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62 QLAIRA - EINE PILLE OHNE CHEMIE

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arznei-telegramm<br />

arznei-telegramm 2009; 40: <strong>62</strong><br />

<strong>QLAIRA</strong> - <strong>EINE</strong> <strong>PILLE</strong> <strong>OHNE</strong> <strong>CHEMIE</strong> (1)?<br />

Seite 1 von 4<br />

Seit Mitte Mai ist mit <strong>QLAIRA</strong> erstmals ein orales Kontrazeptivum erhältlich, das als<br />

Östrogen anstelle von Ethinylestradiol Estradiolvalerat enthält, die veresterte Form des<br />

körpereigenen Estradiols. Weiterer Bestandteil ist Dienogest (in VALETTE), ein erst<br />

seit Beginn der 1990er Jahre vermarktetes synthetisches Gestagen. In den Medien wird<br />

die Neuerung fälschlicherweise als "erste Antibabypille mit natürlichen Hormonen" (2)<br />

oder gar als "erste Pille komplett ohne Chemie" (1) und "Alternative zur hormonellen<br />

Verhütung" (1) gefeiert. Hersteller Bayer Schering, der sich Jahresumsätze bis zu 500<br />

Mio. € erhofft (3), macht im Internet recht unverhohlen Werbung für eine "Pille mit<br />

Q" (4).<br />

Frühere Bemühungen, ein orales Kontrazeptivum mit Estradiol zu entwickeln, waren<br />

daran gescheitert, dass es aufgrund einer unzureichenden Zykluskontrolle vermehrt zu<br />

Zwischen- und Durchbruchblutungen kam. Bei <strong>QLAIRA</strong> dagegen soll die Kombination<br />

mit Dienogest, das eine ausgeprägte gestagene Aktivität am Endometrium aufweisen<br />

soll, sowie ein "einzigartiges dynamisches Dosierungsschema" mit vier verschiedenen<br />

Phasen (plus einer fünften wirkstofffreien Phase) einen stabilen Zyklus gewährleisten<br />

(5).<br />

EIGENSCHAFTEN: Estradiolvalerat ist ein Ester des natürlich beim Menschen vorkommenden 17β-Estradiols.<br />

Nach Einnahme per os wird es vollständig absorbiert und in der Darmschleimhaut oder im Verlauf der ersten<br />

Leberpassage zu Estradiol und Valeriansäure aufgespalten (6). Im Unterschied zu Estradiol trägt das üblicherweise<br />

in oralen Kontrazeptiva verwendete Ethinylestradiol eine Ethinylgruppe in der 17-α-Position, die den First-pass-<br />

Effekt des Hormons in der Leber verringert und dessen Bioverfügbarkeit erhöht. Estradiol und Estradiolvalerat<br />

dienen seit Jahrzehnten zur Hormontherapie in und nach den Wechseljahren, auch in Kombination mit Dienogest<br />

(CLIMODIEN u.a.). Dieses ist in <strong>QLAIRA</strong> mit 2 mg bzw. 3 mg pro Tablette (mittlere Tagesdosis über vier<br />

Wochen 2,2 mg) im Durchschnitt höher dosiert als im Verhütungsmittel VALETTE (2 mg/ Tbl. für 21 Tage,<br />

mittlere Tagesdosis/vier Wochen 1,5 mg) oder dem gegen Wechseljahresbeschwerden angebotenen CLIMODIEN<br />

(2 mg/Tbl. für 28 Tage).<br />

http://www.arznei-telegramm.de/zeit/zeit_a.html<br />

14.07.2009


arznei-telegramm<br />

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WIRKSAMKEIT: Keine der drei zulassungsrelevanten multizentrischen klinischen<br />

Studien ist vollständig veröffentlicht, sodass sich die Zuverlässigkeit der neuen<br />

Kombination nicht hinreichend beurteilen lässt. Laut Fachinformation soll ein Pearl-<br />

Index* von 0,79 bei 18- bis 50-jährigen Frauen und von 1,01 bei 18- bis 35-jährigen<br />

errechnet worden sein (6). Gemessen an typischerweise in klinischen Studien mit oralen<br />

Kontrazeptiva beobachteten Versagerraten von 0 bis 1 pro 100 Frauenjahre (7,8) könnte<br />

<strong>QLAIRA</strong> Schwangerschaften demnach möglicherweise weniger zuverlässig verhüten.<br />

Für eine niedrig dosierte Einphasen-"Pille" mit 20 µg Ethinylestradiol und 100 µg<br />

Levonorgestrel (LEIOS u.a.) wird bei Frauen zwischen 18 und 40 Jahren ein Pearl-Index<br />

von 0,69 errechnet (9).<br />

Aufgrund der vielen verschiedenen Phasen sind Anwendungsfehler unseres Erachtens<br />

programmiert: Die Anweisungen des Herstellers zum Vorgehen, wenn der<br />

Einnahmezeitpunkt einer Tablette um mehr als zwölf Stunden überschritten wurde, sind<br />

deutlich umfangreicher als bei anderen "Pillen". Zusätzliche Verhütungsmaßnahmen<br />

werden in diesem Fall an 24 von 28 Tagen erforderlich und damit häufiger als bei<br />

Ethinylestradiol-haltigen Präparaten. Offen bleibt, wie vorzugehen ist, wenn Tabletten<br />

vertauscht wurden.<br />

STÖRWIRKUNGEN: Mit den üblichen unerwünschten Effekten oraler Kontrazeptiva<br />

ist auch unter <strong>QLAIRA</strong> zu rechnen, beispielsweise Kopfschmerzen (18%),<br />

Bauchschmerzen (12%), Dysmenorrhö (10%), Akne (9%), Übelkeit (7%), emotionale<br />

Labilität (7%) oder Schmerzen in der Brust (6%).7 Bei 10% bis 18% der Frauen kommt<br />

es zu Zwischenblutungen. In 15% der Zyklen tritt Amenorrhö auf (6).<br />

Das Risiko venöser Thromboembolien unter <strong>QLAIRA</strong> ist nicht bekannt (6). Insgesamt<br />

ist die Datenlage für Dienogest-haltige Kontrazeptiva hier weiterhin unzureichend: Zwei<br />

Fallkontrollstudien dazu sind bis heute nur als "Zusammenfassung" (10) oder gar nicht<br />

publiziert (11) und daher nicht beurteilbar. Beide wurden - wie auch entsprechende<br />

Untersuchungen zu anderen ursprünglich von Schering/Jenapharm entwickelten<br />

Verhütungsmitteln, beispielsweise zum Thromboembolierisiko Drospirenon-haltiger<br />

Kontrazeptiva (YASMIN u.a.) oder zum Brustkrebsrisiko der Hormonspirale MIRENA -<br />

http://www.arznei-telegramm.de/zeit/zeit_a.html<br />

14.07.2009


arznei-telegramm<br />

, von einem in Berlin ansässigen Institut durchgeführt, das von dem ehemaligen<br />

Schering-Mitarbeiter J. DINGER und dem für seine Nähe zur Industrie bekannten L.<br />

H<strong>EINE</strong>MANN geleitet wird (vgl. a-t 2007; 38: 95-6).<br />

KOSTEN: Die dreimonatige Verhütung mit <strong>QLAIRA</strong> (1 mg bis 3 mg Estradiolvalerat<br />

plus 2 mg bis 3 mg Dienogest/Tablette) kostet 43 € und damit 40% bis 70% mehr als mit<br />

einer niedrig dosierten Ethinylestradiol-Levonorgestrel-Einphasenkombination (20 µg<br />

Ethinylestradiol plus 100 µg Levonorgestrel, LEIOS: 31 €, LEONA: 25 €).<br />

Mit <strong>QLAIRA</strong> wird erstmals ein orales Kontrazeptivum angeboten, das als<br />

Östrogen Estradiolvalerat anstelle des üblicherweise verwendeten<br />

Ethinylestradiols enthält. Gestagenbestandteil ist das vergleichsweise wenig<br />

erprobte Dienogest (in VALETTE).<br />

Wirksamkeit und Sicherheit der Neuerung, auch im Vergleich zu<br />

herkömmlichen "Pillen", lassen sich nicht beurteilen, da die drei<br />

zulassungsrelevanten Phase-III-Studien nicht vollständig veröffentlicht sind.<br />

Eine solche Intransparenz erachten wir als inakzeptabel.<br />

Nach bisher bekannt gewordenen Daten könnte <strong>QLAIRA</strong> Schwangerschaften<br />

möglicherweise weniger zuverlässig verhüten als andere orale Kontrazeptiva.<br />

Das Vierphasenschema begünstigt Anwendungsfehler.<br />

Aufgrund des geringen Erprobungsgrades und des Fehlens nachvollziehbarer<br />

Daten raten wir von <strong>QLAIRA</strong> ab.<br />

(R = randomisierte Studie)<br />

1 RTL: Punkt 12 vom 15. Mai 2009; als Video zu finden unter:<br />

http://www.frauenzimmer.de/cms/html/de/pub/liebe-singles/video/ antibaby-pille-ohnechemie.phtml?tc_r=frauenzimmer_home&tc_m=<br />

teaser_top5&tc_te=Die+erste+Pille+ohne+Chemie!<br />

&tc_ta=frauenzimmer&tc_c=466955731e428e43b1148b2aca901383124247<br />

2 Bild der Frau vom 14. Febr. 2009, zit. nach<br />

http://gesundheit.blogger.de/stories/1350278/<br />

3 n-tv.de vom 16. Okt. 2008; http://www.n-tv.de/1038649.html<br />

4 http://www.pille-mit-q.de<br />

http://www.arznei-telegramm.de/zeit/zeit_a.html<br />

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14.07.2009


arznei-telegramm<br />

5 Bayer: Pressemitteilung vom 14. Mai 2009<br />

6 Bayer Schering: Fachinformation <strong>QLAIRA</strong>, Stand Jan. 2009<br />

7 ENDRIKAT, J. et al.: Contraception 2008; 78: 218-25<br />

8 Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage, Urban & Fischer 2003;<br />

http://www.gesundheit.de/roche/<br />

9 Wyeth: Fachinformation LEIOS, Stand Dez. 2007<br />

10 H<strong>EINE</strong>MANN, L.A.J. et al.: LAMSO 2001; 2: 6 Seiten (Zeitschrift ist nicht mehr im<br />

Internet auffindbar, -Red.)<br />

11 Jenapharm: E-Mail vom 27. Apr. 2009<br />

* Pearl-Index = Schwangerschaften pro 100 Frauenjahre<br />

http://www.arznei-telegramm.de/zeit/zeit_a.html<br />

© arznei-telegramm 7/2009<br />

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14.07.2009

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