat ist

soeben verstorben, Herr Kommissar.“

Brunner seufzte, schritt durch das Büro und griff zu seinem

Mantel.

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„Danke, Doktor Martins. Ich werde mich in den nächsten Tagen

nochmal bei ihnen melden. Zunächst mache ich für heute

Feierabend und schreibe morgen einen kleinen Bericht.“

Der Doktor nickte bedächtig und massierte die Schläfen mit seinen

Fingerspitzen: „Ist in Ordnung Herr Kommissar. Meine

Rufnummer haben Sie ja. Ich wünsche Ihnen, trotz der

unglücklichen Umstände, einen schönen Feierabend.“

„Danke. Ich hoffe, Sie müssen auch nicht mehr allzu lange

machen?“ Kommissar Brunner warf sich den Mantel über. Er

fühlte in den Taschen nach seinem Notizblock, fand ihn und zog

ihn mit einem Stift zusammen heraus.

Hatte der Doc geantwortet? Brunner war sich nicht mehr sicher:

„Entschuldigen Sie?“

„Noch drei Stunden, dann hab ich es auch hinter mir.“, sagte der

Arzt und setzte sich keuchend hinter seinen Schreibtisch.

„Dann toi toi toi“, sagte Brunner und hatte bereits die Klinke in

der Hand, besann sich aber einen Augenblick, blätterte in seinem

Notizblock und las: „Also, der Name des Verstorbenen…“

„Ja?“, fragte Doktor Martins, welcher wieder mit dem Massieren

der Schläfen beschäftigt war.

„Der Name lautet Hasan Borat, nicht wahr?“, fragte Brunner und

sah den Arzt an.

Dieser hörte auf seine Schläfen zu massieren und sah den

Polizisten verwundert an: „Ähm… nein. Moment, das haben wir

gleich.“

Er stand auf, suchte auf der Tischplatte nach etwas, danach auf

dem Sideboard der neben dem Schreibtisch stand und sogar auf

dem Fußboden.

„Was suchen Sie? Die Patientenakte? Die liegt auf dem

Heizkörper. War völlig durchnässt.“, sagte Kommissar Brunner

und deutete vage Richtung Fenster.

Der Arzt nahm die Akte, hielt sie ins Licht und konnte den Namen

entziffern: „Ah, hier steht es. Der Name lautet: Borat, Rezan.“

Dietmar ärgerte sich. Mürrisch blickte er auf seine Armbanduhr.

21:30 Uhr. Wer würde ihn um diese Zeit noch belästigen, fragte er

-

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sich. Keuchend schleppte er sich zur Haustür. Sein Meniskus

quälte ihn seit Tagen wieder.

Er griff zur Klinke und stellte beim Öffnen der Haustür zwei

Sachen fest: Es regnete in Strömen und sein Nachbar stand

klitschnass vor seiner Tür.

Ich sollte mich langsam mal um ein intaktes Vordach kümmern, das ist ja

peinlich, dachte Dietmar noch und wollte soeben zu einer

Begrüßung ansetzen, als Marks Faust unvermittelt in sein Gesicht

krachte.

-

„Wir sind gleich da, Viktor.“, sprach der eine von beiden in sein

Handy. Er gestikulierte dem anderen, links abzubiegen. Hier sah

einfach alles gleich aus, kein Wunder, dass sie bereits seit zwei

Stunden auf der Suche waren und ihre Anfahrt sich schon so lange

verzögerte. Ein Kuhdorf glich dem nächsten, sogar die Namen

klangen ähnlich. Walddorf, Waldenrath, Kirchrath, Waldesruh…

Wie sollte man sich da zurechtfinden? Auf Google Maps konnte er

auch nicht zurückgreifen, weil der Auftraggeber die ganze Zeit am

Telefon blieb und sie mit Fragen löcherte.

Ja, verdammt, dieser Hasan war erledigt.

Nein, verdammt, niemand hatte sie gesehen. Es gab keine Zeugen,

da war er sich sicher. Sein Begleiter auch, auch wenn er sich nur

wortkarg dazu äußerte. So war er nun mal. Wortkarg. Gesprochen

wurde immer erst nach Feierabend und dieser schien nun auf sich

warten zu lassen, weil sie dieses Dreckskaff nicht fanden.

„Diese Wichser haben mich beschissen. Das macht niemand mit

Viktor Romanov.“, blökte es durch das Handy.

„Ja, ich weiß.“, seufzte der eine der beiden Profis.

Sie waren Profis, in jeglicher Hinsicht. Sie arbeiteten schnell,

effizient und vor allem ließen sie die Auftragsgeber ausreden. Das

war wichtig und gehörte zu ihrem Credo.

Es war erstaunlich, wie verschieden die Auftragsgeber reagierten.

Manche sprangen kurz vor der Ausführung ab und zahlten

freiwillig die Aufwandsentschädigung, weil sie zum Schluss doch

noch Gewissensbisse bekamen.

Es gab sogar einmal einen Klienten, der nach Beendigung des

Auftrags in Tränen ausbrach und sich selbst anzeigen wollte.

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Ärgerlicherweise mussten die beiden danach statt einer Leiche,

zwei Leichen beseitigen und dabei wurde die zweite Leiche noch

nicht mal bezahlt. So etwas kam schon mal vor und war zwar eine

lästige Sache, aber kaum erwähnenswert. Es war zum Glück nicht

die Regel. Wenn sich so etwas aber häufen sollte, stand das ganze

Geschäftsmodell auf wackligen Beinen. Sie konnten es sich nicht

leisten, unentgeltliche Mehrarbeit zu verrichten.

Viele ihrer Klienten fingen nach Erledigung an, sich zu

rechtfertigen. Dieser Viktor schien so einer zu sein. Das bedeutet,

dass bei denen das Gewissen anklopfte, aber er noch standhaft

genug war, um es trotzdem durchzuziehen. Die Rechtfertigungen

richteten sich in diesem speziellen Falle eher an sich selbst, statt an

den Beseitigungsprofi. Es lag trotzdem an ihm, sich die

Rechtfertigungen anzuhören und sie als gerechtfertigt zu

bestätigen. Sie waren Profis und Profis gaben dem Kunden immer

Recht.

„Waldesruh“, sagte endlich der Fahrer und blickte ihn lächelnd an.

Sie näherten sich offenbar mit großen Schritten dem

wohlverdienten Feierabend.

-

„Hasan Borat?“, fragte der Kommissar, der von vier

Uniformierten begleitet wurde. Die vier stürzten sich, ohne eine

Bestätigung erhalten zu haben, auf Hasan und rissen ihn zu Boden.

„Aua, verdammt. Was soll das? Ich habe nichts gemacht!“,

beteuerte Hasan, unterließ aber augenblicklich jegliche Art von

Gegenwehr, um eventuellen Schmerzen vorzubeugen. Er ließ seine

Muskeln locker, verlagerte sein Gewicht so, dass die Polizisten

leichtes Spiel hatten und wartete geduldig ab. Er merkte sogleich,

dass die Handgriffe der Beamten weniger aggressiv waren und

fühlte sich seiner Entscheidung bestätigt. Geduldig ließ er sich

aufrichten und Handschellen anlegen. Sie bugsierten ihn zur

nächstbesten Sitzgelegenheit, einem Küchenstuhl, und setzten ihn

dort ab.

Kommissar Brunner folgte der kleinen Parade und kramte

unterdessen in seiner Tasche, aus deren Innerem er ein foliertes

Blatt Papier entnahm. Er hielt es Hasan entgegen: „Das sind Sie,

oder?“

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Hasan starrte das Bild an. Es war definitiv sein Gesicht, ohne

Zweifel. Das Bild musste schon älter sein, denn diese Frisur trug er

schon Ewigkeiten nicht mehr. Eine Zeit lang hatte er diesen

Undercut. Die Schläfen kurzgeschoren und die Haare oben so lang

gelassen, dass er einen Seitenscheitel kämmen konnte. Er stand auf

die Frisur, bis er bemerkte, dass beinahe jeder aus seiner

Umgebung diesen Schnitt trug. Mit dieser Erkenntnis schwand die

Begeisterung für diesen Haarschnitt und er rasierte sich die Haare

auf 2 mm ab.

„Ja, das bin ich. Warum fragen Sie? Außerdem steht mein Name ja

auch darunter.“, antwortete Hasan, bremste sich aber auch sofort

wieder.

Keine Ahnung, WARUM ich in Schwierigkeiten bin, aber ich stecke definitiv

in Schwierigkeiten. Frech sein, ist keine gute Entscheidung, dachte er.

„Entschuldigung, wer sind Sie eigentlich und wie genau kann ich

Ihnen helfen?“, fragte Hasan schnell hinterher und bemühte sich

um eine ruhige Stimme.

„Ich bin Kriminalhauptkommissar Brunner und ich muss Ihnen

leider mitteilen, dass Ihr Cousin, Herr Rezan Borat, heute Abend

um ca. 19:30 Uhr erschossen wurde.“, sagte der Kommissar und

schien Hasan dabei genauestens zu beobachten.

Übelkeit übermannte Hasan. Sie kroch aus seinen Eingeweiden in

den Magen und dort die Speiseröhre empor. Hasan schluckte

schnell, doch die Übelkeit bahnte sich erneut und ständig

wiederholend den Weg zurück. Schwindel gesellte sich dazu.

Er blickte vom Kommissar zu den vier Uniformierten. Einer von

ihnen ließ Hasan los und eilte zum Hängeschrank über der Spüle,

entnahm ihm ein Glas und füllte es mit Wasser. Als er Hasan das

Glas brachte, nahm dieser einen großen Schluck und die Übelkeit

schien fürs Erste besänftigt. Der Schwindel aber blieb hartnäckig.

Er hatte nie wirklich viel mit Rezan zu tun gehabt. Auf

Familienfeiern unterhielten sie sich und in jüngster Vergangenheit,

natürlich. Aber sonst? Sonst gab es eigentlich kaum

Berührungspunkte.

Trotzdem meldete sich eine Art Trauer, die den Tod seines

Cousins bedauerte.

Und warum war Rezan eigentlich verstorben? Hatte der

Kommissar das schon beantwortet und Hasan hatte es nicht

mitbekommen?

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Er sah den Kommissar an und es kam ihm vor, als wäre er

minutenlang in seine eigenen Gedanken vertieft gewesen.

Der Gesichtsausdruck des Kommissars war nun milde, kein

Vergleich mehr zu dem Ausdruck von eben, welcher eher streng

und anklagend gewesen war.

Der Kommissar nickte einem Polizisten hinter Hasan zu. Dieser

griff zu Hasans Armen, welche noch immer auf dem Rücken

fixiert waren und öffnete die Handschellen.

Hasan rieb sich die Handgelenke. Tränen tropften auf seine Hand.

Warum weinte er? Verwandter hin oder her, im Grunde war Rezan

das, was er immer schon gewesen war: Ein Arschloch. Weinte er

vielleicht aus einem Grund, den er momentan noch nicht in Worte

fassen konnte? Weinte er, weil er ahnte, dass es um ihn ging? War

er unter Verdacht oder war es vielleicht…

„Wir fanden dieses Bild in der Nähe der Leiche Ihres Cousins und

mussten erst einmal diesen Spuren folgen, auch wenn es noch

unwahrscheinlich ist, dass Sie Ihr Foto nach der Tat dort liegen

lassen.“ Kommissar Brunner starrte Hasan an.

Hasan schluckte. Also doch unter Verdacht?

„Nun, da wir hier alle Ihre Reaktion gesehen haben und Sie

zweifellos von der Nachricht überrascht waren, frage ich mich, ob

vielleicht Sie dort hätten liegen sollen. Kann das vielleicht sein,

Herr Borat?“

Hasans Gedanken schwirrten.

Rezan… Viktor… Darknet… Nicht geklappt… Entdeckt…

Viktor… Drogen… Viktor… Viktor… Falle… MARK!

Er musste auspacken, alles sagen. Er hatte die Befürchtung, dass es

dazu beinahe zu spät war.

Hasan sah dem Kommissar tief in die Augen: „Ja, das kann sein.

Ich sage Ihnen alles, aber bitte tun Sie mir den Gefallen und

schicken Sie jemanden zu einem Freund von mir.“

Der Kommissar nickte: „Wo ist Ihr Freund?“

„In Waldesruh…“, seufzte Hasan und schloss die Augen.

Viktor schleuderte sein Handy gegen die Wand. Es zerbarst

überraschend geräuscharm und zerfiel in mehrere Bestandteile.

Hektisch suchte er in den Bruchstücken nach dem Objekt seiner

-

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Begierde, fand es und fischte es aus dem zerstörten Stück Plastik.

Er griff zu der Kohlenzange der Shisha, klemmte die SIM Karte in

die Zangenbacken und schlug damit auf den Boden ein, bis die

Karte brach. Es wiederholte es noch zwei Mal. Als aus der SIM

Karte vier einzelne Stücke entstanden waren, beruhigte er sich ein

wenig. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.

Aufflammen und löschen.

„Wann sind sie da?“, frug er einen seiner Leute.

„Sie kommen gerade hoch, Viktor. Es sind sicher 30 Bullen, Alter.

Wir sind alle in Position und ballern uns hier raus“, antwortete

einer von ihnen. Der Typ griff in seinem Hosenbund und zog eine

Halbautomatik hervor und lud sie durch.

„Steck das Ding weg!“, brüllte Viktor, seine Augen weit

aufgerissen. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.

Aufflammen und löschen. „Wenn da wirklich 30 Bullen auf dem

Weg zu uns sind, haben wir keine Chance. Wir müssen Spuren

verwischen, nichts weiter. Und mit deiner dämlichen Knarre

fangen wir an. Schmeiß sie weg, irgendwohin, nur weg.“

Der Typ (hieß er Kevin?) sah Viktor mit einem abschätzigen Blick

an: „Ich gebe nicht auf, Viktor. Ich habe keine Angst vor den

Drecksbullen und das beweise ich dir.“

Er rannte mit der entsicherten Waffe aus dem Apartment und ließ

den verzweifelten Viktor zurück.

„Komm zurück, du Idiot!“, brüllte Viktor noch hinterher, bevor

Schüsse und Schreie das Treppenhaus zu einem Inferno

verwandelten. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.

Aufflammen und löschen.

-

Dietmar stürzte zu Boden, Mark stürzte sich auf Dietmar und

Teresa stürzte sich auf Mark. Wäre die Szenerie in schwarz-weiß

zu sehen und durch Pianoklänge unterstützt gewesen, hätte es

ausgesehen wie aus einem „Three Stooges“ oder „Laurel & Hardy“

Sketch. Leider war jedoch alles bitterer Ernst.

Marks Sicherung brannte in dem Moment durch, als Dennis ihm

von Dietmars Grabsch Attacke auf Teresa erzählte.

Der Tumult war bereits groß, wurde dennoch von mehreren

Stimmen, die alle verschiedenes riefen verstärkt.

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Kathrin kam aus der Küche und schrie ohne besondere Worte und

Bedeutungen auszudrücken.

Dietmar schrie aus Überraschung, Schmerz und Wut.

Mark brüllte permanent Fetzen, die von „Ich mach dich fertig!“ bis

zu „Du dreckiges Schwein!“ reichten. Oft auch in Kombination.

Teresa meisterte sich indes wieder in ihrer Kunst des „leisen

Schreiens“, indem sie ihm beinahe laut ins Ohr raunte: „Lass es

gut sein, Mark. Du musst hier nicht das Alphatier spielen.“

Zu guter Letzt schrie Dennis aus dem Eingangsbereich noch

anfeuernde Ausrufe wie: „Gibs ihm Papa!“ und sogar „Wenn du

nicht mehr kannst, mach ich weiter!“

Die ganze Situation wurde surreal, das merkte Mark nun, als er auf

Dietmar lag und eine Hand Dietmars Kragen festhielt, während

die andere Hand an Dietmars Haaren zog.

Was tust du da?, fragte Mark sich und bemerkte zweierlei:

1. Seine Wut war plötzlich verflogen

2. Sein Griff lockerte sich

Ja, du wolltest Dietmar zeigen, dass er eine Grenze überschritten hatte. Ja, du

warst wütend und hast ihm in dieser Wut ins Gesicht geschlagen. Aber jetzt?

Jetzt willst du weiter prügeln, wie ein Gauner, ein Schläger? Wer bist du

eigentlich? Wem willst du hier etwas beweisen? Könntest du bewusst einem

anderen Menschen Schmerzen zufügen? Könntest du das wirklich?

Mark ließ seine Schultern sacken. Er saß wie ein leerer Sack

rittlings auf Dietmar und entschied, dass es nun vorbei war. Er

konnte das nicht. Er war kein rücksichtsloser und gewaltgewohnter

Mensch. Er konnte niemandem bewusst Schmerzen zufügen.

Dietmar schon.

In dem Moment, als Mark aufstand und sich nach vorne beugte,

um Dietmar seine Hand zu reichen (Wir werden uns nun hinsetzen und

in Ruhe darüber reden), hob dieser seinen Fuß und rammte ihn Mark

ungebremst und mit voller Wucht ins Gesicht.

Mark spürte und hörte, wie seine Nase brach. Der Schmerz

verteilte sich in Windeseile in seinem Gesicht, in seinem Kopf.

Sein Kopf war ein einziger Herd aus Schmerzen und dennoch

konnte er die einzelnen Schmerz-Quellen spüren. Seine Nase

brannte wie Feuer, seine Kiefer pochten und er glaubte bereits

jetzt mit der Zunge Lücken zu spüren. Seine Wangen glühten und

strahlten diesen Schmerz aus, den man empfindet, wenn man zu

lange in der Kälte war.

Seite 203


Nebenhöhlen? dachte Mark noch unwirsch, als seine Beine nun

endlich den Dienst versagten und einknickten. Dietmar rappelte

sich unter Stöhnen hoch und baute sich vor Mark auf, seine Fäuste

geballt.

Mark sackte zusammen, versuchte wieder aufzustehen, jedoch tat

ihm sein Körper diesen Gefallen nicht. Sein Körper wusste es

besser und legte den Hauptschalter, den FI Schalter des

Bewusstseins, um.

Mark ließ sich fallen, schloss die Augen und ergab sich seiner

Ohnmacht.

Er bekam nicht mit, dass ein Auto vor Dietmars Haustür mit

quietschenden Reifen losfuhr.

Er verschlief den Moment, dass der wort- und ausrufstarke

Tumult erneut losbrach.

Er verpasste den Moment, in dem Dietmar neben ihm

zusammenbrach.

Er sah nicht die beiden Austrittswunden in Dietmars Rücken, als

dieser bäuchlings neben Mark lag.

Mark schlief und er würde noch lange schlafen.

-

Sie waren Profis!

Es gab nicht den geringsten Zweifel daran. Noch nie hatte ein

Kunde (so nannten sie ihre Auftraggeber) sich beschwert.

Eine Reklamation hat es erst recht noch nie gegeben. All ihre

Kunden, auch wenn sie neu im Business waren und bis dato nur

fünf zahlende Kunden vorweisen konnten, waren stets mit ihrer

Arbeit zufrieden gewesen.

Umso verwunderlicher las der Beifahrer nun zum wiederholten

Mal die SMS ihres Kunden.

„Was seid ihr nur für selten dämliche Wichser. Ihr habt nicht Hasan, sondern

meinen Mitarbeiter umgelegt.“

Gefolgt von noch einer SMS.

„Bullen sind da… Ich zerstöre das Handy… Kein Kontakt mehr… Kohle

könnt ihr vergessen… Fickt euch!“

„Arschloch!“, zischte der Beifahrer dem Display seines Handys

entgegen.

Seite 204


„Was ist los?“, fragte nun der Fahrer, dessen Neugier das übliche

Schweigen übertrumpfte.

Auch Profis müssen improvisieren und sich gegebenenfalls neu

arrangieren. Da konnte man auch ausnahmsweise sprechen.

Zudem war nun beinahe Feierabend, auch wenn sie sich noch im

Fahrzeug befanden und dieses noch entsorgt werden musste. Sie

waren nicht zufrieden mit sich. Als Profi musste man vor allem

ehrlich zu sich sein. Sie hatten soeben Mist gebaut. Richtigen Mist

gebaut.

„Dieser Viktor hat geschrieben, dass wir den Falschen entfernt

haben.“, antwortete der Beifahrer.

Entfernt. Auf diesen Ausdruck hatten die beiden sich nach langer

Diskussion geeinigt. „Entfernt“ klang weder verharmlosend wie

„Sichergestellt“ noch brachial wie „Exekutiert“, erst recht nicht

kitschig wie „Ausradiert“ oder gar platt wie „umgelegt“.

„Entfernt“ klang professionell und sie waren Profis.

Der Fahrer riss die Augen auf: „Was?! Jetzt gerade? Das wissen wir

doch!“

Er seufzte. Was für eine Misere. In dem Moment, als er auf diesen

Mark Sieger geschossen hatte, sackte dieser zu Boden und dieser

andere Typ da, der alte Fette bekam es voll ab. Sowas war ihm

noch nie zuvor passiert. Aus Protest und weil er merkte, dass er

viel zu langsam fuhr, drückte er aufs Gaspedal. Sie würden wohl

nochmal wiederkommen müssen.

„Nein Mann, nicht das von eben. Das weiß er noch gar nicht und

wird es auch nicht mehr erfahren. Er dürfte jetzt tot oder im Knast

sein.“, sagte der Beifahrer und der Fahrer wusste umgehend,

warum sie sich ein professionelles Schweigen vorgenommen

hatten.

„Alter! Ich kapiere null, was du da von dir gibst!“ Er bog ab und

sah bereits die Hauptstraße vor sich. Noch ein Stück

Umgehungsstraße, dann folgte die A46. Da konnten sie dann Gas

geben und dürften aus dem Gröbsten raus sein.

Der Beifahrer atmete genervt aus: „Mann! Wir haben heute

Nachmittag nicht diesen Hasan gekillt…“

„Erik!“, schrie der Fahrer seinen Beifahrer an. „Wir sagen so etwas

nicht!“

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„Ja sorry“, sagte Erik. „Wir haben heute Nachmittag nicht diesen

Hasan entfernt, sondern einen Mitarbeiter von unserem Kunden.

Die sehen sich scheinbar ähnlich.“

Der Fahrer schlug wütend auf seinem Lenkrad: „SCHEISSE!!!

Sowas darf uns nicht passieren. Und das auch noch zwei Mal am

selben Tag! Wie sollen wir uns im Geschäft halten, wenn sich das

herumspricht?“

„Ist egal.“, sagte Erik und seine Stimme klang nüchtern. „Wir sind

raus aus dem Geschäft.“

Erik, der Beifahrer, deutete nach vorne. Der Fahrer trat auf die

Bremse, der Wagen kam auf der Umgehungsstraße zum Stillstand.

„Feierabend“, sagte der Fahrer und sah seinem Begleiter in die

Augen. Danach starrten beide aus der Windschutzscheibe der

Straßensperre entgegen.

Noch nie hatte der Fahrer so viele Polizeiautos in einer ländlichen

Gegend gesehen, da war er sich sicher.

-

Die Schüsse verhallten. Die große Schlacht war vorbei, nur hin

und wieder hörte Viktor einen einzelnen Schuss, gefolgt von lauten

Befehlen und einer weiteren Schuss Salve.

Es klang wie Silvester, gegen 01:00 Uhr nachts. Wenn die meisten

Böller und Raketen schon verschossen waren und nur noch hier

und da ein Knaller gezündet wurde, weil man sie nun mal hat und

sie bis zum nächsten Jahr nicht halten würden.

Viktor stand immer noch in der Wohnung auf dem Kölnberg.

Seinem Refugium, seinem Schloss, seiner Festung.

Mann, was hatte er hier Dinge durchgezogen.

Jahrelang schon und nie war es so weit gekommen, dass die Bullen

ihm wirklich ernsthaft zu nah kamen.

Hätte er diesem Hasan doch seine kleine „DarkNet Betrügerei“

durchgehen lassen. Was hätte es ihm geschadet? Nichts.

Er hatte trotzdem daran verdient, und zwar ordentlich.

Sein Ruf und sein gottverdammtes Ego haben diesen Hasan nicht

damit wegkommen lassen wollen.

Und jetzt das!

Diese bescheuerten „Profis“, Viktor lachte humorlos auf, haben

nicht nur den Falschen umgelegt, sondern auch noch das Opfer

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liegen lassen. Kein Wunder, dass die Bullen auf direktem Wege zu

ihm finden würden.

Viktor seufzte.

Momentan war es immer noch ruhig in seiner Wohnung und auch

im Flur hörte er keinen Mucks.

Er gönnte sich trotzdem keinen Hoffnungsschimmer. Sie würden

kommen und ihn holen, daran gab es keinen Zweifel.

Wenn sie da waren, würde er sich auf den Boden legen und sich

verhaften lassen.

Kein Ende wie bei Scarface, schwor er sich obwohl er den Film liebte.

Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen. Aufflammen und

löschen.

Langsam schritt er durch die Wohnung und überflog noch einmal

sämtliches Inventar.

Japp, hier kam sämtliches Belastbare zusammen, aber sein Anwalt

würde ihn da rausholen. Er biss sich nervös auf die Lippen und

ging in Gedanken durch verschiedene Begründungen und

Erklärungen. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und löschen.

Aufflammen und löschen.

Sein Vater… Viktor stöhnte. Sein Vater würde ihn zur Schnecke

machen.

„Ich wusste schon immer, dass er nicht taugt. Hab ich es nicht schon immer

gesagt?“ würde er sagen. Viktor ließ sein Feuerzeug aufflammen und

löschen. Aufflammen und löschen.

Er hatte dafür gesorgt, dass niemand etwas Schlimmeres als ein

wenig Gras und Pulver finden würde. Das Handy, mit dem er

diese beiden Deppen beauftragt hatte war zerstört und in alle vier

Himmelrichtungen entsorgt, keine Waffe befand sich mehr in

seiner Nähe.

Sie konnten kommen, er war bereit. Er ließ sein Feuerzeug

aufflammen und löschen. Aufflammen und löschen. Aufflammen

und löschen. Aufflammen… Aufflammen…

Viktor stutzte und sah sich sein Feuerzeug an. Leer. Viktor seufzte.

„Wenn das kein schlechtes Zeichen ist“, flüsterte er vor sich hin.

Er liebte dieses Feuerzeug, hatte es seit dem Augenblick, als sein

Onkel es ihm damals geschenkt hatte, stets bei sich. Er hatte sich

gleich in die Form des Feuerzeugs verliebt, da es so aussah…

Ein gewaltiges Krachen war durch den Hausflur zu hören.

Schwere Stiefel sprinteten die Treppen hoch.

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Es war soweit.

Viktor ließ sich auf seine Knie nieder und hob seine Hände über

den Kopf. Er ließ sein Feuerzeug klicken. Immer wieder.

Die Tür flog auf und drei schwer bewaffnete Beamten quetschten

sich durch den Türrahmen: „Waffe fallen lassen!“

Die drei SEK Beamten wichen zurück und zielten auf Viktor.

Viktor schluckte, er verstand nicht.

„Waffe fallen lassen, habe ich gesagt!“, schrie einer der drei

hysterisch.

Legten sie auf ihn an? Viktor hatte doch die Hände über den

Kopf, was sollte er denn…

„Ach Moment!“, sagte er und zeigte ihnen sein Feuerzeug. „Das ist

nur ein…“

Was genau Viktor sagen wollte, konnte niemand hören, weil die

Schüsse aus drei MGs zu laut waren.

Viktor ließ sein geliebtes Feuerzeug fallen. Er sackte zusammen.

Er war so stolz auf das Feuerzeug, weil es so aussah wie eine

Beretta 81, die Pistole, die Al Pacino im Film „Scarface“ nutzte.

Sein persönliches Idol. Er lag auf dem Boden und betrachtete sein

Feuerzeug so lange, bis seine Augen brachen.

Die Reifen des „geliehenen“ Wagens quietschten. Das mit der

Entsorgung des Fahrzeugs dürfte sich erledigt haben, dachte der

Fahrer.

Der Wagen schoss nach vorne und hielt genau auf die

Straßensperre zu.

Sie waren Profis und Profis gehen nicht in den Knast.

Der Wagen bahnte sich seinen Weg zur Straßensperre, eine

Stimme, die durch ein Megafon sprach, versuchte auf sich

aufmerksam zu machen.

Alles egal! Sie würden im Kugelhagel sterben.

So, wie Bonnie und Clyde, dachte er, verzog dabei aber sein

Gesicht. Waren die nicht ein Paar? Mann und Frau?

Verdammt, er hätte besser in der Schule aufpassen sollen.

Er hielt weiter auf die Straßensperre zu und fragte sich, ob

mehrere Treffer schmerzhafter sind als einer- oder hatte sich das

-

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nach dem ersten Treffer erledigt, weil es keine Schmerzsteigerung

nach dem „ultimativen Schmerz“ gab?

Was sind das für Muschi-Gedanken, schalt er sich. Profis stellen sich nicht

solche weichgespülten Fragen. Profis sterben einfach.

Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Sie waren der

Straßensperre nun schon so nah, dass der Fahrer nun schon

vereinzelt die Gesichter der Beamten erkennen konnte.

Verwundert stellte er zudem fest, dass kaum eine Waffe auf sie

gerichtet war.

Noch bevor er tiefere Gedanken in diese Richtung lenken konnte,

erblasste plötzlich das Armaturenbrett und der Bordcomputer.

Der Motor erstarb und das Fahrzeug rollte langsam aus, bis es

hielt. Bevor die beiden Profis zu ihren jeweiligen Waffen greifen

konnten, flogen Fahrer und Beifahrertür auf und der Fahrer fand

sich wenige Sekunden später auf dem Boden wieder.

Ein Knie fixierte ihn im Rücken und Handschellen klickten.

Der Beamte hievte den Fahrer in die Höhe und ein Mann in

Zivilkleidung grinste ihm ins Gesicht: „Guten Tag, Brunner mein

Name. Kommissar Brunner und darf ich Ihnen meinen Kollegen

vorstellen?“ Er wedelte mit einer kleinen Fernbedienung vor der

Nase des Fahrers herum. „Das ist Herr oder Frau (ich weiß es

nicht so genau) Remote Start & Stopp. Der Besitzer des

entwendeten Fahrzeugs war so gütig uns dieses großartige

Helferlein zu leihen. Schauen sie!“

Er drückte auf einen Knopf und der Wagen startete, drückte auf

einen anderen Knopf und der Motor erstarb.

Der Kommissar beugte sich vertrauensvoll vor: „Während der

Fahrt natürlich unmöglich, aber wir von der Polizei haben auch

Kollegen, die eine solche Sperre… nun… ausarbeiten können. Das

Problem ist nur, man muss recht nahe am Fahrzeug sein.“ Der

Kommissar grinste in das verdutzte Gesicht des Fahrers. „War ein

bisschen spannend, muss ich zugeben.“

Er winkte den beiden fixierenden Beamten zu, welche die beiden

Profis umgehend in den Polizeibus setzten.

Sie fuhren ab.

Ich gehe nicht in den Knast, dachte der Fahrer vorher bringe ich mich

um… Jetzt gleich… Oder morgen…

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Epilog

„Das macht doch überhaupt keinen Sinn“, keifte die Kundin.

„Mein Mann hat gesagt, ich soll Montageschaum kaufen. Ist das

jetzt das richtige, oder nicht?“

Feist rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken

und seufzte theatralisch: „Meine liebe Dame. Ich weiß beileibe

nicht, wie ich Ihnen das nun noch deutlicher erklären soll.

Welchen Tag haben wir heute?“

Die Kundin blickte auf ihre Armbanduhr, als ob diese ihr aus der

prekären Lage helfen würde und sah sich danach hilfesuchend um:

„Nun, wir haben heute den 17. Februar.“, sagte sie zaghaft.

Feist lächelte sie gütig an. Ein paar Schweißtropfen waren auf der

Stirn zu sehen.

Du schaffst das, sagte er sich. Bleib tapfer.

„So funktioniert das nicht, meine Dame. Das Datum spielt nichts

zur Sache. Welchen Tag haben wir heute?“ Feist musste aufpassen,

dass sein Lächeln nicht gefror. Alles musste stimmen. Seine feste

Stimme, seine Mimik, Körperhaltung…

„Heute ist Dienstag, aber was hat das mit dem Montageschaum zu

tun?“ Die Kundin wurde zunehmend lauter und sah sich noch

hektischer um. Offenbar versuchte sie, auf sich aufmerksam zu

machen, wollte wahrscheinlich irgendeinen Vorgesetzten zum

Erscheinen keifen.

Nicht mit mir, dachte Feist.

„Würden Sie sich bitte beruhigen? Sehen Sie, Sie sind nicht allein

in diesem Baumarkt und ich würde Sie nur ungern des Marktes

verweisen.“, sagte er und vernahm einen Magenkrampf. So etwas

hatte er noch nie getan. Jede Faser seines Körpers wehrte sich

gegen diese Unverschämtheiten gegenüber seiner geschätzten

Kundschaft.

Die Kundin schnappte nach Luft: „Ist ja gut. Nun, was ist jetzt?“

Feist nahm ihr die Dose mit dem Montageschaum ab: „Sehen Sie:

Das Problem liegt bereits in der Betonung. Wenn ich ihnen dieses

Produkt richtig betone, kommen sie von ganz allein darauf. Es hat

nichts mit einer Montage zu tun. Das ist MONTAGEschaum.

Funktioniert nur montags, verstehen sie?“

Die Kundin zwinkerte nervös, dachte nach und verließ wortlos

den Gang der Sanitären Produkte. Kaum im Kassenraum

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angekommen jedoch, ließ sie ihrem Unmut freien Laut und brüllte:

„Was ist das hier für ein Drecksladen? Hier werden Kunden

verarscht. Eine Unverschämtheit!“

Sie schrie noch mehr Ähnliches, als sie den Markt verließ, dies ging

jedoch im Windfang und dem dahinter liegenden Straßenlärm

unter.

Feist schwitzte und blickte ängstlich nach oben, ob sich die Tür

von David Bergmann (angelockt von der lärmenden Kundin)

öffnete. Sie blieb zu. Er blickte zur Kasse, an der sich eine

verwirrte Lisa festhielt und verzweifelt zu ihm blinzelte.

Er zuckte mit den Schultern, verdrehte seine Augen und

vermittelte der Kassiererin dadurch: „Keine Ahnung, was die hatte. Die

Kunden werden auch immer verrückter.“

Prustendes Lachen erklang aus dem Gang hinter ihm und eine

Hand legte sich fest auf die Schulter von Feist: „Herzlichen

Glückwunsch, Feist. Endlich machst du dich mal locker.“

Feist atmete tief durch und versuchte sich in einem Lächeln.

Hasan sah ihm tief in die Augen: „Na? Ja? Kommt da etwa ein

Lächeln, meine Damen und Herren? Kann der Kollege Feist etwa

Spaß haben? Wir wissen es wirklich nicht, verehrte Zuschauer,

jedoch sind wir uns sicher, dass wir es gleich erfahren werden.

Also bleiben sie unbedingt auf diesem Kanal…“

Feist lachte: „Du bist bescheuert, Hasan!“

Hasan tobte und ahmte jubelnde Massen nach: „Und da haben wir

den Beweis, meine Damen und Herren. Kollege Feist hat Humor

und kann Spaß haben. UND LACHEN KANN ER AUCH

NOCH!!! Es ist unglaublich, was wir heute erleben. Die Menge

tobt und da wollen wir dem Kollegen auch den platten

Montageschaum-Gag verzeihen. Woooooohoooooow!“

Hasan lief in gespielter Zeitlupe mit Siegerpose den Gang rauf und

runter.

Feist sah sich das Schauspiel an und fragte sich, ob er das alles nun

peinlich oder lustig fand. Irgendwas hatte sich geändert, das spürte

er. Er spürte eine Wärme, die sich in seinem Brustkorb ausbreitete.

War das Freude? Zufriedenheit?

Er dachte darüber nach, als sich erneut eine Hand auf seiner

Schulter niederließ.

Er drehte sich um und blickte Mark ins Gesicht. Er erschrak. Er

wollte es sich unbedingt abgewöhnen zurückzuschrecken, aber er

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konnte sich noch nicht an den Anblick gewöhnen. Die Nase von

Mark war geschient und dennoch immer noch schief.

Wie lange mochte das nun her sein, fragte sich Feist. Drei oder

fünf Monate?

„Herzlichen Glückwunsch Feist. Hasan und ich haben uns

entschieden: Du darfst ab sofort unser Vorgesetzter sein. Hier

unsere Erlaubnis!“

Mark steckte Feist einen Sticker an die Brust, darauf war ein

Bluetooth-Zeichen.

Feist prustete los: „Ihr Arschlöcher mit dem Bluetooth-

Lautsprecher. Womit hab ich das verdient?“

Feist fühlte sich blendend, das musste er sich nun eingestehen.

Vielleicht war ein Miteinander doch besser als ein Gegeneinander.

Mark beugte sich vor und Feist blieb das Lachen im Hals stecken.

Dieser Mann hat zu viel erlebt, schoss es durch seinen Kopf.

Doch Mark zwinkerte: „Gib es zu: Du hattest es dir verdient,

Feist.“

„Herbert.“, sagte Feist. „Herbert, bitte.“

Mark zwinkerte nochmal: „Sehr gern, Herbert.“

Sie gaben sich die Hand.

Als Mark sich auf dem Weg in seine Abteilung zurückmachte, rief

Feist ihm hinterher: „Mark! Wolltest du nicht eigentlich gehen?

Was hat dich umgestimmt?“

Hasan gesellte sich zu Mark, als dieser sich umdrehte: „Spaß! Spaß

hat mich umgestimmt. Spaß und BitCoins!“

Er lächelte und ging in seine Tapetenabteilung. Er hatte noch jede

Menge Ware zu verräumen.

ENDE

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