Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
menten ausrutschten, wie sie Halt suchte, das Stöhnen <strong>der</strong> Gepferchten, das Ächzen<br />
des Menschen, sein Zittern […]. Ein Schuss fiel. (407)<br />
Zwei Menschen suchen nach Pilzen und stoßen auf den Holocaust. Helene sieht<br />
in Marthas Augen das Schicksal <strong>der</strong> Juden, dem sie selbst entgangen ist. Wen<br />
<strong>der</strong> Schuss getroffen hat, wird nicht gesagt. Man kann es nur ahnen.<br />
Der dritte Teil endet mit <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Reise nach Westen. Alle Deutschen<br />
sollen Stettin verlassen. Helene packt in Peters Koffer Kleidung, sein Lieblingsbuch,<br />
einen aus Horn geschnitzten Fisch, die Geburtsurkunde, etwas Geld und<br />
einen Zettel mit <strong>der</strong> Information: Onkel Sehmisch, Gelbensande. Sie sollten für<br />
Peter sorgen. Und: Es sollte ihm an nichts mangeln. Nun wird klar, dass sie ihn<br />
aussetzen will: Sie durfte ihm nicht sagen, dass es um den Abschied ging. Er<br />
würde sie nicht gehen lassen. (416) Gehen also will sie, das Kind soll sie nicht<br />
daran hin<strong>der</strong>n.<br />
6 Epilog<br />
Der Roman schließt mit einem elfseitigen Epilog. Er korrespondiert mit dem Prolog.<br />
Wir sind im Jahr 1954; Peter hat seinen 17. Geburtstag. Nach <strong>der</strong> Aussetzung<br />
in Pasewalk kam er tatsächlich zu seinem Onkel nach Gelbensande. Man<br />
nahm ihn auf, aber wi<strong>der</strong>willig – ein zusätzlicher Esser. Doch <strong>der</strong> Junge arbeitet<br />
fleißig und verdient sich sein Brot. Er ist klug, liest viel und besucht die Oberschule.<br />
Sein erträumtes Berufsziel: die Filmhochschule in Potsdam, also „was mit Medien“.<br />
Zum Geburtstag hat sich seine Mutter angesagt, elf Jahre nach <strong>der</strong> Trennung.<br />
Über Helenes Leben erfahren wir nur, dass sie in <strong>der</strong> Nähe von Berlin lebt,<br />
ganz bescheiden mit ihrer Schwester in einer Einzimmerwohnung (420), und<br />
dass sie viel arbeitet. Peter will seine Mutter nicht sehen und versteckt sich. Es ist<br />
seine Rache; er will sie quälen, wie sie ihn gequält hat: Sie würde ihn nicht mehr<br />
zu Gesicht bekommen, jetzt nicht, heute nicht, und nie mehr. (426) Denn: Er<br />
konnte ihr nicht vergeben, niemals würde er ihr verzeihen können. (427) Das<br />
Schlussbild entspricht dem Anfang. Damals war es Morgen, jetzt ist es Abend:<br />
T 15 Peter hörte den Wind in den Pappeln. <strong>Die</strong> Tante öffnete die Pforten des Tors.<br />
Der Motor wurde gezündet, <strong>der</strong> kleine Lastwagen fuhr eine Schleife über den Hof und<br />
zur Ausfahrt hinaus. […] Peter legte sich auf den Rücken. Das Stroh kitzelte ihn im<br />
Nacken. <strong>Die</strong> Dunkelheit besänftigte ihn; er war ganz ruhig. (430)<br />
Wie<strong>der</strong> liegt Peter auf dem Boden. Statt des Schreis <strong>der</strong> Möwe hört er den Wind<br />
in den Pappeln. <strong>Die</strong> Mutter muss Gelbensande unverrichteter Dinge verlassen.<br />
Am Anfang will Peter eine Möwe verschwinden lassen; jetzt hat er die Mutter zum<br />
Verschwinden gebracht. Er ist mit sich im Reinen. Hat er sich dem Fluch <strong>der</strong> Mittagsfrau<br />
entzogen?<br />
Roland Häcker<br />
Sindelfingen, April 2012<br />
www.roland-haecker.de<br />
13