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Negation als Spiegel Utopie aus epistemologischer Sicht

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Jedoch könnte man den wichtigsten Teil der un<strong>aus</strong>gesprochenen Vermutungen des Utopisten seine »philosophische<br />

Anthropologie« nennen, das Konzept und Ideal vom Menschen, welches durch den <strong>Spiegel</strong> impliziert wird. Ist der Mensch<br />

gut oder böse? Ist der Mensch grundsätzlich ein vernünftiges Lebewesen, das sich nur, wie Turgot es sah, gelegentlich durch<br />

zerstörerische Leidenschaften erregen läßt? Oder ist die Leidenschaft eine grundlegende Eigenschaft des Menschen, die<br />

durch strenge Gegenmaßnahmen unter Kontrolle gehalten werden muß, wie Campanella es forderte? Solche nur<br />

implizierten Betrachtungen wirken sich nachhaltig auf den <strong>Spiegel</strong> <strong>aus</strong>.<br />

Der implizierte situative Kontext eines utopischen Textes kann natürlich niem<strong>als</strong> eine <strong>aus</strong>reichende Grundlage zur<br />

Beantwortung aller Fragen bieten, die wir an einen solchen Text richten könnten, selbst wenn wir den Hintergrund kennen.<br />

Eine Fiktion, eine imaginäre alternative Welt kann niem<strong>als</strong> Alternativen zu all den Dingen der gewöhnlichen Welt bieten.<br />

Selbst unter Berücksichtigung des implizierten Kontextes kann eine <strong>Utopie</strong> niem<strong>als</strong> die Informationsfülle einer<br />

soziologischen Beschreibung erreichen, denn da letztere sich <strong>aus</strong> der uns umgebenden Welt ableitet, werden von uns neu zu<br />

stellende Fragen an die bestehende Welt immer wieder Fragen aufwerfen, die ein utopisches Konstrukt niem<strong>als</strong> beantworten<br />

kann, eben weil es sich um ein Derivat handelt. Keine <strong>Utopie</strong> kann alles sein. <strong>Utopie</strong>n können jedoch in zweifacher Hinsicht<br />

einen reichen Informationswert haben.<br />

III. Utopische »Intensität« und utopische »Dichte«<br />

Wenn wir uns, in Form einer Auflistung, die verschiedenen <strong>Utopie</strong>n seit Plato ansehen, stoßen wir auf einige<br />

wiederkehrende charakteristische Gedankenexperimente. Es bietet sich an, eine zweite Liste mit solchen<br />

charakteristisch utopischen Themen aufzustellen, wie etwa:<br />

Abschaffung von Privateigentum; Abschaffung von privatem Grundbesitz; Abschaffung der Geldwirtschaft; Abschaffung moralischer und<br />

sittlicher Beschränkungen der Sexualität; gerechte Verteilung der verschiedenen Berufe innerhalb der Bevölkerung; und eine einheitliche<br />

Kleidung.<br />

Diese Themen, die sich natürlich nicht in allen utopischen Texten wiederfinden, bilden eine Kette, die<br />

zusammengehalten Wird von dem, was Ludwig Wittgenstein »Familienähnlichkeiten« genannt hat, wobei einige<br />

Familienmitglieder in manchen Texten vorkommen, andere jedoch viel seltener und wenn, dann zusammen mit<br />

anderen Mitgliedern. Diese Kette bildet jenes komplexe System, das wir uns vorstellen müssen, wenn wir ein<br />

historisches Phänomen, wie es »The Utopian Propensity« 6 darstellt, ergründen wollen. Die Eigenschaft, »zur<br />

utopischen Tradition zu gehören«, besteht keineswegs in einer Art Substanz bzw. Essenz, die immer wieder in Büchern<br />

oder bei Schriftstellern zu finden ist, sondern vielmehr darin, mit dieser Kette asymmetrisch verbundener Glieder<br />

dadurch in Verbindung zu stehen, daß sie eins oder mehrere dieser Glieder gemeinsam haben. Außerdem muß die<br />

Kette <strong>als</strong> endlos begriffen werden, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß utopische Konzeptionen tatsächlich<br />

historischen Veränderungen unterworfen sind.<br />

Es ist natürlich möglich, die Liste von <strong>Utopie</strong>n zu dieser Kette utopischer Charakteristika (die durch<br />

»Familienähnlichkeiten« zusammengehalten wird) derart in Beziehung zu setzen, daß wir jeder <strong>Utopie</strong> für jedes bei ihr<br />

vorhandene Charakteristikum einen Pluspunkt und für jedes fehlende Charakteristikum einen Minuspunkt in<br />

Rechnung stellen. Die Eigenschaft, die in diesem Zusammenhang durch die Pluspunkte bewertet wird, könnte man <strong>als</strong><br />

utopische Intensität bezeichnen. In diesem Sinne hätte Tommaso Campanella mehr utopische Intensität <strong>als</strong> Francis<br />

Bacon. Diese Eigenschaft sollte unterschieden werden von einer anderen Eigenschaft, die man utopische Dichte<br />

nennen könnte. Unter letzterer verstehe ich den Grad der Detailliertheit, mit dem ein Text eine alternative<br />

Gesellschaft beschreibt, oder anders <strong>aus</strong>gedrückt, die Anzahl der Fragen, die sich anhand des Textes beantworten<br />

lassen. Mit »Fragen« meine ich genau die Art von Fragen, die durch die »Lücke« entstehen, welche durch die<br />

ursprünglichen <strong>Negation</strong>en (welcher Art auch immer), die anscheinend einem utopischen Konstrukt zugrundeliegen<br />

6 F. E. Manuel / F. P. Manuel, op. cit., S. 1-15.

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