Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Kehlmann: Die Vermessung der Welt
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daten vergewaltigt. Ihr Mann hat sich davongemacht. Alice will mit Peter die Stadt<br />
verlassen. Es gelingt ihnen, einen Stehplatz im Zug nach Westen zu erkämpfen.<br />
In Pasewalk steigen sie aus. Auf dem Bahnhof setzt Alice das Kind aus. Warum?<br />
2 <strong>Die</strong> Familie Würsich<br />
Der Teil 1 (S. 31 – 133) trägt die Überschrift: <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> steht uns offen. Er setzt<br />
dreißig Jahre vor dem Prolog ein und umfasst die Jahre 1914 bis 1920, vom Vorabend<br />
des Ersten <strong>Welt</strong>kriegs bis kurz danach. Ort des Geschehens ist Bautzen<br />
im östlichen Sachsen (Oberlausitz). Auch hier wird überwiegend aus <strong>der</strong> Kind-<br />
Perspektive erzählt. Mit dem Pronomen uns <strong>der</strong> Überschrift sind zwei Mädchen<br />
gemeint, Martha, die zu Beginn 16 Jahre alt ist (geb. 1898), und ihre neun Jahre<br />
jüngere Schwester Helene (geb. 1907). <strong>Die</strong> beiden liegen gemeinsam in einem<br />
Metallbett, rangeln um die Wärmeflasche, reden über ihre Zukunft, beißen sich,<br />
sind zärtlich zueinan<strong>der</strong>: ein Bild schwesterlicher Verbundenheit. Helene streichelt<br />
die Ältere o<strong>der</strong> zählt die Sommersprossen auf ihrem Rücken, während Martha<br />
in einem Band mit Gedichten von Lord Byron liest. Am Ende des 1. Teils,<br />
Martha ist nun 22 und Helene 13, wird erzählt, wie die Jüngere nach Hause<br />
kommt. Sie schlüpfte zu ihr unter die Decke. Martha legte einen Arm um sie und<br />
ein Bein, ihr schweres, langes Bein, unter dem sich Helene geborgen fühlte.<br />
(124). <strong>Die</strong>se Bett-, Wohn- und Lebensgemeinschaft hat bis zum Schluss Bestand,<br />
real o<strong>der</strong> wenigstens virtuell. Martha spielt zunächst die Rolle <strong>der</strong> Beschützerin<br />
ihrer kleinen Schwester. Sie ist eine Schönheit; junge Männer suchen ihre Nähe.<br />
Doch fürs Erste hat es ihr nur Arthur Cohen angetan. Dessen Familienname<br />
verweist auf jüdische Herkunft. Manchmal trifft sie sich mit ihm an <strong>der</strong> Spree, Helene<br />
ist dabei. Später verschwindet Arthur aus ihrem Leben; er soll in Heidelberg<br />
Botanik studieren. Als Soldat ist er nicht in Frage gekommen: Für einen rachitischen<br />
Juden ist in <strong>der</strong> deutschen Armee kein Platz. Dann befreundet sich Martha<br />
mit Leontine, <strong>der</strong> Tochter eines verwitweten Advokaten. <strong>Die</strong> lesbischen Zärtlichkeiten<br />
zwischen den beiden machen Helene eifersüchtig. Martha wird Krankenschwester.<br />
<strong>Die</strong> Zukunft <strong>der</strong> hochbegabten Helene liegt im Dunkeln. Martha prophezeit<br />
ihr, sie werde Medizin studieren. Doch die gesellschaftliche und politische<br />
Lage Deutschlands zwischen den Kriegen wird es nicht zulassen.<br />
Marthas und Helenes Mutter, Selma Würsich, hat den Verlust von vier Neugeborenen<br />
ertragen müssen, allesamt Knaben. Ab und zu überkommen sie Wutanfälle,<br />
dann wirft sie mit Gegenständen und tobt und schreit, o<strong>der</strong> sie ist in einem Zustand<br />
seelischer Dämmerung (96). Selma lebt in einem völlig zugemüllten Zimmer,<br />
weil sie alles sammelt und nichts wegwerfen kann. Vor allem Fle<strong>der</strong>wische<br />
haben es ihr angetan, Gänse- o<strong>der</strong> Entenflügel, die man früher zum Staubwischen<br />
benutzt hat. Selma leidet am Messie-Syndrom, einer psychischen Störung.<br />
<strong>Die</strong> zeigt sich äußerlich als Unfähigkeit zur Organisation <strong>der</strong> eigenen Umgebung,<br />
verweist meist aber auf tiefer liegende seelische Verletzungen.<br />
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