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Meine TAGESSPIEGEL Kolumne v. 29. 12. 2021

Chiffriert telefonieren ist ja gut, aber wie soll derjenige auf der anderen Seite decodieren und verstehen, wenn ich selber nicht wusste, was ich wie ausdrücken sollte?

Chiffriert telefonieren ist ja gut, aber wie soll derjenige auf der anderen Seite decodieren und verstehen, wenn ich selber nicht wusste, was ich wie ausdrücken sollte?

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<strong>29.</strong><strong>12.</strong>21, 11:16 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/477449/24-<br />

Mittwoch, <strong>29.</strong><strong>12.</strong><strong>2021</strong>, Tagesspiegel / Gesellschaft<br />

Einmal HINGESCHAUT<br />

Warum keiner ans Telefon geht<br />

Von Ahmet Refii Dener über türkische Wände mit Ohren<br />

Ich rief einen Freund in der Türkei an. Er war Oberstaatsanwalt in einer<br />

der größeren türkischen Städte. Nachdem Putschähnlichenirgendwas<br />

2016 wurde er Anfang 2017 verhaftet. Nach 14 Monaten fand ein Gerichtsverhandlungähnlichesirgendwas<br />

statt. Dort erst erfuhr er, dass<br />

ihm die Anhängerschaft zu Gülen vorgeworfen wird. Beweis: Ein anonymer<br />

Zeuge soll 1994 Anzeichen beobachtet haben, dass er dazu gehören<br />

könnte. Dabei war Erdogan bis 2013 einer der glühendsten Gülenisten<br />

und viele der AKP-Anhänger gehören heute noch dazu – aber ebenfalls<br />

anonym.<br />

https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/477449/24- 1/2


<strong>29.</strong><strong>12.</strong>21, 11:16 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/477449/24-<br />

Der Freund ging nicht ans Telefon. Sofort fiel mir ein, dass in der Türkei<br />

niemand, der mich kennt, ans Telefon geht. Sie haben Angst, dass die<br />

Gespräche abgehört werden und ich – ein glühender Verfolger von Unrecht<br />

– Erdogans Namen erwähnen und Aktionen auslösen könnte.<br />

Manche denken, WhatsApp sei abhörsicher, manche nennen andere<br />

Messenger- Dienste, aber alle zusammen denken am Ende, dass nichts<br />

sicher ist im Staate Erdoganistan und schweigen. Die Türken sind zu<br />

schweigsamen Menschen mutiert.<br />

Gerne möchte ich mich mit meinen Freunden in der Türkei austauschen.<br />

Die Frage ist, wie das klappen soll? Welche Worte vermeiden<br />

oder benutzen und am Ende das Gefühl haben, dass wir uns verstanden<br />

haben? Lieber schweigen?<br />

Das ist in der Türkei nicht erst im Staate Erdogan der Fall. Ich erinnere<br />

mich, dass ich in den 90er Jahren mit meinem deutschen Auftraggeber<br />

und einem türkischen Steuerberater in einem Restaurant in Istanbul zu<br />

Mittag aß. Nachdem wir mit dem Essen fertig und draußen waren,<br />

fragte mich mein Auftraggeber, warum der Steuerberater und ich miteinander<br />

so leise sprachen. Schließlich würde er doch kein türkisch verstehen.<br />

„Sie können sicher sein, dass es dabei um die türkische Politik<br />

gegangen sein muss. Schließlich haben die Wände Ohren“, war die<br />

Antwort.<br />

Es ist ein über Generationen vererbtes Gen, das den Türken dazu veranlasst,<br />

leiser zu sprechen, wenn er sich über Politik auslässt. Heutzutage<br />

schweigt man lieber, oder versucht, verschlüsselt Dinge zu sagen, die<br />

allerdings auf der anderen Seite nicht so ankommen, wie gemeint. Meinungsfreiheit<br />

in der Türkei gab es nach Atatürk nicht mehr. Die Angst,<br />

aus irgendwelchen Gründen denunziert zu werden, trägt man in sich.<br />

So knackige Realitäten wie oben, halten die Denunzianten auf Trab und<br />

mich außerhalb der Türkei. Wie hat mal jemand gesagt: „Schweigen,<br />

während dein Herz wie ein Feuer brennt, ist der schlimmste Schmerz.“<br />

Ahmet Refii Dener arbeitet als Türkei-Analyst. 2017 ist ARD, wie der<br />

Blogger (ichmeinsgut.de) genannt wird, nach Deutschland zurückgekehrt.<br />

Mittwochs schreibt er an dieser Stelle.<br />

Fotos: imago, privat<br />

https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/477449/24- 2/2

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