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Drei Zimmer, Küche, Diele, Bad

ISBN 978-3-86859-705-9

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<strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong><br />

Eine Wohnung mit Optionen<br />

Verena von Beckerath und<br />

Barbara Schönig (Hg.)


apple<br />

Inhalt<br />

Grußwort 4<br />

Einleitung 8<br />

Verena von Beckerath und Barbara Schönig<br />

Prolog<br />

Zwischen Wohlfühlwohnen und Wohnungskampf: 12<br />

Ein Essay über Wohnungsfragen und Wohnungsforschung<br />

im transdisziplinären Raum<br />

Barbara Schönig<br />

Die Wohnung als Ausstellung: 20<br />

Von gebauten und produzierten Räumen<br />

Verena von Beckerath<br />

<strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong>: Ein Modell für das Wohnen<br />

in der Zukunft in Weimar<br />

Einführung in das inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekt 28<br />

Carsten Praum und Barbara Schönig<br />

Die Asbachsiedlung in Weimar: Eine Kurzvorstellung 36<br />

Carsten Praum und Barbara Schönig<br />

Das Wohnsiedlungsprojekt am Asbach: Stadtbauhistorische 42<br />

und wohnungspolitische Einordung<br />

Caroline Kauert<br />

Projektphase 1: Die Lehre in der Wohnung –<br />

Planerische und entwerferische Perspektiven auf das Wohnen<br />

Ein experimentelles Planungs- und Entwurfsprojekt 66<br />

Carsten Praum<br />

Die Arbeiten der Studierenden 76<br />

Jessica Christoph und Carsten Praum<br />

Von den Arbeiten der Studierenden zu drei Varianten für 88<br />

Umbau, Vergabe und Nutzung der Wohnung<br />

Jessica Christoph und Carsten Praum<br />

Projektphase 2: Der Umbau und die Vergabe der Wohnung –<br />

Vom experimentellen Lehrprojekt zum bewohnten Ort<br />

Gespräch mit Verena von Beckerath und Barbara Schönig 114<br />

Das Modell einer Wohnung mit Optionen 122<br />

Verena von Beckerath, Jessica Christoph, Carsten Praum und<br />

Barbara Schönig<br />

2


Umbau der Wohnung 126<br />

Jessica Christoph<br />

Vergabe der Wohnung 162<br />

Carsten Praum und Barbara Schönig<br />

Projektphase 3: Das Leben in der Wohnung –<br />

Flexibilisierung und Vergemeinschaftung des Wohnens<br />

Flexibilisierung und Vergemeinschaftung des Wohnens: 194<br />

Wissenschaftliche Begleitforschung zur Aneignung<br />

der Wohnung mit Optionen<br />

Carsten Praum<br />

Perspektiven<br />

Epilog<br />

Das Langzeit-Wohnexperiment: Über die Anfänge von #3ZKDB 276<br />

und die Frage nach dem Warum<br />

Maret Montavon und Susanna Viehmann<br />

#3ZKDB: Annäherung an ein immobilienwirtschaftliches Fazit 280<br />

aus Sicht des beteiligten kommunalen Wohnungsunternehmens<br />

Udo Carstens<br />

Aneignung und angemessene Anverwandlung 284<br />

Bernd Rudolf<br />

Raum und Licht 288<br />

Andrew Alberts<br />

Was wünscht sich eigentlich die Hausgemeinschaft? 290<br />

Oliver Elser<br />

Wohnung mit Optionen: Ein solidarischer Lernort 292<br />

Kerstin Faber<br />

Soziale und bauliche Transformation im Einklang 296<br />

Tobias Haag<br />

Türen, Schränke und so weiter: Versuch eines Fazits 298<br />

Verena von Beckerath<br />

Prozess – Raum – Diskurs: Ertrag und Erkenntnis von Wohnungs- 306<br />

forschung im transdisziplinären Raum<br />

Barbara Schönig<br />

Abbildungen 314<br />

Autor*innen 318<br />

Dank 322<br />

3


apple<br />

Einleitung<br />

Verena von Beckerath und Barbara Schönig<br />

8


9<br />

Das inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekt <strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>,<br />

<strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong> formulierte und verhandelte in den Jahren 2017 bis 2021<br />

Fragen an das Wohnen in der Zukunft. Dies erfolgte am Beispiel der<br />

nutzungsbezogenen und baulich-räumlichen Transformation einer bestehenden<br />

Wohnung in einem denkmalgeschützten Gebäudeensemble<br />

aus den 1920er Jahren in der Asbachstraße in Weimar, die forschend<br />

begleitet und dokumentiert wurde. Um sich mit dem gleichermaßen<br />

weiten wie komplexen Themenfeld des Wohnens in der Zukunft produktiv<br />

auseinandersetzen zu können, wurden drei wesentliche Begriffspaare in<br />

den Vordergrund gerückt:<br />

1. Nutzung und Aneignung: Welche Potenziale können im baulichen<br />

Bestand gefunden und weiterentwickelt werden, um eine individuelle<br />

Aneignung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Nutzungen zu<br />

ermöglichen?<br />

2. Individuum und Gemeinschaft: Welche räumlichen Zusammenhänge<br />

in der Wohnung, im Haus und im Quartier erlauben ein angebrachtes<br />

Maß an privatem Rückzug und nachbarschaftlicher Einbindung?<br />

3. Wohnung und Stadt: Wie kann das Wohnen in der Zukunft mit<br />

stadtentwicklungspolitischen Fragen an bestehende Quartiere zusammengedacht<br />

werden und gleichzeitig die Aushandlung der Themen „Bezahlbarkeit“,<br />

„Flächenverbrauch“ und „Nutzungsmischung“ beinhalten?<br />

Vor diesem Hintergrund begann das Projekt im Herbst 2017 mit<br />

einem experimentellen Planungs- und Entwurfsprojekt, an dem 13 Studierende<br />

aus den Bachelor- und Masterstudiengängen Architektur und<br />

Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar teilnahmen. Im Zuge dieser<br />

Lehrveranstaltung wandelte sich die leer stehende Wohnung zunächst<br />

für ein Semester in einen Arbeits-, Diskussions- und Ausstellungsraum.<br />

Aufbauend auf den Arbeiten der Studierenden wurde im Anschluss im<br />

Jahr 2018 ein Modell für den Umbau, die Vergabe und die Nutzung einer<br />

Wohnung mit Optionen entwickelt. Mit wenigen, aber grundlegenden<br />

Interventionen erhielt die Wohnung einen flexiblen und nutzungsoffenen<br />

Grundriss sowie weitere Eigenschaften, die unterschiedliche Formen des<br />

Wohnens und Arbeitens erlauben und sich zugleich an die Nachbarschaft<br />

richten. Die zukünftigen Bewohner*innen wurden im Frühjahr 2019 im<br />

Rahmen eines konzeptgebundenen Vergabeverfahrens ausgewählt, innerhalb<br />

dessen Ideen für eigene Aktivitäten eingebracht werden konnten,<br />

und zogen im Herbst 2019 in die inzwischen umgebaute Wohnung ein.<br />

Damit begann eine zweijährige Phase der Nutzung, welche die Bewohner*innen<br />

nach Maßgabe ihres Konzepts nicht nur zum Wohnen, sondern<br />

auch für gemeinschaftliche Aktivitäten nutzen wollten. Mit dem Bezug<br />

der Wohnung setzte auch die wissenschaftliche Begleitforschung ein, mit<br />

der die Nutzung und Aneignung der Wohnung im Rahmen einer Längsschnittstudie<br />

untersucht wurde. Vor dem Hintergrund des Modells einer<br />

Wohnung mit Optionen standen hierbei Fragen nach der Flexibilisierung<br />

und der Vergemeinschaftung des Wohnens im Vordergrund.<br />

Das Projekt <strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong> beruhte auf einer<br />

Kooperation zwischen der Bauhaus-Universität Weimar, der Fördergeberin<br />

Thüringer Aufbaubank und dem kommunalen Wohnungsunternehmen<br />

Weimarer Wohnstätte GmbH, in dessen Bestand den Fragen<br />

an das Wohnen in der Zukunft nachgegangen werden konnte. Es stand<br />

unter der Schirmherrschaft des Thüringer Ministeriums für Infrastruktur<br />

und Landwirtschaft. Seitens der Bauhaus-Universität Weimar waren<br />

Barbara Schönig, Professur Stadtplanung, und Verena von Beckerath,<br />

Professur Entwerfen und Wohnungsbau, beteiligt. Max Welch Guerra,


Professur Raumplanung und Raumforschung, sowie Bernd Rudolf, Professur<br />

Bauformenlehre, wirkten an der Konzeption und in der ersten<br />

Projektphase mit. Das Projekt wurde zudem von unterschiedlichen<br />

Gastbeiträgen begleitet.<br />

Die vorliegende Publikation dokumentiert das inter- und transdisziplinäre<br />

Forschungsprojekt <strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong>. Vorgestellt<br />

werden einerseits die unterschiedlichen Phasen des Projektes und ihre<br />

Erträge hinsichtlich der Konzeption und Nutzung der Wohnung sowie<br />

der diese reflektierenden Begleitforschung. Andererseits gibt die Dokumentation<br />

Einblick in die Perspektiven der Beteiligten aus unterschiedlichen<br />

Disziplinen und aus verschiedenen Feldern der Praxis und der<br />

Wissenschaft. Dabei offenbart sich die Vielfalt und Divergenz möglicher<br />

Sichtweisen auf das Projekt, ohne deren Akzeptanz transdisziplinäres<br />

Forschen und der hiermit verbundene Erkenntnisgewinn nicht möglich<br />

wären. Diese Vielfalt drückt sich auch in den unterschiedlichen Formen der<br />

Dokumentation, Kommentierung und Reflexion aus: Der Band kombiniert<br />

Texte unterschiedlicher Formate (Essays, ein Gespräch, ein Tagebuch,<br />

wissenschaftliche Analysen und Kommentare) mit Bildelementen und<br />

Fotografie. Nebeneinander stehen Beiträge von einzelnen, zwei oder<br />

mehreren Autor*innen. In diesem Sinne dokumentiert das nun vorliegende<br />

Buch auch die Komplexität, die der Beschäftigung mit dem Wohnen in<br />

der Zukunft zugrunde liegt.<br />

Inhaltlich wird die Dokumentation der trans- und interdisziplinären<br />

Forschung innerhalb von <strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong> durch je zwei<br />

Essays der Herausgeberinnen gerahmt, die die Forschungsfragen und<br />

-erträge im Kontext von Wohnungs- und Architekturforschung eingangs<br />

situieren und im Fazit reflektieren.<br />

Die Dokumentation des Projektes und der Begleitforschung<br />

beginnt mit einer Einführung in die besonderen Merkmale und Herausforderungen<br />

inter- und transdisziplinärer Forschungsprojekte, die<br />

zu den Inhalten und Ansätzen von <strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong><br />

ins Verhältnis gesetzt werden (Carsten Praum und Barbara Schönig).<br />

Hieran schließt die Vorstellung und Einordnung des Ortes und der<br />

Bebauung in der Asbachstraße in die historische und gegenwärtige<br />

Entwicklung der Stadt Weimar an (Carsten Praum und Barbara Schönig<br />

sowie Caroline Kauert).<br />

In drei Kapiteln werden sodann die drei Phasen des Projektes<br />

(Lehre, Umbau und Vergabe sowie Leben in der Wohnung) vorgestellt<br />

und reflektiert. Jessica Christoph und Carsten Praum stellen zunächst das<br />

Konzept und den Ablauf des experimentellen Planungs- und Entwurfsprojektes<br />

in der ersten Projektphase (Herbst 2017 bis Frühjahr 2018) vor,<br />

um anschließend näher auf die Arbeiten der Studierenden und auf die<br />

darauf aufbauenden drei Varianten für Umbau, Vergabe und Nutzung<br />

der Wohnung einzugehen, die erste Schritte hin zu einem Modell für das<br />

Wohnen in der Zukunft darstellten. Das Kapitel zur zweiten Projektphase<br />

(Frühjahr 2018 bis Herbst 2019) dokumentiert sowohl den Umbau (Jessica<br />

Christoph) als auch die Vergabe der Wohnung (Carsten Praum und<br />

Barbara Schönig). Eingeleitet wird das Kapitel mit dem Abdruck eines<br />

Gesprächs aus dem Frühsommer 2018, in dem Verena von Beckerath<br />

und Barbara Schönig sowohl auf das Projekt zurück- wie gleichermaßen<br />

auf seinen weiteren Verlauf vorausschauen. Hier schließt ein Kapitel<br />

zur dritten Phase des Projektes an, die von Herbst 2019 bis Herbst 2021<br />

andauerte und sich der Nutzung und dem Leben in der umgebauten<br />

Wohnung widmete. Dieses Kapitel dokumentiert die Erträge der wissen-<br />

10<br />

Einleitung


schaftlichen Begleitforschung zur Aneignung der Wohnung, der eine<br />

theoretisch-konzeptuelle Annäherung an die Flexibilisierung und an<br />

die Vergemeinschaftung des Wohnens zugrunde liegt (Carsten Praum).<br />

Bereichert wird die Publikation <strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong>: Eine<br />

Wohnung mit Optionen durch Beiträge von weiteren Projektbeteiligten<br />

und den Kooperationspartner*innen, die aus ihren jeweiligen Perspektiven<br />

und vor dem Hintergrund ihrer Rollen innerhalb des Projektes auf<br />

die rund fünfjährige Entwicklung und Zusammenarbeit blicken. Dabei<br />

berichten Maret Montavon und Susanna Viehmann von der Thüringer<br />

Aufbaubank von den Voraussetzungen und Anfängen des Langzeit-<br />

Wohnexperiments. Udo Carstens von der Weimarer Wohnstätte unternimmt<br />

eine Annäherung an ein immobilienwirtschaftliches Fazit; Bernd<br />

Rudolf, Professur Bauformenlehre an der Bauhaus-Universität Weimar,<br />

stellt Überlegungen zur Aneignung und angemessenen Anverwandlung<br />

an. Der Architekt und Architekturfotograf Andrew Alberts, der in unterschiedlichen<br />

Rollen durchgehend am Projekt teilhatte, setzt sich mit dem<br />

Verhältnis von Raum und Licht auseinander, während der im Rahmen des<br />

Lehrprojektes als Gastkritiker eingeladene Kurator Oliver Elser nach den<br />

Wünschen der Hausgemeinschaft fragt. Kerstin Faber, Projektleiterin der<br />

Internationalen Bauausstellung Thüringen, die ebenfalls als Gastkritikerin<br />

und zudem als Mentorin der Bewohner*innen agierte, interpretiert die<br />

Wohnung mit Optionen als einen solidarischen Lernort und Tobias Haag,<br />

ebenfalls Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung Thüringen<br />

und Juror im Rahmen des konzeptgebundenen Vergabeverfahrens, stellt<br />

Reflexionen zum Einklang von sozialer und baulicher Transformation an.<br />

Die vorliegende Publikation enthält fünf Bildserien von Andrew<br />

Alberts, der das Projekt und insbesondere die Wohnung und ihre Transformation<br />

über den gesamten Verlauf hinweg fotografisch begleitet und<br />

dokumentiert hat.<br />

11<br />

Verena von Beckerath und<br />

Barbara Schönig


einmal prägten. Es sind ehemals bewohnte und später musealisierte Gebäude,<br />

die, beginnend am Ende des 19. Jahrhunderts, für die Öffentlichkeit<br />

zugänglich gemacht wurden. Etwas anders verhielt es sich mit den<br />

Wohnräumen im Nietzsche-Archiv. Elisabeth Förster-Nietzsche erwarb die<br />

Villa Silberblick, in der Nietzsches bis zu seinem Tod im Jahr 1902 gelebt<br />

hatte, und beauftragte, dem Rat von Harry Graf Kessler folgend, Henry<br />

van de Velde mit der Umgestaltung der Wohnräume im Erdgeschoss. Die<br />

Wohnung wurde zur Ausstellung.<br />

Mit dem Haus Am Horn entstand 1923 ein Musterhaus des wenige<br />

Jahre zuvor in Weimar gegründeten Bauhauses. Das Versuchs-Wohnhaus<br />

wurde zur ersten öffentlichen Bauhausausstellung von Georg Muche<br />

entworfen und von der Architekturabteilung des Bauhauses unter der<br />

Bauleitung von Adolf Meyer und Walter March realisiert. Der Ausbau<br />

und die Inneneinrichtung erfolgten unter Mitwirkung der Industrie, der<br />

Firma Adolf Sommerfeld in Berlin und der Werkstätten des Staatlichen<br />

Bauhauses. Auch wenn der gezielten Beteiligung und dem Zusammenwirken<br />

von Schule, Handwerk und Industrie im Sinne der Ausstellung eine<br />

große Bedeutung zukam, lohnt es, den Grundriss des Hauses genauer<br />

zu betrachten. Die Aufteilung der Innenräume stellte den Versuch dar,<br />

eine grundlegende Form für das zeitgemäße Wohnen zu finden, wobei<br />

bewusst eine schematische Anlage des Grundrisses gewählt wurde. Dieser<br />

ist um einen zentralen Wohnraum gegliedert, wodurch die Beziehung<br />

der Räume untereinander an Bedeutung gewinnt. Die <strong>Zimmer</strong> waren<br />

mit Bezug zu ihrer Nutzung mit Einbaumöbeln versehen und die Beleuchtung<br />

der Räume mit durch Mattierung und Verspiegelung verfeinerte<br />

Soffittenlampen ersetzte individuelle Lampen. Georg Muche hatte das<br />

Ideal eines Wohnhauses im Sinn, das aus den kulturellen, sozialen, ökonomischen<br />

und hygienischen Forderungen der Zeit entstehen sollte. Er<br />

beschrieb in Weiterführung dessen das „kooperative Wohnhaus, in dem<br />

jede Person und jede Familie die Anzahl und die Art der Räume (leer oder<br />

eingerichtet, mit oder ohne <strong>Küche</strong>) mieten kann, die sie braucht, in dem<br />

die Verwaltung und Bewirtschaftung entsprechend den Wünschen der<br />

Bewohner durch eine besonders dafür ausgebildete Gruppe von Arbeitskräften<br />

betrieben wird“ (Muche 1923: 17). <strong>Drei</strong> Jahre danach entwickelte<br />

Hannes Meyer, der später an das Dessauer Bauhaus berufen und dessen<br />

Direktor werden sollte, das Prinzip von Kollektivität vor dem Hintergrund<br />

der Genossenschaft weiter und fand mit Co-op. Interieur, der Fotografie<br />

einer bühnenhaften <strong>Zimmer</strong>ecke mit wenigen, aber elementaren Gegenständen,<br />

ein Bild für das Wohnen und Zusammenleben in der neuen Welt<br />

(vgl. Meyer 1926).<br />

Einige Jahre später entwarf Lilly Reich neben einer Aufstellung von<br />

Materialien ein Erdgeschosshaus und zwei Wohnungen im Rahmen der<br />

von Ludwig Mies van der Rohe verantworteten Ausstellung Die Wohnung<br />

unserer Zeit in Halle II der Deutschen Bauausstellung 1931. Bereits 1927<br />

hatte sie mit Mies van der Rohe in Stuttgart die Werkbundausstellung Die<br />

Wohnung organisiert, aus der die Weißenhof-Siedlung hervorgegangen<br />

war. Die Ausstellung Die Wohnung unserer Zeit befasste sich hauptsächlich<br />

mit der Gestaltung verschiedener Formen der Kleinwohnung, denn<br />

die wirtschaftliche und soziale Lage hatte diese zum Kernthema der<br />

Wohnungsfrage werden lassen. Das Boardinghaus, eine dreigeschossige<br />

Struktur mit Gemeinschaftsräumen im Erdgeschoss und neun Wohnungen<br />

in den Obergeschossen, enthielt neben einer Wohnung mit Wohn- und<br />

Schlafzimmer eine 36 qm große Einraumwohnung mit einem ausklappbaren<br />

Kochschrank, einem <strong>Bad</strong>, einer Ankleide, einem Bett, das tagsüber<br />

Musterhaus des Bauhauses in<br />

Weimar, Georg Muche, Weimar,<br />

1923<br />

Blick gegen den <strong>Küche</strong>nschrank<br />

der 36 qm Einraumwohnung,<br />

Appartement in einem Boardinghaus,<br />

Lilly Reich, 1931<br />

22<br />

Die Wohnung als Ausstellung:<br />

Von gebauten und produzierten Räumen


Blick auf die geöffneten Flügeltüren<br />

des <strong>Bad</strong>ezimmers, Musterwohnung<br />

für die Ausstellung<br />

Das neue Heim, Lux Guyer,<br />

Kunstgewerbemuseum Zürich,<br />

1926<br />

House of the Future, Alison<br />

und Peter Smithson, Ideal Home<br />

Exhibition, London, 1956<br />

zur Chaiselongue werden konnte, einer Bücherwand und einem Arbeitsund<br />

Essbereich von Lilly Reich (vgl. Lotz 1931; Hilberseimer 1931). Auch die<br />

Schweizer Architektin Lux Guyer hatte sich mit einer Musterwohnung für<br />

die Ausstellung Das neue Heim im Kunstgewerbemuseum Zürich im Jahr<br />

1926 mit der Erneuerung des Wohnens vor dem Hintergrund der bürgerlichen<br />

Wohnkultur und deren Weiterentwicklung für alleinstehende und<br />

berufstätige Frauen auseinandergesetzt (vgl. Meyer 1926). Die Räume der<br />

Mietwohnung waren weniger in sich abgeschlossene Einheiten, sondern<br />

vielmehr Nischen innerhalb des Gesamtwohnraums. Das geräumige <strong>Bad</strong><br />

lag zwischen zwei Schlafzimmern und war mit diesen über Doppeltüren<br />

verbunden. Im geöffneten Zustand verbargen die Türen Waschbecken<br />

und <strong>Bad</strong>ewanne und das <strong>Bad</strong> wurde zum hellen Durchgang.<br />

Mit ihrem Forschungsprojekt vacancy – no vacancy. Ein performatives<br />

Haus der Zukunft, in dessen Rahmen 2019 ein bewohnbares Mock-up<br />

auf dem Dach des Gebäudes des Departments für Architektur auf dem<br />

ETH-Campus am Hönggerberg errichtet wurde, knüpft Elli Mosayebi in<br />

Kooperation mit dem ETH Wohnforum an die Arbeiten von Lilly Reich und<br />

Lux Guyer an. Die Kleinwohnung kommentiert die wachsende Anzahl von<br />

Singlehaushalten in der Stadt und im Kanton Zürich und begegnet dem<br />

heutigen Pluralismus von Lebensentwürfen mit der Vorstellung eines<br />

„performativen Raumes“ (Mosayebi 2019), der von Podesten, Nischen,<br />

Stauräumen und beweglichen Elementen, darunter eine Drehtür und<br />

ein Drehschrank, begleitet wird. Der Prototyp erlaubt die individuelle<br />

Aneignung und testet gleichzeitig die Veränderungsbereitschaft der<br />

temporären Bewohner*innen.<br />

Etwas anders verhielt es sich mit dem legendären House of the Future,<br />

das Alison und Peter Smithson im Auftrag der englischen Zeitschrift<br />

Daily Mail für die Ideal Home Exhibition 1956 in London realisierten und<br />

das für das Jahr 1981 konzipiert war. Es handelte sich um ein Haus mit<br />

einem innen liegenden Garten, das von den Besucher*innen der Ausstellung<br />

wie in einer Peepshow über einzelne Öffnungen eingesehen und<br />

von einer Zuschauertribüne aus der Vogelperspektive betrachtet werden<br />

konnte. Das Haus war von Schauspieler*innen bewohnt, deren Kostüme<br />

und Handlungen mit den futuristischen Details und technischen Errungenschaften<br />

der Wohnräume korrespondierten. „Das Haus zirkulierte nicht<br />

nur durch Magazine und Tageszeitungen, sondern auch im Fernsehen<br />

und in Wochenschauen. Und, am bemerkenswertesten, das H.O.F. war<br />

selbst eine veritable Medienmaschine“ (Colomina 2010: 16).<br />

Das wechselseitige Verhältnis von Wohnung und Ausstellung findet<br />

sich auch in der Kunst. Im Sommer 1991 fand in einer Wohnung in St.<br />

Gallen die von Hans Ulrich Obrist, der zu dieser Zeit Politik und Ökonomie<br />

an der Universität St. Gallen studierte, kuratierte <strong>Küche</strong>nausstellung<br />

World Soup statt. „Die Funktionsfähigkeit der <strong>Küche</strong> wird aufrechterhalten.<br />

Gleichzeitig stellt sich die Frage von Autonomie und Funktion der<br />

Exponate in einem Kontext, der nicht für Ausstellungen vorgesehen ist.<br />

Ausgangspunkt ist der Wunsch, eine Ausstellung an einem unspektakulären<br />

Ort zu machen“ (Obrist 1993). Die Ausstellung, an der die Künstler<br />

Christian Boltanski, Frédéric Bruly Bouabré, Hans-Peter Feldmann, Paul<br />

Armand Gette, C.O. Paeffgen, Roman Signer, Richard Wentworth und<br />

Peter Fischli / David Weiss teilnahmen, wurde zwar nur von wenigen<br />

Personen tatsächlich besucht, aber von der Kunstszene durchaus beachtet.<br />

Ein späterer Kommentar von Hans Ulrich Obrist schlägt vor, dass<br />

es sich nicht einfach um eine Kunstausstellung in einer <strong>Küche</strong> handelte,<br />

sondern es der Raum dazwischen war, der zur Kunst wurde (vgl. Obrist<br />

23<br />

Verena von Beckerath


außen nicht wahrnehmbar (vgl. Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv<br />

Weimar, Thüringisches Finanzministerium, Nr. 3835). Lehrmann<br />

verzichtete auf Vielfalt in der äußeren Form und richtete die weitgehend<br />

homogene Fassade nach einem in sich wiederkehrenden Rhythmus mit<br />

typisierten Gestaltungselementen aus, hinter der die Heterogenität der<br />

Bewohnerschaft verborgen bleiben sollte. Zwar folgten die Wohnungsgrundrisse<br />

von Zwei-, <strong>Drei</strong>- und Vierzimmerwohnungen einem sich wiederholenden<br />

und klaren Gestaltungsprinzip, doch die unterschiedlichen<br />

Wohnungsgrößen waren von außen nicht ablesbar, da die einheitliche<br />

Verteilung der Fenster im Vordergrund stand. Um die Einheitlichkeit zu<br />

gewährleisten, verzichtete der Architekt allerdings auf eine durchgängig<br />

optimale Belichtung der Räume.<br />

Architektonisch weist die Wohnbebauung mit ihrem Walmdach,<br />

den farblich aufeinander abgestimmten Fassaden und den Sprossenfenstern,<br />

die abschnittsweise im Dachgeschoss mit Fensterläden versehen<br />

wurden, zwar auf eine traditionelle Formensprache hin. In ihrer Serialität<br />

mit typisierten, aber vielfältigen Wohnungsgrundrissen etablierte die<br />

Siedlung am Asbach in Weimar jedoch erstmals die traditionelle Moderne<br />

im Wohnungsbau. Darüber hinaus vereint die Wohnsiedlung neue Ansprüche<br />

an Architektur und Wohnkomfort mit der Wohnumfeldgestaltung.<br />

Lehrmann gelang es, eine Verbindung zwischen Städtebau und Grünraum<br />

herzustellen, wobei er die Durchdringung beider Elemente an der Idee der<br />

Gartenstadt orientierte. Zwischen den Wohnzeilen entstand ein grüner<br />

und vom Verkehr freigehaltener Freiraum. Diese Art von Grünraum im<br />

Wohnbereich, der zum direkten Wohnumfeld der Bewohner*innen gehört<br />

und zur gemeinsamen Nutzung und Erholung dient, stellte im Gegensatz<br />

zu den kleinen Gärten der Privatbauten aus der Kaiserzeit ebenso<br />

ein Novum dar. Dieses Beispiel des modernen Wohnsiedlungsbaus im<br />

traditionellen Architekturstil, das mittels rationalisierter Bauproduktion<br />

damals schon bezahlbare Wohnungen zur Verfügung stellte, ist ein bedeutendes<br />

Zeugnis des Reformwohnungsbaus der Weimarer Republik<br />

und Ausdruck damaliger wohnungspolitischer Strategien.<br />

Noch heute befindet sich die Wohnbebauung in der Asbachstraße<br />

unweit des Stadtzentrums und des Weimarhallenparks in bester innenstädtischer<br />

Lage. Die Siedlung ist fußläufig an soziale Infrastrukturen<br />

und Nahversorgung angeschlossen: Kindertagesstätten, Schulen, Einzelhandelsgeschäfte,<br />

mehrere Bäckereien, Fleischereien, Gastronomiebetriebe,<br />

Sport- und Kultureinrichtungen sowie öffentlicher Nahverkehr<br />

decken die täglichen Bedürfnisse. Der Asbach-Grünzug in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft mit Parkanlage, Schwimmbad sowie einem Sportstadion<br />

(Wimaria-Stadion) bieten Raum für Erholung und Sport. Die Altstadt<br />

Weimars ist gut zu Fuß erreichbar und auch der Bahnhof ist nur wenige<br />

Gehminuten entfernt.<br />

Während aller nachfolgenden gesellschaftlichen Epochen blieb<br />

die Stadt Eigentümerin der Wohnungen. Bereits während der DDR-Zeit<br />

wurden einige Wohnungen von der Kommunalen Wohnungsverwaltung<br />

teilmodernisiert. Nach dem Fall der Mauer gingen die Wohnungen an<br />

das städtische Tochterunternehmen Weimarer Wohnstätte GmbH über,<br />

die die Wohnsiedlung am Asbach 1996 bis 1997 denkmalgerecht sanierte<br />

und das direkte Wohnumfeld aufwertete.<br />

Auch gegenwärtig liegt in diesem innerstädtischen Straßenzug ein<br />

wertvolles Potenzial für die Wohnungsversorgung, denn geringe Mieten<br />

garantieren bezahlbaren Wohnraum auch für einkommensschwächere<br />

Bevölkerungsgruppen in einer innerstädtischen Wohnlage, die vielfach<br />

46<br />

Das Wohnsiedlungsprojekt am Asbach: Stadtbauhistorische und<br />

wohnungspolitische Einordnung


Der Wert der Wohnsiedlung am<br />

Asbach zeigt sich heute sowohl<br />

in ihrer städtebaulichen Qualität<br />

und hochwertigen Materialästhetik<br />

als auch mit Blick auf<br />

ihren Beitrag zur Wohnungsversorgung<br />

eines breiten<br />

Spektrums sozialer Gruppen.<br />

Weimar 2022<br />

vornehmlich besserverdienenden Einkommensgruppen vorbehalten<br />

bleibt. Damit leistet die Wohnsiedlung in ihrer Qualität und als Teil des<br />

Bestands des kommunalen Wohnungsunternehmens einen Beitrag gegen<br />

sozialräumliche Polarisierung und Segregation in Weimar. Sie trägt solchermaßen<br />

auch dazu bei, Teilhabe ihrer Bewohner*innen am kulturellen<br />

und gesellschaftlichen Leben der Stadt zu ermöglichen und die Qualität<br />

der Siedlung für ein breites Spektrum an Einkommensgruppen zugänglich<br />

zu machen.<br />

apple<br />

Quellen<br />

apple<br />

Literatur<br />

Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar: Acten des<br />

Finanz-Departements des Großh. Staatsministeriums, betreffend:<br />

Die Erbauung von Wohnungen für staatliche Beamte in Weimar (1920,<br />

1921, 1922 – 1927), Nr. 968<br />

Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Thüringisches<br />

Finanzministerium, Nr. 3835, Bl. 13r<br />

Günther, Gitta: Weimar-Chronik. Stadtgeschichte in Daten. Weimar<br />

1990<br />

Michalski, Gundula / Steiner, Walter: Die Weimarhalle. Bau- und Wirkungsgeschichte.<br />

Weimar 1994<br />

Lehrmann, August: Weimar. Neue Stadtbaukunst. Berlin 1928<br />

Stadtarchiv Weimar: Archivalien-Signatur: 7-77-45, Blatt 1, Entwurf<br />

Bebauung des Blocks Ecke- Herbst u. Asbachstraße in Weimar, S. 31<br />

47<br />

Caroline Kauert


78<br />

Die Arbeiten der Studierenden


Wohnraum ist keine Ware, sondern ein Grundbedürfnis<br />

Eine theoretische Auseinandersetzung und eine empirische Bestandsaufnahme<br />

des allgemeinen und des konkreten wohnungspolitischen<br />

Jolande Kirschbaum und Lukas Lindemann<br />

Kontextes ließen Jolande Kirschbaum und Lukas Lindemann konstatieren,<br />

dass Wohnraum gegenwärtig den Charakter einer Ware besitzt, die auf dem Wohnungsmarkt<br />

gehandelt wird. Dies trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf kommunale Wohnungsunternehmen zu.<br />

Unter der Voraussetzung, dass Wohnen ein menschliches Grundbedürfnis ist, entwickelten sie sodann die<br />

These, dass Wohnraum keine Ware sein darf. Vor diesem Hintergrund erarbeiteten die Studierenden ein<br />

Konzept der Dekommodifizierung, die eine gemeinnützige Wohnraumbewirtschaftung zur Folge hätte.<br />

Exemplarisch auf die Weimarer Wohnstätte GmbH bezogen, würde dieser Ansatz zu einer Umstrukturierung<br />

des kommunalen Wohnungsunternehmens führen. Die Mieten könnten auf die entsprechenden<br />

Kostenmieten reduziert werden, wobei die Studierenden ein sogenanntes Name-Your-Own-Price-<br />

Prinzip vorschlagen, demzufolge freiwillig über die Kostenmiete hinaus entrichtete Beiträge für gemeinnützige<br />

Ziele des kommunalen Wohnungsunternehmens verwendet werden sollen. Zusätzlich<br />

soll das Mitbestimmungsrecht der Mieter*innen ausgeweitet werden. Der Ausstellungsbeitrag setzte<br />

sich aus einer großformatigen Wandillustration des wohnungspolitischen Kontextes der Wohnung in<br />

Weimar und einer erläuternden Handreichung zusammen. Außerdem wurde der Beitrag durch Diskussionsformate<br />

ergänzt.<br />

79<br />

Jessica Christoph und<br />

Carsten Praum


84<br />

Die Arbeiten der Studierenden


Der andere Raum – Raum zum Verschwinden<br />

Die Arbeit basiert auf einer theoretischen Auseinandersetzung mit<br />

Selina Müller und Jakob Walter<br />

den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen Wohnen stattfindet.<br />

Dabei wurde vor allem betrachtet, wie sich das Verhältnis<br />

von Privatheit und Öffentlichkeit im historischen Kontext wandelte. Anhand der Projektwohnung in<br />

der Asbachstraße überprüften die Studierenden sodann die These, dass auch eine eigentlich private<br />

Wohnung keinen absoluten Rückzugsraum für Individuen darstellen kann. Vor diesem Hintergrund<br />

entwickelten sie einen sogenannten „anderen Raum“, der es jedem Menschen ermöglichen soll, aus<br />

der Gesellschaft herauszutreten und sich völlig zurückziehen zu können. Für diesen Raum erarbeiteten<br />

Selina Müller und Jakob Walter ein Vergabeverfahren, das seine kostenfreie Nutzung anonym und<br />

temporär ermöglicht. Das Konzept zielte darauf ab, den Diskurs über das Wohnen und seine gesellschaftlichen<br />

Voraussetzungen durch individuell-praktische Erfahrungen in einem Raum als gebautem<br />

Gedankenexperiment zu erweitern. Der Ausstellungsbeitrag bestand aus einer zentral beleuchteten<br />

und zusammengeklappten Tafel mit Texten und Abbildungen, die um eine Klingel und um Sitzgelegenheit<br />

ergänzt wurden. Dieses Arrangement diente der performativen Öffnung der Tafel durch die<br />

Studierenden und bot die Möglichkeit zum anschließenden Gespräch.<br />

85<br />

Jessica Christoph und<br />

Carsten Praum


apple<br />

Das Modell einer Wohnung mit Optionen<br />

Verena von Beckerath, Jessica Christoph, Carsten Praum<br />

und Barbara Schönig<br />

122


123<br />

Im Rahmen der zweiten Phase des inter- und transdisziplinären Forschungsprojektes<br />

<strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong> entwickelte das Projektteam<br />

der Bauhaus-Universität Weimar ein Konzept für den Umbau, die<br />

Vergabe und die Nutzung der Wohnung in der Asbachstraße, die dadurch<br />

zukünftig nicht nur andere Formen des Wohnens erlaubt, sondern auch<br />

nachbarschaftliche Aktivitäten ermöglicht.<br />

Bereits während des experimentellen Planungs- und Entwurfsprojektes<br />

im Wintersemester 2017/18 diskutierten die Projektbeteiligten<br />

über eine Vielzahl verschiedener Anforderungen, die in Zukunft an Wohnräume<br />

gestellt werden: Dienen sie wirklich ausschließlich dem Wohnen?<br />

Was benötigen Menschen in einer Gesellschaft, die eher alt als jung sein<br />

wird, in der Menschen eher allein als in Familienhaushalten leben, in der<br />

Großeltern nur selten vor Ort sind und Haushalte immer häufiger lediglich<br />

aus einem Erwachsenen mit Kind bestehen? Wo kommen Bewohner*innen<br />

eines Hauses aus unterschiedlichen Kulturen jenseits des Treppenhauses<br />

ins Gespräch und wie finden sie die Chance, trotz berufsbedingter Mobilität<br />

in einer Nachbarschaft anzukommen und aufgenommen zu werden?<br />

Der demografische Wandel, aber auch die Auflösung des tradierten<br />

Familienmodells und die Transformationsprozesse auf dem Arbeitsmarkt<br />

sorgen nicht zuletzt in größeren Städten dafür, dass hinsichtlich des Wohnens<br />

in der Zukunft sowohl stärker über das Verhältnis von Wohnen und<br />

Arbeiten als auch über gemeinschaftliche Räume für nachbarschaftliche<br />

Aktivitäten nachgedacht werden muss als bisher.<br />

Hiermit wurden Fragen aufgeworfen, die beim Neubau von Wohnraum<br />

bereits seit einiger Zeit umfassend reflektiert werden, gerade in<br />

großstädtischen Projekten und insbesondere auch im gemeinschaftlichen<br />

Wohnungsbau. Die meisten Menschen aber leben in Wohnungen<br />

im Bestand, zumeist in Gebäuden, deren Errichtung die funktionale<br />

Trennung von Wohn- und Arbeitsort voraussetzte und abgeschlossene<br />

Wohnräume für die Kernfamilie bieten sollte. Es handelt sich hierbei um<br />

Wohnungsbestände, in denen die Wohnräume nur wenige Spielräume<br />

für erweiterte Formen des Wohnens zulassen und Räume für gemeinschaftliche<br />

Aktivitäten häufig gar nicht zur Verfügung stehen. Oftmals<br />

betrifft dies zudem Bestände, die so gut zu funktionieren scheinen, dass<br />

sie selten die hinreichende Aufmerksamkeit erlangen, die nötig wäre, um<br />

ihre Qualitäten und die dazugehörigen Freiräume weiterzuentwickeln<br />

und systematisch anzupassen.<br />

Hier setzt die zweite Projektphase an, in der ein Modell entwickelt<br />

wurde, das zur Flexibilisierung und zur Vergemeinschaftung des Wohnens<br />

beitragen soll – ein Modell für eine Wohnung mit Optionen. So entstand<br />

beim Umbau mit wenigen, aber grundlegenden Interventionen ein flexibler<br />

und nutzungsoffener Grundriss, durch den im Zusammenspiel mit<br />

weiteren baulich-räumlichen Eigenschaften sowohl das Verhältnis unterschiedlicher<br />

(Wohn-)Nutzungen als auch von Privatheit und Öffentlichkeit<br />

innerhalb der Wohnung neu gedacht werden kann. Die zukünftigen<br />

Bewohner*innen wurden im Rahmen eines konzeptgebundenen Vergabeverfahrens<br />

ausgewählt, im Zuge dessen sie Ideen für verschiedene<br />

Formen der Nutzung einbringen konnten.<br />

Die Bewohner*innen waren also unter anderem dazu angehalten,<br />

die Wohnung gemäß einem eigenen Konzept für die Hausgemeinschaft<br />

und die Nachbarschaft zu öffnen. Sie sollten die Wohnung dazu nutzen,<br />

eigene Angebote an die Nachbar*innen oder einen weiteren Personenkreis<br />

zu richten, konnten sie ihnen aber auch als gemeinschaftlichen<br />

Raum oder für eigene Projekte zur Verfügung stellen. Um ein solches


130<br />

Umbau der Wohnung


die Nachbarschaft engagieren und hierfür temporär ihre Wohnräume<br />

öffnen. Fünf Nutzungsszenarien visualisieren mit je einem Grundriss,<br />

einem kurzen Text und einer Referenz die Wohnung mit Optionen. Die<br />

Grundrisse zeigen anhand exemplarischer Möblierungen auf, wie das<br />

räumliche Potenzial und eine mögliche Adressbildung durch verschiedene<br />

Erschließungsformen die Nutzung provozieren und umgekehrt. Ein<br />

Szenario zeigt, wie Gastgeber*innen die <strong>Küche</strong> und ein Esszimmer für<br />

nachbarschaftliche Aktivitäten zeitweise nutzen. Die Räume können vom<br />

Garten und Treppenhaus her erschlossen werden, eine von der Wohnnutzung<br />

unabhängige WC-Nutzung ist möglich. Ein weiteres Szenario<br />

zeigt beispielhaft eine Werkstattnutzung in einem der Räume zur Straße.<br />

Ein Erzählcafé erstreckt sich über das mit einer Doppeltür verbundene<br />

Raumpaar zur Straße. Ein Szenario erläutert, wie die gesamte Wohnung<br />

zu einem Ausstellungsraum werden und zugleich Raum zum Lagern in<br />

der <strong>Diele</strong> entstehen könnte. Auch ein oder mehrere Räume eines Hausmeisters<br />

oder Kümmerers können beispielweise vom gemeinschaftlichen<br />

Freiraum erschlossen werden. Im weiteren Projektverlauf könnten zudem<br />

übergeordnete Ideen für einen zusammenhängenden Freiraum über<br />

Eigentumsgrenzen hinweg entwickelt werden.<br />

14. Juli 2018<br />

9. September 2018<br />

12. Dezember 2018<br />

13. Dezember 2018<br />

Die Ergebnisse des Lehrprojektes werden auf der universitären Jahresschau<br />

im Sommer 2018 mit einer zentralen Installation im Foyer des<br />

Hauptgebäudes präsentiert. Ebenso werden Studierende in einem Rundfunkbeitrag<br />

unter anderem zu alternativen Lernkonzepten befragt, was<br />

konzeptionell, organisatorisch und in der Umsetzung begleitet wird.<br />

Die Projektpartner*innen beraten Fragen des Mietvertrags, der Vergabe,<br />

der Kommunikation und der Architektur. Vor dem Hintergrund, dass die<br />

Weimarer Wohnstätte die Wohnung während und nach dem Projektzeitraum<br />

regulär vermietet und dass die Thüringer Aufbaubank für die Dauer<br />

der wissenschaftlichen Begleitforschung einen Teil der Miete übernimmt,<br />

wird das im Dossier vorgestellte Vorgehen positiv aufgenommen. Dem<br />

architektonischen Konzept folgend soll die Wohnung durch wenige Eingriffe<br />

umgebaut werden, so dass sie unterschiedliche Nutzungsszenarien<br />

neben dem Wohnen unter Einbeziehung des Freiraums ermöglicht. In<br />

diesem Zusammenhang ist ein aktualisierter Arbeits- und Zeitplan für die<br />

Detailplanung und den Umbau der Wohnung zu erstellen, der mit dem<br />

Arbeits- und Zeitplan für das konzeptgebundene Vergabeverfahren zu<br />

synchronisieren ist.<br />

Während einer Beratung zu einer überarbeiteten Fassung des Entwurfs<br />

bei der Weimarer Wohnstätte wird auf die Anforderungen hinsichtlich<br />

einer genauen Planung sowie einer Zeitplanung und den Bauablauf verwiesen.<br />

Offene Fragen gibt es hinsichtlich Baubeschreibung, qualitativer<br />

Beschreibung aller Ausbauteile und Oberflächen sowie vermaßter Planzeichnungen<br />

für Abriss, Neu- und Ausbau und Zuarbeit zur sanierungsrechtlichen<br />

Genehmigung. Nach der Kostenübernahmeerklärung durch<br />

die Thüringer Aufbaubank sollen Baufirmen zur Umsetzung des Projektes<br />

gesucht und die Aufträge beschränkt vergeben werden.<br />

Bei einer Wohnungsbegehung wird ein exaktes Aufmaß für die Planung<br />

vorgenommen. Dabei wird auch der aktuelle Zustand festgestellt. In allen<br />

Räumen fehlen die Boden-, Decken- und Wandbeläge, das heißt Fliesen,<br />

PVC-Bodenbeläge und Tapeten sowie die bauzeitlichen Sockelleisten,<br />

131<br />

Jessica Christoph


2. Ablauf<br />

2.1 Multimediale Ausschreibung<br />

2.1.1 Website<br />

Konzeptgebundene Vergabeverfahren führen dann zu den gewünschten<br />

Ergebnissen, wenn sie transparent und nachvollziehbar aufgezogen<br />

werden (vgl. BBSR 2020: 113). Für die Vergabe der Wohnung diente eine<br />

Website als Kernelement der multimedialen Ausschreibung, mit der vielfältige<br />

Informationen übermittelt und über die Bewerbungen eingereicht<br />

werden konnten.<br />

Die Website zur Ausschreibung<br />

einer Wohnung mit Optionen<br />

Dabei wies die Startseite einen für Wohnungsanzeigen typischen Steckbrief<br />

der Wohnung auf, die sich insbesondere durch ihre zentrale Lage,<br />

den modernisierten Zustand und nicht zuletzt durch die Kaltmiete in Höhe<br />

von 0 Euro auszeichnete. Auf der im Februar 2019 veröffentlichten Website<br />

wurden darüber hinaus das inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekt<br />

<strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>, <strong>Bad</strong>, das Modell einer Wohnung mit Optionen,<br />

die Nachbarschaft, das Haus und die Wohnung vorgestellt; außerdem<br />

bot ein Bewerbungsformular interessierten Besucher*innen der Website<br />

sechs Wochen lang die Möglichkeit, ein Konzept für die Nutzung der<br />

Wohnung einzureichen.<br />

Um möglichst viele Bewerber*innen zum Mitmachen zu motivieren,<br />

sollten konzeptgebundene Vergabeverfahren nicht nur transparent und<br />

nachvollziehbar, sondern vor allem auch niedrigschwellig und dabei<br />

dennoch qualitätssichernd ausgestaltet sein: „Grundsätzlich sollen so<br />

wenige Anforderungen wie möglich und so viele und anspruchsvolle wie<br />

unbedingt nötig gestellt werden.“ (Ebd.: 115) Vor diesem Hintergrund<br />

wurde im Rahmen des Bewerbungsformulars neben absolut notwendigen<br />

Informationen zur Person beziehungsweise zum Haushalt zunächst die<br />

Motivation abgefragt, was also die Bewerber*innen persönlich motivierte,<br />

am Projekt teilzunehmen, und welche Schritte in ihrem persönlichen oder<br />

beruflichen Werdegang Bezüge zum Modell der Wohnung mit Optionen<br />

aufwiesen. Mit Blick auf die inhaltliche Ebene des einzureichenden Konzepts<br />

für die Nutzung der Wohnung mussten die Bewerber*innen angeben,<br />

durch welche Angebote sie ihre private Wohnung zeitweise zu einem<br />

164<br />

Vergabe der Wohnung


gemeinschaftlichen Raum für nachbarschaftliche Aktivitäten machen<br />

wollen, wer sich davon angesprochen fühlen soll und was sie sich davon<br />

erhofften beziehungsweise was sich die Nachbarschaft davon erhoffen<br />

könnte. Außerdem wurden die Bewerber*innen hinsichtlich der organisatorischen<br />

Ebene gefragt, an wie vielen Tagen in der Woche oder im Monat<br />

und zu welchen Zeiten sie nachbarschaftliche Aktivitäten ermöglichen<br />

können oder wollen, welche Räume sie dafür benötigen und wie sie mit<br />

der Hausgemeinschaft und der Nachbarschaft in Kontakt treten wollen.<br />

Mit diesem standardisierten Bewerbungsformular wurde nicht zuletzt<br />

bezweckt, vergleichbare Bewerbungen zu erhalten (vgl. ebd.).<br />

Schließlich gab die Website Auskunft über die Formalia, nach<br />

denen die Wohnung voraussichtlich ab September 2019 von einer oder<br />

mehreren Personen bewohnt und gemäß dem eingereichten Konzept<br />

genutzt werden sollte. Diese Formalia umfassten die Ausgestaltung des<br />

Mietvertrages und die Höhe der Wohnkosten, legten vor allem aber auch<br />

die Besonderheiten der potenziellen Teilnahme am Projekt offen, die<br />

von der Bereitschaft zur Gemeinschaftsnutzung über die Notwendigkeit<br />

der Öffentlichkeitsarbeit bis zur Beteiligung an der wissenschaftlichen<br />

Begleitforschung reichten (vgl. ebd.: 116).<br />

2.1.2 Plakate und Flyer<br />

Um auf das konzeptgebundene Vergabeverfahren zur Wohnung mit<br />

Optionen aufmerksam zu machen, wurden ergänzend Plakate und Flyer<br />

erstellt, die vor allem dazu dienten, auf die Website zur Ausschreibung zu<br />

verweisen. Dabei entsprachen sie dem Layout der Website und wiesen<br />

ebenfalls den für Wohnungsanzeigen typischen Steckbrief auf, was den<br />

Wiedererkennungswert steigern sollte.<br />

Die Plakate zur Ausschreibung<br />

einer Wohnung mit Optionen<br />

Während in Weimar an ausgewählten Orten plakatiert wurde, zielte die<br />

Verteilung von rund 20.000 Flyern in Erfurt, Gera, Gotha, Jena und Weimar<br />

durch ein Dienstleistungsunternehmen auf Breitenwirksamkeit und erfolg-<br />

165<br />

Carsten Praum und<br />

Barbara Schönig


das ‚große‘ Treffen mit der Hausgemeinschaft an. Wir haben uns lange<br />

nicht in einem solchen Rahmen gesehen und auch keine Rückmeldung<br />

auf unsere Einladung erhalten. Äpfel aus dem Kleingarten in Apolda<br />

wurden zu Kuchen verarbeitet. Und dann? Fast wie zu erwarten kam nur<br />

Nachbarin 4. Nachbarin 1 und Nachbar 2 waren noch im Urlaub, Nachbarin<br />

3 hatte keine Lust. Trotz der kleinen Runde war es wieder einmal<br />

sehr schön und Nachbarin 4 hat den Austausch spürbar aufgesogen und<br />

genossen.“ (MR: 09.09.2020) Da Nachbarin 3 den Bewohner*innen trotz<br />

ihrer eigenen Abwesenheit <strong>Küche</strong>nutensilien für den Kuchen im gemeinschaftlich<br />

nutzbaren Garten ausgeliehen hatte, kam es unmittelbar im<br />

Nachgang zu einer Folgeaktivität, in der NM schließlich auch Nachbarin 3<br />

in einem Gespräch zu zweit von ihren beruflichen Veränderungen und<br />

ihrem bevorstehenden Auszug berichtete. In diesem Zusammenhang<br />

skizzierte NM außerdem, welche räumlichen Kapazitäten sich dadurch<br />

in der Wohnung ergeben würden: „Nachbarin 3 war sehr interessiert<br />

daran und fand es eine gute Idee, einzelne Räume zukünftig vermehrt<br />

an einzelne Nutzer zu vergeben. Sie selbst könnte bestimmt ein <strong>Zimmer</strong><br />

zum Malen gebrauchen, und sie könnte sich auch vorstellen, das bei uns<br />

in der Wohnung zu machen.“ (NM: 09.09.2020)<br />

Mit dem Aufkommen der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden<br />

Beschränkungen erlangte das Thema „Nachbarschaftshilfe“<br />

Mitte März 2020 schlagartig eine neue Bedeutung. Allerorten wurden<br />

Angebote zur Unterstützung hilfsbedürftiger und isolierter Menschen ins<br />

Leben gerufen, die nicht selten aus Einkaufs- und Besorgungsdiensten<br />

bestanden. Dabei standen vielfach ältere Menschen im Zentrum der Aufmerksamkeit,<br />

weswegen auch NM und MR aus der Ferne, sie befanden<br />

sich damals zu Besuch bei Freund*innen, in der Messenger-Dienst-Gruppe<br />

zur Unterstützung zum Beispiel von Nachbarin 4 aufriefen, was eine<br />

kontroverse Diskussion unter den Mitgliedern der Hausgemeinschaft<br />

auslöste: „Daraufhin wurde direkt angemerkt, dass es im Haus auch viele<br />

alleinerziehende Mütter gibt, die trotz der Schließung der Einrichtungen<br />

ihrer Kinder arbeiten müssen.“ (MR: 18.03.2020) Nachbarin 3 verweist in<br />

diesem Zusammenhang nicht zuletzt darauf, dass es die eingeforderten<br />

Unterstützungsnetzwerke bereits gegeben habe: „Es ist schon vorher<br />

so gewesen, dass man ab und zu einer älteren Dame einen Einkauf mit<br />

heraufträgt und auch auf der Treppe den ein oder anderen Plausch hält.<br />

Das ist keine innovative Errungenschaft von ,<strong>Drei</strong> <strong>Zimmer</strong>, <strong>Küche</strong>, <strong>Diele</strong>,<br />

<strong>Bad</strong>‘.“ (01.10.2021) Nichtsdestotrotz fanden auch die Bewohner*innen<br />

und Nachbarin 3 gleich zu Beginn der Corona-Pandemie wieder zusammen.<br />

So brachte MR in Erfahrung, dass im Rahmen einer Initiative von<br />

Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar alte Computer kostenfrei<br />

aufgerüstet werden konnten und vermittelte den entsprechenden Kontakt<br />

an Nachbarin 3: „Von dem Projekt habe ich mir auch erhofft, dass die<br />

Bauhaus-Universität in anderen Stadtteilen und Milieus sichtbarer und<br />

greifbarer wird, etwas aus dem leicht elitären Anschein herauskommt. Hier<br />

fand ich es toll, als MR das auch umsetzte, indem er in der ersten ganz<br />

heißen Corona-Phase, in der alle Kinder im Homeschooling waren und<br />

viele einfach keine ausreichende Technik zur Verfügung hatten, tatsächlich<br />

eine Nachricht per Messenger-Dienst herumschickte, dass sich einige<br />

Studenten der Bauhaus-Universität mit der Initiative Maschinenraum auf<br />

die Fahne geschrieben haben, Laptops für Kinder aufzubereiten, deren<br />

Eltern sich das ansonsten eben nicht leisten können. Das ist wirklich ein<br />

starkes Projekt mit großer Wirkung.“ (Nachbarin 3: 01.10.2021) Insgesamt<br />

wurde die Messenger-Dienst-Gruppe mit dem Aufkommen der Corona-<br />

234<br />

Flexibilisierung und Vergemeinschaftung des Wohnens: Wissenschaftliche<br />

Begleitforschung zur Aneignung der Wohnung mit Optionen


Pandemie noch stärker genutzt. Aber auch darüber hinaus etablierte<br />

sich die Nachbarschaftshilfe in dieser zweiten Phase der Aneignung der<br />

Wohnung zusehends. So stellten NM und MR im Hausflur zum Beispiel<br />

Zeitungen und Honig beziehungsweise Bärlauchsalz in kleinen Gläsern<br />

für die gesamte Hausgemeinschaft zur Verfügung, wobei insbesondere<br />

Letztere großen Anklang fanden: „Das Salz war in drei Sekunden weg.“<br />

(MR: 15.09.2020) Und NM weiter: „So langsam wird das mit Corona zu<br />

einer ‚Begleitung‘, man gewöhnt sich immer mehr an die Situation und<br />

die Angst wird weniger. Auch die anderen Personen sind wieder eher bereit<br />

für ein längeres Gespräch im Treppenhaus oder an der Eingangstür.<br />

Die Sehnsucht nach Normalität ist spürbar. Durch diese kleineren Maßnahmen<br />

im Garten oder im Treppenhaus versuchen wir, den Kontakt zu<br />

den Mitgliedern der Hausgemeinschaft nicht zu verlieren, und vielleicht<br />

auch den anderen Inspiration zu geben, um in dieser außergewöhnliche<br />

Situation trotzdem aktiv und kreativ zu sein.“ (15.04.2020) Zudem wurden<br />

unter anderem Kartoffelpressen verliehen, und während längerer Abwesenheiten<br />

konnten aufgrund des gewachsenen Vertrauens vor allem<br />

in Richtung von Nachbarin 1 und Nachbar 2 Vereinbarungen getroffen<br />

und Briefkastenschlüssel übergeben werden, sodass eine Kontrolle der<br />

eingehenden Post möglich war.<br />

Nachbarschaft und darüber hinaus<br />

Wie weiter oben bereits ausgeführt, planten NM und MR, im November<br />

und Dezember 2020 an Nikolaus ein Wohnzimmerkonzert zu veranstalten,<br />

das die erste größere Veranstaltung auch für die Nachbar*innen aus<br />

der Asbachstraße 26–30 hätte sein sollen. Diese Veranstaltung musste<br />

krankheitsbedingt abgesagt werden und wurde auch in den darauffolgenden<br />

Wochen nicht nachgeholt. Dies mag zunächst durch den vergleichsweise<br />

hohen Organisationsaufwand zu erklären gewesen sein; mit<br />

dem Aufkommen der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden<br />

Beschränkungen wurde die Durchführung derartiger Veranstaltungen<br />

mit entsprechend vielen Personen zumindest in der Wohnung allerdings<br />

tatsächlich dauerhaft unmöglich gemacht. Ähnliches gilt für zwei Formate,<br />

die bereits seit dem Einzug von NM und MR in Zusammenarbeit<br />

mit studentischen Initiativen der Bauhaus-Universität Weimar entwickelt<br />

wurden und ab dem Frühjahr 2020 hätten stattfinden sollen. Hierbei<br />

handelt es sich zum einen um die urbanistische Initiative der Kamingespräche,<br />

die eine ihrer Gesprächsrunden zu Raum und Gesellschaft<br />

in der Wohnung hätten durchführen wollen, um dabei gemeinsam mit<br />

den Bewohner*innen, der Hausgemeinschaft, der Nachbarschaft und<br />

mit Vertreter*innen des Projektes über das Wohnen in der Zukunft zu<br />

diskutieren. Zum anderen handelt es sich um die studentische Initiative<br />

Horizonte, die Vorträge organisiert und eine Publikationsreihe zum Architekturdiskurs<br />

herausgibt. In Zusammenarbeit mit dieser Initiative hätte<br />

eine alternative Stadtführung konzipiert werden sollen, indem während<br />

mehrerer von der Wohnung ausgehender Veranstaltungen persönliche<br />

Geschichten der Bewohner*innen, der Hausgemeinschaft und der Nachbarschaft<br />

gesammelt und schlussendlich gemeinsam aufbereitet worden<br />

wären. „Hier wird sich auch eine gute Option bieten, die Aktivitäten auf<br />

die Straße auszudehnen.“ (MR: 18.12.2019) Beide Formate mussten aufgrund<br />

der Corona-Pandemie zunächst abgesagt werden; und auch wenn<br />

man sich vor dem Hintergrund der Lockerungen der Beschränkungen<br />

im Sommer 2020 nicht zuletzt für die Konzeption der alternativen Stadt-<br />

235<br />

Carsten Praum


führung durchaus auch Ersatzveranstaltungen außerhalb der Wohnung<br />

hätte vorstellen können, wurden beide Format nicht weiterverfolgt. Dies<br />

ist auf beiden Seiten der Planenden womöglich als Ausdruck fehlender<br />

Kapazitäten und Muße während der weiter oben bereits zitierten „Sommer-Corona-Müdigkeit“<br />

(MR: 29.03.2021) zu verstehen.<br />

Die nachbarschaftliche Dimension des Modells einer Wohnung<br />

mit Optionen wurde durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie also<br />

fortlaufend und substanziell herausgefordert, weswegen den Bewohner*innen<br />

relativ schnell klar erschien, dass sie eine Anpassung ihres<br />

ursprünglichen Konzepts vornehmen müssen.<br />

Zeitpunkt Ort Beteiligte Initiative Medium Folgeaktivitäten<br />

Aktivität 118: (NEU) Coronabedingte<br />

Alternativnutzung:<br />

Raum für Tanztraining<br />

2020: KW 18 bis<br />

2021: Mai<br />

<strong>Zimmer</strong> 1 Nutzerin 1<br />

NM/MR, Nutzerin<br />

1<br />

Messenger-<br />

Dienst-Gruppe<br />

„Sharing is<br />

Caring Weimar“<br />

-<br />

Vor diesem Hintergrund stießen NM und MR bereits im April 2020 in<br />

einer Messenger-Dienst-Gruppe passenderweise auf ein Raumgesuch<br />

für Tanztraining, woraus die erste Aktivität im Bereich „(NEU) Coronabedingte<br />

Alternativnutzung“ resultierte: „Über die Messenger-Dienst-<br />

Gruppe ‚Sharing is Caring Weimar‘ antworteten wir auf ein Raumgesuch<br />

von 10 Quadratmetern für Tanztraining. Vor dem Hintergrund, dass wir<br />

zu Corona-Zeiten sowieso keine Workshops oder ähnliches anbieten<br />

können/dürfen/wollen und dass 80 Quadratmeter plus Kleingarten<br />

für zwei Personen eigentlich viel zu viel Raum sind, dachten wir diesen<br />

Raum im Sinne des Projektes auch Externen zugänglich machen zu<br />

können.“ (MR: 15.09.2020) Bei der Suchenden handelte es sich um<br />

Nutzerin 1, die als Künstlerin Poledance-Elemente in ihre Performances<br />

integriert. Für entsprechende Tanztrainings konnte sie bis zur Corona-Pandemie<br />

einen Arbeitsraum an der Bauhaus-Universität Weimar<br />

nutzen, was ihr aufgrund der Beschränkungen ab Mitte März 2020<br />

jedoch nicht mehr möglich war. Mit den Bewohner*innen traf Nutzerin 1<br />

daraufhin eine vertragliche Vereinbarung, der zufolge sie nach vorheriger<br />

Ankündigung tagsüber theoretisch täglich in <strong>Zimmer</strong> 1 trainieren<br />

konnte, wobei die ursprüngliche zeitliche Begrenzung bis 18:00 Uhr in<br />

der Realität keinesfalls so streng gehandhabt wurde: „Da waren die<br />

beiden maximal flexibel, wofür ich ihnen sehr dankbar war.“ (Nutzerin<br />

1: 23.08.2021) Schlussendlich trainierte Nutzerin 1 ein bis zwei Mal<br />

pro Woche in der Wohnung, zu der sie einen eigenen Schlüssel erhielt.<br />

Außerdem schaffte sie sich aufgrund der absehbar lang anhaltenden<br />

Corona-Beschränkungen eine eigene und massive Poledance-Stange<br />

an, die sie im entsprechenden <strong>Zimmer</strong> dauerhaft aufstellen konnte.<br />

Entsprechend positiv fällt das Gesamtfazit von Nutzerin 1 aus: „Trainieren<br />

konnte ich da ganz wunderbar. Also es gab genügend Platz,<br />

um mich aufzuwärmen. Und dass ich das WLAN und das <strong>Bad</strong>ezimmer<br />

mitbenutzen konnte, war super. Man bekommt beim Training immer<br />

so schwitzige, rutschige Hände, da ist das mit dem <strong>Bad</strong>ezimmer total<br />

wichtig.“ (23.08.2021) Und auch MR gelangt hinsichtlich der ersten Vergabe<br />

eines einzelnen Raumes an eine einzelne Nutzerin zu einer rundum<br />

positiven Einschätzung: „Im Prinzip kann sie das <strong>Zimmer</strong> die ganze<br />

Woche frei zwischen 8:00 und 18:00 Uhr nutzen. Eine neue Erfahrung,<br />

236<br />

Flexibilisierung und Vergemeinschaftung des Wohnens: Wissenschaftliche<br />

Begleitforschung zur Aneignung der Wohnung mit Optionen


wenn jemand anderes einen Schlüssel hat und einfach so in die eigene<br />

Wohnung kommen kann. Zwar mit Ankündigung, aber immerhin erst<br />

einmal ungewohnt. Trotzdem klappt es soweit wunderbar, wir stören uns<br />

nicht gegenseitig und ab und zu ist auch noch kurz Zeit für ein Gespräch<br />

auf der Türschwelle.“ (06.05.2020)<br />

Phase 3<br />

Hausgemeinschaft<br />

Hinsichtlich der Aneignung der Wohnung durch die Hausgemeinschaft<br />

kann trotz der erneut umfassenden Beschränkungen von sozialen Kontakten<br />

in der dritten Phase zumindest weiterhin von einem regen Gebrauch<br />

der Möglichkeiten der Nachbarschaftshilfe gesprochen werden. Dabei<br />

wurde in den Monaten Oktober 2020 bis April 2021, wie in vielen anderen<br />

Hausgemeinschaften auch, eine auffallend hohe Anzahl an Paketen<br />

angenommen und weitergegeben. Darüber hinaus wurden zwischen<br />

den Mitgliedern der Hausgemeinschaft aber zum Beispiel auch Verlängerungskabel<br />

verliehen, Computerprogramme installiert, Starthilfen<br />

gegeben, Wohnungsschlüssel übergeben und Bienenwachskerzen verschenkt.<br />

Dabei diente die Messenger-Dienst-Gruppe noch immer häufig<br />

als Ausgangspunkt, wurde aber durchaus auch durch direkte Anfragen<br />

an der Haustür ergänzt. Wie in den vorangegangenen Monaten entwickelten<br />

sich aus der Nachbarschaftshilfe mitunter Nachfolgeaktivitäten,<br />

die in der dritten und besonders stark von den Corona-Beschränkungen<br />

geprägten Phase vor allem aus distanzierten oder digitalen Gesprächen<br />

im Hausflur oder in einem Messenger-Dienst bestanden.<br />

Nachbarschaft und darüber hinaus<br />

Die Aneignung der Wohnung durch die Nachbarschaft und darüber<br />

hinaus war in der dritten Phase weiterhin vor allem durch die Vergabe<br />

von <strong>Zimmer</strong> 1 an Nutzerin 1 für ihr Tanztraining geprägt. Dabei nutzte<br />

sie die Trainingsmöglichkeit nicht durchgehend, aber doch immer wieder<br />

und über den Winter mehrere Monate am Stück. Die Poledance-Stange<br />

konnte Nutzerin 1 währenddessen durchgehend in <strong>Zimmer</strong> 1 stehen lassen,<br />

was sie rückblickend sehr zu schätzen wusste: „Ansonsten war ich sehr<br />

froh, dass die Stange die ganze Zeit in der Wohnung bleiben konnte. Weil<br />

das immer nur wenige Wochen waren, in denen mal wieder irgendeine<br />

Nutzung irgendwo anders möglich wurde. Und dann war ich wieder auf<br />

die Stange in der Wohnung angewiesen.“ (23.08.2021) Diese seit April<br />

2020 andauernde coronabedingte Alternativnutzung kann zugleich auch<br />

als Blaupause verstanden werden für ein Konzept, das NM und MR im<br />

Jahr 2020 noch gemeinsam ausgearbeitet hatten und demzufolge die<br />

Vergabe einzelner Räume an einzelne Nutzer*innen zukünftig stärker im<br />

Fokus stehen sollte.<br />

Doch zunächst zu einer weiteren Aneignung der Wohnung durch<br />

die Nachbarschaft und darüber hinaus, die nach dem Auszug von NM<br />

in dem Versuch bestand, <strong>Zimmer</strong> 1 zusätzlich als Pendlerzimmer zu vergeben.<br />

Bei der Pendlerin und Nutzerin 2 handelte es sich um eine ehemalige<br />

Kommilitonin von MR, die im Wintersemester 2020/21 in zwei<br />

verschiedenen Städten studierte, weswegen sie sich lediglich für zwei<br />

bis drei Tage die Woche oder mitunter gar nicht in Weimar befinden<br />

würde. Dieser Umstand erschien MR als eine „ideale Ergänzung“ zur<br />

Nutzung von <strong>Zimmer</strong> 1 als Raum für Tanztraining. „Aber selbst das hat<br />

237<br />

Carsten Praum


273


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Lektorat:<br />

Gestaltung:<br />

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Foto: Andrew Alberts<br />

Verena von Beckerath, Jessica Christoph,<br />

Carsten Praum und Barbara Schönig<br />

Carsten Praum<br />

Andrew Alberts<br />

Miriam Seifert-Waibel<br />

Copa-Ipa, Büro für Gestaltung<br />

Gedruckt in der Europäischen Union<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Verlag GmbH<br />

Lützowstraße 33<br />

10785 Berlin<br />

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ISBN (Softcover): 978-3-86859-705-9<br />

ISBN (E-PDF): 978-3-86859-798-1<br />

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