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Negation als Spiegel Utopie aus epistemologischer Sicht

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Formalisierung und Bürokratie in diesem Zusammenhang nicht zufällig. Im Bereich der Begriffe, der mit den drei<br />

Wörtern »Generalisation«, »utopische Abstraktion« und »Formalisierung« umrissen werden könnte, gibt es ein<br />

erstaunlich dichtes Bündel von Wechselbeziehungen. Es scheint, daß solche Begriffe nicht nur eine Vorbedingung für<br />

zentralisierte Macht sind, sondern auch ein wesentliches Element der utopischen Tradition <strong>aus</strong>machen.<br />

Leibniz' Idee einer Univers<strong>als</strong>prache, wie er sie in seinem Discours touchant La Methode de la Certitude et l'Art<br />

d'inviter pour finir des disputes et pour faire en peu temps des grands progres 7 dargelegt hat, hat, so könnte man<br />

sagen, den Traum einer vollständig formalisierten Sprache zum Kern; d. h. alle normalen Denkoperationen können<br />

durch Manipulation von Symbolen ersetzt werden. Ein universaler Formalismus, der zum Hauptinstrument des<br />

pansophi-schen etat des savants werden sollte, ist der wichtigste Beitrag Leibniz' zur Geschichte des utopischen<br />

Denkens. Sein Beitrag ist natürlich mehr <strong>als</strong> die utopische Idealisierung der Wissenschaft. Es ist der beliebte<br />

utopische Traum von der formalen Operation mit einem Symbol anstelle unzuverlässiger, endloser, dunkler,<br />

unergründlicher Überraschungen, die Teil des gewöhnlichen Zusammenlebens der Menschen und der Operationen des<br />

menschlichen Geistes sind. Verschiedene Formen der utopischen Tradition der Formalisierung reichen bis in unsere<br />

Tage, über Russells und Whiteheads Principia Mathematica, und zwar fast ungehindert, trotz der von Frege und später<br />

Gödel gemachten Einschränkungen, und leben fort in der Modallogik <strong>als</strong> der Traum von einer vollständig<br />

extensionalen Sprache. Eine umfassende Diskussion dieser These findet sich in einem anderen Essay. Lassen Sie uns<br />

an dieser Stelle über die folgende strukturelle Eigenschaft dieses Gedankens nachdenken: ein generalisierter<br />

Denkvorgang bezweckt, die Aufgaben einer diversifizierten Vielzahl von Einzelergebnissen und Akten zu übernehmen.<br />

Bei der Generalisation im utopischen Text werden <strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chbare Einheiten (vergleichbar mit den Werten von<br />

Variablen in der Logik) anstelle von nicht-substituierbaren Einzelheiten verwendet. Es handelt sich dabei nicht nur um<br />

eine Technik der Macht bzw. Kontroll<strong>aus</strong>übung. Als eine Form technischer Normen (von Rechtschreibnormen bis hin<br />

zu DIN und ähnlichen Normen) muß sie <strong>als</strong> eine der Wurzeln der industriellen Zivilisation betrachtet werden.<br />

Die <strong>Utopie</strong> wurzelt in der Generalisation insofern, <strong>als</strong> der utopische <strong>Spiegel</strong> zunächst durch <strong>Negation</strong>en der<br />

Wirklichkeit verdunkelt wird und dann ein Zerrbild produziert, in dem irgendeine Eigenschaft wirklicher Menschen<br />

bzw. der realen Welt generalisiert wird, bis diese Eigenschaft die Welt scheinbar <strong>aus</strong>füllt. So scheint es, daß die<br />

Wirklichkeit, die die <strong>Utopie</strong> durch die Pforte der <strong>Negation</strong> verlassen hat, diese durch die Hintertür der Generalisation<br />

aufs Neue betritt. Es ist jedoch kein Zufall, daß diese Tür sich auch für die Kontrolle öffnet.<br />

Die Manuels haben diesen Aspekt sehr schön formuliert, wenn sie von einem der utopischen Städtebauarchitekten der<br />

Renaissance, Antonio Francesco Doni, schreiben:<br />

»Er geht davon <strong>aus</strong> (dies bezieht sich auf die Spezialisierung in Donis utopischer Stadt), daß jeder Gegenstand und jede<br />

Person eine optimale Verwendung haben und daß eine ideale Welt dadurch entsteht, daß jeder Gegenstand und jede Person in<br />

perfekter Weise genutzt werden.« 8<br />

Dieses Ideal, das unter anderem die Möglichkeit impliziert, die Talente und Neigungen des einzelnen eindeutig<br />

zu definieren, bildet das Gegenstück zur Univers<strong>als</strong>prache Leibniz' in der Welt menschlicher Beziehungen,<br />

indem es davon <strong>aus</strong>geht, daß es unter allen möglichen gesellschaftlichen Zuständen einen gibt, nach dem alle<br />

Menschen streben, wenn die Unklarheiten der profanen Gesellschaft beseitigt sind.<br />

Der utopische <strong>Spiegel</strong> gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, nur einen Zustand zu reflektieren. Die<br />

Generalisation hat eine normative Kraft. Der <strong>Spiegel</strong> will die Welt durch eine andere Welt verdrängen, die ärmer<br />

an informatorischer Dichte ist. Dar<strong>aus</strong> ergeben sich für uns zwei Fragen: 1. Ist die Fähigkeit des Menschen zu<br />

überraschen vielleicht gerade das, was eine wirkliche menschliche Gemeinschaft von einer utopischen unterscheidet?<br />

Und 2. Ist nicht der Versuch, den informatorisch armen utopischen Staat der informatorisch reichen Welt, von der<br />

7 G. W. Leibniz, Die Philosophischen Schriften, hrsg. von G. J. Gerhardt, Bd. III, Berlin 1890, S. 174-184<br />

8 F. E. Manuel / F. P. Manuel, op. cit., S, 176.

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