Kehlmann: Die Vermessung der Welt
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Das Lindenblatt wird noch eine Rolle spielen. Es erinnert an Siegfried (Nibelungenlied),<br />
<strong>der</strong> wegen des Blattes und eines Fehlers seiner Frau Kriemhild das Leben<br />
verliert. Selma glaubt an die Wirkung des Lindenblatt-Steines. Aber <strong>der</strong> Talisman<br />
schützt und heilt nicht. Ihr Mann stirbt an den Folgen <strong>der</strong> Verwundung.<br />
Im Lazarett fühlt er sich seiner Frau liebend verbunden; er schreibt ihr viele Briefe.<br />
Selma übergibt sie ungeöffnet <strong>der</strong> sorbischen Haushalthilfe Marie. Als Würsich<br />
zwei Jahre nach Kriegsende als Krüppel heimkehrt, weigert sich Selma, ihn<br />
zu sehen. Er hat furchtbare Schmerzen, Martha gibt ihm Morphium, das sie in <strong>der</strong><br />
Klinik stiehlt. Lange lebt <strong>der</strong> Vater nicht mehr, trotz <strong>der</strong> aufopfernden Pflege <strong>der</strong><br />
Töchter. Sein Beinstumpf entzündet sich; er bekommt Typhus. Es gibt eine letzte,<br />
von den Töchtern erzwungene dramatische Begegnung mit seiner Frau. Sie zeigt<br />
sich dabei blind am Herzen (120). Helene charakterisiert sie so:<br />
T 4 Etwas an dieser Frau erschien Helene so unermesslich falsch, so unbarmherzig<br />
auf sich selbst bezogen ohne den winzigsten Schimmer einer Liebe o<strong>der</strong> auch nur<br />
eines Blickes für den Vater, dass Helene nicht an<strong>der</strong>s konnte, als ihre Mutter zu hassen.<br />
[…] hier am Sterbebett ihres Mannes galt <strong>der</strong> Mutter offensichtlich nichts etwas<br />
als die eigene Ergriffenheit und die Nie<strong>der</strong>ung eines Fühlens, das nur noch für sich<br />
selbst langte. (120f).<br />
Allmählich beginnt auch Würsich seine Frau zu vergessen. Er stirbt unter Qualen.<br />
Selma weigert sich an <strong>der</strong> Beerdigung teilzunehmen. Während des Leichenschmauses<br />
im Ratskeller kommt es zwischen Martha und dem Pfarrer zu einem<br />
Gespräch über den christlichen Glauben.<br />
T 5 Das Leben, mein gutes Kind, hält so vieles bereit. – So vieles? Martha schnäuzte<br />
sich. Verstehen Sie Gott, verstehen Sie, warum er uns leiden lässt? – Der Pfarrer lächelte<br />
milde, als habe er auf diese Frage von Martha gewartet. Der Tod Ihres Vaters<br />
ist eine Prüfung. Gott meint es gut mit Ihnen, Martha, das wissen Sie. Es geht nicht<br />
um Verstehen, mein gutes Kind, Bestehen ist alles. Als <strong>der</strong> Pfarrer seine Hand über<br />
den Tisch hinweg ausstreckte, um sie tröstend auf Marthas zu legen, sprang Martha<br />
auf […] und verließ den Ratskeller. (130)<br />
<strong>Die</strong> Standardantwort des Geistlichen auf die Theodizee-Frage hat für Martha<br />
nichts Tröstliches. Sie verlässt die Trauergemeinde, sie verlässt auch das christliche<br />
Milieu. Zu Hause spritzt sie sich Morphium. Ihre Drogenkarriere hat begonnen.<br />
<strong>Die</strong> heile <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Schwestern bekommt Risse.<br />
In den Kriegsjahren und danach gehen die Geschäfte <strong>der</strong> Druckerei Würsich immer<br />
schlechter, ihre Geldreserven schwinden bzw. werden ein Opfer <strong>der</strong> Inflation.<br />
Dazu kommt das irrationale Verhalten <strong>der</strong> Mutter in Gelddingen. Der Drucker, ein<br />
Familienvater mit acht Kin<strong>der</strong>n, wird entlassen, was den Ruf <strong>der</strong> Familie Würsich<br />
in <strong>der</strong> Stadt Bautzen noch mehr beschädigt. Helene, inzwischen 13, übernimmt<br />
die Geschäftsführung, gestaltet die Druck-Erzeugnisse, bedient die Maschinen<br />
und macht die Buchführung. Da es aber wegen <strong>der</strong> Wirtschaftskrise fast nichts zu<br />
tun gibt, lernt sie nebenbei medizinisches Basiswissen und liest heimlich Kleists<br />
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