Gottesdienste - Pfarrei Sursee
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Eine Weihnachtsgeschichte?<br />
Die Analphabetin<br />
Im letzten Buch der 1935 in Ungarn<br />
geborenen Schriftstellerin Agota<br />
Kristof, im 2004 erschienenen «Die<br />
Analphabetin», erzählt sie in ihrer<br />
typisch kargen, emotionslosen Art<br />
die autobiografische Geschichte<br />
ihrer Flucht von 1956, ihrer zufälligen<br />
Ankunft in der Schweiz und dem<br />
Verlust von Heimat und Sprache.<br />
Auch wenn das von der im Juli dieses<br />
Jahres in Neuenburg verstorbenen<br />
Autorin nicht beabsichtigt war,<br />
das Buch regt an zu Gedanken über<br />
Flucht und Migration sowie deren<br />
Ursachen, über die Suche nach Herberge<br />
und Asyl, über Heimat- und<br />
Sprachlosigkeit, über Gastfreundschaft<br />
und Ablehnung, über Einsamkeit<br />
und Ängste vor Unbekanntem<br />
und Fremdem, über das immer Gleiche<br />
und doch immer wieder ganz<br />
Andere von Flucht, Vertreibung und<br />
Migration. In diesem Sinn ist das gut<br />
siebzig Seiten starke kleine Buch<br />
durchaus eine Weihnachtsgeschichte,<br />
weder sentimental und kitschig<br />
noch bequem, gut lesbar und nicht<br />
zuletzt in seiner schnörkellosen<br />
Kargheit äusserst eindrücklich.<br />
Mit ganz schlichten, unprätentiösen<br />
und vor allem auf gänzlich unsentimentale<br />
Weise erzählt die Autorin von<br />
ihrer zwar ärmlichen, aber glücklichen<br />
Kindheit während und nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg. Davon, wie sie<br />
schon mit vier Jahren lesen konnte,<br />
weil sie zur Strafe häufig zum Vater,<br />
der Dorfschullehrer war, in die Klasse<br />
geschickt wurde, wo sie dann stillzusitzen<br />
hatte. Worte, Geschichten – sie<br />
sind wie die Luft zum Atmen für das<br />
Mädchen, das schon früh anfängt,<br />
selbst Geschichten zu erfinden und zu<br />
erzählen, besonders gern dem kleinen<br />
Bruder, der leicht zu beeindrucken<br />
ist. Ihr Weg führt sie danach in ein<br />
Internat; strenges Regiment, inhaltliche<br />
Unterforderung, dazu dann auch<br />
die zwingende Verordnung, Russisch<br />
4<br />
Agota Kristof.<br />
als einzige Fremdsprache unter der<br />
kommunistischen Herrschaft zu lernen.<br />
Mit gut zwanzig Jahren flieht sie<br />
mit ihrem Mann und der erst wenige<br />
Monate alten Tochter über die Grenze<br />
nach Österreich und landet schliesslich<br />
in der französischsprachigen<br />
Schweiz. Hier ist sie gezwungen, eine<br />
neue Sprache zu erlernen: Eine Sprache,<br />
die nicht ihre Muttersprache ist,<br />
und die ihr deshalb, so gut sie sie auch<br />
erlernen mag, immer wie die Sprache<br />
eines Besetzers erscheint. Aber das<br />
Allerschlimmste für sie ist der Verlust<br />
der Fähigkeit, lesen zu können; denn<br />
auch wenn sie die Sprache bald gut<br />
spricht, ist sie doch nicht in der Lage,<br />
sie zu schreiben, zu lesen.<br />
«Fünf Jahre nach meiner Ankunft in<br />
der Schweiz, spreche ich Französisch,<br />
aber ich lese es nicht. Ich bin wieder<br />
zur Analphabetin geworden. Ich, die<br />
ich mit vier Jahren lesen konnte. Ich<br />
kann die Wörter. Wenn ich sie lese,<br />
erkenne ich sie nicht. Die Buchstaben<br />
sagen mir nichts. Das Ungarische ist<br />
eine phonetische Sprache, das Französische<br />
ganz das Gegenteil.»<br />
Obschon die Erzählung kurz ist, gibt<br />
es eine ganze Menge Szenen, die<br />
einem lange beschäftigen. Da ist zum<br />
Beispiel der Tod Stalins, bei dem die<br />
Zöglinge des Internats angehalten<br />
werden, über den verstorbenen<br />
«Grossen Freund der Werktätigen» zu<br />
schreiben. Und weiter einerseits die<br />
unkomplizierte Hilfsbereitschaft, die<br />
den Flüchtlingen in Österreich und der<br />
Schweiz entgegengebracht wird, aber<br />
andererseits auch eine Distanz, eine<br />
Herablassung, die durch die Tatsache,<br />
dass sie, die Flüchtlinge, die Sprache<br />
nicht beherrschen, noch verstärkt<br />
wird. Dann gibt es Szenen, die bei vielen<br />
Flüchtlingen eine tiefsitzende<br />
Angst durch das erst vor kurzem Erlittenen<br />
emporschiessen lässt, wenn sie<br />
in den Lagern in die Waschräume<br />
geführt werden.<br />
Die 75 Seiten der Piper Taschenbuchausgabe<br />
lesen sich leicht in einer<br />
guten Stunde, gewähren tiefe und<br />
berührende Einblicke in ein Leben<br />
einer Analphabetin, das neu aufgebaut,<br />
neu erobert und neu erlernt werden<br />
will. Es zeigt, dass eine Flucht, aus<br />
welchen Gründen sie auch ausgelöst<br />
wird, stets auch mit schmerzlichem<br />
Verlust zu tun hat. Typisch die Antwort<br />
von Agota Kristof auf die Frage, wie<br />
sie sich ein weiteres Leben in Ungarn<br />
vorgestellt hätte: «Härter, ärmer, denke<br />
ich, aber auch weniger einsam,<br />
weniger zerrissen, vielleicht glücklich.»<br />
Agota Kristofs Sprache als Schriftstellerin<br />
war das Französisch. Ihre erfolgreichen<br />
Bücher wurden in mehr als<br />
zwanzig Sprachen übersetzt, darunter<br />
«Das grosse Heft». Sie wurde 2001 mit<br />
dem Gottfried- Keller-Preis und 2006<br />
für «Die Analphabetin» mit dem Preis<br />
der SWR-Bestenliste ausgezeichnet.<br />
Agota Kristof, Die Analphabetin, Piper<br />
Taschenbuch, ISBN 978-3-492-24902-<br />
7.