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Inhalt AUFSÄTZE TAGUNGSBERICHTE BUCHREZENSIONEN - ZIS

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<strong>Inhalt</strong><br />

<strong>AUFSÄTZE</strong><br />

Strafrecht<br />

Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des<br />

Bundesverfassungsgerichts vom 23.6.2010 auf die<br />

Schadensdogmatik<br />

Von Prof. Dr. Frank Saliger, Hamburg 902<br />

Betrug und Untreue als konkrete Gefährdungsdelikte<br />

de lege lata und de lege ferenda<br />

Von Privatdozent Dr. Pierre Hauck, Gießen 919<br />

Strafprozessrecht<br />

Entwicklungen strafprozessualer Maßnahmen in Europa<br />

im Rahmen der Terrorfurcht<br />

Von Wiss. Mitarbeiterin Dr. Anna Oehmichen, Wiesbaden 931<br />

Europäisches Strafrecht<br />

Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen<br />

Union – ein Überblick<br />

Von Wiss. Angestellter Dominik Brodowski, Osnabrück 940<br />

Strafrecht<br />

La aplicación del Derecho Penal de la República Federal<br />

de Alemania en los homicidios en el muro de Berlín<br />

A su vez algunas notas generales sobre la superación<br />

del pasado de la República Democrática Alemana<br />

De abogado Andrés Falcone, LL.M., Regensburg 955<br />

<strong>TAGUNGSBERICHTE</strong><br />

Internationales Strafrecht<br />

El Sistema Interamericano de Protección de los Derechos<br />

Humanos y el Derecho Penal Internacional<br />

Informe del VIII. Seminario del Grupo Latinoamericano<br />

de Estudios sobre Derecho Penal Internacional<br />

(Bruselas, 29.11.-2.12.2010)<br />

De Salvador Herencia Carrasco, LL.M.( Universidad de Ottawa),<br />

Lima 962<br />

<strong>BUCHREZENSIONEN</strong><br />

Ausländisches Strafrecht<br />

João Manuel Fernandes, Das portugiesische Strafgesetz-<br />

buch – Código Penal Português<br />

(Wiss. Mitarbeiter José Carlos Nóbrega, Osnabrück) 972


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom<br />

23.6.2010 auf die Schadensdogmatik*<br />

Von Prof. Dr. Frank Saliger, Hamburg<br />

I. Aktualität des BVerfG-Beschlusses v. 23.6.2010<br />

Am 23.6.2010 hat der 2. Senat des BVerfG eine wirkungsmächtige<br />

Grundsatzentscheidung zur Verfassungsmäßigkeit<br />

des Untreuetatbestands und seiner Auslegung getroffen. 1<br />

Zwar hatte die 2. Kammer desselben Senats bereits 2009<br />

festgestellt, dass § 266 StGB mit dem Tatbestandsmerkmal<br />

des Vermögensnachteils nicht ohne weiteres gegen das Bestimmtheitsgebot<br />

verstößt und dass auch die Subsumtion der<br />

„schadensgleichen“ Vermögensgefahr unter das Nachteilsmerkmal<br />

bei strikter Beachtung der eingrenzenden Auslegungsgrundsätze<br />

der Rechtsprechung nicht zu beanstanden<br />

ist. 2 Jedoch geht erst die Entscheidung v. 23.6.2010 über die<br />

Feststellungen aus 2009 in einer Qualität hinaus, die ihre von<br />

Anfang hohe und bis heute ungebrochene Wirkungsmacht<br />

erklären.<br />

Das lässt sich nicht nur an der großen Zahl der Anmerkungen<br />

und Besprechungen ablesen, die der Beschluss vom<br />

23.6.2010 seitdem erfahren hat. 3 Noch bemerkenswerter ist,<br />

dass die mit Spannung erwartete Senatsentscheidung, die drei<br />

Verfassungsbeschwerden zusammengezogen hatte, wohl<br />

auch von den Strafsenaten des BGH selbst zum Anlass für<br />

die Zurückstellung bedeutender Untreue-Revisionsverfahren<br />

genommen wurde, namentlich für das Trienekens-Verfahren<br />

und das AUB-Verfahren. 4 So verwundert es nicht, dass das<br />

Urteil des 2. Strafsenats v. 28.8.2010 im Fall Trienekens 5 und<br />

der Beschl. des 1. Strafsenats v. 13.9.2010 im Fall AUB 6 die<br />

ersten Entscheidungen darstellen, die auf je unterschiedliche<br />

* Bei dem Text handelt es sich um die leicht aktualisierte<br />

Fassung eines Vortrags, den der Verf. auf der 10. NStZ-<br />

Jahrestagung zur Wirtschaftskriminalität am 2.7.2011 in<br />

Frankfurt am Main gehalten hat.<br />

1 BVerfG NJW 2010, 3209 (= BVerfGE 126, 170).<br />

2 BVerfG NJW 2009, 2370 m. Bespr. Fischer, StV 2010, 95.<br />

3 Becker, HRRS 2010, 383; Beukelmann, NJW-Spezial 2010,<br />

568; Frisch, EWiR 2010, 657; Knierim/Smok, Fachdienst<br />

Strafrecht 2010, 307157; Leplow, wistra 2010, 475; Radtke,<br />

GmbHR 2010, 1121; Saliger, NJW 2010, 3195; Strate, Gesellschafts-<br />

und Wirtschaftsrecht 2010, 422; Wattenberg/<br />

Gehrmann, Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft<br />

2010, 507; Wessing/Krawczyk, NZG 2010, 1121; Böse, Jura<br />

2011, 617; Kraatz, JR 2011, 434; Krüger, NStZ 2011, 369;<br />

Kudlich, JA 2011, 66; Kuhlen, JR 2011, 246; Safferling,<br />

NStZ 2011, 376; Schulz, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht<br />

als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80.<br />

Geburtstag am 15. Mai 2011, Bd. 1, 2011, S. 305; vgl. auch<br />

Schünemann, StraFo 2010, 477 (480).<br />

4 Schünemann, StraFo 2010, 477 (480) m. Fn. 33.<br />

5 Dazu unten III. 2.<br />

6 Unten III. 1.a ).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

902<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

Weise die Maßgaben des BVerfG „umsetzen“. Weitere Entscheidungen,<br />

auch zum Betrug, sind hinzugekommen. 7<br />

Der Beitrag will die gegenwärtig festzustellende Wirkungsmacht<br />

des Beschlusses v. 23.6.2010 kritisch nachzeichnen.<br />

Dazu rekonstruiert er zunächst als ersten Schwerpunkt<br />

den <strong>Inhalt</strong> des Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 (unten<br />

II.). Anschließend erfolgt als zweiter Schwerpunkt eine kritische<br />

Analyse der Umsetzung dieses Beschl. in der Untreuerechtsprechung<br />

der BGH-Senate (unten III.). Schließlich wird<br />

der bisherigen Umsetzung sowie den weiteren möglichen<br />

Konsequenzen des BVerfG-Beschlusses auch für die Betrugsstrafbarkeit<br />

nachgegangen (unten IV.).<br />

II. <strong>Inhalt</strong> des BVerfG-Beschlusses v. 23.6.2010<br />

Der BVerfG-Beschluss v. 23.6.2010 enthält Vorgaben auf<br />

drei Bedeutungsebenen: Auf einer ersten, grundlegenden<br />

Bedeutungsebene eröffnet der Beschluss eine strengere verfassungsgerichtliche<br />

Kontrolle der Strafrechtsprechung am<br />

Maßstab des Bestimmtheitsgrundsatzes, die nicht nur für die<br />

Auslegung des Untreuetatbestands, sondern für das gesamte<br />

Strafrecht erheblich wird. Darüber hinaus gibt der 2. Senat<br />

speziell für den Untreuetatbestand eingrenzende Maßgaben<br />

für die Auslegung der Pflichtverletzung und die Auslegung<br />

des Vermögensnachteils vor. Auf einer dritten Bedeutungsebene<br />

sind schließlich die Feststellungen des BVerfG zu den<br />

mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteilen anzusiedeln.<br />

Ob und inwieweit das BVerfG mit diesen Vorgaben Neuland<br />

betreten hat, ist im Schrifttum streitig. Während dem<br />

Beschluss zunehmend eine spektakuläre Neuausrichtung der<br />

verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Strafrechtssprechung<br />

mit höchster Relevanz für Theorie und Praxis bescheinigt<br />

wird, 8 meinen andere, dass das BVerfG seine Rechtsprechung<br />

zum Bestimmtheitsgrundsatz lediglich zusammengefasst 9 und<br />

die Messlatte für die Untreuestrafbarkeit „ein bisschen höher<br />

7 Vgl. III. 1. b), III. 3. und IV. 2.<br />

8 Saliger, NJW 2010, 3195 (3198); vgl. auch Schünemann,<br />

StraFo 2010, 477 (480): „hat in ambitionierter Weise dem<br />

zuvor eher brach liegenden Bestimmtheitsgrundsatz für die<br />

Verfassungsmäßigkeit von Strafrechtsnormen eine Schlüsselrolle<br />

zugewiesen“; speziell für die Interpretation des § 266<br />

StGB durch die Rechtsprechung „eine ganze Anzahl innovativer<br />

Kriterien entwickelt“; ferner Wattenberg/Gehrmann,<br />

Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft 2010, 507:<br />

„wegweisender Beschluß“; Kuhlen, JR 2011, 246 (247):<br />

„Meilenstein“ und (253): „von grundlegender Bedeutung für<br />

das Verständnis des Gesetzlichkeitsprinzips“; Böse, Jura<br />

2011, 617 (623): „bedeutsame Einschränkungen“, „verfassungsrechtliches<br />

Neuland.“<br />

9 Schulz (Fn. 3), S. 327; Radtke, GmbHR 2010, 1121.


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 auf die Schadensdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gelegt“ habe. 10 Teils wird auch die Ansicht vorgetragen, dass<br />

der Beschluss „zu keiner grundlegenden Wende geführt“<br />

habe 11 und dass „sich wenig bis nichts ändern wird.“ 12 Für<br />

die letztere Auffassung könnte sprechen, dass das BVerfG die<br />

nach dem Beschluss erhobenen Verfassungsbeschwerden in<br />

den Fällen Falk 13 und Trienekens 14 zurückgewiesen hat. Andererseits<br />

ist nicht nur in die Untreuerechtsprechung des<br />

1. Strafsenats des BGH erhebliche Bewegung geraten, wie<br />

die Fälle AUB und Kölner Spendenaffäre belegen. 15 Erste<br />

Auswirkungen des BVerfG-Beschlusses zeigen sich auch<br />

schon in der Betrugsrechtsprechung des BGH. 16 Obgleich es<br />

ein Jahr nach Verkündung des Beschlusses noch viel zu früh<br />

für abschließende Einschätzungen ist, sprechen doch bereits<br />

die ersten Rezeptionen in der BGH-Judikatur für ein nicht<br />

geringes Innovationspotential. Art und Ausmaß dieses Innovationspotentials<br />

offenbart eine Analyse des Beschlussinhalts.<br />

1. „Neues“ zum Bestimmtheitsgrundsatz<br />

Insoweit ist zunächst festzustellen, dass der Beschluss zum<br />

Bestimmtheitsgebot, soweit dieses den Gesetzgeber als Adressaten<br />

betrifft, vertraute Bahnen nicht verlässt. 17 Neue<br />

Formulierungen findet der 2. Senat dagegen für die Relevanz<br />

des Bestimmtheitsgebots bei der Auslegung der Strafgesetze<br />

durch die Rechtsprechung, die dort zunächst in Gestalt des<br />

klassischen Verbots strafbegründender Analogie in Erscheinung<br />

tritt. 18 Während das nicht technisch zu verstehende<br />

Analogieverbot jede Rechtsanwendung untersagt, die den<br />

möglichen Wortsinn einer gesetzlichen Sanktionsnorm überschreitet,<br />

geht das vom 2. Senat neu konkretisierte Gebot<br />

bestimmter Gesetzesauslegung in pragmatischer Anerkennung<br />

der Konkretisierungsaufgabe und Konkretisierungsmacht<br />

der Rechtsprechung darüber hinaus, schränkt also auch<br />

10<br />

Beukelmann, NJW-Spezial 2010, 568 (569); ferner Schulz<br />

(Fn. 3), S. 327 f.; Radtke, GmbHR 2010, 1121.<br />

11<br />

Wessing/Krawczyk, NZG 2010, 1121 (1122).<br />

12<br />

Krüger, NStZ 2011, 369 (370); vgl. auch Kudlich, JA<br />

2011, 66 (69): „darf man […] die Prognose wagen, dass sich<br />

durch diese Entscheidung nicht wirklich etwas an der Beurteilung<br />

von dem Sachverhalt als Untreue oder nicht ändern<br />

wird, sondern dass nur Verurteilungen in ‚schlampigen’ Urteilen<br />

nicht mehr so leicht möglich sind.“<br />

13<br />

Vgl. unten IV. 1.<br />

14<br />

Vgl. unten III. 2.<br />

15<br />

Unten III. 1.<br />

16<br />

Unten IV. 2.<br />

17<br />

Vgl. BVerfG NJW 2010, 3209 (3210 Rn. 69-76). Ebenso<br />

Kuhlen, JR 2011, 246 (248).<br />

18<br />

Vgl. BVerfG NJW 2010, 3209 (3210 Rn. 69, 78). Böse,<br />

Jura 2011, 617 (620 f.) weist darauf hin, dass es mehr als eine<br />

terminologische Frage sei, ob man wie das BVerfG das Analogieverbot<br />

und das Präzisierungsgebot aus dem Bestimmtheitsgebot<br />

ableite oder das Analogieverbot als einschlägige<br />

Gewährleistung ansehe (so z.B. Hassemer/Kargl,<br />

in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen [Hrsg.], Nomos Kommentar,<br />

Strafgesetzbuch, Bd. 1, 3. Aufl. 2010, § 1 Rn. 70 f.).<br />

Auslegungen innerhalb des möglichen Wortsinnes ein. 19 Im<br />

Einzelnen legt der 2. Senat den Strafgerichten folgende Verpflichtungen<br />

bei der Auslegung von Strafgesetzen auf, die<br />

bislang nur teils in Ansätzen und allesamt nicht in dieser<br />

allgemeinen Zuspitzung in der Rechtsprechung zu finden<br />

waren: 20<br />

� „Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen […] auch innerhalb<br />

ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt<br />

werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen<br />

aufgehen, also zwangsläufig mit diesen verwirklicht<br />

werden“ (Verbot der Verschleifung oder Entgrenzung<br />

von Tatbestandsmerkmalen); 21<br />

� „Ist bei methodengerechter Auslegung ein Verhalten nicht<br />

strafbewehrt, obwohl es vom Gesetzeswortlaut erfasst<br />

sein könnte, so haben die Gerichte den Willen des Gesetzgebers<br />

bezüglich der Straflosigkeit des Verhaltens zu<br />

respektieren und erforderlichenfalls durch restriktive Auslegung<br />

eines weiter gefassten Wortlauts sicherzustellen“<br />

(Garantie der Einhaltung des Willens des Gesetzgebers<br />

zur Straflosigkeit eines Verhaltens). 22<br />

19<br />

Dieses Prüfprogramm wird auch als erweitertes Analogieverbot<br />

interpretiert, vgl. Gaede, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller<br />

(Hrsg.), Anwaltkommentar StGB, 2011, § 1 Rn. 28 ff.<br />

m.w.N. Entsprechend deutet z.B. Kuhlen, JR 2011, 246 (248)<br />

die beiden folgenden Maßgaben als Ausprägungen des Analogieverbots<br />

und merkt an (Fn. 35), dass im Beschl. lediglich<br />

offen bleibt, ob auch ein den Bürger begünstigendes Ergebnis<br />

der objektiv-teleologischen Auslegung und damit die methodengerechte<br />

Auslegung insgesamt durch das Analogieverbot<br />

geschützt seien. Weitergehend offenbar Böse, Jura 2011, 617<br />

(621) und Becker, HRRS 2010, 383 (386), die sich m.E.<br />

allerdings zu Unrecht u.a. auf den nicht eindeutigen und<br />

kontextabhängigen ersten Satz in BVerfG NJW 2010, 3209<br />

(3211 Rn. 80) stützen.<br />

20<br />

Zum Folgenden bereits Saliger, NJW 2010, 3195. Zum<br />

Innovationspotential ebenso Kuhlen, JR 2011, 246 (247,<br />

248 ff.).<br />

21<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 79 zu „b)“) unter<br />

Bezug auf BVerfGE 87, 209 (229) zu § 131 Abs. 1 StGB –<br />

erheblich enger – und BVerfG 92, 1 (16 f.) zu § 240 Abs. 1<br />

StGB: „Die Auslegung der Begriffe […] darf nicht dazu<br />

führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit<br />

im Ergebnis wieder aufgehoben wird.“ Kuhlen, JR 2011,<br />

246 (248) spricht insoweit von einer Garantie des systematisch<br />

interpretierten Gesetzes zugunsten des Bürgers. Für<br />

Krüger, NStZ 2011, 369 (372) soll darin nichts verfassungsrechtlich<br />

Neues liegen, weil es sich bereits um ein Gebot der<br />

Methodik handelt.<br />

22<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 80 zu „c)“) unter Rekurs<br />

auf BVerfGE 82, 236 (270 f.); BVerfGE 87, 209 (224);<br />

BVerfGE 87, 399 (411). Dazu, dass diese Maßgabe in der<br />

Judikatur des BVerfG vorgezeichnet gewesen ist, vgl. z.B.<br />

BVerfGE 92, 1 (16 ff.) und BVerfG NJW 2009, 2370 (2372).<br />

Kuhlen, JR 2011, 246 (248) spricht von der Einhaltung des<br />

subjektiv historisch interpretierten Gesetzes zugunsten des<br />

Bürgers.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

903


Frank Saliger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Neben diesen allgemeinen Auslegungsregeln enthält Art. 103<br />

Abs. 2 GG auch Vorgaben für die Handhabung weit gefasster<br />

Tatbestände und Tatbestandselemente. 23<br />

� So dürfen Gerichte nicht durch fern liegende Interpretationen<br />

oder konturenlose Normverständnisse „bestehende<br />

Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm<br />

erhöhen“ (Rechtsunsicherheitsminimierungsgebot oder<br />

besser Rechtsunsicherheitserhöhungsverbot); 24<br />

� Darüber hinaus ist die Rechtsprechung gehalten, „verbleibende<br />

Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer<br />

Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege<br />

der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen“ (Präzisierungsgebot);<br />

25<br />

23<br />

So die Eingrenzung des Anwendungsbereichs der nachfolgenden<br />

Regeln in BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 81 zu<br />

„d)“). Auch für Kuhlen, JR 2011, 246 (248 f.) unterfallen die<br />

folgenden Regeln nicht mehr dem Analogieverbot, sondern<br />

als direkte Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips seinem<br />

Postulat der Auslegungsbestimmtheit (ders., in: Dannecker<br />

[Hrsg.], Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag am<br />

1. April 2007, 2007, S. 89 [S. 103]), das sich mit dem Präzisierungsgebot<br />

des BVerfG decke. Kuhlen, JR 2011, 246 (248<br />

Fn. 37) unterscheidet demnach zwischen dem (erweiterten)<br />

Analogieverbot, das den Strafrichter bindet, soweit die Gesetze<br />

selbst bestimmt sind, und dem gleichrangigen Präzisierungsgebot,<br />

das den Strafrichter bindet, soweit es an der<br />

Gesetzesbestimmtheit fehlt. Diese Systematisierung nötigt<br />

innerhalb des verfassungsrechtlich Zulässigen zu der wenig<br />

glücklichen Abgrenzung zwischen (noch hinreichend) gesetzesbestimmten<br />

und nicht (mehr hinreichend) gesetzesbestimmten<br />

(!) Straftatbeständen, während die eigentliche Prüfung<br />

doch dahin geht, ob ein weit gefasster Straftatbestand<br />

mit Blick auf die konkretisierende Rechtsprechung noch als<br />

hinreichend gesetzesbestimmt gelten kann.<br />

24<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 81) – Begriffe v. Autor;<br />

weit enger BVerfGE 71, 108 (121); BVerfGE 87, 209<br />

(224 ff., 229); tendenziell verallgemeinerbar allenfalls BVerf-<br />

GE 92, 1 (19). Kuhlen, JR 2011, 246 (248 Fn. 37) begreift<br />

das Rechtsunsicherheitsminimierungsgebot als Bestandteil<br />

des Präzisierungsgebots. Daran ist natürlich richtig, dass eine<br />

Auslegung, die bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich<br />

einer Norm erhöht, zugleich das Präzisierungsgebot<br />

verletzt. Andererseits lässt sich das Rechtsunsicherheitsminimierungsgebot<br />

in der Sache präziser als Rechtsunsicherheitserhöhungsverbot<br />

deuten (von einem Verbot redet<br />

auch Böse, Jura 2011, 617 [620]). Insoweit ist ein Verstoß<br />

gegen das Rechtsunsicherheitserhöhungsverbot deutlich leichter<br />

festzustellen als ein Verstoß gegen das Präzisierungsgebot.<br />

Wegen dieser höheren Trennschärfe und Plastizität des<br />

Rechtsunsicherheitserhöhungsverbots (bzw. Rechtsunsicherheitsminimierungsgebots)<br />

sollte es als eigenständige Ausprägung<br />

des Präzisierungsgebots beibehalten werden (i.E. wohl<br />

auch Böse, Jura 2011, 617 [620]).<br />

25<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 81); weit enger<br />

BVerfGE 26, 41 (43); BVerfGE 45, 363 (371 f.).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

904<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

� In Fällen, in denen tatbestandlich nur die Möglichkeit der<br />

Bestrafung erkennbar ist und erst eine gefestigte Rechtsprechung<br />

eine zuverlässige Auslegungsgrundlage<br />

schafft, trifft die Rechtsprechung eine „besondere Verpflichtung,<br />

an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der<br />

Strafbarkeit mitzuwirken. Sie kann sich auch in über die<br />

allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes […] hinausgehenden<br />

Anforderungen an die Ausgestaltung von<br />

Rechtsprechungsänderungen niederschlagen“ (Erhöhung<br />

des Vertrauensschutzes bei Rechtsprechungsänderungen).<br />

26<br />

Mit dieser Verschärfung der Pflichten im Rahmen des Gebots<br />

bestimmter Auslegung der Strafgesetze verbindet das<br />

BVerfG auch eine erhöhte Prüfungstiefe 27 mit folgenden<br />

Elementen:<br />

� Das Bundesverfassungsgericht ist bei der verfassungsrechtlichen<br />

Überprüfung, ob die Strafgerichte den vorstehenden<br />

Vorgaben aus dem Bestimmtheitsgrundsatz gerecht<br />

geworden sind, nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle<br />

beschränkt; 28<br />

� Stützen die Gerichte ihre Auslegung der Strafnorm auf<br />

ein gefestigtes Verständnis eines Tatbestandsmerkmals,<br />

so „prüft das Bundesverfassungsgericht das Bestehen eines<br />

solchen gefestigten Verständnisses in vollem Umfang<br />

nach“; 29<br />

� „Entsprechendes gilt, wenn die Strafbarkeit nach einer<br />

weit gefassten Norm mittels gefestigter komplexerer<br />

Obersätze eingegrenzt wird wie z.B. bei der Bildung von<br />

Fallgruppen. Das Bundesverfassungsgericht prüft insoweit,<br />

ob die Gerichte bei Anwendung und Auslegung der<br />

Strafnorm bei den bislang entwickelten, die Norm konkretisierenden<br />

Obersätzen geblieben sind, gegebenenfalls<br />

ob sie diese im Rahmen der Strafnorm folgerichtig weiterentwickelt<br />

und ob sie sie der Würdigung des konkreten<br />

Falls zugrunde gelegt haben.“ 30<br />

26<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 f. Rn. 81). Auf die Debatte<br />

zur Erstreckung des Rückwirkungsverbots auf belastende<br />

Rechtsprechungsänderungen (vgl. Dannecker, in: Laufhütte/<br />

Rissing-van Saan/Tiedemann [Hrsg.], Strafgesetzbuch, Leipziger<br />

Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 432 ff.;<br />

dafür z.B. Hassemer/Kargl [Fn. 18], § 1 Rn. 51 und Neumann,<br />

ZStW 103 [1991], 331) geht das BVerfG leider nicht<br />

ein. Näher zum Ganzen Schulz (Fn. 3), S. 315 ff., der u.a. auf<br />

einen möglichen Bedeutungszuwachs von obiter dicta hinweist.<br />

Zum Zusammenhang zwischen der Erhöhung des Vertrauensschutzes<br />

bei Rechtsprechungsänderungen und der<br />

Erhöhung der Kontrolldichte zutreffend Kuhlen, JR 2011,<br />

246 (249 f.) und unten Fn. 30.<br />

27<br />

Von Prüfungsintensität spricht Kuhlen, JR 2011, 246 (249).<br />

28<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3212 Rn. 82).<br />

29<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3212 Rn. 83).<br />

30<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3212 Rn. 83) – alle Hervorhebungen<br />

v. Autor. Kuhlen, JR 2011, 246 (249 f.) unterscheidet<br />

insoweit zwischen einer formellen (u.a. Prüfung der Übereinstimmung<br />

der beanstandeten Auslegung mit einer gefestigten


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 auf die Schadensdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Auch die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Überprüfung<br />

der fachgerichtlichen Auslegung werden weiter als früher<br />

gezogen. Das BVerfG formuliert zwei Grenzen:<br />

� Erstens unterzieht das BVerfG ein – gegebenenfalls in<br />

höchstrichterlichen Obersätzen – gefestigtes Normverständnis<br />

einer inhaltlichen Kontrolle nur insoweit, als es<br />

„nicht evident ungeeignet zur Konturierung der Norm<br />

sein darf“; 31<br />

� Zweitens werden „hinsichtlich der Anwendung der gegebenenfalls<br />

durch Obersätze konturierten und präzisierten<br />

Strafnorm […] grundsätzlich keine Fragen des Verfassungsrechts<br />

aufgeworfen.“ 32<br />

In den Fokus der Kontrolldichte gerät damit vor allem die<br />

Abgrenzung der nunmehr eröffneten verfassungsgerichtlichen<br />

Obersatzkontrolle von der dem Verfassungsrecht entzogenen<br />

Obersatzanwendung nach der Maßgabe, ob das Risiko<br />

strafgerichtlicher Verfolgung aus Sicht des Bürgers noch<br />

erkennbar ist. 33 Auch wenn der 2. Senat sich beeilt zu betonen,<br />

dass sein Kontrollprogramm die Verantwortung des<br />

BGH für die Auslegung und Anwendung des Strafrechts<br />

unberührt lässt, 34 um dem Vorwurf zu entgehen, das BVerfG<br />

spreize sich zur Superrevisionsinstanz auf, so ist doch nicht<br />

zu verkennen, dass sein Beschl. die Tür zu einer intensiveren<br />

Kontrolle der Strafrechtsprechung zumindest den Worten<br />

nach weit aufstößt.<br />

2. Auslegung der Untreue im Allgemeinen<br />

Gleichfalls bemerkenswert, wenn auch insgesamt weniger<br />

spektakulär, sind die Maßgaben, die der 2. Senat aus dem<br />

Rechtsprechung) und einer inhaltlichen (Prüfung der evidenten<br />

Ungeeignetheit der Rechtsprechung zur Konturierung der<br />

Norm) Kontrolle der Rechtsprechung durch das BVerfG.<br />

Diese Unterscheidung wirft u.a. die Frage auf, ob die Prüfung<br />

der „folgerichtigen Weiterentwicklung“ der bisherigen Obersätze<br />

„im Rahmen der Strafnorm“ noch eine „formelle“ Prüfung<br />

darstellt. Nur von einer inhaltlichen Kontrolle redet auch<br />

Böse, Jura 2011, 617 (621). Davon abgesehen leitet Kuhlen,<br />

JR 2011, 246 (250) aus diesem Prüfungsprogramm zutreffend<br />

die Maßgabe ab, dass die Strafgerichte künftig von einer<br />

gefestigten Rechtsprechung ohne Sorge für einen angemessenen<br />

Vertrauensschutz nicht zu Lasten des Bürgers abweichen<br />

dürfen.<br />

31 BVerfG NJW 2010, 3209 (3212 Rn. 84). Diese Aussage<br />

unter dem Aspekt der Beschränkung der inhaltlichen Kontrolle<br />

des BVerfG thematisiert auch Böse, Jura 2011, 617 (621).<br />

32 BVerfG NJW 2010, 3209 (3212 Rn. 84).<br />

33 BVerfG NJW 2009, 2370 (2373); BVerfG NJW 2010,<br />

3209 (3211 Rn. 76). Becker, HRRS 2010, 383 (387) fordert,<br />

dass für den Bürger zumindest im Ansatz erkennbar sein<br />

muss, ob seine Verfassungsbeschwerde gegen ein Strafurteil<br />

Aussicht auf Erfolg hat oder nicht. Er beschränkt die Kontrolle<br />

des BVerfG daher auf „erkennbar unvertretbare (willkürliche)<br />

Auslegungsergebnisse.“<br />

34 BVerfG NJW 2010, 3209 (3212 Rn. 84).<br />

Bestimmtheitsgrundsatz für die restriktive Auslegung des<br />

Untreuetatbestands im Allgemeinen ableitet.<br />

Auf vertrauten Wegen bewegt sich das BVerfG zunächst<br />

bei der Bestimmung von Rechtsgut und Funktion des § 266<br />

StGB. Auf Basis eines grundsätzlich wirtschaftlichen Vermögensbegriffs,<br />

der normative Schranken nicht ausschließt, 35<br />

begreift es die Untreue mit der h.M. als reines Vermögenserfolgsdelikt<br />

mit der Funktion, das Vermögen des Treugebers<br />

vor Schädigungen von innen heraus zu schützen. 36 Konventionell<br />

sind auch die Ausführungen zur Vermögensbetreuungspflicht.<br />

In Übereinstimmung mit der h.M. versteht der 2. Senat<br />

die Vermögensbetreuungspflicht nicht nur als inhaltsgleiche<br />

Voraussetzung für Missbrauchs- und Treubruchsuntreue,<br />

sondern bestimmt sie primär danach, ob die fremdnützige<br />

Vermögensfürsorge den Hauptgegenstand der Rechtsbeziehung<br />

zum Treugeber bildet und ob dem Treunehmer die<br />

Möglichkeit zu eigenverantwortlicher Entscheidung innerhalb<br />

eines gewissen Ermessenspielraums verbleibt. 37<br />

Innovativer sind die verfassungsrechtlichen Auslegungsziele,<br />

die der 2. Senat für die Pflichtverletzung als komplexes<br />

normatives Tatbestandsmerkmal 38 und den Vermögensnachteil<br />

als Erfolg der Untreue aufstellt. Danach ist die Anwendung<br />

des Merkmals der Pflichtwidrigkeit auf „klare und deutliche<br />

(evidente) Fälle“ zu beschränken, sind „Wertungswider-<br />

35<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3212 Rn. 86) unter Bezugnahme<br />

u.a. auf BGHSt 43, 293 (297) und Fischer, Strafgesetzbuch<br />

und Nebengesetze, Kommentar, 58. Aufl. 2011, § 266 Rn. 2:<br />

„§ 266 StGB schützt das Vermögen im Sinne der Gesamtheit<br />

der geldwerten Güter einer Person“; BVerfG NJW 2009,<br />

2370 (2371 Rn. 24) unter Bezug u.a. auf BGH NJW 1975,<br />

1234 (1235): „Zum Vermögen gehört dabei nach der hierfür<br />

maßgeblichen wirtschaftlichen Betrachtungsweise alles, was<br />

in Geldwert messbar ist.“ Zu Unrecht a.A. Krüger, NStZ<br />

2011, 369 (374), der dem BVerfG einen ökonomisch-juristischen<br />

Vermögensbegriff unterstellt und sich dabei auf eine<br />

Passage zu Saldierungsproblemen bezieht (vgl. BVerfG NJW<br />

2010, 3209 [3214 Rn. 103]).<br />

36<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3212 Rn. 86 ff.) unter Rekurs<br />

auf Schünemann, NStZ 2005, 473 (474).<br />

37<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3214 f. Rn. 109) unter Bezug<br />

u.a. auf BGHSt 24, 386 (387 f.) bzw. BGHSt 1, 186 (188 f.),<br />

BGHSt 13, 315 (317) und Dierlamm, in: Joecks/Miebach<br />

(Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5,<br />

2. Aufl. 2011, § 266 Rn. 44. Zu den abweichenden Ansichten<br />

zum Verhältnis von Missbrauch- und Treubruchtatbestand s.<br />

Saliger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />

Kommentar, 2009, § 266 Rn. 6 m.w.N.<br />

38<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3213 Rn. 97) in Übereinstimmung<br />

mit der h.M. unter Bezugnahme u.a. auf Kubiciel,<br />

NStZ 2005, 353 (357 f.); Rönnau, ZStW 120 (2007), 887<br />

(903 f.) und BVerfGE 78, 205 (213) sowie unter ausdrücklicher<br />

Ablehnung der Blankettthese. Konsequenz daraus ist,<br />

dass die zur Ausfüllung des strafrechtlichen Pflichtwidrigkeitsmerkmals<br />

herangezogen außerstrafrechtlichen Pflichten<br />

des Zivil- und öffentlichen Rechts nicht am verfassungsrechtlichen<br />

Bestimmtheitsgebot zu messen sind. Dazu näher Böse,<br />

Jura 2011, 617 (621 f.).<br />

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905


Frank Saliger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sprüche zur Ausgestaltung spezifischer Sanktionsregelungen<br />

zu vermeiden“ und ist der „Charakter des Untreuetatbestands<br />

als eines Vermögensdelikts“ zu bewahren. 39<br />

Dabei spricht der 2. Senat dem strittigen Kriterium der<br />

gravierenden Pflichtverletzung ausdrücklich tatbestandseingrenzende<br />

Funktion zu. 40 Der Einwand, dass sich dieses Erfordernis<br />

dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen lässt, überzeuge<br />

angesichts der Notwendigkeit einer Restriktion des<br />

sehr weiten Wortlauts nicht. 41 Dem wird man jedenfalls insoweit<br />

zustimmen können, als der 2. Senat zutreffend betont,<br />

dass eine Pflichtverletzung nur im Fall ihrer Evidenz gravierend<br />

ist. 42 Damit ist die Position des 2. Senats anschlussfähig<br />

an die schon bisher vielfach vertretene Lehre, wonach eine<br />

Pflichtverletzung gravierend ist, wenn sie auf Basis einer<br />

Gesamtwürdigung der Umstände evident unvertretbar und/<br />

oder willkürlich ist, weil sie auch unter Berücksichtigung des<br />

unternehmerischen Handlungsspielraums nicht mehr als eine<br />

ex-ante im materiellen Unternehmensinteresse liegende Entscheidung<br />

gedacht werden kann. 43<br />

Die sicherlich bedeutsamsten Auslegungsziele gibt das<br />

BVerfG für die Handhabung des Vermögensnachteils vor.<br />

� So muss die Auslegung des Nachteilsmerkmals „den<br />

gesetzgeberischen Willen beachten, dieses Merkmal als<br />

selbständiges neben der Pflichtverletzung zu statuieren“,<br />

und deshalb verhindern, dass das Nachteilsmerkmal sich<br />

mit dem Pflichtwidrigkeitsmerkmal dahin verschleift,<br />

dass es in ihm aufgeht (untreuespezifisches Verschleifungsverbot);<br />

44<br />

� Zur Wahrung dieses Verschleifungsverbots und des Vollendungserfordernisses<br />

der Untreue sind deshalb „eigenständige<br />

Feststellungen zum Vorliegen eines Nachteils<br />

geboten.“ 45 Das bedeutet, dass mit Ausnahme einfach gelagerter<br />

und eindeutiger Fälle – etwa bei einem ohne weiteres<br />

greifbaren Mindestschaden – die Strafgerichte den<br />

Vermögensnachteil, wenn und soweit in der wirtschaftlichen<br />

Praxis Bewertungsmethoden existieren, der Höhe<br />

nach beziffern – ggf. unter Heranziehung von Sachverständigen<br />

– und seine Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer<br />

Weise darlegen müssen. 46<br />

� Bei Unsicherheiten ist der (Mindest-)Schaden zu schätzen,<br />

im Zweifel muss freigesprochen werden 47 .<br />

39 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 111).<br />

40 Vgl. dazu auch Radtke, GmbHR 2010, 1121 (1127).<br />

41 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 112) gegen Schünemann,<br />

NStZ 2005, 473 (475).<br />

42 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 112). Krit. Böse, Jura<br />

2011, 617 (622).<br />

43 Saliger (Fn. 37), § 266 Rn. 40 ff., 42 m.w.N. auch zu den<br />

abweichenden Ansichten.<br />

44 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 113).<br />

45 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 113) – Hervorhebung<br />

v. Autor.<br />

46 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 113 f.).<br />

47 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 114 und 3220<br />

Rn. 151).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

906<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

Dabei hebt der 2. Senat mit Fug hervor, dass normative Gesichtspunkte<br />

bei der Nachteilsfeststellung zwar eine Rolle<br />

spielen können, dass sie aber die wirtschaftliche Überlegungen<br />

nicht verdrängen dürfen, soll der Charakter der Untreue<br />

als erfolgsbezogenes Vermögensdelikt bewahrt bleiben. 48<br />

Diese wichtige Erkenntnis des BVerfG darf in den zahllosen<br />

analytischen Passagen des Beschlusses nicht aus den Augen<br />

geraten. Das gilt etwa für die Passage, in der der Senat die<br />

Saldierungsproblematik bei § 266 StGB beschreibt:<br />

„Konkretisierungsbedarf kann sich auch aus der Tatsache<br />

ergeben, dass es sich beim Vermögen als Rechtsgut und Bezugspunkt<br />

des anzustellenden Vergleichs nicht um einen der<br />

sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar zugänglichen Gegenstand<br />

handelt, sondern um eine wirtschaftliche Größe, deren<br />

Umfang zu einem bestimmten Zeitpunkt sich erst aus einer<br />

Bewertung ergibt. In deren Rahmen bedarf es der Entscheidung,<br />

welche Vermögenspositionen in die Wertbestimmung<br />

einfließen und wie deren Wert zu ermitteln ist. Hierbei können<br />

normative Überlegungen eine Rolle spielen, die unter<br />

Umständen die Eigenständigkeit des Nachteilsmerkmals<br />

gegenüber dem Pflichtwidrigkeitsmerkmal in Frage stellen<br />

und eine Konturierung des Nachteilsbegriffs zusätzlich erschweren.<br />

Das zeigt sich beispielsweise bei den Fragen, in<br />

welchem Umfang vom Treupflichtigen verursachte Wertzuwächse<br />

eingetretene Verluste kompensieren können […] und<br />

unter welchen Umständen Ausgleichsansprüche gegen den<br />

Täter ausnahmsweise schadensmindernd zu berücksichtigen<br />

sind.“ 49<br />

Die dargelegten Auslegungsgrundsätze gelten auch für<br />

die Feststellung der schadensbegründenden Vermögensgefahr,<br />

die das BVerfG als eigenständige Schadenskategorie<br />

grundsätzlich anerkennt. 50 Besonders zu beachten ist, dass<br />

der 2. Senat dem namentlich von Hefendehl entwickelten und<br />

zuletzt auch v. 1. Strafsenat des BGH 51 favorisierten bilanzrechtsorientierten<br />

Ansatz für die Anwendung der schadensbegründenden<br />

Vermögensgefahr am Beispiel der Kredituntreue<br />

fruchtbar macht. 52 Danach sind bei Vermögensgegenständen<br />

des Umlaufvermögens gem. § 253 Abs. 4 HGB Abschreibungen<br />

vorzunehmen, um diese mit einem niedrigeren<br />

Wert anzusetzen, der sich aus einem Börsen- oder Marktpreis<br />

am Abschlussstichtag ergibt. Ist ein Börsen- oder Marktpreis<br />

nicht festzustellen und übersteigen die Anschaffungs- oder<br />

Herstellungskosten den Wert, der den Vermögensgegenständen<br />

am Abschlussstichtag beizulegen ist, so ist auf diesen<br />

Wert abzuschreiben. Dieser niedrigere beizulegende Wert<br />

48<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 115). Zum Normativierungsproblem<br />

Saliger, in: Joecks/Ostendorf/Rönnau/Rotsch/<br />

Schmitz (Hrsg.), Recht – Wirtschaft – Strafe, Festschrift für<br />

Erich Samson, 2010, S. 455.<br />

49<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3214 Rn. 103).<br />

50<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3218 Rn. 136 ff.); BVerfG NJW<br />

2009, 2370 (2372 f. Rn. 30 ff.).<br />

51<br />

Vgl. BGHSt 53, 199 (203); BGH NStZ 2008, 457.<br />

52<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3219 ff. Rn. 141 ff.) unter Bezugnahme<br />

auf Hefendehl, Vermögensgefährdung und Exspektanzen,<br />

1994, S. 169 ff., 448, 454 f.


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 auf die Schadensdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

i.S.d. § 253 Abs. 4 HGB wird durch die geschätzte Höhe des<br />

mit Wahrscheinlichkeit zufließenden Betrages bestimmt. 53<br />

Ist also „auf Grund fehlender Bonität des Schuldners und<br />

fehlender Sicherheiten konkret erkennbar, dass mit einem<br />

teilweisen oder vollständigen Forderungsausfall zu rechnen<br />

ist, muss folglich eine Einzelwertberichtigung gebildet oder<br />

sogar eine Direktabschreibung vorgenommen werden […], so<br />

dass das Vermögen der Bank bei der gebotenen wirtschaftlichen<br />

Betrachtung bereits durch den Vertragsschluss (die<br />

verbindliche Kreditzusage) wegen Minderwertigkeit des Gegenleistungsanspruchs<br />

negativ verändert wird.“ 54<br />

Die Erbringlichkeit der Forderung am Bilanzstichtag (das<br />

Ausfallrisiko) soll sich ermitteln „nach dem Barwert der<br />

voraussichtlich erzielbaren künftigen Zins- und Tilgungszahlungen“<br />

unter Berücksichtigung der Bonität des Kreditnehmers,<br />

der Rendite des Kredits, verwertbarer Sicherheiten und<br />

etwaiger Rückgriffsmöglichkeiten sowie „aller Umstände, die<br />

den Forderungseingang zweifelhaft erscheinen lassen.“ 55<br />

Der 2. Senat rechtfertigt seinen Rückgriff auf die bilanzrechtlichen<br />

Bewertungsgrundsätze mit dem Hinweis, dass die<br />

bisherige Rechtsprechung „in den Fällen des Gefährdungsschadens<br />

eine konkrete Feststellung der Schadenshöhe nach<br />

anerkannten Bewertungsmaßstäben nicht durchweg für erforderlich“<br />

gehalten habe, was durchgreifenden verfassungsrechtlichen<br />

Bedenken ausgesetzt sei. 56 Dieser Hinweis ist<br />

zutreffend. Doch stellt sich die Frage, ob die bisherige, auch<br />

normativierende Praxis nicht schlicht dem Umstand Rechnung<br />

getragen hat, dass in zahlreichen Konstellationen einer<br />

schadensbegründenden Vermögensgefahr jenseits der Kredituntreue<br />

Bewertungsgrundsätze weitgehend fehlen. Insoweit<br />

wird auch der bilanzrechtsorientierte Ansatz zeigen müssen,<br />

wie er den Vermögensnachteil etwa bei der unordentlichen<br />

Buchführung, der falschen Behandlung von Mandantengeldern<br />

oder der Auslösung von Schadensersatzansprüchen und<br />

Sanktionen 57 auf seiner Grundlage künftig nachvollziehbarer<br />

bestimmt 58 – abgesehen von der weiteren, vielfach vorgetragenen<br />

Kritik am bilanzrechtsorientierten Ansatz (z.B. bloßer<br />

„Austausch“ von Unsicherheit angesichts der Vielzahl der<br />

Bewertungsmethoden und Spielräume im Bilanzrecht; andere<br />

Funktion der bilanzrechtlichen Grundsätze unter Hinweis vor<br />

allem auf das Vorsichtsprinzip gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 4<br />

HGB 59 ). 60<br />

53<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3219 Rn. 141).<br />

54<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3219 Rn. 143).<br />

55<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3220 Rn. 146).<br />

56<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3220 Rn. 147 ff.).<br />

57<br />

Bisher anerkannte Fallgruppen einer schadensbegründenden<br />

Vermögensgefahr bei der Untreue; vgl. statt aller Saliger<br />

(Fn. 37), § 266 Rn. 73 ff.<br />

58<br />

Krit. Fischer (Fn. 35), § 266 Rn. 162 ff.; Becker, HRRS<br />

2010, 383 (390 ff.).<br />

59<br />

Vgl. dazu problemsensibel BVerfG NJW 2010, 3209 (3216<br />

Rn. 123), wo der 2. Senat offenbar von einer Nichtanwendung<br />

des Vorsichtsprinzips bei der Schadensbestimmung<br />

ausgeht.<br />

60<br />

Krit. zum bilanzrechtsorientierten Ansatz Kempf, in: Hassemer<br />

(Hrsg.), In dubio pro libertate, Festschrift für Klaus<br />

Mit der verfassungsrechtlichen „Weihe“ steht der bilanzrechtsorientierte<br />

Ansatz andererseits auf der Tagesordnung<br />

der Praxis. Die Zustimmung zu ihm wächst. 61 Das wird Umgehungsstrategien<br />

auf den Plan rufen, um ohne Rückgriff auf<br />

Sachverständige für die Ermittlung der Forderungsberichtigung<br />

zu gewünschten Ergebnissen zu gelangen 62 : sei es, dass<br />

Fallgruppen der schadensbegründenden Vermögensgefahr<br />

kurzerhand zu „Endschäden“ hochgestuft werden; 63 sei es,<br />

dass die Gesamtsaldierung verkürzt wird; 64 sei es, dass vermehrt<br />

geschätzt wird; oder sei es, dass vermehrt „gedealt“<br />

wird mit den bekannten Konsequenzen (§ 153a StPO). 65 Ob<br />

darin in jeder Hinsicht ein Rechtsfortschritt erblickt werden<br />

kann, darf bezweifelt werden.<br />

3. Einzelne Fallgruppen<br />

Anders als das verfassungsrechtliche Prüfungsprogramm<br />

überzeugt seine Anwendung auf die mit der Verfassungsbeschwerde<br />

angegriffenen Urteile nur teilweise. 66 Kritik provoziert<br />

vor allem die Bestätigung des Siemens-Urteils durch<br />

den 2. Senat. 67 Die Kritik nährt sich daraus, dass gerade der<br />

Schwarze-Kassen-Rechtsprechung des 2. BGH-Strafsenats<br />

wegen ihrer Verwendungszweckunabhängigkeit eine Ver-<br />

Volk zum 65. Geburtstag, 2009, S. 240; Fischer, NStZ-<br />

Sonderheft 2009, 14 f.; ders. (Fn. 35), § 263 Rn. 184 ff. und<br />

§ 266 Rn. 162 ff.; Rübenstahl, NJW 2009, 2390 (2392);<br />

Schlösser, NStZ 2009, 665 f.; Schmitt, in: Habersack (Hrsg.),<br />

Entwicklungslinien im Bank- und Kapitalmarktrecht, Festschrift<br />

für Gerd Nobbe, 2009, S. 1023 f.; Saliger (Fn. 48),<br />

S. 474; vgl. auch Brüning, ZJS 2009, 300 (303). Diff. Becker,<br />

HRRS 2009, 337. Zurückhaltung empfehlen Ransiek/Reichling,<br />

<strong>ZIS</strong> 2009, 315 (317). Zust. Schäfer, JR 2009, 289; Wattenberg/Gehrmann,<br />

Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft<br />

2010, 507 (512 ff.); auch Schünemann, StraFo 2010,<br />

477 (479 ff.).<br />

61<br />

Vgl. etwa Wattenberg/Gehrmann, Zeitschrift für Bankrecht<br />

und Bankwirtschaft 2010, 507 (512 ff.); Böse, JR 2011, 617<br />

(622 f.); auch Schünemann, StraFo 2010, 477 (479 ff.). Nach<br />

wie vor krit. aber Becker, HRRS 2010, 383 (390 ff.); Wessing/Krawczyk,<br />

NZG 2010, 1121 (1124).<br />

62<br />

Vgl. auch Fischer (Fn. 35), § 266 Rn. 163: „Eine regelmäßige<br />

Einholung von Bewertungs-Gutachten ist praktisch nicht<br />

realisierbar.“<br />

63<br />

So geschehen bereits vor dem Beschl. des BVerfG hinsichtlich<br />

der schwarzen Kassen; vgl. BGHSt 52, 323 (insb.<br />

336 f.) – Siemens; vgl. auch unten III. 1. b).<br />

64<br />

Dazu unten III. 3.<br />

65<br />

Zu dieser möglichen Auswirkung Wessing/Krawczyk, NZG<br />

2010, 1121 (1124); Krüger, NStZ 2011, 369 (370, 373).<br />

66<br />

Vgl. zum Folgenden bereits Saliger, NJW 2010, 3195<br />

(3197 f.).<br />

67<br />

Krit. ebenso Becker, HRRS 2010, 383 (388 f.); Schünemann,<br />

StraFo 2010, 477 (481 f.). Zust. dagegen Radtke,<br />

GmbHR 2010, 1121 (1127) und wohl auch Krüger, NStZ<br />

2011, 369 (375). Auch Kuhlen, JR 2011, 246 (251 f.) gelangt<br />

zu dem Ergebnis, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde<br />

im Fall Siemens im Einklang mit seinem Prüfungsprogramm<br />

verworfen habe.<br />

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907


Frank Saliger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

schleifung von Tathandlung und Taterfolg mit unzulässiger<br />

Normativierung des Nachteilsmerkmals vorgeworfen wird. 68<br />

Das Bundesverfassungsgericht sieht das Verschleifungsverbot<br />

insoweit als gewahrt an, als die Endgültigkeit des Mittelentzugs<br />

zu einer aktiven Vereitelung von konkreten vermögenswerten<br />

Exspektanzen geführt habe. 69 Das ist methodisch<br />

bereits deshalb erstaunlich, weil der 2. Senat im Rahmen<br />

verfassungsgerichtlicher Obersatzkontrolle auf eine Begründung<br />

Bezug nimmt, die in diesem Kontext, soweit ersichtlich,<br />

erstmals vom Generalbundesanwalt vorgetragen wurde 70 und<br />

nicht gefestigter Rechtsprechung entspricht. Auch in der<br />

Sache ist kaum erfindlich, wie ein wirtschaftlich noch dem<br />

Treugeber zuzuordnendes Vermögen, das jahrelang im Interesse<br />

des Treugebers verwendet wird, sich in der schwarzen<br />

Kasse zu einer vermögenswerten Exspektanz verwandelt. Die<br />

verfassungsgerichtliche Bestätigung der Verurteilung im Fall<br />

Siemens ist faktisch präjudizierend gewesen für die Verurteilung<br />

im Fall Trienekens. 71<br />

Die Verfassungsbeschwerde im Berliner Bankenskandal-<br />

Fall erachtet der 2. Senat dagegen als einzige für begründet.<br />

Bei der Prüfung der Pflichtwidrigkeit, deren Annahme nicht<br />

beanstandet wird, bewegt sich das BVerfG auf dem Boden<br />

der – als ausreichend konkretisierend eingeschätzten – Strafrechtsprechung<br />

zur Kredituntreue. Beachtlich ist hier, dass<br />

auch der 2. Senat auf § 93 AktG Bezug nimmt, dass er § 18<br />

KWG einen zumindest faktischen Schutz des Vermögens der<br />

Kreditbank zuspricht und dass er auf die für die Anwendung<br />

der rechtlichen Standards nötigen Fachkenntnisse des betroffenen<br />

Personenkreises hinweist. 72 Beim Nachteilsmerkmal<br />

billigt der 2. Senat die Anknüpfung an die grundsätzlich<br />

für legitim erachtete (strittige) schadensgleiche Vermögensgefahr,<br />

beanstandet aber die Anwendung im konkreten Fall. 73<br />

Daran ist bemerkenswert, dass das BVerfG mit der Einordnung<br />

der Kredituntreue unter die schadensgleiche Vermögensgefahr<br />

der neueren Judikatur insbesondere des 1. BGH-<br />

Strafsenats (indirekt) eine Absage erteilt, die unter deutlicher<br />

Kritik an der Vermögensgefahr in Fällen treuwidriger „Risikogeschäfte“<br />

zuletzt einen endgültigen Vermögensnachteil<br />

bejaht hat. 74 Letztlich sei den Strafgerichten im Berliner Fall<br />

eine „handgreifliche“ Verschleifung von Pflichtwidrigkeit<br />

und Vermögensnachteil unterlaufen, weil sie den Vermögensnachteil<br />

nicht hinreichend konkret ermittelt hätten, ins-<br />

68<br />

Saliger, NStZ 2007, 545 (547 f.); Schünemann, StraFo<br />

2010, 1 (9).<br />

69<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3216 f. Rn. 118 ff., 124). Zust.<br />

Kuhlen, JR 2011, 246 (252).<br />

70<br />

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08,<br />

Rn. 58 (in NJW 2010, 3209 nicht abgedruckt); so nun auch<br />

Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar,<br />

28. Aufl. 2010, § 266 Rn. 45c.<br />

71<br />

Dazu III. 2.<br />

72<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3217 f. Rn. 130, 133 u. 134).<br />

73<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3218 ff. Rn. 136, 152 ff.; zur<br />

Legitimität Rn. 137 ff.).<br />

74<br />

BGH NStZ 2008, 457; BGHSt 53, 199 (202 f.); dazu krit.<br />

Saliger (Fn. 48), S. 465 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

908<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

besondere von einer völligen Wertlosigkeit der Darlehensrückzahlungsforderung<br />

ausgegangen seien. 75<br />

III. Umsetzung des BVerfG-Beschl. in der Untreuerechtsprechung<br />

der BGH-Senate<br />

1. Explizite Umsetzung (1): „Einschränkung“ von Pflichtverletzung<br />

und Vermögensnachteil<br />

Von allen Strafsenaten des BGH hat der 1. Strafsenat bisher<br />

die größten dogmatischen Anstrengungen unternommen, das<br />

vom BVerfG aufgegebene strafgerichtliche Konkretisierungsprogramm<br />

aus dem Bestimmtheitsgrundsatz bei der Auslegung<br />

des Untreuetatbestands umzusetzen. Zwei Entscheidungen<br />

sind hier zu erwähnen: Der AUB-Beschluss v. 13.9.2010<br />

und der Beschluss zur Kölner Parteispendenaffäre v. 13.4.<br />

2011.<br />

a) AUB-Beschluss des 1. Senats v. 13.9.2010<br />

In dem Fall (Sachverhalt vereinfacht 76 ) ging es um die Beeinflussung<br />

von Betriebsratswahlen und die verschleierte finanzielle<br />

Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft unabhängiger<br />

Betriebsangehöriger (AUB) durch Verantwortliche der Siemens<br />

AG. Der Angeklagte hatte zu Beginn der 1990er Jahre<br />

mit einzelnen Mitgliedern des Vorstandes und weiteren Führungskräften<br />

der Siemens AG vereinbart, die AUB, deren<br />

Vorsitzender er war, durch verschleierte finanzielle Zuwendungen<br />

der Siemens AG zu finanzieren und zu fördern. Ziel<br />

war es, die AUB als Gegengewicht zur IG Metall aufzubauen<br />

und dadurch bei betrieblichen Fragen in Betriebsräten und<br />

Aufsichtsräten mehr Pluralität herzustellen. Durch die Wahl<br />

von AUB-Kandidaten in die Betriebsräte der Siemens AG<br />

sollten Mehrheitsverhältnisse geschaffen werden, die aus<br />

Arbeitgebersicht günstige Betriebsvereinbarungen ermöglichten.<br />

Die vereinbarte Förderung der AUB erfolgte bis 2006<br />

durch verdeckte Zahlungen in zweistelliger Millionenhöhe,<br />

die über verschiedene Konstruktionen wie fingierte Beratungs-<br />

und Schulungsverträge sowie zuletzt Zahlungen an<br />

eine vom Angeklagten gegründete Firma für Unternehmensberatung<br />

und Mitarbeiterschulung geleistet wurden. Spätestens<br />

ab 1996 fand eine Kontrolle der Mittelverwendung durch<br />

den Angeklagten – abgesehen von einzelnen Plausibilitätskontrollen<br />

– seitens der Siemens AG nicht mehr statt.<br />

Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen Beihilfe zur<br />

Untreue verurteilt. Diese Verurteilung hat der 1. Strafsenat<br />

des BGH mit einer bemerkenswerten Begründung aufgehoben<br />

und gem. § 154a Abs. 2 StPO eingestellt. Nach Auffassung<br />

des 1. Strafsenats hat der vermögensbetreuungspflichtige<br />

Haupttäter entgegen dem LG eine untreuetaugliche<br />

Pflichtverletzung nicht schon deshalb begangen, weil er mit<br />

den Zahlungen an den Angeklagten gegen die Strafvorschrift<br />

des § 119 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG verstoßen hat. Denn diese<br />

Norm stellt keine das zu betreuende Vermögen (hier der<br />

Siemens AG) schützende Vorschrift dar. Schutzzweck dieser<br />

Strafnorm ist vielmehr ausschließlich die Integrität der Wahl<br />

75<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3221 Rn. 153, 155, 158). Krit.<br />

Leplow, wistra 2010, 475.<br />

76<br />

Vgl. BGH NJW 2011, 88 m. zust. Anm. Bittmann.


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 auf die Schadensdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

des Betriebsrats, insbesondere die Freiheit der Willensbetätigung<br />

der Wahlbeteiligten. 77 Unter expliziter Anknüpfung an<br />

die Einschränkungsgrundsätze des BVerfG 78 erklärt der<br />

1. Strafsenat:<br />

„Eine Normverletzung – hier eine Straftat i.S.d. § 119 I<br />

Nr. 1 BetrVG – ist deshalb in der Regel nur dann pflichtwidrig<br />

i.S. von § 266 StGB, wenn die (unmittelbar 79 ) verletzte<br />

Rechtsnorm ihrerseits – wenigstens auch, und sei es mittelbar<br />

– vermögensschützenden Charakter hat, mag die Handlung<br />

auch nach anderen Normen pflichtwidrig sein und unter Umständen<br />

sogar Schadensersatzansprüche gegenüber dem<br />

Treupflichtigen auslösen. Nur dann […] liegt der untreuespezifische<br />

Zusammenhang zwischen Pflichtverletzung und<br />

geschütztem Rechtsgut i.S.v. § 266 I StGB vor.“ 80<br />

Das gilt auch, soweit für die Pflichtverletzung auf die<br />

Maßgabe nach den §§ 76, 93, 116 AktG abgestellt wird.<br />

Denn eine primär nicht einmal mittelbar vermögensschützende<br />

Rechtsnorm wird nicht dadurch vermögensschützend, dass<br />

ihre Verletzung zugleich eine Verletzung aktienrechtlicher<br />

Vorschriften darstellt. Andernfalls würde man dem Untreuetatbestand<br />

jegliche Kontur nehmen, weil letztlich jeder Gesetzesverstoß<br />

wie z.B. die Beauftragung einer Werbeagentur<br />

mit einer i.S.v. § 3 UWG unlauteren Werbung zur untreuetauglichen<br />

Pflichtverletzung würde und bei Vorliegen eines<br />

Vermögensnachteils strafbare Untreue wäre. 81<br />

Soweit der 1. Strafsenat eine Pflichtverletzung darin erblickt,<br />

dass der Haupttäter die Zahlungen ohne ausreichende<br />

inhaltliche Kontrolle veranlasste, verneint er eine Untreuestrafbarkeit<br />

mangels Vorliegens eines Vermögensnachteils.<br />

Unter erneuter Anknüpfung an die Auslegungsziele des<br />

BVerfG 82 stellt er zur Unmittelbarkeit der Vorteilsseite bei<br />

der Schadenskompensation richtig:<br />

„Das LG hat dabei nicht hinreichend bedacht, dass ein<br />

unmittelbarer, den Vermögensnachteil kompensierender Vermögensvorteil<br />

nicht nur dann gegeben ist, wenn die schadensgleiche<br />

Kompensation in engem zeitlichen Zusammenhang<br />

mit der Pflichtverletzung steht. Denn ‚unmittelbar‘ heißt<br />

insoweit nicht zeitgleich bzw. sofort oder auch nur bald. Eine<br />

unmittelbare Schadenskompensation ist vielmehr dann gegeben,<br />

wenn keine weitere, selbständige Handlung mehr hinzutreten<br />

muss, damit der kompensationsfähige Vermögenszuwachs<br />

entsteht.“ 83<br />

Insoweit hätte es unter Heranziehung eines Sachverständigen<br />

näherer Feststellungen dazu bedurft, warum die mit den<br />

Zahlungen angestrebten Vorteile für die Siemens AG, auf die<br />

bei der Gesamtsaldierung allein abzustellen ist, aus Sicht der<br />

Verantwortlichen der Siemens AG bloß eine vage Chance,<br />

wie das LG annimmt, begründet hätten und nicht bereits<br />

77<br />

BGH NJW 2011, 88 (91 Rn. 34).<br />

78<br />

Vgl. BGH NJW 2011, 88 (91 Rn. 35).<br />

79<br />

Ergänzung mit Blick auf den verkürzt wiedergegebenen<br />

nachfolgenden Satz.<br />

80<br />

BGH NJW 2011, 88 (91 f. Rn. 36) – Hervorhebungen v.<br />

Autor.<br />

81<br />

BGH NJW 2011, 88 (92 Rn. 38).<br />

82<br />

Vgl. BGH NJW 2001, 88 (92 f. Rn. 42 f.).<br />

83<br />

BGH NJW 2001, 88 (93 Rn. 45).<br />

messbare Vermögenswerte. Nach Auffassung des 1. Strafsenats<br />

sind die Zuwendungen „auf Grund des zur Tatzeit<br />

etablierten und ‚bewährten‘ Systems […] auch nicht mit<br />

Fällen vergleichbar, bei denen durch Einsatz von Bestechungsgeldern<br />

in nicht konkretisierten zukünftigen Fällen<br />

dem Vermögensinhaber günstige Vertragsabschlüsse erreicht<br />

werden sollen.“ 84<br />

Die Entscheidung des 1. Strafsenats verdient in nahezu<br />

jeder Hinsicht Zustimmung. Die Einschränkung der Untreuetauglichkeit<br />

von Pflichtverletzungen auf mittelbar vermögensschützende<br />

Rechtsnormen sichert den Vermögensdeliktscharakter<br />

der Untreue und kann an Vorschläge im Schrifttum<br />

anknüpfen. 85 Noch spektakulärer ist die Erweiterung der<br />

Unmittelbarkeit der Vorteilsseite bei der Gesamtsaldierung<br />

auf nicht zeitgleich eintretende Vorteile ohne Berufung auf<br />

eine Gesamtbetrachtung. 86 In dieser wirtschaftlichen Perspektive<br />

auf das verbotene Geschäft 87 ohne Berücksichtigung der<br />

Rechtmäßigkeit der Vorteile erlebt das Bundesligaskandalurteil<br />

von 1975 88 eine bemerkenswerte Renaissance. Zweifelhaft<br />

bleibt allein die etwas gekünstelt anmutende Abgrenzung<br />

(„bewährtes“ System) zwischen dem AUB-Fall und den<br />

Schwarze-Kasse-Fällen. Immerhin wurde zumindest im Fall<br />

Siemens ein „System“ schwarzer Kassen mit systematischen<br />

Bestechungszahlungen festgestellt. 89<br />

b) Beschluss des 1. Senats zur Kölner Parteispendenaffäre v.<br />

13.4.2011<br />

Überzeugt der AUB-Beschluss des 1. Strafsenats ganz überwiegend,<br />

so kann das für den Beschluss zur Kölner Parteispendenaffäre<br />

v. 13.4.2011 nicht gelten. In dem Fall (Sachverhalt<br />

vereinfacht 90 ) erhielt der CDU-Kreisverband Köln im<br />

Jahr 1999 Parteispenden von einer oder mehreren unbekannt<br />

gebliebenen Personen in einer Gesamthöhe von 67.000 DM.<br />

Der Angeklagte und damalige Vorsitzende des Kreisverbandes<br />

wollte die Spenden zu Gunsten des Kreisverbandes vereinnahmen,<br />

was nur möglich war, wenn die tatsächlichen<br />

Umstände der Spende (Spender und Spendenhöhe) verschleiert<br />

wurden. Deshalb warb er Mitangeklagte als Scheinspender<br />

und stellte ihnen falsche Spendenquittungen aus. Aufgrund<br />

der Verschleierung der tatsächlichen Gegebenheiten<br />

erhielt die Bundespartei, wie vom Angeklagten erstrebt, zu<br />

Lasten der anderen am System der staatlichen Parteifinanzierung<br />

teilnehmenden Parteien eine ihr in dieser Höhe nicht<br />

zustehende staatliche Förderung nach dem Parteiengesetz<br />

(PartG). Der Angeklagte nahm in Kauf, dass der wahre Sachverhalt<br />

– wie dann auch geschehen – später bekannt werden<br />

und der CDU-Kreisverband Köln in der Folge durch Sanktionen<br />

nach dem PartG erhebliche finanzielle Nachteile erleiden<br />

könnte.<br />

84<br />

BGH NJW 2001, 88 (93 Rn. 46).<br />

85<br />

Vgl. z.B. Saliger (Fn. 37), § 266 Rn. 32 und 82 ff. m.w.N.<br />

86<br />

Vgl. zum bisherigen Diskussionsstand Saliger (Fn. 37),<br />

§ 266 Rn. 57 ff.<br />

87<br />

BGH NJW 2011, 88 (92 Rn. 42).<br />

88<br />

BGH NJW 1975, 1234 (1235).<br />

89<br />

Ebenso Bittmann, NJW 2011, 96 (97).<br />

90<br />

BGH NJW 2011, 1747 m. krit. Anm. Brand.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

909


Frank Saliger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Der 1. Strafsenat hat die landgerichtliche Verurteilung<br />

des Angeklagten u.a. wegen Untreue in Tateinheit mit Betrug<br />

aufgehoben und die Sache an eine andere Strafkammer zurückverwiesen.<br />

Diese Entscheidung kommt nicht ganz überraschend,<br />

hatte der 1. Strafsenat doch in einem obiter dictum<br />

des AUB-Beschluss im Kontext des vermögensschützenden<br />

Charakters einer Rechtsnorm offen gelassen, ob etwas anderes<br />

gilt, wenn an die Verletzung einer solchen Rechtsnorm<br />

eine spezifische, sich vermögensmindernd auswirkende<br />

Sanktion anknüpft. 91<br />

Nach Auffassung des 1. Strafsenats hat der als Vorsitzender<br />

des Kreisverbandes vermögensbetreuungspflichtige Angeklagte<br />

zwar durch die Einreichung des unrichtigen Rechenschaftsberichts<br />

Pflichten nach dem PartG verletzt (§§ 23, 7<br />

PartG, 25 PartG a.F.). Durch diese Handlung verletzte er<br />

allerdings keine das Vermögen seiner Partei schützende<br />

Rechtsnorm, so dass er insoweit keine ihm obliegende Vermögensbetreuungspflicht<br />

verletzt hat. 92 Dazu führt das Gericht<br />

aus:<br />

„Die vorliegend betroffenen Vorschriften des Parteiengesetzes<br />

dienen vornehmlich der Sicherstellung und Transparenz<br />

der staatlichen Parteienfinanzierung. Dagegen sollen die<br />

sich hieraus ergebenden Verpflichtungen der für die Parteien<br />

handelnden Personen nicht das jeweilige Parteivermögen vor<br />

Regressansprüchen des Bundes schützen. Damit kann auch<br />

ein Verstoß gegen diese Vorschriften des Parteiengesetzes für<br />

sich allein keine pflichtwidrige Handlung i.S.v. § 266 Abs. 1<br />

StGB darstellen. Pflichtwidrig im Sinne dieser Vorschrift<br />

sind nur Verstöße gegen vermögensschützende Normen […]<br />

Der Umstand, dass ein Verstoß gegen die Vorschriften des<br />

Parteiengesetzes spezifische und sich damit mittelbar auf das<br />

Vermögen der Partei auswirkenden Sanktionen auslösen<br />

kann, macht diese Vorschriften nicht zu vermögensschützenden<br />

Normen i.S.v. § 266 StGB.“ 93<br />

Allerdings, so der 1. Strafsenat weiter, berührte das Verhalten<br />

des Angeklagten „gleichwohl Pflichten, die das Vermögen<br />

der Partei schützen sollten. Denn die Beachtung der<br />

Vorschriften des Parteiengesetzes war hier im Verhältnis<br />

zwischen der Bundes-CDU und den Funktionsträgern der<br />

Partei, die mit den Parteifinanzen befasst waren, Gegenstand<br />

einer selbständigen, von der Partei statuierten Verpflichtung.“<br />

94<br />

Soweit die Pflichten nach dem PartG also satzungsmäßig<br />

verankert waren, beschränkte sich die Pflicht zur Beachtung<br />

der gesetzlichen Buchführungspflichten nicht auf die allgemeine<br />

Aufforderung zum gesetzestreuen Verhalten, sondern<br />

bildete eine fremdnützige, das Parteivermögen schützende<br />

Hauptpflicht i.S.v. § 266 StGB. 95 Damit begründete die Ver-<br />

91<br />

BGH NJW 2011, 88 (92 Rn. 36); gesehen von Bittmann<br />

NJW 2011, 88 (96).<br />

92<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1749 Rn. 21 ff., 24).<br />

93<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1749 Rn. 25) unter Bezug u.a. auf<br />

seinen AUB-Beschl. Deshalb spricht der 1. Strafsenat im<br />

1. Leitsatz auch von „Fortführung“ des AUB-Beschl.<br />

94<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1749 Rn. 26) – Hervorhebungen v.<br />

Autor.<br />

95<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1749 Rn. 27).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

910<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

letzung der durch Rechtsgeschäft erzeugten Treuepflicht die<br />

untreuetaugliche Pflichtwidrigkeit. 96 Diese war wegen der<br />

gezielten Verschleierung und der erheblichen Sanktionsfolgen<br />

auch gravierend. 97<br />

Eine Verurteilung wegen Untreue scheitert aber daran,<br />

dass das LG zum einen nicht festgestellt hat, dass dem CDU-<br />

Kreisverband Köln ein Vermögensnachteil entstanden ist,<br />

und zum anderen der Angeklagte sich gegenüber dem weiteren,<br />

freilich nicht angeklagten untreuetauglichen Vermögensnachteil<br />

in Gestalt der Sanktionsgefahr für das Vermögen der<br />

Bundes-CDU nicht hinreichend habe verteidigen können. 98<br />

Für die weitere Hauptverhandlung weist der 1. Strafsenat<br />

darauf hin, dass die Strafbarkeit wegen Parteienuntreue nicht<br />

lediglich als schadensbegründende Vermögensgefahr, sondern<br />

als endgültiger Vermögensnachteil in Betracht kommt.<br />

Denn unmittelbar mit der Entdeckung der Tathandlung trete<br />

bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung der endgültige<br />

Vermögensnachteil i.S.v. § 266 StGB in Form eines bilanzierenden<br />

Rückforderungsanspruches ein, für den eine Rückstellung<br />

zu bilden sei. 99 Ob zwischen der Tathandlung und<br />

der Entdeckung des Tatgeschehens ein längerer Zeitraum<br />

liege, stehe der Annahme eines Vermögensnachteils nicht<br />

entgegen, weil ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen<br />

pflichtwidrigem Tun und Vermögensnachteil nicht erforderlich<br />

sei. 100<br />

Die Würdigung dieser Entscheidung fällt nicht leicht,<br />

zumal der 1. Strafsenat bis auf eine Ausnahme kein Schrifttum<br />

zitiert und seine Begründung sich von bisheriger Rechtsprechung,<br />

die die Untreuetauglichkeit parteiengesetzlicher<br />

Pflichten bejaht und die Parteienuntreue unter die Fallgruppe<br />

der schadensbegründenden Vermögensgefahr eingeordnet<br />

hat, stark abhebt. 101 Auch in der Sache gibt die Entscheidung<br />

dem Angeklagten mehr Steine als Brot, weil sie die grundsätzliche<br />

Möglichkeit einer strafbaren Parteienuntreue bestätigt.<br />

102 Die Hauptthese des 1. Strafsenats, dass die Pflichten<br />

96<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1749 Rn. 29).<br />

97<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1749 f. Rn. 30), wo auch der „erforderliche<br />

funktionale Zusammenhang“ zwischen Pflichtverletzung<br />

und geschütztem Vermögen bejaht wird.<br />

98<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1750 Rn. 31 ff.).<br />

99<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1751 Rn. 56-58) unter Bezug u.a.<br />

auf den BVerfG-Beschl.<br />

100<br />

BGH NJW 2011, 1747 (1751 Rn. 58 f.) in Abgrenzung zu<br />

BGH NStZ 2009, 686 (insb. 688) – Berliner Straßenreinigungsfall,<br />

und unter Bezug auf das Unmittelbarkeitsverständnis<br />

im eigenen AUB-Beschl.<br />

101<br />

Vgl. etwa BGHSt 49, 275 (303); BGHSt 51, 100 (117 f.);<br />

BGH HRRS 2007 Nr. 173; dazu näher Saliger (Fn. 37), § 266<br />

Rn. 102. Selbst das BVerfG scheint die Parteienuntreue als<br />

Fallgruppe der Untreue zu akzeptieren, vgl. BVerfG NJW<br />

2010, 3209 (3212 f. Rn. 91).<br />

102<br />

Diese ist bekanntlich streitig: Bejahend z.B. BGHSt 49,<br />

275 (303); BGHSt 51, 100 (117 f.); BGH HRRS 2007<br />

Nr. 173; Perron (Fn. 70), § 266 Rn. 45b; Saliger (Fn. 37),<br />

§ 266 Rn. 102 m.w.N.; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer<br />

Teil, Bd. 2, 33. Aufl. 2010, Rn. 775; Wolf, KJ 2000,<br />

531; Schwind, NStZ 2001, 349; Saliger/Sinner NJW 2005,


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 auf die Schadensdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

des PartG an sich untreueuntauglich sind und erst bei ihrer<br />

satzungsmäßigen Verankerung untreuetauglich werden, ist<br />

schon vereinzelt vertreten worden. 103 Richtiger macht sie das<br />

nicht. Die Aufspaltung der Pflichten des PartG in eine öffentlich-rechtliche<br />

und eine privatrechtliche Ebene ist gekünstelt,<br />

verfehlt das Rangverhältnis zwischen öffentlichem Recht und<br />

privatem Recht und hat absurde Konsequenzen.<br />

Schon der Ausgangspunkt, dass die Pflichten des PartG<br />

nicht vermögensschützend sind, ist unrichtig. Zwar trifft zu,<br />

dass die Rechnungslegungspflichten des PartG in erster Linie<br />

öffentlich-rechtlichen Zwecken wie dem der verfassungsrechtlich<br />

aufgegebenen Finanztransparenz (Art. 21 Abs. 1<br />

S. 4 GG) dienen. 104 Soweit die parteiengesetzlichen Rechnungslegungspflichten<br />

aber sanktionsbewehrt zugleich den<br />

Umgang mit den Parteifinanzen und insbesondere den Geldspenden<br />

regeln, ist nicht zu sehen, warum ihnen auch eine<br />

mittelbar vermögensschützende Funktion abgesprochen werden<br />

muss. 105 Das gilt umso mehr, als das Parteienrecht Wettbewerbsrecht<br />

ist 106 und die Sanktionen des PartG den Markt<br />

dadurch regulieren sollen, dass sie die Wettbewerbschancen<br />

bei der staatlichen Parteienteilfinanzierung für diejenigen<br />

Parteien vermindern, die gegen das Parteiengesetz verstoßen.<br />

107 Die Situation ähnelt den Rechnungslegungsvorschriften<br />

des HGB, die mit den Zwecken der Dokumentation, Information<br />

und Kapitalerhaltung ebenfalls nicht primär und<br />

unmittelbar den Vermögensinteressen des Geschäftsherrn,<br />

sondern den Gläubigerinteressen dienen. 108 Konsequenterweise<br />

müsste der 1. Strafsenat nun auch für die dortigen<br />

Vorschriften eine das Vermögen des Treugebers schützende<br />

Funktion verneinen mit der Folge, dass Strafbarkeitslücken<br />

1073 (1077). Verneinend dagegen etwa Dierlamm (Fn. 37),<br />

§ 266 Rn. 214 ff.; Seier, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.),<br />

Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Kap. V<br />

Abschn. 2 Rn. 188 ff.; Otto, RuP 2000, 109; Hamm, NJW<br />

2001, 1694; Volhard, in: Prittwitz u.a. (Hrsg.), Festschrift für<br />

Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag am 2. Mai 2002, 2002,<br />

S. 673.<br />

103<br />

Velten, NJW 2000, 2852 (2853); Strelczyk, Die Strafbarkeit<br />

der Bildung schwarzer Kassen, 2008, S. 177 ff.<br />

104<br />

Näher Saliger, Parteiengesetz und Strafrecht, 2005, S. 39<br />

ff.<br />

105<br />

Bemerkenswerterweise setzt sich der 1. Strafsenat des<br />

BGH mit der Frage, ob den Sanktionen des PartG nicht zumindest<br />

eine mittelbar vermögensschützende Funktion zukommt,<br />

überhaupt nicht auseinander.<br />

106<br />

Morlok, NJW 2000, 761 (768).<br />

107<br />

Saliger (Fn. 104), S. 203 f.<br />

108<br />

Vgl. Walz, in: Heymann/Emmerich/Horn/Berger (Hrsg.)<br />

Handelsgesetzbuch, Kommentar, Bd. 3, 1999, Einl. §§ 238 ff.<br />

Rn. 47 ff.; Leffson, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung,<br />

7. Aufl. 1987, S. 38 (S. 41 ff.). A.A. Strelczyk<br />

(Fn. 103), S. 195 f., der zwar konzediert, dass die Buchführungsvorschriften<br />

im HGB primär Gläubigerinteressen bezwecken,<br />

der aber den für die Untreue notwendigen Vermögensbezug<br />

wiederum über eine behauptete Verletzung des<br />

Arbeitsvertrages und damit der Pflichten im Innenverhältnis<br />

annimmt.<br />

bei der Fallgruppe der Untreue durch unordentliche Buchführung<br />

entstehen können. 109<br />

Verquer ist überhaupt die „wundersame“ satzungsmäßige<br />

Verwandlung untreueuntauglicher Pflichten (hier die des<br />

PartG) in untreuetaugliche Pflichten. 110 Entscheidend für die<br />

Untreuetauglichkeit einer Rechtspflicht ist ihr <strong>Inhalt</strong>, nicht<br />

ihre Quelle. Das ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut selbst,<br />

der Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft unterschiedslos<br />

als Pflichtenquellen aufführt. Hat deshalb eine<br />

öffentlich-rechtliche Pflicht (vermeintlich) keinen vermögensschützenden<br />

<strong>Inhalt</strong>, so gewinnt sie diesen auch nicht<br />

durch eine bloße vertragliche Vereinbarung. Ein Beispiel ad<br />

absurdum mag das verdeutlichen: Der Geschäftsführer einer<br />

katholischen Stiftung verpflichtet sich gemäß dem Leitbild<br />

des Stiftungsträgers arbeitsvertraglich zur Einhaltung der<br />

ehelichen Treue. Begeht der Geschäftsführer nun dem<br />

1. Strafsenat zufolge auch eine strafbare Untreue, wenn er<br />

ehelich untreu wird und die Stiftung durch den Rückzug fest<br />

zugesagter Spenden nach Bekanntwerden der Affäre schädigt?<br />

Die Ausrichtung der Untreuetauglichkeit einer Pflicht<br />

nach dem schieren Umstand ihrer Vereinbarung im Innenverhältnis<br />

(Satzung, Arbeitsvertrag) eröffnet im Parteienstrafrecht<br />

zudem eine missliche Konsequenz. Denn die Parteien<br />

könnten sich mit Blick auf den Lösungsweg des 1. Strafsenats<br />

veranlasst sehen, die durchgängige Bezugnahme ihrer<br />

Satzungen auf das PartG zu ändern, um sich dem lästigen<br />

Strafbarkeitsrisiko aus der Parteienuntreue zu entledigen.<br />

Schließlich rüttelt auch die Hochstufung der Parteienuntreue<br />

zur Fallgruppe der Endschäden an bisher konsentierten<br />

Rechtsgrundsätzen. 111 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gesamtsaldierung<br />

ist danach die ex-ante Perspektive bei Vollendung<br />

der einzelnen Tathandlung, also der Zeitpunkt der<br />

Pflichtverletzung. 112 Das erklärt bei der Parteienuntreue ihre<br />

bisherige Einordnung unter die Fallgruppe der schadensbegründenden<br />

Vermögensgefahr. Nach dem 1. Strafsenat müsste<br />

künftig der Zeitpunkt der Tatentdeckung entscheidend sein<br />

mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Schadensdogmatik.<br />

2. Explizite Umsetzung (2.): Fortsetzung der Schwarze-<br />

Kasse-Rechtsprechung im Fall Trienekens – Beschluss des<br />

2. Senats v. 27.8.2010<br />

Während der 1. Strafsenat des BGH erhebliche dogmatische<br />

Anstrengungen unternimmt, um die verfassungsrechtlichen<br />

Auslegungsziele bei der Untreue zu erreichen, hat der<br />

2. Strafsenat im Fall Trienekens trotz des BVerfG-Beschlusses<br />

bisherige Grundsätze im Wesentlichen fortgeschrieben. In<br />

dem Fall (Sachverhalt stark vereinfacht 113 ) waren die Ange-<br />

109<br />

Zu diesem Argument bereits Saliger (Fn. 37) § 266<br />

Rn. 83.<br />

110<br />

Krit. auch Brand, NJW 2011, 1751 (1752).<br />

111<br />

Krit. hinsichtlich der Ablehnung eines Unmittelbarkeitszusammenhangs<br />

zwischen Pflichtwidrigkeit und Schaden<br />

durch den 1. Strafsenat Brand, NJW 2011, 1751 (1752).<br />

112<br />

Stellvertretend Saliger (Fn. 37), § 266 Rn. 55.<br />

113<br />

Vgl. BGH NJW 2010, 3458 m. zust. Anm. Brand und<br />

Vath, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht 2010, 472 sowie<br />

teils bzw. vorwiegend krit. Anm. Hoffmann, GmbHR 2010,<br />

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911


Frank Saliger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

klagten Geschäftsführer zweier Tochtergesellschaften des<br />

Trienekens-Konzerns (zunächst GmbH, ab Ende 1998 AG),<br />

an dem seit 1989 neben der Familie Trienekens auch ein<br />

Unternehmen der RWE-Gruppe in etwa gleichem Umfang<br />

beteiligt war. In den Jahren 1997 bis 2001 veranlassten die<br />

Angeklagten jeweils auf Weisung von Trienekens als alleinvertretungsberechtigtem<br />

Geschäftsführer und bis Ende 1998<br />

auch Vertreter der Mehrheitsgesellschafter Zahlungen auf<br />

Scheinrechnungen in einer Gesamthöhe von über 9 Mio. DM<br />

in eine „schwarze Kasse“. Trienekens hatte diese ab etwa<br />

1993 zur Finanzierung sog. „nützlicher Aufwendungen“, die<br />

nicht über die Bücher laufen sollten, bei einem Briefkastenunternehmen<br />

in der Schweiz (Stenna AG) als sog. „Kriegskasse“<br />

eingerichtet. Den Angeklagten war bekannt, dass<br />

Trienekens gegenüber den verantwortlichen Organen der zum<br />

RWE-Konzern gehörenden Mitgesellschafterin die wahren<br />

Hintergründe der Zahlungen verschleierte.<br />

Der 2. Strafsenat hat die Revisionen beider Angeklagten<br />

als unbegründet verworfen. Aus den Urteilsgründen, die<br />

zahlreiche interessante Rechtsfragen aufwerfen wie die Untreuetauglichkeit<br />

gesellschaftsrechtlicher Legalitäts- und<br />

Loyalitätspflichten oder die Anforderungen an das (nach dem<br />

BGH unbeachtliche) Einverständnis des Mehrheitsgesellschafters<br />

der GmbH, 114 seien hier nur die Ausführungen zum<br />

Vermögensnachteil näher betrachtet. Auffällig ist, dass der<br />

2. Strafsenat den Vermögensnachteil deutlich umfassender<br />

als das LG bejaht. Dieser sei als endgültiger Vermögensnachteil<br />

nicht nur hinsichtlich des beträchtlichen Teils der Zahlungen<br />

eingetreten, die als Provisionen und Honorare für die<br />

an der Einrichtung und Verwendung der schwarzen Kasse<br />

Beteiligten abgeflossen sind. Vielmehr liege in der gesamten<br />

Höhe des an die Stenna AG überwiesenen Betrages nicht nur<br />

eine schadensgleiche Vermögensgefahr, sondern bereits ein<br />

endgültiger Schaden. 115<br />

Hinsichtlich der Schadensbegründung knüpft der 2. Senat<br />

zwar einerseits an sein Siemens-Urteil an. 116 Die dortige<br />

rechtliche Würdigung sei aber auf die Einrichtung und Führung<br />

einer verdeckten Kasse durch den alleinvertretungsberechtigten<br />

GmbH-Geschäftsführer, also das eigentlich für die<br />

Vermögensverwaltung des Treugebers zuständige Organ,<br />

nicht ohne weiteres übertragbar. Vielmehr beruhe die Würdigung<br />

der von Trienekens veranlassten Vermögensverschiebungen<br />

als endgültiger Schaden auf der konkreten Ausgestaltung<br />

der verdeckten Kasse. 117 Diese sei im Einzelnen so ausgestaltet<br />

gewesen, dass die verschobenen Vermögenswerte<br />

im Ergebnis ebenfalls dem Zugriff der Treugeberin bereits<br />

1150; Podewils, jurisPR-HaGesR 11/2010, Anm. 1; Wessing,<br />

EWiR 2010, 797.<br />

114<br />

Zu ersterem Problem Brand/Sperling, Die Aktiengesellschaft<br />

2011, 233; zu letzterem Saliger, in: Heinrich u.a.<br />

(Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für<br />

Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Bd. 2,<br />

2011, S. 1053.<br />

115<br />

BGH NJW 2010, 3458 (3562 Rn. 40).<br />

116<br />

BGH NJW 2010, 3458 (3562 Rn. 41) unter Bezug auf<br />

BGHSt 52, 323.<br />

117<br />

BGH NJW 2010, 3458 (3462 Rn. 42).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

912<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

endgültig entzogen waren. Maßgeblich dafür war, dass die<br />

Kontrolle über die Verwaltung zwar ausschließlich bei<br />

Trienekens persönlich lag, dass aber eine Sicherung gegen<br />

eigenmächtige Zugriffe der zur Unterhaltung der schwarzen<br />

Kasse oder zum Transport der Bargelder eingesetzten Personen<br />

nicht bestand, ebenso wenig Vorkehrungen für den Fall<br />

des unerwarteten Ausfalls zumindest einiger dieser Personen<br />

oder von Trienekens selbst oder zum Schutz vor Zugriffen<br />

von Gläubigern der Stenna AG. 118<br />

Die mögliche Absicht von Trienekens, mit den verdeckten<br />

Zahlungen Geschäftsabschlüsse für den Treugeber zu<br />

erzielen, sei für die Untreue belanglos. Tatsächlich durch<br />

spätere Geschäfte erzielte Vermögensvorteile stellten allenfalls<br />

eine Schadenswiedergutmachung dar. 119<br />

Diese Begründung weicht nicht nur signifikant von den<br />

bisher entschiedenen Schwarze-Kasse-Konstellationen ab,<br />

sondern treibt auch die Normativierung des Nachteilsmerkmals<br />

in einem Ausmaß voran, die in Spannung zu dem<br />

BVerfG-Beschluss gerät. So widerstreitet einer primär wirtschaftlichen<br />

Nachteilsbestimmung<br />

� erstens das kontrafaktische Abstellen auf eine „schwarze<br />

Kasse“ anstatt richtig auf eine Organkasse (nämlich eine<br />

durch das zuständige Organ begründete Kasse);<br />

� zweitens die Anknüpfung auch bei einer Organkasse an<br />

die normativierende verwendungszweckunabhängige Lesart,<br />

wonach die Nützlichkeit der Mittelverwendung keine<br />

Rolle spielt, obwohl die Trienekens-GmbH bzw. -AG in<br />

wirtschaftlicher Hinsicht evident von der Organkasse profitiert<br />

hat;<br />

� drittens das kontrafaktische Bestreiten einer hinreichenden<br />

Kontrolle der Organkasse durch Trienekens als alleinvertretungsberechtigtem<br />

Geschäftsführer, obwohl<br />

doch bereits das Bild einer Organkasse eine Kontrolle der<br />

Kasse durch das Organ nahe legt.<br />

Alle drei Aspekte zeigen eine starke Normativierung des<br />

Vermögensnachteils, die der vom BVerfG geforderten primär<br />

wirtschaftlichen Bestimmung des Vermögensnachteils kaum<br />

gerecht wird. Diese primär wirtschaftliche Bestimmung des<br />

Vermögensnachteils ist für die Untreuestrafvorschrift aber<br />

essentiell, soll sie ihren Charakter als Vermögenserfolgsdelikt<br />

nicht verlieren. 120<br />

3. Unterlassene Umsetzung: Haushaltsuntreue im Fall<br />

Schäch – Beschluss des 1. Senats v. 13.4.2011<br />

Jegliche Auseinandersetzung mit den Auslegungszielen des<br />

BVerfG vermissen lässt ein aktueller Beschl. des 1. Strafsenats<br />

v. 13.4.2011 zur Haushaltsuntreue. In dem Fall (Sach-<br />

118<br />

BGH NJW 2010, 3458 (3462 Rn. 43 f.).<br />

119<br />

BGH NJW 2010, 3458 (3462 f. Rn. 45).<br />

120<br />

Vgl. BVerfG NJW 2010, 3209 (3215 Rn. 113). Krit. z.B.<br />

auch Schünemann, StraFo 2010, 477 (482). Affirmativ dagegen<br />

Radtke, GmbHR 2010, 1121 (1127) und Krüger, NStZ<br />

2011, 369 (375); zust. insoweit auch Hoffmann, GmbHR<br />

2010, 1150 (1152); Vath, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht<br />

2010, 472; letztlich wohl auch Brand, NJW 2010, 3463.


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 auf die Schadensdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

verhalt vereinfacht 121 ) verbuchte der Angeklagte als Erster<br />

Bürgermeister im Haushaltsjahr angefallene Ausgaben in das<br />

darauf folgende Jahr, um dem Gemeinderat die Höhe der<br />

unter Überschreitung seiner satzungsmäßigen Kompetenzen<br />

aufgenommenen Kredite zu verschleiern. Mit Einnahmen<br />

verfuhr er umgekehrt. Dem Gemeinderat präsentierte der<br />

Angeklagte auf diese Weise einen „ordentlichen Haushalt“,<br />

soweit Kreditaufnahmen für Investitionen „nicht mehr geplant“<br />

(Haushalt 2007) bzw. „nicht vorgesehen“ (Haushalt<br />

2008) seien. Im Vertrauen auf diese Angaben beschloss der<br />

Gemeinderat Hoch- und Tiefbaumaßnahmen (u.a. den Bau<br />

einer Turnhalle). Um die dadurch bedingten Finanzierungslücken<br />

zu decken, nahm der Angeklagte unter Überschreitung<br />

seiner Kompetenzen 2007 und 2008 für die Gemeinde weitere<br />

Kassenkredite (Art. 73 BayGO) in Höhe von jeweils<br />

2 Mio. Euro auf, wobei Zinsverpflichtungen in Höhe von ca.<br />

170.000 Euro entstanden. Die Mittel aus den Krediten wurden<br />

sämtlich für Aufgaben der Gemeinde verwendet.<br />

Der 1. Strafsenat hat die Revision des Angeklagten gegen<br />

seine landgerichtliche Verurteilung wegen Untreue als unbegründet<br />

verworfen. Der vermögensbetreuungspflichtige Angeklagte<br />

habe mit der Kreditaufnahme entgegen den Bestimmungen<br />

der Haushaltssatzung und Art. 73 BayGO, die jeweils<br />

– zumindest mittelbar – dem Schutz des gemeindlichen<br />

Vermögens dienen, gehandelt und damit eine untreuetaugliche<br />

Pflichtverletzung begangen. 122 Dadurch sei der Gemeinde<br />

ein Vermögensnachteil in Gestalt und Höhe der Kreditzinsen<br />

zugefügt worden. Der 1. Senat führt aus:<br />

„Nach der Haushaltssatzung sollten die beschlossenen<br />

Baumaßnahmen ausschließlich aus dem Vermögenshaushalt<br />

bestritten werden. [Der Angeklagte hat] für die genehmigten<br />

Zwecke – Tief- und Hochbaumaßnahmen – die falschen<br />

Mittel [Darlehen] eingesetzt. Durch die Verpflichtung zur<br />

Zahlung von Kreditzinsen [hat er] dem Haushalt ohne Gegenwert<br />

für die Gemeinde Mittel in Höhe dieser Zinsen endgültig<br />

und dauerhaft entzogen. Die Darlehensaufnahme stellt<br />

angesichts der Rückzahlungsverpflichtung keinen wirtschaftlichen<br />

Vorteil für die Gemeinde dar, ein anderer wirtschaftlicher<br />

Vorteil ist nicht ersichtlich. Auf das angestrebte oder<br />

erhoffte wirtschaftliche Gesamtergebnis am Ende des Haushaltsjahres<br />

kommt es nicht an […] Vage oder nur mittelbare<br />

Vorteile aus der – wenn auch von Anfang an beabsichtigten –<br />

Verwendung der Kreditmittel für kommunale Baumaßnahmen<br />

[…] stellen keinen den Nachteil ausgleichenden vermögenswerten<br />

Vorteil dar.“ 123<br />

Der Angeklagte könne sich auch nicht darauf berufen,<br />

aufgrund der Dringlichkeit der Investitionen zu Kreditaufnahme<br />

und Mitteleinsatz verpflichtet gewesen zu sein oder<br />

der Gemeinde eine sonst unumgängliche Inanspruchnahme<br />

anderweitiger Mittel erspart zu haben. Denn weder war eine<br />

Ermessensreduzierung auf Null feststellbar, noch hätte der<br />

Gemeinderat auch bei Kenntnis der wahren Vermögensverhältnisse<br />

die Investitionen mit Sicherheit beschlossen. 124<br />

121 BGH, Beschl. v. 13.4.2011 – 1 StR 592/10, Rn. 4 f.<br />

122 BGH, Beschl. v. 13.4.2011 – 1 StR 592/10, Rn. 8.<br />

123 BGH, Beschl. v. 13.4.2011 – 1 StR 592/10, Rn. 11.<br />

124 BGH, Beschl. v. 13.4.2011 – 1 StR 592/10, Rn. 12.<br />

Diese Begründung ist nicht haltbar, weil sie auf eine juristische<br />

Vermögens- und Schadenslehre hinausläuft, die mit<br />

dem BVerfG-Beschluss nicht vereinbar ist. Nach dem Prinzip<br />

der Gesamtsaldierung ist ein Vermögensnachteil gegeben,<br />

wenn der Gesamtwert des Vermögens nach wirtschaftlicher<br />

Betrachtung durch die Pflichtverletzung vermindert wird,<br />

also auch unter Berücksichtigung unmittelbarer Kompensationen<br />

ein Negativsaldo eintritt. 125 Die Orientierung am Gesamtvermögen<br />

stellt sicher, dass bloße Veränderungen der<br />

Bestandteile des Vermögens für einen Schaden nicht hinreichen.<br />

126 Die Vermögensdelikte betreiben insoweit keinen<br />

Integritäts-, sondern materiellen Vermögensschutz. Ein bloßer<br />

Integritätsschutz würde auf den Schutz der Dispositionsfreiheit<br />

des Geschäftsherrn hinauslaufen und damit den Charakter<br />

der Untreue als Vermögensdelikt verformen. Ein bloßer<br />

Integritätsschutz entspricht insoweit einer juristischen<br />

Schadenslehre, die den Schaden als Minus im Rechtssinne<br />

bestimmt, so dass bereits jede absprachewidrige Verletzung<br />

eines Vermögensrechts (Verlust, Belastung mit einer Verbindlichkeit)<br />

einen Vermögensschaden begründet, ohne dass<br />

es notwendig auf eine wirtschaftliche Schädigung mit Saldierung<br />

ankommt. 127 Bei der Haushaltsuntreue verhindert die<br />

Orientierung am Gesamtvermögen, dass nicht jeder Haushaltsverstoß<br />

zu einem Vermögensnachteil führt und also die<br />

bloße Dispositionsbefugnis des Haushaltsgebers geschützt<br />

wird. 128<br />

Das Prinzip der Gesamtsaldierung hat Verfassungsrelevanz,<br />

weil es die Eigenständigkeit des Tatbestandsmerkmals<br />

des Vermögensnachteils neben der Pflichtwidrigkeit begründet,<br />

wozu eine juristische Schadenslehre nicht taugt. Damit<br />

trägt es, wie es das BVerfG fordert, dazu bei zu verhindern,<br />

dass sich Tathandlung und Taterfolg bei der Untreue derart<br />

verschleifen, dass der Vermögensnachteil in der Pflichtwidrigkeit<br />

aufgeht.<br />

Bereits aus dem Erfordernis der wirtschaftlichen Saldierung<br />

in Bezug auf das Gesamtvermögen ergibt sich, dass<br />

Kreditaufnahme und Kreditverwendung wirtschaftlich eine<br />

Einheit bilden, die nicht auseinander gerissen werden kann.<br />

So lässt sich ohne Blick auf die Kreditverwendung gar nicht<br />

beurteilen, ob ein Treunehmer den für den Treugeber<br />

pflichtwidrig beantragten Kredit für eigene Zwecke verbraucht<br />

hat – ein klassischer Fall der Untreue. Insoweit vermag<br />

die Verwendung eines für den Treugeber beantragten<br />

Kredits zugunsten des Treugebers das Eingehen der Kreditverbindlichkeit<br />

nebst Zinsen regelmäßig zu kompensieren.<br />

Denn bei Marktkonformität des Kreditzinses kompensiert die<br />

Verfügungsmöglichkeit des Treugebers über die Kreditmittel<br />

als unmittelbarer Vermögensvorteil in der Regel die Kreditaufnahme<br />

nebst Kreditzins. Ein isolierter Schaden in Bezug<br />

125<br />

BGHSt 43, 293 (297); BGH NJW 1975, 1234 (1235).<br />

126<br />

Vgl. BGHSt 16, 220 (221) zu § 263; BGHSt 40, 287<br />

(295 f.).<br />

127<br />

Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts,<br />

Besonderer Teil, Bd. 1, 2. Aufl. 1902, § 63 (S. 238 [S. 240]),<br />

§ 85 (S. 355 [S. 356, 357 m. Fn. 1]).<br />

128<br />

BGHSt 40, 287 (294); BGHSt 43, 293 (297); BGH NStZ<br />

2001, 248 (251).<br />

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913


Frank Saliger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

auf die Kreditzinsen kann hier erst dann entstehen, wenn der<br />

Treunehmer sehenden Auges überhöhte Zinsverpflichtungen<br />

für den Treugeber eingegangen ist. Solches ist für die Gemeinde<br />

nicht festgestellt.<br />

Unverständlich bleibt insoweit die These des 1. Strafsenats,<br />

dass die Darlehensaufnahme „angesichts der Rückzahlungsverpflichtung<br />

keinen wirtschaftlichen Vorteil für die<br />

Gemeinde“ darstellt und ein anderer Vorteil nicht ersichtlich<br />

ist. Weshalb die Verfügbarkeit über Geld als Grundlage des<br />

gesamten Kreditgeschäfts keinen Vermögensvorteil begründen<br />

soll, erschließt sich nicht. Zudem fragt sich, warum der<br />

1. Strafsenat auf Basis seiner These den Vermögensnachteil<br />

nicht schon in der vollen Höhe des ausgereichten Darlehens<br />

einschließlich der Zinsverpflichtung erblickt hat. Das wäre<br />

selbstredend eine absurde Konsequenz, weil dann jede Kreditaufnahme<br />

durch Treupflichtige eine Untreue sein müsste.<br />

Auf der Grundlage des vom BGH gebildeten Rechtssatzes<br />

fehlt aber jeder überzeugende Grund, die Darlehensauszahlung<br />

und die Zinsverpflichtung unterschiedlich zu behandeln.<br />

Dieses Ergebnis gilt erst recht im Hinblick auf den eigenen<br />

AUB-Beschluss des 1. Strafsenats. 129 Wenn dort schon<br />

die aus den Zahlungen an die AUB erwachsenen „Vorteile“<br />

für Siemens mit Recht als unmittelbare Kompensation angesehen<br />

worden sind – obwohl über die Finanzausstattung hinaus<br />

der konkrete, für Siemens förderliche Einsatz der Gelder<br />

gewiss noch weiterer Handlungen auf Seiten der Verantwortlichen<br />

der AUB bedurfte –, dann muss erst recht der von<br />

Anfang an vorgesehene Einsatz der Kreditmittel gemäß den<br />

vom Gemeinderat beschlossenen Investitionen einen kompensationstauglichen,<br />

weil unmittelbaren Vermögensvorteil<br />

begründen.<br />

Soweit der 1. Strafsenat demgegenüber einen Schaden der<br />

Gemeinde auf die durch die Kreditaufnahme begründeten<br />

Zinsverpflichtungen stützt, läuft diese Rechtsanwendung<br />

letztlich auf eine verfassungswidrige, weil die Eigenständigkeit<br />

des Schadensmerkmals auflösende, juristische Schadenslehre<br />

hinaus. Denn was auch immer im Einzelnen für einen<br />

Schaden vorgetragen wird, es enthält stets den Schluss von<br />

einem bloß formellen Haushaltsrechtsverstoß (dass nämlich<br />

der Kredit in dieser Form [und zu dieser Zeit] nicht hätte<br />

aufgenommen werden dürfen) auf den Vermögensschaden.<br />

Das verfehlt nicht nur den wirtschaftlichen Sinn von Kreditgeschäften<br />

und das Prinzip der Gesamtsaldierung, das eine<br />

Berücksichtigung auch der Kreditverwendung verlangt. Es<br />

verschleift auch entgegen der Vorgabe des BVerfG Tathandlung<br />

und Taterfolg bei der Haushaltsuntreue, so dass der<br />

Vermögensnachteil in der Pflichtwidrigkeit aufgeht.<br />

IV. Konsequenzen für die Betrugsstrafbarkeit<br />

Obwohl der Beschluss des BVerfG sich explizit nur mit der<br />

Verfassungsmäßigkeit des Untreuetatbestands und seiner<br />

Auslegung befasst, dürften an seiner Relevanz auch für die<br />

Auslegung des Betrugstatbestands keine ernsthaften Zweifel<br />

bestehen. Das gilt bereits im Hinblick auf den Umstand, dass<br />

die Ausführungen des BVerfG zum Gebot bestimmter Gesetzesauslegung<br />

und zur Erhöhung der verfassungsgerichtlichen<br />

129 Oben III. 1. a).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

914<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

Kontrolldichte allgemein gehalten 130 und deshalb für die<br />

Auslegung aller Strafgesetze verbindlich sind. 131 Für die<br />

Betrugsstrafbarkeit insbesondere ergeben sich weitere Relevanzen<br />

des Beschlusses daraus, dass der Beschluss sich zentral<br />

mit den Begriffen des Vermögensnachteils und der schadensgleichen<br />

Vermögensgefahr beschäftigt. Dabei ist zu<br />

berücksichtigen, dass das BVerfG selbst mit der h.M. von<br />

einer vergleichbaren Auslegung der Begriffe des Nachteils in<br />

§ 266 StGB und des Schadens in § 263 StGB ausgeht 132 und<br />

dass die schadensbegründende Vermögensgefahr gerade vom<br />

Betrug auf die Untreue übertragen worden ist. 133 Kann demnach<br />

die Relevanz des Beschlusses auch für die Auslegung<br />

des Betrugs dem Grunde nach nicht zweifelhaft sein, so sind<br />

gleichwohl Art und Ausmaß der Relevanz unklar. Das zeigen<br />

bereits die ersten, recht unterschiedlichen Rezeptionen des<br />

BVerfG-Beschlusses in der Betrugsrechtsprechung der BGH-<br />

Senate.<br />

1. Unterlassene Umsetzung: Fall Falk – Beschluss des<br />

1. Strafsenats v. 14.7.2010<br />

Keine Konsequenzen aus dem BVerfG-Beschluss gezogen<br />

hat der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung zum Fall Falk,<br />

die unmittelbar nach dem Beschluss ergangen ist und worin<br />

es um Manipulationen von Umsatz- und Ertragszahlen beim<br />

Verkauf eines Unternehmensanteils an eine englische Gesellschaft<br />

ging. 134 Danach soll auch das Fehlen eines Marktpreises<br />

mangels weiterer Kaufinteressenten der Bestimmung<br />

eines Marktpreises nicht entgegenstehen. Vielmehr sei hier<br />

der Marktpreis aus den Vereinbarungen der Vertragsparteien<br />

unter Berücksichtigung der für sie maßgeblichen preisbildenden<br />

Faktoren abzuleiten, weil dann die Parteien die Marktteilnehmer<br />

bildeten. Erst wenn die vertraglichen Vereinbarungen<br />

keine sicheren Anhaltspunkte böten, seien die allgemein<br />

anerkannten betriebswirtschaftlichen Bewertungsmaßstäbe<br />

zur Bestimmung des Unternehmenswerts heranzuziehen.<br />

Soweit die englischen Käufer gerade kein Wachstumsunternehmen<br />

erworben hätten, hätten sie nicht nur ein „minus“,<br />

sondern ein für sie unbrauchbares „aliud“ erlangt, so<br />

dass die Annahme eines Vermögensschadens in Höhe des<br />

gesamten Kaufpreises nahegelegen habe. 135<br />

Diese extensive Auslegung ist auch im Hinblick auf verfassungsrechtliche<br />

Vorgaben hochproblematisch. Sie weicht<br />

nicht nur von der auf der bisher maßgeblichen Entscheidung<br />

BGHSt 16, 220 (222) aufbauenden Rechtsprechung ab, die<br />

Vermögenspositionen mit Fug nicht nach dem „verlangten,<br />

130<br />

Oben II. 1.<br />

131<br />

Saliger, NJW 2010, 3195 (3198); Kuhlen, JR 2011, 246<br />

(254); Böse, Jura 2011, 617 (623); Schlösser, HRRS 2011,<br />

254 (255 ff.).<br />

132<br />

S. BVerfG NJW 2010, 3209 (3218 Rn. 137); noch deutlicher<br />

in BVerfG NJW 2009, 2370 (2371 Rn. 25).<br />

133<br />

Das stellt das BVerfG selbst fest in NJW 2009, 2370<br />

(2372 Rn. 31).<br />

134<br />

Zum Folgenden Saliger, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.),<br />

Strafgesetzbuch, Kommentar, § 263 Rn. 199 (im Erscheinen).<br />

135<br />

BGH wistra 2010, 407 unter Bezug auf BGH wistra 2003,<br />

457.


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 auf die Schadensdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gebotenen oder vereinbarten, sondern dem nachhaltig erzielbaren<br />

Preis“ bewertet hat. 136 Der BGH hat bislang auch den<br />

in dubio-Grundsatz auf die im Zivilrecht weithin ungeklärten<br />

Grundsätze der Unternehmensbewertung angewandt mit der<br />

Folge, dass die für den Beschuldigten günstigste Bewertungsmethode<br />

greift. 137 Vor allem aber bedeutet der Kurzschluss<br />

vom vereinbarten Preis auf den Schaden eine erhebliche<br />

Verschärfung der Subjektivierung des Schadens in Richtung<br />

einer juristischen Schadenslehre wider die auch verfassungsrechtlich<br />

vorgezeichnete primär wirtschaftliche Schadenslehre.<br />

138 Das unterstreicht die stark normativierende<br />

Annahme der völligen Wertlosigkeit des verkauften Unternehmensanteils<br />

aus Käufersicht.<br />

2. Explizite Umsetzungen<br />

Rezeptionen des BVerfG-Beschlusses in der Betrugsrechtsprechung<br />

von Strafsenaten des BGH finden sich demgegenüber<br />

in unterschiedlichem Ausmaß in zwei Beschlüssen vom<br />

14.4.2011.<br />

a) 1. Strafsenat: Beschl. v. 14.4.2011– 1 StR 458/10<br />

In der Entscheidung des 1. Strafsenats ging es um den Vorwurf<br />

des gewerbs- und bandenmäßigen Anlagebetruges gegenüber<br />

Privatanlegern im Zusammenhang mit der Veräußerung<br />

von Diamanten minderer Qualität zu überhöhten Preisen.<br />

139 Der 1. Strafsenat hebt das Urteil des LG Baden-Baden<br />

u.a. im Strafausspruch auf und nimmt dort hinsichtlich der<br />

Bestimmung der Schadenshöhe als Strafzumessungsfaktor im<br />

Ergebnis zutreffend Bezug auf den Beschluss des BVerfG.<br />

Mit Recht – und in tendenzieller Spannung zu einem Beschl.<br />

im Fall Falk – stellt der 1. Strafsenat fest, dass hinsichtlich<br />

der Bestimmung der Schadenshöhe auch in den Fällen des<br />

subjektiven Schadenseinschlags der in dem Erlangten verkörperte<br />

Gegenwert zu berücksichtigen ist, den der Geschädigte<br />

mit zumutbarem Einsatz realisieren kann. Denn – und<br />

hier erfolgt der Rekurs auf den BVerfG-Beschluss – „normative<br />

Gesichtspunkte können zwar bei der Feststellung des<br />

Schadens eine Rolle spielen, sie dürfen aber, soll der Charakter<br />

des § 263 StGB als Vermögens- und Erfolgsdelikt gewahrt<br />

bleiben, wirtschaftliche Überlegungen nicht verdrängen.“<br />

140<br />

136<br />

BGHSt 16, 220 (222). Zuletzt bestätigt durch den 3. Strafsenat<br />

in BGH NStZ 2008, 96 (98), wo auch die subjektive<br />

Werttaxierung durch den Verfügenden für unerheblich erklärt<br />

wird, und BGH NJW 2009, 3448 (3464).<br />

137<br />

BGH wistra 2003, 457 (459); Fischer (Fn. 35). § 263<br />

Rn. 112; Satzger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Fn. 37),<br />

§ 263 Rn. 141. Zum Problem Florstedt, wistra 2007, 441;<br />

Langrock, wistra 2005, 46; Adolff, Unternehmensbewertung<br />

im Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, 2007.<br />

138<br />

Vgl. oben II. 1.<br />

139<br />

Vgl. BGH, Beschl. v. 14.4.2011 – 1 StR 458/10, Rn. 5 ff.<br />

140<br />

BGH, Beschl. v. 14.4.2011 – 1 StR 458/10, Rn. 33, wo es<br />

im Bezug heißt: „vgl. für § 266 StGB BVerfG, Beschl. v.<br />

23.6.2010 – 2 BvR 2559/09 u.a., BVerfGE 126, 170<br />

Insoweit rügt der 1. Strafsenat, dass sich dem landgerichtlichen<br />

Urteil nicht mit hinreichender Klarheit entnehmen<br />

lasse, dass ein Weiterverkauf der Diamanten unmöglich gewesen<br />

wäre oder mit im Einzelfall zumutbarem Aufwand<br />

keinerlei Veräußerungsgewinne hätten erzielt werden können.<br />

Hiervon müsse sich aber der gegebenenfalls sachverständige<br />

beratene Tatrichter überzeugen, weil § 263 StGB das<br />

Vermögen und nicht die Dispositionsfreiheit schützt. 141<br />

b) 2. Strafsenat: Beschl. v. 14.4.2011 – 2 StR 616/10<br />

Noch signifikanter und umfänglicher als in dem Beschluss<br />

des 1. Strafsenats ist die Rezeption des BVerfG-Beschlusses<br />

in einer Entscheidung des 2. Strafsenats vom gleichen Tag<br />

zum Vermögensschaden bei betrügerischer Kapitalerhöhung.<br />

In dem Fall (Sachverhalt stark vereinfacht) hatte der Angeklagte<br />

als Vorstand und Alleinaktionär einer vermögenslosen<br />

Immobilien-AG zwischen 2002 und 2005 über Telefonverkäufer<br />

Privatanleger zum Kauf von Aktien seiner AG in<br />

Höhe von über 8 Mio. € gewinnen können. Die meisten Anleger<br />

erhielten vor allem zu Beginn Dividendenzahlungen in<br />

zwei- bis fünfstelliger Höhe. Den Kapitalerhöhungen lagen<br />

nur am Anfang entsprechende Beschlüsse der Hauptversammlung<br />

zugrunde. Lediglich die Durchführung der ersten<br />

Kapitalerhöhung wurde mit einem Betrag von ca. 1,5 Mio. €<br />

ins Handelsregister eingetragen. Während des Tatzeitraums<br />

und danach entnahm der Angeklagte der AG als Ausgleich<br />

für seine Vorstandstätigkeit ca. 7,75 Mio. €, um seinen Lebensunterhalt<br />

zu finanzieren. Nachdem der Angeklagte eine<br />

operative Geschäftstätigkeit zunächst nicht entfaltete, tätigte<br />

er Ende 2002 den einzigen Immobilienerwerb der AG im<br />

Tatzeitraum durch Erwerb von ca. 90% einer Hotel-GmbH,<br />

der letztlich aber scheiterte. Mitte 2006 wurde den Anlegern<br />

gegen Rückgabe von Vorzugsaktien der Immobilien-AG im<br />

Verhältnis 3:2 Vorzugsaktien einer amerikanischen Gesellschaft<br />

angeboten. Nahezu alle Anleger nahmen das Angebot<br />

an, wobei der Kurswert der Aktie im Übertragungszeitpunkt<br />

8,50 €, nach Ablauf der Haltefrist 2,50 € betrug. 142<br />

Der 2. Strafsenat beanstandet die landgerichtliche Verurteilung<br />

des Angeklagten wegen Betrugs in 78 Fällen, weil es<br />

den Vermögensschaden nicht hinreichend festgestellt habe.<br />

Unter Berufung auf den BVerfG-Beschluss fordert der<br />

2. Strafsenat mit Fug, dass der Minderwert in Gestalt der<br />

täuschungsbedingten, nicht mehr vertragsimmanenten Verlustgefahr<br />

auch in der hier vorliegenden Konstellation des<br />

Risikogeschäfts als Eingehungsbetrug konkret festzustellen<br />

und gegebenenfalls unter Beauftragung eines Sachverständigen<br />

zur wirtschaftlichen Schadensfeststellung zu beziffern ist.<br />

Rn. 114.“ Der in Bezug genommene Satz des BVerfG findet<br />

sich aber richtigerweise ebenda in Rn. 115.<br />

141 BGH Beschl. v. 14.4.2011 – 1 StR 458/10, Rn. 33. Zur<br />

gegebenenfalls erforderlichen Neubewertung der Diamanten<br />

fügt der 1. Strafsenat einschränkend hinzu, dass der neue<br />

Tatrichter nicht einen theoretisch maximal zu erzielenden<br />

Veräußerungserlös annehmen muss, wenn dieser nur mit für<br />

den jeweiligen Anleger unzumutbarem Aufwand realisierbar<br />

wäre.<br />

142 BGH NZG 2011, 874 (875).<br />

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915


Frank Saliger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Ist das nicht möglich, sind Mindestfeststellungen zu treffen,<br />

um den dadurch bedingten wirtschaftlichen Minderwert unter<br />

Beachtung des Zweifelsatzes jedenfalls schätzen zu können.<br />

143 Auf dieser Basis bemängelt der 2. Strafsenat zu<br />

Recht, dass das LG ohne weitere Darlegung zu Beginn des<br />

Tatzeitraums einen nicht näher bezifferten Vermögensgefährdungsschaden,<br />

nach dem Scheitern des Ankaufs der Hotel-GmbH<br />

und den Einzahlungen der Anleger auf tatsächlich<br />

nicht gefasste Kapitalerhöhungsbeschlüsse einen tatsächlichen<br />

Vermögensschaden angenommen habe. 144 Stattdessen<br />

hätte, so der 2. Strafsenat, der „Wert der Aktie (als Anteil an<br />

einem zu bestimmenden Unternehmenswert) zum jeweiligen<br />

Zeichnungszeitpunkt“ auch unter Zuhilfenahme sachverständiger<br />

Hilfe ermittelt werden müssen, „um unter Gegenüberstellung<br />

zu den jeweiligen Erwerbspreisen die erforderliche<br />

Saldierung vornehmen und die Schadenshöhe in jedem Einzelfall<br />

konkret beziffern zu können.“ 145 Hinsichtlich der<br />

schwierigen Frage der Wertbestimmung von Unternehmen<br />

und Aktien, insbesondere der auch zukünftige Entwicklungen<br />

umfassenden Bestimmung des Ertragswertes eines Unternehmens<br />

nimmt der 2. Strafsenat erneut Bezug auf den<br />

BVerfG-Beschluss, indem er lapidar erklärt, dass „die Einschätzung<br />

von Risiken bei der Bewertung im Wirtschaftsleben<br />

[…] kaufmännischer Alltag“ ist. 146 Die Feststellungen<br />

des LG tragen nach Auffassung des 2. Strafsenats diesen<br />

Anforderungen nicht Rechnung. Namentlich könne im Hinblick<br />

auf die entfalteten Aktivitäten des Angeklagten für die<br />

Zeit ab Mai 2002 bis März 2003 nicht von einer vollständigen<br />

Wertlosigkeit der Anlage ausgegangen werden. Allenfalls<br />

für die ab April 2003 gezeichneten Anlagen sei die Annahme<br />

eines Schadens im Ergebnis nicht zu beanstanden. 147<br />

3. Weitere Konsequenzen<br />

Wie man sieht, setzen die Strafsenate des BGH in ihrer Betrugsrechtsprechung<br />

zunehmend vor allem die – zweifellos<br />

abspracheerhöhenden – verschärften Anforderungen an die<br />

Feststellung des Vermögensschadens um. 148 Darüber hinaus<br />

stellt sich allerdings die Frage, ob aus dem BVerfG-Be-<br />

143<br />

BGH NZG 2011, 874 (875 f. Rn. 12) unter Rekurs auf<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3220).<br />

144<br />

BGH NZG 2011, 874 (875).<br />

145<br />

BGH NZG 2011, 874 (876 Rn. 16).<br />

146<br />

BGH NZG 2011, 874 (876 Rn. 16) unter Bezug auf<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 (3219 f., dort Rn. 146).<br />

147<br />

BGH NZG 2011, 874 (876 f. Rn. 15-18).<br />

148<br />

Unmissverständlich jüngst BGH HRRS 2011, Nr. 987 Rn.<br />

7, wonach die Rechtsprechung des BVerfG zum Vermögensnachteil<br />

bei der Untreue in gleicher Weise für den Vermögensschaden<br />

beim Betrug relevant ist. Diese Entscheidung<br />

des 3. Strafsenats zur Fallgruppe der „schadensgleichen“<br />

Vermögensgefahr bei gutgläubigem Eigentumserwerb geht in<br />

der bisherigen Rezeption insofern am weitesten, als sie praktisch<br />

auf die eingeschränkte Erfüllungstheorie des kritischen<br />

Schrifttums hinausläuft, der zufolge der gutgläubige Erwerber<br />

einer Sache grundsätzlich keinen Schaden erleidet (vgl.<br />

stellvertretend Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar,<br />

27. Aufl. 2011, § 263 Rn. 43).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

916<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

schluss nicht noch weitere Konsequenzen für die Betrugsstrafbarkeit<br />

gezogen werden müssen, insbesondere ob nicht<br />

spezifische Betrugsfallgruppen auf den verfassungsrechtlichen<br />

Prüfstand gehören.<br />

a) Ärztlicher Abrechnungsbetrug<br />

Letzteres könnte auf Teile der Rechtsprechung zum ärztlichen<br />

Abrechnungsbetrug zutreffen. 149 Bekanntlich ist sehr<br />

strittig, ob einen strafbaren Abrechnungsbetrug begeht, wer<br />

medizinisch indizierte und lege artis ausgeführte Leistungen<br />

abrechnet, die nur deshalb nach einschlägigen Vorschriften<br />

der ärztlichen Vergütungssysteme und Gebührenordnungen<br />

nicht abgerechnet werden dürfen, weil sie berufsordnungs-<br />

und standespolitischen Zwecken zuwiderlaufen. So soll nach<br />

dem OLG Koblenz derjenige Arzt einen Betrug zum Nachteil<br />

der Kassenärztlichen Vereinigung begehen (!), der die Kassenzulassung<br />

von Ärzten, die er im Angestelltenverhältnis<br />

beschäftigt, durch Vorlage von „Scheinverträgen“ über ihre<br />

Aufnahme als Freiberufler in eine Gemeinschaftspraxis erschleicht<br />

und die von ihnen erbrachten Leistungen als solche<br />

der Gemeinschaftspraxis abrechnet (Scheingemeinschaftspraxis,<br />

Arzt im verdeckten Angestelltenverhältnis). 150 Das<br />

OLG Koblenz stützt diese Auslegung auf die streng formale<br />

Betrachtungsweise des Sozialversicherungsrechts, wonach<br />

einen betrugstauglichen Vermögensschaden bereits eine in<br />

Teilbereichen nicht erstattungsfähige ärztliche Leistung begründet,<br />

und folgt der Strafzumessungslösung des 4. Strafsenats<br />

des BGH. 151<br />

Strafbaren Abrechnungsbetrug bejaht hat im Ergebnis<br />

auch der 3. Strafsenat des BGH für einen Fall, wo eine Vertragsarzt-Zulassung<br />

des abrechnenden Arztes, der eine reine<br />

Privatpraxis betrieb, völlig fehlte und die Abrechnung durch<br />

Zwischenschaltung eines zugelassenen Kassenarztes als<br />

Strohmann erfolgte. 152 Bemerkenswert ist, dass der 3. Strafsenat<br />

die Bejahung eines Vermögensschadens für die Fälle<br />

der Scheinselbständigen bezweifelt, weil der Irrtum der Verantwortlichen<br />

der Kassenärztlichen Vereinigung hier allein<br />

eine Statusfrage und nicht die Abrechnungsvoraussetzungen<br />

betreffe. Anders als die dortigen Ärzte, die immerhin wirksam<br />

zugelassen gewesen seien und nach Genehmigung auch<br />

als Angestellte eines Kassenarztes hätten tätig werden dürfen,<br />

liege beim Strohmann ein klarer Abrechnungsbetrug vor,<br />

149<br />

Zum Folgenden Saliger (Fn. 134), § 263 Rn. 251; vgl.<br />

auch Rönnau, in: Fischer/Bernsmann (Hrsg.), Festschrift für<br />

Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag am 25. Januar<br />

2011, 2011, S. 517 (S. 525 ff.).<br />

150<br />

OLG Koblenz MedR 2001, 144 mit abl. Bspr. Stein,<br />

MedR 2001, 124; ebenso LG Würzburg, Urt. v. 15.12.1998 –<br />

6 KLs 155 Js 704/97; dazu abl. auch Herffs, wistra 2004, 281.<br />

151<br />

OLG Koblenz MedR 2001, 144 (145).<br />

152<br />

BGH NJW 2003, 1198 (1200) m. Bspr. Beckemper/Wegner,<br />

NStZ 2003, 315; Krüger, wistra 2003, 297 und teils abl.<br />

Bspr. Idler, JuS 2004, 1037. Zust. Luig, Vertragsärztlicher<br />

Abrechnungsbetrug und Schadensbestimmung, 2009, S. 205<br />

ff.


Auswirkungen des Untreue-Beschlusses des BVerfG v. 23.6.2010 auf die Schadensdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

weil der abrechnende Arzt nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten<br />

gehöre. 153<br />

Diese Rechtsprechung wird zu Recht ganz überwiegend<br />

abgelehnt. 154 Der grundsätzlich zulässige Rekurs auf staatliche<br />

Vergütungssysteme im ärztlichen Leistungsbereich als<br />

Marktersatz findet seine Grenze in der Gefahr der Rechtsgutsvertauschung,<br />

die real wird, wenn an Vorschriften angeknüpft<br />

werden muss, die allein berufsordnungs- und standespolitische<br />

Zwecken dienen (eingeschränkte Sozialversicherungsakzessorietät).<br />

Das ist der Fall bei den Abrechnungsvoraussetzungen<br />

der Kassenzulassung eines approbierten Arztes<br />

oder dem Verbot verdeckter Angestelltenverhältnisse, die das<br />

ordnungspolitische Ziel verfolgen, die ambulante ärztliche<br />

Versorgung grundsätzlich „in freier Praxis“ zu gewährleisten.<br />

155 Soweit diese Abrechnungsvoraussetzungen nicht die<br />

Qualität der ärztlichen Leistung, sondern eine Statusfrage<br />

betreffen, kann ihre Sanktionierung nicht im Wege des auf<br />

rein materiellen Vermögensschutz beschränkten Betrugstatbestands<br />

erfolgen. 156 Deshalb ist in den Fällen der Scheingemeinschaftspraxis<br />

und des Stroharztes wirtschaftlich ebenfalls<br />

auf die medizinisch indizierte und lege artis erbrachte<br />

ärztliche Leistung abzustellen, die zur Erfüllung des Anspruchs<br />

des Patienten gegenüber seiner Krankenkasse führt,<br />

so dass wegen Kompensation (Befreiung von einer Verbindlichkeit)<br />

ein Vermögensschaden ausscheidet. 157 Zur Sicherung<br />

der ordnungspolitischen Ziele genügen disziplinar- und<br />

berufsrechtliche Sanktionen. 158<br />

Im Ergebnis bedarf diese Rechtsprechung mit ihrem Prinzip<br />

der strikten Formalisierung des Schadens der verfassungsrechtlichen<br />

Überprüfung, weil sie gegen das Verschleifungs-<br />

153<br />

BGH NJW 2003, 1198 (1200).<br />

154<br />

Str., wie hier i.E.: LG Lübeck GesR 2006, 177 m. Bspr.<br />

Wessing/Dann GesR 2006, 150; Hefendehl, in: Joecks/Miebach<br />

(Fn. 37), § 263 Rn. 526 f.; Cramer/Perron, in: Schönke/<br />

Schröder (Fn. 70), § 263 Rn. 112; Satzger (Fn. 137), § 263<br />

Rn. 198; Volk, NJW 2000, 3385 (3387 ff.); Stein, MedR<br />

2001, 124 (131); Herffs, wistra 2004, 281 (288); Idler, JuS<br />

2004, 1037 (1041); Ellbogen/Wichmann MedR 2007, 10 (11,<br />

15); Walter, in: Putzke u.a. (Hrsg.) Strafrecht zwischen System<br />

und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum<br />

siebzigsten Geburtstag am 14. Februar 2008, 2008, S. 763<br />

(S. 771 f.); Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl.<br />

2008, § 14 Rn. 33 ff.; Hancok, Abrechnungsbetrug durch<br />

Vertragsärzte, 2006, S. 223 f.; Hellmann/Herffs, Der Abrechnungsbetrug<br />

des Vetragsarztes, 2002, S. 90; wohl auch Lackner/Kühl,<br />

Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2011,<br />

§ 263 Rn. 56. Nur beim Arzt im verdeckten Angestelltenverhältnis<br />

abl. Luig (Fn. 152), S. 204 f. Dem BGH zust. Fischer<br />

(Fn. 35), § 263 Rn. 155.<br />

155<br />

Stein, MedR 2001, 124 (127); vgl. auch Idler, JuS 2004,<br />

1037 (1041).<br />

156<br />

Volk, NJW 2000, 3385 (3387 f.); Satzger (Fn. 137), § 263<br />

Rn. 198; Hefendehl (Fn. 154), § 263 Rn. 527.<br />

157<br />

Idler, JuS 2004, 1037 (1041); Herffs, wistra 2004, 281<br />

(287); Ellbogen/Wichmann MedR 2007, 10 (11, 15).<br />

158<br />

Stein, MedR 2001, 124 (131); vgl. auch Gaidzik, wistra<br />

1998, 329 (334).<br />

verbot von Täuschung und Schaden verstößt und damit den<br />

Vermögensdeliktscharakter des Betrugs untergräbt. 159<br />

b) Weitere Fallgruppen<br />

Welche weiteren Betrugs-Fallgruppen unter verfassungsrechtlichen<br />

Legitimationsdruck geraten, ist derzeit völlig<br />

unklar. Soweit die Frage im Schrifttum überhaupt bereits<br />

diskutiert wird, besteht nahezu Einigkeit dahin, dass jedenfalls<br />

der Quotenschaden beim Sportwettenbetrug 160 hochproblematisch<br />

bzw. verfassungswidrig ist. 161 Verfassungsrechtlicher<br />

Überprüfung nicht standhalten dürfte auch die<br />

Rechtsprechung des 3. Strafsenats zum Versicherungsbetrug<br />

im Al-Quaida-Fall. Danach soll bereits die signifikante Erhöhung<br />

der Leistungswahrscheinlichkeit bei Versicherungsvertragsschluss<br />

durch den vorhandenen Entschluss des Angeklagten,<br />

in Zukunft einen Versicherungsfall zu fingieren,<br />

einen vollendeten Betrugsschaden des Versicherers begründen.<br />

162<br />

Darüber hinaus werden teilweise die indiziellen Schadensbegründungen<br />

beim Submissionsbetrug und bei Kick-<br />

Back-Zahlungen als problematisch angesehen. 163 Doch das<br />

überzeugt jedenfalls dann nicht, wenn die Schadensindizien<br />

wirtschaftliche Plausibilität besitzen wie etwa die Ausgleichszahlungen<br />

beim Submissionsbetrug. 164 Dagegen dürfte<br />

der moralisierende Anstellungsbetrug bei Nichtoffenbarung<br />

einer früheren Stasi-Tätigkeit verfassungsrechtlich unter<br />

Druck geraten. Sofern der BGH einen Vermögensschaden<br />

ungeachtet des Umstands, dass der Täter fachlich nicht zu<br />

beanstandende Leistungen erbrachte, allein auf das Bestehen<br />

eines zwingenden rechtlichen Einstellungshindernisses aus<br />

dem Bereich der persönlichen Zuverlässigkeit stützt, 165 transformiert<br />

er unzulässigerweise die auch moralisch konnotierten<br />

Zwecksetzungen des Beamtenrechts wie Ansehen des<br />

Staates, Verfassungstreue, Lauterkeit der staatlichen Amtsführung<br />

oder Idee eines untadeligen Berufsbeamtentums in<br />

159<br />

Überholt wäre damit BVerfG NJW 1998, 810.<br />

160<br />

BGHSt 51, 165 (175).<br />

161<br />

Saliger (Fn. 48), S.457 ff.; Wattenberg/Gehrmann, Zeitschrift<br />

für Bankrecht und Bankwirtschaft 2010, 507 (508);<br />

Rönnau (Fn. 149), S. 527 ff.<br />

162<br />

BGH NJW 2009, 3448 (3449) m. abl. Anm. Thielmann/<br />

Groß-Bölting/Strauß, HRRS 2010, 34 (38) und abl. Bspr.<br />

Saliger (Fn. 48), S. 475 ff.; zust. dagegen Winkler, JurisPR-<br />

StrafR 2010, 86.<br />

163<br />

Wattenberg/Gehrmann, Zeitschrift für Bankrecht und<br />

Bankwirtschaft 2010, 507 (508 f.) unter dem Stichwort eines<br />

normativen Schadensbegriffs; Rönnau (Fn. 149), S. 524 f.<br />

und 529 ff., unter dem Leitbegriff der Schadensfiktion.<br />

164<br />

BGH wistra 1994, 346 (348); BGHSt 47, 83 (88); näher<br />

Saliger (Fn. 134), § 263 Rn. 264.<br />

165<br />

BGHSt 45, 1 (11 ff., 13) m. Anm. Geppert, NStZ 1999,<br />

305; Otto, JZ 1999, 738; Jahn, JA 1999, 628; Seelmann, JR<br />

2000, 164; ferner Dammann/Kutscha, NJ 1999, 284.<br />

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917


Frank Saliger<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Schutzzwecke des Betrugs- bzw. Vermögensstrafrecht. 166<br />

Über weitere Betrugsfallgruppen wird zu diskutieren sein. 167<br />

V. Zusammenfassung<br />

Die vorstehende Analyse lässt sich zu folgenden Ergebnissen<br />

zusammenfassen:<br />

1. Der 2. Senat des BVerfG stellt mit dem Beschluss v.<br />

23.6.2010 die Handhabung des Untreuetatbestandes auf eine<br />

neue verfassungsrechtliche Grundlage, indem er aus dem<br />

Bestimmtheitsgebot teilweise neue Auslegungsziele für die<br />

Strafrechtsprechung entwickelt und die verfassungsgerichtliche<br />

Kontrolldichte erhöht.<br />

2. Der vom BVerfG auf die Tagesordnung gesetzte und<br />

problematische bilanzrechtsorientierte Ansatz zur Ausfüllung<br />

des Vermögensnachteils dürfte sich in der Praxis Umgehungsstrategien<br />

ausgesetzt sehen.<br />

3. Der Ansatz des 1. Strafsenats des BGH, nur zumindest<br />

mittelbar vermögensschützende Rechtsnormen als untreuetaugliche<br />

Pflichtenquellen anzuerkennen, verdient ebenso<br />

Zustimmung wie seine Erweiterung der Unmittelbarkeit bei<br />

der Gesamtsaldierung auf nicht zeitnahe Vermögensvorteile<br />

(AUB-Fall).<br />

4. Demgegenüber ist die Neubegründung der Strafbarkeit<br />

der Parteienuntreue durch den 1. Strafsenat im Fall der Kölner<br />

Spendenaffäre abzulehnen.<br />

5. Bei der Haushaltsuntreue ist die wirtschaftliche Grundlage<br />

des Prinzips der Gesamtsaldierung streng zu beachten.<br />

Deshalb kann eine Kreditaufnahme nicht in die kompensationsgeeignete<br />

Darlehensauszahlung und die nicht kompensationsgeeignete<br />

Zinsverpflichtung aufgespalten werden. Das<br />

läuft auf eine juristische Schadenslehre hinaus, die nach dem<br />

BVerfG-Beschluss nicht mehr verfassungsgemäß ist (gegen<br />

den 1. Strafsenat im Fall Schäch).<br />

6. Der BVerfG-Beschluss hat auch Konsequenzen für die<br />

Betrugsstrafbarkeit. Strafsenate des BGH haben bislang vor<br />

allem die verschärften Anforderungen an die Schadensfeststellung<br />

in ihrer Betrugsrechtsprechung umgesetzt. Darüber<br />

hinaus wird der BVerfG-Beschluss auch für bestimmte Betrugsfallgruppen<br />

erheblich. Das gilt insbesondere für den<br />

Sportwettenbetrug, die Annahme eines vollendeten Versicherungsbetrugs<br />

im Al-Qaida-Fall sowie spezifische Fälle des<br />

ärztlichen Abrechnungsbetrugs und des Anstellungsbetrugs.<br />

166<br />

Saliger (Fn. 134), § 263 Rn. 191.<br />

167<br />

Für Schlösser, HRRS 2011, 254 (264) z.B. folgt aus der<br />

jüngsten Rechtsprechung des BVerfG die Verfassungswidrigkeit<br />

der gesamten Zweckverfehlungslehre. Das geht, was<br />

hier nicht gezeigt werden kann (vgl. aber Saliger [Fn. 134],<br />

§ 263 Rn. 1, 189 f., 207 ff., 214 ff.), zu weit. Vgl. i.Ü. Saliger<br />

(Fn. 48), S. 457 ff. Auch Auswirkungen auf die Auslegung<br />

der Täuschungshandlung kommen in Betracht.<br />

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918<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011


Betrug und Untreue als konkrete Gefährdungsdelikte de lege lata und de lege ferenda*<br />

Von Privatdozent Dr. Pierre Hauck, LL.M. (Sussex), Gießen<br />

Die bislang vorrangig aus vermögensstrafrechtlicher und<br />

verfassungsrechtlicher Sicht geführte Diskussion 1 über die<br />

Zulässigkeit der „konkreten Vermögensgefährdung“ als<br />

Schaden bei Betrug und Untreue 2 lässt sich aus der Perspektive<br />

des Allgemeinen Teils bereichern: Sobald man sich Gewissheit<br />

darüber verschafft hat, dass die Vermögensgefährdung<br />

eine Gefährdung des Vermögens verstanden als konkretes<br />

Handlungsobjekt und nicht in seiner Eigenschaft als<br />

Rechtsgut voraussetzt, hat die Vertatbestandlichung einer<br />

solchen Gefährdung besonderen Regeln zu folgen. In der<br />

bloßen Gefährdung des Vermögens liegt de lege lata keine<br />

„Vermögensbeschädigung“ oder „Nachteilszufügung“, sodass<br />

es schon nominell gegen das Analogieverbot (Art. 103<br />

Abs. 2 GG) verstoßen muss, wenn man bei den §§ 263 Abs. 1,<br />

266 Abs. 1 StGB eine „schadensgleiche Gefährdung“ zulässt.<br />

Selbst de lege ferenda wäre es für die Anerkennung eines<br />

Gefährdungsschadens aber notwendig, den Anforderungen<br />

an die Konstruktion eines konkreten Gefährdungsdelikts zu<br />

genügen, was nicht gelingt: Vermögensgefährdungen, die zu<br />

keinem Vermögensschaden führen, erfüllen offensichtlich<br />

nicht die insoweit geltende Voraussetzung eines „stark gefährlichen<br />

Verhaltens“, und ihre Strafbarkeit wäre auch<br />

deshalb verfassungsrechtlich nicht zu legitimieren.<br />

I. Der Gefährdungsdeliktscharakter als Missverständnis<br />

europäischer Initiativen und im Strudel der Diskussion<br />

über die „schadensgleiche Vermögensgefährdung“<br />

Fragen wir uns heute nach Berührungspunkten zwischen der<br />

Dogmatik der Vermögensdelikte und derjenigen der Gefährdungsdelikte,<br />

so erschließen sich uns schon auf den ersten<br />

Blick nicht weniger als drei Zusammenhänge:<br />

Der erste ergibt sich unschwer aus dem Gesetz: Tatbestände<br />

wie der Subventions-, der Kapitalanlage- und der<br />

Kreditbetrug (§§ 264, 264a, 265b StGB) erfordern keine<br />

Vermögensschädigung als tatbestandlichen Erfolgseintritt,<br />

sondern sind nach h.M. vielmehr als abstrakte Gefährdungsdelikte<br />

zum Schutze überindividueller Rechtsgüter ausgestal-<br />

* Vortrag im Rahmen eines deutsch-japanischen Strafrechtskolloquiums<br />

vom 17.-18.2.2011 an der Justus-Liebig-Universität<br />

Gießen. Dieser Beitrag ist dem Gedenken an Herrn Prof.<br />

Dr. Günter Heine (†) gewidmet, der dieses Kolloquium durch<br />

seine Teilnahme noch bereichern konnte, die Veröffentlichung<br />

der Referate aber nicht mehr erleben durfte.<br />

1<br />

Zu Art. 103 Abs. 2 GG jüngst Satzger, JK § 266 I/36; zuvor<br />

Bernsmann, GA 2007, 219 (229); Sonnen, StV 1989, 479<br />

(480); Amelung, NJW 1975, 624 (625). Entsprechende Konjunkturen<br />

bescheinigt Fischer, NStZ-Sonderheft für Klaus<br />

Miebach 2009, 8 (9).<br />

2<br />

§§ 263, 266 StGB stehen hier freilich nur stellvertretend für<br />

sämtliche Vermögensdelikte i.e.S., sodass sich die folgenden<br />

Überlegungen etwa auch auf die Erpressung gem. § 253<br />

StGB übertragen lassen.<br />

tet. 3 Für diese Deliktsgruppe ist es schlechthin kennzeichnend,<br />

dass ihr Unwertgehalt in typischerweise gefährlichen<br />

(Täuschungs-)Handlungen vollständig aufgeht. Diese abstrakten<br />

Gefährdungsdelikte sind ihrerseits zwar erheblichen<br />

dogmatischen und kriminalpolitischen Bedenken ausgesetzt, 4<br />

betreffen glücklicherweise aber nicht den Kern unseres Problems.<br />

Unserem eigentlichen Thema kommen wir aber schon mit<br />

Blick auf die zweite Einflusslinie, dem Europäischen Strafrecht,<br />

näher: Das deutsche Strafrecht steht heute mehr denn je<br />

unter dem Harmonisierungseinfluss des europäischen Rechts.<br />

Das gilt auch für die Straftatbestände von Betrug und Untreue.<br />

5 Das Corpus Juris zum Schutz der finanziellen Interessen<br />

der EU und mehrere Übereinkommen, etwa das PIF-<br />

Übereinkommen vom 26.7.1995 betreffend den Schutz der<br />

finanziellen Interessen der EG, zielen darauf ab, die nationalen<br />

Vermögensstrafrechte einander anzugleichen. 6 Auch die<br />

3<br />

Vgl. die Hinweise auf die h.M. bei Wohlers, in: Joecks/<br />

Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />

Bd. 4, 2006, § 264 Rn. 12; § 264a Rn. 9; § 265b Rn. 3.<br />

Ausnahmsweise enthält § 264 Abs. 1 Nr. 2 StGB ein Erfolgsdelikt,<br />

vgl. Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 2009,<br />

Rn. 683. Problematisch ist, dass diese abstrakten Gefährdungsdelikte<br />

teilweise (das gilt für § 264 StGB, nicht jedoch<br />

für § 264a StGB) denselben Strafrahmen aufweisen wie der<br />

Betrug gem. § 263 StGB, dazu Kindhäuser, in: Günther/<br />

Amelung/Kühne (Hrsg.), Festschrift für Volker Krey zum 70.<br />

Geburtstag am 10. Juli 2010, 2010, S. 249 (S. 255).<br />

4<br />

Vgl. aus jüngerer Zeit Rotsch, in: Joecks/Ostendorf/Rönnau/<br />

Rotsch/Schmitz (Hrsg.), Recht – Wirtschaft – Strafe, Festschrift<br />

für Erich Samson, 2010, S. 141 (S. 155); Hettinger, in:<br />

Putzke u.a. (Hrsg.) Strafrecht zwischen System und Telos,<br />

Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag<br />

am 14. Februar 2008, 2008, S. 648, für die Aussetzung;<br />

Hörnle, in: Hoyer (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-<br />

Christian Schröder zum 70. Geburtstag, 2006, S. 477, aus<br />

Sicht der Anschlussdelikte; Kindhäuser, in: Schünemann/<br />

Suarez Gonzalez (Hrsg.), Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts,<br />

Madrid-Symposium für Klaus Tiedemann,<br />

1994 S. 125. für die Wirtschaftsdelikte. Monographisch freilich<br />

Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 22 ff., 349<br />

ff.; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, zur<br />

Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 286 ff.<br />

5<br />

Satzger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />

Kommentar, 2009, § 263 Rn. 3 spricht von einer regelrechten<br />

„Sprengkraft“, die vom EG- und EU-Recht mit Wirkung<br />

auf § 263 StGB ausgeht. Vgl. Hecker, Europäisches<br />

Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 14 Rn. 16 ff. Rotsch (Fn. 4),<br />

S. 141 (S. 149), spricht von einer „Parallelordnung […], die<br />

ihren eigenen Regeln folgt.“<br />

6<br />

Satzger (Fn. 5), § 263 Rn. 4 f.; Hecker (Fn. 5), § 14 Rn. 28<br />

ff.; zum Begriff der Harmonisierung Hauck, in: Beck/Bur-<br />

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919


Pierre Hauck<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung (vgl.<br />

Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2, 3 EUV, 288 UAbs. 3 AEUV) steuert<br />

die Tatbestandsauslegung heute unmittelbar. 7 Fragen wir uns,<br />

ob diese Zielvorgaben mit der überkommenen deutschen<br />

Dogmatik vereinbar sind, so stießen wir bereits in der Vergangenheit<br />

auf deutliche Warnungen, wonach namentlich das<br />

Corpus Juris eine Gefährdungskonzeption in das deutsche<br />

Recht transportiere, weshalb Betrug und Untreue unter europäischem<br />

Einfluss zu konkreten Gefährdungsdelikten zu<br />

verkommen drohten. 8<br />

Unabhängig davon, ob solche Warnungen berechtigt sind<br />

oder nicht, 9 führt uns eben diese Befürchtung einer Umgestaltung<br />

der Vermögensdelikte im engeren Sinne zu konkreten<br />

chard/Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als<br />

Problem und Lösung, 2011, S. 255 (S. 257 f.).<br />

7<br />

Vgl. nur Hecker, Strafbare Produktwerbung im Lichte des<br />

Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 247 ff., zur Auslegung des<br />

Täuschungs- und Irrtumsbegriffs; Satzger (Fn. 5), § 263<br />

Rn. 11, 66 ff.<br />

8<br />

Vgl. DAV, Stellungnahme 28/2002, S. 9: „ist doch z. Bsp.<br />

das deutsche Strafrecht noch weit davon entfernt, etwa den<br />

Betrug als Gefährdungsdelikt und auch als Fahrlässigkeitsdelikt<br />

auszugestalten, was im Grünbuch (unter Ziff. 5.2.1.1,<br />

letzter Absatz) erwogen wird.“ (abrufbar unter:<br />

http://ec.europa.eu/anti_fraud/green_paper/contributions/pdf/<br />

gp_dav_de.pdf, zuletzt abgerufen am 15.7.2011). Im Grünbuch,<br />

KOM 2001 (715) heißt es an der angegebenen Stelle in<br />

der Tat: „Die Straftat könnte zudem als Gefährdungsdelikt<br />

ausgestaltet werden, um zu vermeiden, dass der Erfolg der<br />

Verletzungshandlung Voraussetzung für die Strafverfolgung<br />

ist.“ (abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/<br />

de/com/2001/com2001_0715de01.pdf, zuletzt abgerufen am<br />

15.7.2011). Auch die englische und die französische Fassung<br />

stimmen hierin überein: „The effect of the fraud might be<br />

extended to include the endangering of the Community’s<br />

financial interests so as not to make the successful outcome<br />

of the fraudulent act a precondition for its prosecution.“ (abrufbar<br />

unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/en/com/<br />

2001/com2001_0715en01.pdf, zuletzt abgerufen am 15.7.<br />

2011) „L’effet de la fraude pourrait être étendu au cas de<br />

mise en danger des intérêts financiers communautaires, afin<br />

d’éviter de faire de la réussite des agissements frauduleux une<br />

condition nécessaire à leur poursuite.“ (abrufbar unter<br />

http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/fr/com/2001/com-<br />

2001_0715fr01.pdf zuletzt abgerufen am 15.7.2011).<br />

9<br />

So führt Schulz, in: Schulz/Bemmann/Zwiehoff (Hrsg.),<br />

Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft, 2007, S. 259<br />

(S. 260 Fn. 4) die Bedenken des DAV auf eine Fehlinterpretation<br />

des fraud/fraude-Begriffs zurück, was sich angesichts<br />

des eindeutigen Wortlauts aller drei Sprachfassungen (vgl.<br />

Fn. 8) nur schwer begründen lässt. Gleichwohl entspricht es<br />

einem die Verletzungsdelikte (§§ 263, 266 StGB) nicht erfassenden<br />

Verständnis, dass in Umsetzung des PIF-Übereinkommens<br />

durch das Finanzschutzgesetz von 1998 nur § 264<br />

StGB angepasst werden musste, §§ 263, 264a StGB und<br />

§ 370 AO aber bereits den europäischen Vorgaben entsprachen,<br />

vgl. Satzger (Fn. 5), § 263 Rn. 4.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

920<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

Gefährdungsdelikten – gleich, ob schon gesetzlich oder erst<br />

im Wege der Auslegung – schließlich zur dritten und für<br />

unsere folgenden Überlegungen zentralen Schnittmenge: Die<br />

rein national geführte Diskussion über die Rechtsfigur der<br />

sog. „schadensgleichen“ Vermögensgefährdung. Dieses heute<br />

kurz „Gefährdungsschaden“ 10 genannte Institut, vom RG<br />

ursprünglich anerkannt, um die von ihm für strafwürdig erachteten<br />

Vermögensangriffe abseits der unstreitigen Substanzverluste<br />

zu erfassen, 11 gilt heute in erster Linie im Gewand<br />

seiner Einkleidung als „schadensgleicher“ Vermögens-<br />

10<br />

Vgl. BGHSt 45, 1 (4 f.); BGHSt 51, 100. Zum Wandel der<br />

terminologischen Vorlieben im Laufe der Zeit Fischer, Stra-<br />

Fo 2008, 269 (271).<br />

11<br />

Es trifft entgegen Schünemann, NStZ 2008, 430, nicht zu,<br />

dass man die Rechtsfigur der konkreten Gefährdung erst<br />

„lange Zeit“ nach ihrer Etablierung in § 263 auf § 266 StGB<br />

übertragen hat. Dem die konkrete Gefährdung für § 263<br />

StGB anerkennenden Beschluss der Vereinigten Strafsenate<br />

des RG v. 20.4.1887 (RGSt 16, 1 – Irrtümlicher Beitritt zu<br />

einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit) folgte<br />

das Urt. des 3. Strafsenats (RGSt 16, 77 [81]) nur einen Tag<br />

später. Entgegen Fischer, StraFo 2008, 269 (270), verwies<br />

RGSt 16, 77 nicht auf entsprechende Rechtsprechung des<br />

Preußischen Obertribunals. RGSt 9, 168 (170) – Frachtbetrug<br />

zulasten der Leipzig-Magdeburger Eisenbahn; es handelt sich<br />

um den untypischen Fall der Erschleichung der Beförderung<br />

einer Kiste Feuerwerkskörper durch die Eisenbahn, bei der es<br />

um die Frage ging, ob die mögliche [und tatsächlich nicht<br />

eingetretene] Explosion der Böller während der Fahrt einen<br />

Vermögensschaden begründen kann [!]: „Gestattet auch der<br />

Begriff der Vermögensbeschädigung im Gebiete des Betruges<br />

eine weite Auslegung in dem Sinne, daß darunter nicht<br />

bloß eine effektive und substanzielle Verminderung des<br />

Vermögens durch Ausscheiden bestimmter konkreter Bestandteile<br />

aus demselben, sondern jede Beeinträchtigung und<br />

Verschlimmerung der Vermögenslage, welche durch die<br />

Irrtumserregung herbeigeführt ist, verstanden werden kann,<br />

so setzt sie doch immer eine nachteilige Veränderung des<br />

aktuellen Vermögenszustandes voraus. Als solche kann eine<br />

bloße Gefährdung, die bloße Möglichkeit künftigen Eintrittes<br />

einer Vermögensbenachteiligung, nach dem Wortlaute, wie<br />

nach dem Sinne des Gesetzes, welches zum Thatbestande des<br />

Betruges als eines Vermögensdeliktes die Verletzung fremden<br />

Vermögens voraussetzt, nicht angesehen werden. […]<br />

Schon der Erwerb der unsicheren Forderung an Stelle einer<br />

sicheren oder an Stelle der mehrwertigen Leistung enthält<br />

eine effektive Beeinträchtigung des Vermögenszustandes.<br />

Ebenso ist letzteres der Fall schon bei Belastung des Vermögens<br />

mit einer Schuldverbindlichkeit, nicht erst, wenn es zur<br />

Erfüllung der letzteren kommt.“ RGSt 12, 395 (397) – Kreditbetrug<br />

durch Ausstellen eines Wechsels durch vermögenslose<br />

Akzeptanten und Giranten, sog. unechter „Kellerwechsel“:<br />

Gefährdung der Wechselnehmer infolge der wirtschaftlichen<br />

Wertlosigkeit des umlaufenden Wechsels: „Daß schon<br />

in solcher Gefährdung eines Forderungsrechtes eine Vermögensbeschädigung<br />

im Sinne von §. 263 S.t.G.B.‘s gefunden<br />

werden kann, hat das Reichsgericht konstant anerkannt.“


Betrug und Untreue als konkrete Gefährdungsdelikte de lege lata und de lege ferenda<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gefährdung, 12 daneben aber auch aufgrund der sich dahinter<br />

verbergenden prinzipiellen Unvereinbarkeit mit der angeblichen<br />

Deliktsnatur von Betrug, Untreue oder Erpressung 13 als<br />

Verletzungsdelikte als von Grund auf verpönt. 14 Mit der Anerkennung<br />

einer bloßen Gefahrenlage als Schaden würden die<br />

als Verletzungsdelikte konzipierten Tatbestände von Betrug<br />

und Untreue contra legem zu konkreten Vermögensgefährdungsdelikten<br />

umgestaltet, 15 oder anders formuliert: Die vom<br />

Gesetz in den §§ 263 Abs. 1, 266 Abs. 1 StGB synonym 16<br />

gebrauchten Begriffe „Schaden“ und „Nachteil“ seien mit der<br />

Figur eines „Gefährdungsschadens“ schlechthin nicht zu<br />

vereinbaren. 17<br />

Das setzt jedoch voraus, dass die Subsumtion der konkreten<br />

Vermögensgefährdung unter den Schadensbegriff zum<br />

Scheitern verurteilt ist. Aufgabe dieses Beitrages ist deshalb<br />

die Überprüfung dieser Unvereinbarkeitsthese anhand neuester<br />

Erkenntnisse zur Dogmatik der Gefährdungsdelikte. 18 Die<br />

12<br />

Vgl. BGHSt 45, 1 (4 f.); Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen<br />

(Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,<br />

Bd. 3, 3. Aufl. 2010, § 263 Rn. 299. Deutlich gegen den<br />

Begriff Rotsch (Fn. 4), S. 155 in Fn. 83.<br />

13<br />

Eisele (Fn. 3), Rn. 544, hebt die Relevanz dieser Schadensdiskussion<br />

für den oft vernachlässigten § 253 StGB hervor.<br />

14<br />

Vgl. jüngst BGHSt 53, 199 (202); BGHSt 52, 323 (336 ff.);<br />

dazu Bittmann, NStZ 2011, 361 (367): „Zwischen dem 1. und<br />

dem 2. Strafsenat des BGH war nach der Entscheidung in<br />

Sachen Siemens-ENEL im Wesentlichen nur noch streitig, ob<br />

es Ausnahmefälle gibt.“ Vgl. ferner Hefendehl, in: Joecks/<br />

Ostendorf/Rönnau/Rotsch/Schmitz (Fn. 4), S. 295, sowie<br />

Schünemann, StraFo 2010, 1 und 477; ders., NStZ 2008, 430.<br />

Der Streit innerhalb des BGH fand seinen vorläufigen Höhepunkt<br />

im offen ausgetragenen Disput zwischen Fischer, Stra-<br />

Fo 2008, 269 einerseits und Nack, StraFo 2008, 277 andererseits.<br />

15<br />

Murmann, Jura 2010, 561 (565), im Anschluss an Beulke,<br />

in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift für Ulrich<br />

Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 245 (S. 251 f.,<br />

S. 262), und Perron, GA 2009, 219 (227 ff.).<br />

16<br />

Eigentlich war die Bedeutungsidentität beider Begriffe seit<br />

Mayer, Die Untreue im Zusammenhang der Vermögensverbrechen,<br />

1926, S. 144 f., „endgültig entschieden“; zu a.A.<br />

seither (Ausdehnung des Nachteils bei § 266 StGB v.a. auf<br />

finanziell nicht messbare oder immaterielle Beeinträchtigungen<br />

bzw. zwar Bedeutungsgleichheit von Schaden und Nachteil,<br />

jedoch engerer Vermögensbegriff beim Betrug) vgl. die<br />

Nachweise bei Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften,<br />

S. 104 f.; heute a.A. etwa Mansdörfer, JuS 2009, 114 (115,<br />

118).<br />

17<br />

Vgl. Hefendehl, der die Subsumtion der konkreten Gefahr<br />

unter das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens für<br />

„zwingend“ ausgeschlossen und dementsprechend den Bedarf<br />

nach einer Unterstellung der Vermögensgefährdung unter die<br />

Vermögensverletzung für „eindeutig“ hält (Hefendehl, Vermögensgefährdung<br />

und Exspektanzen, 1994, S. 131).<br />

18<br />

Vgl. nur Kindhäuser (Fn. 3), S. 249 oder Hirsch, in: Sieber<br />

u.a. (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, Dogmatik,<br />

Untersuchung gelangt zunächst zu dem kaum überraschenden<br />

Ergebnis, dass die konkrete Vermögensgefährdung in den<br />

Tatbeständen von Betrug und Untreue nach der heutigen<br />

Gesetzeslage nicht tatbestandlich erfasst ist. Aber selbst wenn<br />

man dies erstrebt, lassen sich die Vermögensdelikte i.e.S. de<br />

lege ferenda nicht als konkrete Vermögensgefährdungsdelikte<br />

ausgestalten. Normativ ist ein solcher Gefährdungsschutz<br />

zwar denkbar. Doch würde die (notwendige) Kodifikation<br />

sowohl an den verfassungsrechtlichen Grenzen der Verhältnismäßigkeit<br />

scheitern – die Vermögensgefährdung erweist<br />

sich als nicht strafwürdig genug – als auch den systematischen<br />

Grenzen zuwiderlaufen, die die bilanzielle Schadensbestimmung<br />

dem Vermögensschutz heute setzt. Die Analyse<br />

beginnt mit klärenden Worten zum Vermögensbegriff (II. 1.)<br />

und setzt dieses Schutzgut der §§ 263, 266 StGB dann in<br />

Bezug zu den möglichen Formen seiner Beeinträchtigung<br />

(II. 2.).<br />

II. Beeinträchtigungen des Vermögens durch Verletzung,<br />

Gefährdung und Schädigung – Vom Durchschlagen eines<br />

gordischen Knotens<br />

1. Der „Schlüsselbegriff“ 19 des Vermögens<br />

Wenn es sich bei der Verletzung und der Gefährdung nach<br />

h.M. um verschiedene Modalitäten der Beeinträchtigung<br />

eines Rechtsguts handeln soll, 20 so drängt sich gleich zu Beginn<br />

dieses Referats eine vorrangige Orientierung darüber<br />

auf, was man unter dem Rechtsgut des Vermögens zu verstehen<br />

hat. Denn wenn man nicht weiß, was Betrug, Untreue<br />

oder Erpressung schützen, ist es müßig, sich über das Für und<br />

Wider sowie über die systematische Verschränkung gewisser<br />

Angriffsformen Gedanken zu machen, die zulasten dieses<br />

(dann ja noch unbekannten) Schutzguts geführt werden. 21<br />

Ganz in diesem Sinne einer vorherigen Vermögensbestimmung<br />

erklärt etwa Urs Kindhäuser die Art der Gefahr als von<br />

der Art des betroffenen Rechtsguts abhängig 22 und Thomas<br />

Fischer bringt es in umgekehrter Richtung ebenso auf den<br />

Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, Festschrift für Klaus Tiedemann<br />

zum 70. Geburtstag, 2008, S. 145, und jüngst Radtke,<br />

in Geisler/Kraatz/Kretschmer/Schneider/Sowada (Hrsg.),<br />

Festschrift für Klaus Geppert zum 70. Geburtstag am 10.<br />

März 2011, 2011, S. 461.<br />

19 Zutreffend kennzeichnet Schünemann, StraFo 2010, 1 (3)<br />

das Vermögen als „Schlüsselfrage“ der gesamten Diskussion<br />

um die konkrete Vermögensgefährdung als schadenskonstituierendes<br />

Merkmal.<br />

20 Vgl. stellvertretend zu § 315c StGB Radtke (Fn. 18), S. 461<br />

(S. 467), m.w.N. auf die Rechtsprechung: BGH VRS 44<br />

(1973), 422 (423); BGH NJW 1995, 3131; BGH NStZ-RR<br />

1998, 150; BGH NZV 2000, 213; BGH NStZ-RR 2010, 120.<br />

21 Die präjudizielle Bedeutung des vertretenen Vermögensbegriffs<br />

lässt sich nicht oft genug betonen, vgl. Hefendehl, in:<br />

Joecks/Miebach (Fn. 3), § 263 Rn. 293. Freilich ist auch die<br />

umgekehrte Überlegung, ob sich das Vermögen nicht auch<br />

von der Art und Weise seiner Beeinträchtigung bestimmen<br />

lässt, im Auge zu behalten.<br />

22 Kindhäuser (Fn. 3), S. 249 (S. 250).<br />

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921


Pierre Hauck<br />

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Punkt: „Das Konzept des Gefährdungsschadens ist in der<br />

Bestimmung des Rechtsguts selbst begründet.“ 23 Was bedeutet<br />

demnach „Vermögen“?<br />

Ohne die Darstellung hier in unzulässiger Weise vereinfachen<br />

zu wollen, 24 ist der Stand der Diskussion um den Vermögensbegriff<br />

heute doch vor allem durch das Bemühen<br />

nach einer Abgrenzung, ja einer Bewahrung der favorisierten<br />

wirtschaftlich-juristischen Sichtweise gegenüber einer in<br />

jedem Falle zu vermeidenden formal juristischen Definition<br />

gekennzeichnet: 25<br />

Zum Vermögen zählt all jenes von wirtschaftlichem Wert,<br />

was konkret saldierbar ist, solange es sich dabei auch um<br />

rechtlich gebilligte Positionen handelt. Es herrscht also das<br />

Bild vom Vermögen als Ergebnis einer Wertsaldierung: Wer<br />

über viele Sachgüter, Forderungen und begründete Erwerbsaussichten<br />

verfügt, ist reich. Wem nur noch das letzte Hemd<br />

geblieben ist und sich als Schuldner vielen Forderungen ausgesetzt<br />

sieht, ist arm.<br />

Sprichwörtlich „viel wert“ ist es aber auch dann nicht,<br />

wenn man zwar viel hat („mein Haus, mein Auto, mein<br />

Boot“), aus gewissen Gründen darüber aber nicht verfügen<br />

kann, wie es die mehr oder weniger sinnvolle wirtschaftliche<br />

Nutzung solcher Güter vorsieht. Stellen Sie sich das Beispiel<br />

der Errichtung schwarzer Kassen vor: Jemand lässt – salopp<br />

formuliert – Geld in einen nur ihm bekannten Topf wandern<br />

und entzieht dem Eigentümer so seine Verfügungsmöglichkeit:<br />

Im Saldo bleibt ein Aktivposten, der trotzdem nichts<br />

mehr wert ist. Das Vermögen ist hier unter abstrakter Blickrichtung<br />

hinsichtlich seines Bestandes geschmälert; die wirtschaftliche<br />

Wertminderung durch das Nicht-verfügen-Können<br />

liegt auch in der normativen Missbilligung eines Zugriffs<br />

begründet, der unter Überschreitung des rechtlichen Dürfens<br />

erfolgt. Es herrscht das Bild vom Vermögen als Güterbestand.<br />

26<br />

Ausgehend von dieser grundsätzlichen Zweiteilung sind<br />

Angriffe auf das Vermögen – wiederum grundsätzlich – folglich<br />

zweifach als wie auch immer geartete Saldominderung<br />

oder als Entzug einer Dispositionsfreiheit zu begründen<br />

23 Fischer, StraFo 2008, 269 (277).<br />

24 Vgl. ausführlich Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder,<br />

Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 263 Rn. 78<br />

ff.; Esser, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), Anwaltkommentar<br />

StGB 2011, § 266 Rn. 164 ff.; Gaede, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller<br />

(a.a.O.), § 263 Rn. 67 ff.; Hefendehl<br />

(Fn. 21), § 263 Rn. 294-338; Hoyer, in: Rudolphi u.a.<br />

(Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />

60. Lfg., Stand: Februar 2004, § 263 Rn. 182 ff.; Lackner, in:<br />

Jescheck/Ruß/Willms (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger<br />

Kommentar, Bd. 6, 10. Aufl. 1988, § 263 Rn. 120-124; Saliger,<br />

in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Fn. 5), § 266 Rn. 51 f.;<br />

Satzger (Fn. 5), § 263 Rn. 90 ff.; Tiedemann, in: Jähnke/<br />

Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar,<br />

Bd. 6, 11. Aufl. 2005, § 263 Rn. 127-132.<br />

25 Deutlich Schünemann, StraFo 2010, 1 (9): kein Zurückfallen<br />

auf einen rein juristischen Vermögensbegriff.<br />

26 Vgl. Schünemann, StraFo 2010, 1 (9).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

922<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

(str.). 27 Lassen Sie uns diese grundlegende Ambivalenz des<br />

Vermögensbegriffs jetzt auf die Frage nach der Art und Weise<br />

der Vermögensschädigung übertragen.<br />

2. Schädigungen des Vermögens durch Verletzung und Gefährdung?<br />

– Die Spiegelung der BT-Problematik an der AT-<br />

Dogmatik zum konkreten Gefährdungsdelikt<br />

a) Das sog. Angriffsparadigma: Gefährdung und Verletzung;<br />

Gefährdung vor Verletzung; Gefährdung oder Verletzung<br />

Die erste wesentliche Weichenstellung bei der Frage nach der<br />

Möglichkeit, Vermögensdelikte i.e.S. als konkrete Gefährdungsdelikte<br />

zu verstehen, führt uns nun erstmals zur Dogmatik<br />

der Gefährdungsdelikte. Denn die Frage, ob die Schädigung<br />

eines Rechtsguts außer in seiner Verletzung auch in<br />

seiner konkreten Gefährdung begründet sein kann, impliziert<br />

derart weitreichende, den Bereich der Vermögensdelikte weit<br />

übersteigende Konsequenzen, 28 dass sie ernstlich nur unter<br />

Rückgriff auf eine abstrakte Argumentationsebene beantwortet<br />

werden kann.<br />

Betrachten wir also das sog. Angriffsparadigma 29 , wonach<br />

sich die strafwürdige Beeinträchtigung eines Rechtsguts<br />

stufenweise chronologisch in grundsätzlich straflose Vorbereitung,<br />

abstrakte Gefährdung, konkrete Gefährdung durch<br />

den Versuch (der bei der Untreue allerdings straflos ist),<br />

konkrete Gefährdung durch eigene Deliktstatbestände (unser<br />

Thema!), Verletzung durch Vollendung und bis Beendigung,<br />

Verletzung durch Zweitschädigung (z.B. wiederholte Zueignung)<br />

und Schadensvertiefung durch sog. Anschlussdelikte<br />

(namentlich der Hehlerei) darstellen lässt, so ergibt sich eine<br />

Schwierigkeit: Steht die konkrete Gefährdung nicht ausdrücklich<br />

im Gesetz, sondern ist dort allein von der Schädigung<br />

etwa des Vermögens die Rede, dann darf die konkrete<br />

Gefährdung als gegenüber der Verletzung weiterreichende,<br />

vorverlagernde Beeinträchtigungsart wegen des Analogieverbots<br />

schon ganz allgemein – unabhängig von ihrer evident<br />

anstößigen „Schadensgleichheit“ – nicht strafbarkeitsbegründend<br />

berücksichtigt werden. Denkbar wäre ein solcher Einbezug<br />

nur dann, wenn auch die konkrete Gefährdung des<br />

Vermögens i.S.d. Handlungsobjekts das Vermögen als<br />

Rechtsgut schädigen könnte und wenn mit „Vermögen“ in<br />

den Deliktstatbeständen der §§ 263 Abs. 1, 266 Abs. 1 StGB<br />

das Rechtsgut gemeint ist. Das ist aber nicht der Fall. De lege<br />

lata ist die konkrete Vermögensgefährdung von den Tatbe-<br />

27 Eine ebensolche Zweiteilung der Vermögensbegriffe zwischen<br />

Verfügbarkeits- und Wertschutz skizzierte im Grunde<br />

schon RGSt 16, 1 f., freilich ohne die Wertschutzlehre wie<br />

heute üblich in erster Linie wirtschaftlichen Kriterien unterzuordnen.<br />

Gegen den Schutz der Dispositionsfreiheit durch<br />

Vermögensdelikte dezidiert Arzt/Weber, Strafrecht Besonderer<br />

Teil, Lehrheft 3, 2. Aufl. 1986, A. Rn. 9.<br />

28 Die Bandbreite reicht von der völligen Leugnung der Existenz<br />

konkreter Gefährdungsdelikte, über die Missbilligung<br />

des Erfolgs als Tatbestandsmerkmal bis zur Verabsolutierung<br />

der konkreten Gefährdung als alleiniger Schädigungsform.<br />

29 Vgl. Kindhäuser (Fn. 3), S. 249 (S. 253 ff.).


Betrug und Untreue als konkrete Gefährdungsdelikte de lege lata und de lege ferenda<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ständen der §§ 263 Abs. 1, 266 Abs. 1 StGB folglich nicht<br />

erfasst.<br />

aa) Konkrete Gefährdung des Handlungsobjekts und/oder<br />

des Rechtsguts?<br />

Denn zunächst scheint es nicht weiter relevant zu sein, wenn<br />

es zum Kennzeichen konkreter Gefährdungsdelikte erklärt<br />

wird, bei ihnen sei nach einer Auffassung das Handlungs-<br />

oder Angriffsobjekt des Tatbestandes, 30 nach einer anderen<br />

Meinung aber das Rechtsgut 31 selbst in einen Zustand konkreter<br />

Gefährdung zu bringen. Auch daneben bestehende<br />

scharfsinnige Differenzierungen, etwa diejenige Horst Schröders:<br />

„Bei den ersteren [den Verletzungsdelikten, d. Verf.]<br />

gehört zur Vollendung des Delikts die Verletzung eines bestimmten<br />

Objekts, z.B. Verletzung eines menschlichen Körpers<br />

(§ 223) oder Beschädigung einer Sache (§ 303). In einer<br />

Reihe von Fällen wird aber bereits die Gefährdung eines<br />

Rechtsguts mit Strafe bedroht, um die Verletzung zu verhüten.“<br />

32 vermögen prima facie nichts daran zu ändern: Bei den<br />

Vermögensdelikten i.e.S. sind tatbestandliches Angriffsobjekt<br />

und Rechtsgut deckungsgleich. So heißt es in beinahe<br />

jedem Lehrbuch. 33 Die durch List oder Zwang herbeigeführte<br />

Vermögensverfügung zöge das Vermögen sowohl als Handlungsobjekt<br />

als auch in seinem Verständnis als Rechtsgut<br />

gleichermaßen in Mitleidenschaft. Gleich, ob man die konkrete<br />

Gefährdung auf das Handlungsobjekt oder auf das<br />

Rechtsgut bezieht, in beiden Fällen wäre das Vermögen betroffen.<br />

Kann unsere Entscheidung über das Objekt der konkreten<br />

Gefährdung damit aber wirklich dahinstehen?<br />

Sie kann es nicht. Denn die Frage, ob die konkrete Gefährdung<br />

des Vermögens bei Betrug oder Untreue bereits das<br />

Objekt der tatbestandlichen Angriffshandlung betrifft oder<br />

nur das abstrakte Rechtsgut, muss entschieden werden, weil<br />

nur so das Verhältnis zwischen der gefährdenden oder verlet-<br />

30<br />

Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl.<br />

1996, S. 263 f. (§ 26 II. 2.). Roxin, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 123; Mezger, Strafrecht,<br />

Ein Lehrbuch, 3. Aufl. 1949, S. 193 § 24 I. 2.: „Bei den Verletzungsdelikten<br />

gehört die Verletzung eines bestimmten<br />

Objekts zum Tatbestand“. Weitere Nachweise bei Stratenwerth/Kuhlen,<br />

Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2011,<br />

§ 8 Rn. 14 Fn. 3.<br />

31<br />

Z.B. Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, § 11 II.,<br />

S. 69; Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1,<br />

8. Aufl. 1992, § 17 III. A. Rn. 26 f.; Maurach, Deutsches<br />

Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1954, § 20 III. 3. = Maurach/<br />

Zipf, (a.a.O.), ebda. „Üblicherweise werden beide Kategorien<br />

danach differenziert, ob der Angriff in seiner tatbestandlichen<br />

Vollendung eine unmittelbare Werteinbuße darstellt (Verletzungsverbrechen)<br />

oder ob er nur die naheliegende Gefahr<br />

einer Interessenverletzung beinhaltet.“<br />

32<br />

Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 24), Vor § 1<br />

Rn. 148 (Hervorhebung nicht im Original).<br />

33<br />

Vgl. nur Roxin (Fn. 30), § 2 Rn. 65; Mitsch, Strafrecht,<br />

Besonderer Teil, Bd. 2/1, 2. Aufl. 2003, § 7 Rn. 78.<br />

zenden Tathandlung zur Rechtsgutschädigung geklärt werden<br />

kann. 34<br />

Im Ergebnis – und das sei hier vorweggenommen – bezieht<br />

sich die konkrete Gefährdung immer nur auf das tatbestandliche<br />

Handlungsobjekt. 35 Dass sich die konkrete Gefährdung<br />

zunächst allein auf das Handlungsobjekt und nie<br />

direkt auf das tatbestandlich ja nicht unmittelbar, sondern nur<br />

in konkreten Angriffsobjekten verkörperte Rechtsgut beziehen<br />

kann, ergibt sich bereits aus dieser Tatbestandlichkeit der<br />

konkreten Gefährdung. Doch der Reihe nach: Übertragen auf<br />

die Vermögensdelikte besteht der konkrete Gefahrerfolg<br />

darin, dass sich das Vermögen als Angriffsobjekt im Einflussbereich<br />

des Täters befindet und „nach einem objektiven<br />

sachkundigen Urteil – auch unter Einbeziehung eventuell erst<br />

nachträglich feststellbarer Umstände – für den maßgeblichen<br />

Zeitpunkt die Möglichkeit [seiner] Schädigung [als …]<br />

Rechtsgutsobjekt […] als naheliegend einzuschätzen ist“ 36 .<br />

Es darf m.a.W. „nur noch vom Zufall abhängen“ 37 , ob es zu<br />

seiner Verletzung kommt oder nicht. 38 Nach dieser sog. normativen<br />

Gefahrerfolgstheorie 39 soll dabei – was später für die<br />

Frage der Vermeidemacht zur Abwendung des Vermögens-<br />

34<br />

Die von der gefährlichen Tathandlung (Täuschung, Pflichtverletzung,<br />

Nötigung) räumlich und zeitlich getrennte Einwirkung<br />

auf das Tatobjekt, die das BVerfG bei der Untreue<br />

durch ein sog. Entgrenzungs- und Verschleifungsverbot sicherstellen<br />

will (BVerfG NJW 2010, 3209 [m. Bespr. Beckemper,<br />

ZJS 2011, 88]), hat direkte Auswirkungen auf die<br />

Einordnung dieser Tatbestände als Erfolgsdelikte. Koriath,<br />

GA 2001, 51 (59), leugnet den Erfolgsdeliktscharakter der<br />

konkreten Gefährdungsdelikte, weil sich bei ihnen die Gefährlichkeit<br />

nicht von der Tathandlung trennen lasse. Dem ist<br />

zu widersprechen: Der Eintritt der Beinaheverletzung erfolgt<br />

räumlich-zeitlich von der Handlung getrennt und ist deshalb<br />

mit Gallas, in: Lüttger (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinitz<br />

zum 70. Geburtstag, 1972, S. 171 (176), und Wolter, Objektive<br />

und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und<br />

Verletzung, 1981, S. 199, und der Definition bei Roxin<br />

(Fn. 30, § 10 Rn. 102) ein tatbestandlicher Gefährdungserfolg.<br />

Dies wiederum ist eine wichtige Weichenstellung für<br />

die Anwendbarkeit der Lehre von der objektiven Zurechnung<br />

und des § 13 StGB für das unechte Unterlassungsdelikt. Vgl.<br />

zur entsprechenden Diskussion bei der Zueignung Hauck,<br />

Drittzueignung und Beteiligung, 2007, S. 53 ff.<br />

35<br />

Zur a.A. von Hirsch (Fn. 18), S. 147, und Stratenwerth/<br />

Kuhlen (Fn. 30), § 8 Rn. 14 sogleich.<br />

36<br />

Hirsch, in: Kohlmann (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme,<br />

Schriften aus drei Jahrzehnten, Bd. 1, 1999, S. 623 (S. 626);<br />

unter Verweis auf Gallas (Fn. 34), S. 171 (S. 178). Vgl. auch<br />

Roxin (Fn. 30), § 11 Rn. 122. Vgl. zur „dogmatische[n] Unsicherheit<br />

[…] über den <strong>Inhalt</strong> des Gefahrbegriffs“ Lackner,<br />

Das konkrete Gefährdungsdelikt im Verkehrsstrafrecht, 1967,<br />

S. 3.<br />

37<br />

Zum Einfluss Dritter Personen unten im Text bei und nach<br />

Fn. 73.<br />

38<br />

BGH NStZ 1996, 83 f.<br />

39<br />

Vgl. zur naturwissenschaftlichen Gefahrerfolgstheorie<br />

Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973, S. 161.<br />

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Pierre Hauck<br />

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schadens noch relevant werden wird – das Vorliegen dieser<br />

Gefahr „aus dem Blickwinkel des bedrohten Gutes zu bestimmen“<br />

sein und nicht „aus der Handlungsperspektive des<br />

Täters“. 40<br />

Diese tatbestandliche Gefahrenlage betrifft also abstraktgenerelle<br />

Tatbestandsmerkmale (vgl. § 315c Abs. 1 StGB:<br />

„Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen<br />

von bedeutendem Wert“) und konkretisiert sich im<br />

Einzelfall dann auf lebenssachverhaltliche Angriffsobjekte<br />

(das Leben des A, die körperliche Unversehrtheit der B<br />

usw.). Der Gefahrbegriff ist also notwendigerweise konkreter<br />

Natur. 41 Dass das Gesetz die Gefährdung einer fremden Sache<br />

und nicht etwa die Gefährdung des dahinterstehenden<br />

Eigentums zum Taterfolg erklärt, ist auch schon ein gewisses<br />

Indiz dafür, dass es nicht auf die Gefährdung des Rechtsguts<br />

ankommen kann. Hinzukommt, dass sich kein Rechtsgut als<br />

solches im gefahreröffnenden Einflussbereich des Täters, der<br />

ersten Voraussetzung der konkreten Gefährdung, befinden<br />

kann. Denn wenn es sich bei dem Rechtsgut um das<br />

„Schutzobjekt der dem positiven Recht entnehmbaren Verhaltensnorm“<br />

42 oder um „das ideelle Gut, das sich in dem<br />

konkreten Angriffsgegenstand verkörpert“ 43 handeln soll,<br />

dann hat der Täter Einfluss auf ebensolche Verkörperungen<br />

(Symbole) dieses Gutes, niemals aber auf das Rechtsgut<br />

selbst.<br />

Das hiergegen vorgebrachte Argument, die (konkrete)<br />

Gefährdung müsse sich stets auf ein Rechtsgut beziehen, weil<br />

sonst die schwere Brandstiftung gem. § 306a Abs. 1 Nr. 1<br />

StGB als Paradebeispiel eines abstrakten Gefährdungsdelikts<br />

ein Verletzungsdelikt wäre, 44 überzeugt nicht. Das Inbrandsetzen<br />

bzw. durch eine Brandlegung ganz oder teilweise<br />

Zerstören einer Räumlichkeit, die der Wohnung von Menschen<br />

dient, bedeutet nur eine abstrakte Gefährdung des<br />

Rechtsguts „Leben und Gesundheit von Menschen vor den<br />

durch eine Brandstiftung drohenden Gefahren“ 45 , weil bei<br />

§ 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB mit der Tathandlung kein Angriffsobjekt<br />

betroffen ist, das – wie bei den konkreten Gefährdungsdelikten<br />

– das geschützte Rechtsgut verkörpert. Im<br />

Übrigen muss man die Frage zwischen konkreten und abstrakten<br />

Gefährdungsdelikten differenziert beurteilen: Bei den<br />

konkreten Gefährdungsdelikten wird das Handlungsobjekt<br />

konkret gefährdet, bei den abstrakten Gefährdungsdelikten<br />

kommt es zu einer abstrakten Gefährdung des Rechtguts<br />

40 Hirsch (Fn. 36), S. 623 (S. 626).<br />

41 Hirsch (Fn. 36), S. 623 (S. 626).<br />

42 Amelung, in: Roland Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.),<br />

Die Rechtsgutstheorie, Legitimationsbasis des Strafrechts<br />

oder dogmatisches Glasperlenspiel, 2003, S. 166 ff. (S. 182).<br />

43 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 3. Aufl. 1997,<br />

§ 2 Rn. 34. Roxin hat sich inzwischen (4. Aufl. 2006, § 2<br />

Rn. 67 [Fn. 30]) gegen dieses ideelle Rechtsgutverständnis<br />

gewendet.<br />

44 So Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 30), § 8 Rn. 14.<br />

45 Radtke, in: Joecks/Miebach (Fn. 3), § 306a Rn. 4.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

924<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

durch eine spezielle Tathandlung, die nicht notwendigerweise<br />

Verletzungscharakter haben muss. 46 (→ Graphik 1, S. 930)<br />

Steht damit fest, dass sich die konkrete Gefährdung auf<br />

das (Vermögen als) Handlungsobjekt beziehen müsste, fragt<br />

es sich freilich weiter, inwiefern damit zugleich eine konkrete<br />

Gefährdung des Rechtsguts einhergeht oder ob die konkrete<br />

Gefährdung des Handlungsobjekts nicht sogar eine wirkliche<br />

Beeinträchtigung des Rechtsguts i.S. seiner Schädigung bewirkt.<br />

Von letzterem wird man zumindest dann auszugehen<br />

haben, wenn man das Rechtsgut im obigen Sinne als „Schutzobjekt<br />

der dem positiven Recht entnehmbaren Verhaltensnorm“<br />

versteht. Denn wird die spezifische Verhaltensnorm<br />

des konkreten Gefährdungsdelikts missachtet und ein gefährlicher<br />

Zustand geschaffen, ist die Verhaltensnorm verletzt.<br />

Im Ergebnis setzen konkrete Gefährdungsdelikte also eine<br />

konkrete Gefährdung des Handlungsobjekts voraus, aus der<br />

sich mittelbar eine echte Schädigung i.S.e. Beeinträchtigung<br />

des Rechtsguts ergibt.<br />

bb) Die konkrete Vermögensgefährdung als notwendiges,<br />

aber tatbestandlich-axiologisch belangloses Vorstadium der<br />

allein maßgeblichen Vermögensverletzung<br />

Die vorherrschende Meinung argumentiert gegen den Einbezug<br />

der konkreten Vermögensgefährdung in den Bedeutungsbereich<br />

des Begriffs „Vermögensschaden“, indem und<br />

weil sie den Vermögensschaden bzw. Vermögensnachteil<br />

gleichsetzt mit dem Begriff der Vermögensverletzung. Infolge<br />

dieser Annahme durchaus konsequent, weil die Verletzungsdelikte<br />

nun einmal den Gegenbegriff zu den Gefährdungsdelikten<br />

bilden, 47 kann die Gefährdung, „ganz gleich<br />

wie ,konkret‘ sie ist“ 48 , schon systematisch und kategorial nie<br />

heranreichen, um einen im Sinne einer Verletzung verstandenen<br />

Vermögensnachteil zu begründen.<br />

Diese Grundannahme findet ihre gefährdungsdeliktsdogmatische<br />

Entsprechung in der Auffassung, wonach die „Herbeiführung<br />

eines Gefahrzustands […] für das betroffene<br />

Rechtsgutobjekt [zwar] eine reale Verschlechterung seiner<br />

Lage“ bedeutet, dieser Gefährdung aber nur eine aus der<br />

Verletzungsmöglichkeit abgeleitete Unwerthaftigkeit zukommt.<br />

49 Jescheck meint ganz entsprechend, das Verbrechen<br />

46<br />

Auch der Hinweis, konkrete Gefährdungsdelikte und Verletzungsdelikte<br />

bezögen sich auf dasselbe Schutzgut, „d.h.<br />

auf ein bestimmtes Rechtsgutsobjekt“, weshalb nur dieses<br />

Gegenstand der Gefährdung sein könne (Hirsch [Fn. 18],<br />

S. 145 [S. 147]), belegt nicht, dass es das Rechtsgut und nicht<br />

das Handlungsobjekt ist, worauf sich die konkrete Gefährdung<br />

beziehen muss.<br />

47<br />

Vgl. Mezger (Fn. 30), S. 193; Mayer (Fn. 31), § 11 II.;<br />

Welzel, Das deutsche Strafrecht, 10. Aufl. 1967, § 12 II.;<br />

Roxin (Fn. 30), § 10 Rn. 122.<br />

48<br />

Fischer, StraFo 2008, 269 (271).<br />

49<br />

Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 38, S. 64 f., S. 73 ff.;<br />

zuvor bereits Horn (Fn. 39), S. 51 ff., 113 ff., 115, 187 ff.,<br />

der (dort S. 30), Gefahr und Rechtsgutsverletzung als Erfolgsmerkmale<br />

behandelt.


Betrug und Untreue als konkrete Gefährdungsdelikte de lege lata und de lege ferenda<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sei seinem Wesen nach eine Rechtsgutsverletzung. 50 Und<br />

folgerichtig wird die Gefährlichkeit der Handlung als Verletzungssorgfaltswidrigkeit<br />

definiert. 51 Horn spricht gar vom<br />

Strafrecht als Rechtsgütervernichtungsschutz 52 (wenngleich<br />

diese These schon deshalb in Frage steht, weil sich mit ihr<br />

letzten Endes auch keine Versuchsstrafbarkeit vereinbaren<br />

lässt). 53<br />

Obwohl die konkreten im Unterschied zu den abstrakten<br />

Gefährdungsdelikten heute gesetzlich fest etabliert und in<br />

ihrer generellen Legitimation unbestritten sind, 54 sollen sie<br />

ihren Unwertgehalt also von demjenigen der Verletzungsdelikte<br />

lediglich ableiten, mit der hier sehr bedeutsamen Konsequenz,<br />

dass die konkrete Gefährdung nicht etwa als zweiter<br />

Unterfall der Rechtsgutsschädigung gleichrangig neben die<br />

Verletzung tritt, sondern sich zur rechtsgutschädigenden<br />

Verletzung wie ein Minus verhält. Die Vermögensgefährdung<br />

wäre dann eine unselbständige Vorstufe der Verletzung und<br />

stünde mit einer allein verletzungsbegründeten Schädigung<br />

des Vermögens dann auch nicht in Verbindung.<br />

(1) Der Wertungswiderspruch der Unselbständigkeitsthese<br />

Wenn es zutrifft, dass das konkrete Gefährdungsdelikt seine<br />

Unwerthaftigkeit nicht eigenständig begründen, sondern<br />

vielmehr nur in Ableitung von den Verletzungsdelikten beziehen<br />

kann, dann müsste aber doch jedem konkreten Gefährdungsdelikt<br />

ein solches komplementäres Verletzungsdelikt<br />

zuzuweisen sein. Schon das trifft aber nicht zu, wie uns<br />

das Beispiel des besonders schweren Falles des Bankrotts<br />

(§ 283a S. 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB) durch Verbringen vieler Personen<br />

in wirtschaftliche Not vor Augen führt. Das hier gefährdete<br />

Rechtsgut, die Fähigkeit zur wirtschaftlichen Lebensführung,<br />

55 wird nirgends vor Verletzung geschützt. Dasselbe<br />

gilt für das Beispiel der Gefahr der erheblichen Schädigung<br />

der körperlichen oder seelischen Entwicklung im Tatbestand<br />

der Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht<br />

(§ 171 StGB) bzw. der qualifizierten Entziehung Minderjähriger<br />

(§ 235 Abs. 4 Nr. 1 StGB). Sie und der mit ihr verbundene<br />

Erziehungs- und Fürsorgeanspruch sind von der körperlichen<br />

Unversehrtheit nicht umfasst. 56 Diese konkreten Ge-<br />

50<br />

Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />

Leipziger Kommentar, Bd. 1, 11. Aufl. 2003, Vor<br />

§ 13 Rn. 5.<br />

51<br />

Horn (Fn. 39), S. 30.<br />

52<br />

Horn (Fn. 39), S. 77: „Rechtsgüterschutz heißt Rechtsgütervernichtungsschutz“.<br />

Ihm folgt sein Schüler Hoyer<br />

(Fn. 49), S. 38.<br />

53<br />

Der Normbefehl ist bei beiden gleich. Dass man einen<br />

Strafbarkeitsteil im Angriffsparadigma selbständig bestraft,<br />

bedeutet noch nicht seine Anerkennung als selbständige Form<br />

der Rechtgutsschädigung.<br />

54<br />

Statt vieler oben Fn. 4.<br />

55<br />

Radtke (Fn. 45), § 283a Rn. 10.<br />

56<br />

Lilie, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 24), Vor § 223<br />

Rn. 1 f.; Wittig, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Fn. 5), § 171<br />

Rn. 1. Ähnliche Diskrepanzen dürften sich jedoch nicht für<br />

die Gefahr des Verlustes von (anvertrauten) Vermögenswerten<br />

ergeben, die in § 263 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 2 StGB nur Ab-<br />

fährdungsdelikte können ihren Unwertgehalt also nicht von<br />

einem Verletzungsdelikt ableiten, weil es ein solches für sie<br />

schlicht nicht gibt.<br />

Wenn man eine solche Paarung zwischen einander korrespondierenden<br />

Gefährdungs- und Verletzungsdelikten im<br />

StGB dann erst einmal gefunden hat, ergeben sich zudem<br />

schnell Wertungswidersprüche, wie das Beispiel der Straßenverkehrsgefährdung<br />

(§ 315c Abs. 1 StGB) nur allzu anschaulich<br />

macht: Sicherlich lässt sich die konkrete Gefährdung<br />

einer fremden Sache von bedeutendem Wert zu ihrer Verletzung<br />

nach § 303 Abs. 1 StGB in Bezug setzen. Wie aber lässt<br />

sich die Unwerthaftigkeit einer solchen Sachgefährdung von<br />

der Sachverletzung ableiten, wenn der Unwertgehalt des<br />

Verletzungstatbestandes viel geringer ist als der des Gefährdungs-tatbestandes?<br />

Man vergleiche die Strafrahmen: Nur<br />

maximal 2 Jahre Freiheitsstrafe bei der Sachbeschädigung<br />

sind gegenüber bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe bei § 315c Abs.<br />

1 StGB vorgesehen. Erklären lässt sich diese Schieflage freilich<br />

allein über den wegen des Schutzguts der Sicherheit des<br />

Straßenverkehrs besonderen Handlungsunwert der Straßenverkehrsgefährdung,<br />

womit sich jedoch die Katze in den<br />

Schwanz beißt: Dass ein anderes, abweichendes Schutzgut<br />

herangezogen werden muss, um den höheren Unwertgehalt<br />

eines Gefährdungsdelikts zu erklären, ist gerade bester Beleg<br />

dafür, dass dieses Gefährdungsdelikt seinen Unwertgehalt<br />

jedenfalls nicht von einem ihm korrespondierenden Verletzungsdelikt<br />

ableiten kann. 57 (→ Graphik 2, S. 930)<br />

(2) Die Eigenständigkeit der gefährdungsspezifischen Verhaltensnorm<br />

als Grundlage der Bewertungsnorm zur Verknüpfung<br />

von Handlungs- und Erfolgsunwert<br />

An dieser Stelle muss aber noch eine weitere normentheoretische<br />

Überlegung einfließen: Wenn die These von der Verletzungsabhängigkeit<br />

der Gefährdungsdelikte richtig sein soll, 58<br />

dann müsste sich der Handlungsunwert der konkreten Gefährdungsdelikte<br />

vollständig als Enttäuschung einer solchen<br />

sichtsgegenstand, beim besonders schweren Fall des Bankrotts<br />

(§ 283a S. 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB) aber wiederum objektiver<br />

Gefährdungstatbestand ist: „Vermögenswert“ ist Vermögen,<br />

vor dessen Verletzung §§ 263, 266, 253 StGB schützen.<br />

57<br />

Ebenso bereits Mezger (Fn. 39), S. 475, der von einer<br />

grundsätzlichen Konsumtion der Gefährdung durch die Verletzung<br />

ausgeht, da Einschluss des Unrechts, der jedoch von<br />

einer Eigenständigkeit des Gefährdungs- gegenüber dem<br />

Verletzungscharakter ausgeht, weil „der Sinn der Gefährdung<br />

im Einzelfall über die konkrete Verletzung hinausgreifen“<br />

kann, was er am Beispiel des Hetzens eines Hundes belegt.<br />

§ 366 Nr. 6 StGB a.F. bleibe infolge seines gemeingefährlichen<br />

Charakters neben der Verletzung gem. § 230 StGB a.F.<br />

bestehen.<br />

58<br />

Vgl. auch Wohlers (Fn. 4 – Deliktstypen), S. 285 f.: „keine<br />

über die Etablierung von Verletzungsdelikten hinausgehende<br />

verhaltenssteuernde Funktion“; diese sei nur über abstrakte<br />

Gefährdungsdelikte möglich; mit Verweis auf Kindhäuser,<br />

Gefährdung als Straftat, Rechtstheoretische Untersuchungen<br />

zur Dogmatik der abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikte,<br />

1989, S. 163 ff.<br />

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Pierre Hauck<br />

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Bestimmungsnorm abbilden lassen, die ein Verletzungsverbot<br />

formuliert. Wie lautet dann z.B. die Gebotsnorm der<br />

konkret lebensgefährlichen besonders schweren Brandstiftung<br />

nach § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB 59 ? Sie lautet: „Du sollst<br />

nicht töten!“ Diese Verhaltensnorm hätten dann aber alle<br />

Tötungsdelikte sowie alle abstrakten und konkreten Lebensgefährdungstatbestände<br />

zu teilen. Damit ginge jedoch die<br />

normative Verknüpfungswirkung der Bewertungsnorm verloren,<br />

nach der die Gefährdung gerade deshalb verboten ist, um<br />

den Gefährdungserfolg zu verhindern. 60 Die zurückzuweisende<br />

Ansicht, die stattdessen stets die Verletzung verbieten<br />

muss, um den Gefährdungserfolg zu vermeiden, gerät unweigerlich<br />

in Begründungsschwierigkeiten: Bei nicht verletzungstauglicher<br />

bloßer Gefährdungseignung einer Handlung<br />

müsste sie den Handlungsunwert konsequenterweise verneinen.<br />

Gefährdet beispielsweise jemand das Vermögen eines<br />

anderen, ohne dass diese Tat das Vermögen jemals wirklich<br />

schädigen könnte, 61 so wäre die Auffassung von der Gefährdung<br />

als bloßem Vorstadium der Verletzung gezwungen,<br />

mangels (Verletzungs-)Handlungsunwert die Vollendungs-<br />

und Versuchsstrafbarkeit abzulehnen. Eine verheerende Konsequenz,<br />

die sich nur durch die Akzeptanz einer in einem<br />

Mindestmaß bestehenden dogmatischen Eigenständigkeit der<br />

konkreten Gefährdungsdelikte vermeiden lässt. 62 Diese Eigenständigkeit<br />

umschließt die Forderung nach einer eigenen<br />

Verhaltensnorm, die Eigenständigkeit bewirkt den Verzicht<br />

auf einen komplementär zu fordernden Verletzungsschutz<br />

durch eigene Tatbestände und sie gewährleistet damit eine<br />

originäre und nicht lediglich abgeleitete Begründung des<br />

Unwertgehalts.<br />

Wir halten also fest, dass die Schädigung eines Rechtsguts<br />

nicht allein nur im Falle seiner Verletzung erfolgt, sondern<br />

auch durch die konkrete Gefährdung des es repräsentierenden<br />

Handlungsobjekts bewirkt werden kann. Die konkrete<br />

Gefährdung und die Verletzung stellen damit eigenständige<br />

Subkategorien der Rechtsgutsschädigung dar. Beide verbindet<br />

der Rechtsgüterschutzaspekt, doch lässt sich dieser systematisch<br />

und normentheoretisch durchaus verschieden, eben<br />

als Verletzungs- oder Gefährdungsschutz ausgestalten. Die<br />

59<br />

„Wenn der Täter in den Fällen des § 306a einen anderen<br />

Menschen durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.“<br />

60<br />

Vgl. Gallas, in: Arthur Kaufmann u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />

für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag am 7. Dez. 1978,<br />

1979, S. 155 (S. 161 ff.); weitere Hinweise zu dieser Fragestellung<br />

bei Hauck, GA 2009, 280 (283 f.).<br />

61<br />

Vorausgesetzt, dass dies möglich ist.<br />

62<br />

So auch Weber, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht<br />

Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009, § 35 Rn. 18 ff. zur<br />

Notwendigkeit selbständiger Gefährdungstatbestände (sowie<br />

Rn. 10) zum Betrug: Verletzungsverbot bei gleichzeitig erlaubter<br />

Gefahrschaffung. Für die rechtsdogmatische Eigenständigkeit<br />

der konkreten Gefährdungsdelikte streitet übrigens<br />

auch das von Kindhäuser (Fn. 3), S. 249 (S. 256), dargelegte<br />

Dilemma, dass die Gefährdung, wenn die Verletzung<br />

ausgeblieben ist, schlecht ihr Vorstadium darstellen kann. Ist<br />

die Verletzung hingegen eingetreten, dann ist die Suche nach<br />

vorausgegangenen Gefährdungsstadien sinnlos.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

926<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

konkrete Gefährdung eines Handlungsobjekts ist damit keineswegs<br />

ein lediglich belangloses Vorstadium der allein<br />

maßgeblichen Verletzung. Ob sich daraus aber auch im Sinne<br />

des BT folgern lässt, dass die Vermögensgefährdung ein<br />

neben der Vermögensverletzung selbständiger Fall der Vermögensschädigung<br />

ist, haben wir oben für das Handlungsobjektverständnis<br />

zwar bereits am Analogieverbot scheitern<br />

lassen. Erforderlich bleibt eine Überprüfung dieses dichotomen<br />

Schadensverständnisses am Gegenstand des BT und mit<br />

dem Beispiel von Betrug und Untreue gleichwohl. 63<br />

b) Die konkrete Vermögensgefährdung als Schaden sui generis<br />

Im Kontrast zu der eben zurückgewiesenen Unselbständigkeitslehre<br />

hätte jene seit Binding vertretene Auffassung, die<br />

die konkrete Gefährdung des Rechtsguts (!) als gleichrangiges<br />

Analogon zu seiner Verletzung begreift 64 und so die Beeinträchtigung<br />

des Rechtsguts dichotom auf seine Verletzung<br />

und Gefährdung stützen kann, im Grunde keinerlei konzeptionelle<br />

Schwierigkeiten bei der Berücksichtigung der konkreten<br />

Vermögensgefährdung als im Verhältnis zur Vermögensverletzung<br />

in ebenbürtiger Weise schadenskonstituierendem<br />

Merkmal. 65 Gleichwohl ergeben sich selbst bei einem solchen<br />

Vorverständnis intrikate Folgeprobleme.<br />

aa) Der Streit um den Dispositionsbegriff als Schlüsselstelle<br />

Denn auch wenn Roland Hefendehl meint, die konkrete Vermögensgefährdung<br />

habe „zumindest von ihrem Ausgangspunkt<br />

aus nichts mit der Konkretheit i.S.d. konkreten Gefährdungsdelikte<br />

zu tun“ 66 , muss er doch wenige Atemzüge später<br />

einräumen, dass die Dogmatik des konkreten Gefährdungsdelikts<br />

und die Schadensbestimmung zumindest im<br />

Falle des Entzugs von Verfügungsmöglichkeiten in einem<br />

neuralgischen Punkt denselben Schlüsselbegriff teilen und<br />

insofern doch ein enger Zusammenhang zwischen beiden<br />

Gefährdungssachverhalten besteht. 67<br />

63<br />

Dazu auch Zieschang (Fn. 4), S. 29.<br />

64<br />

Grundlegend Binding, Die Normen und ihre Übertretung:<br />

Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die<br />

Arten des Delikts, 4. Aufl. 1922, S. 368 f.: „der Bestand der<br />

Rechtsgüter […] kann aber ausser durch Verletzung durch<br />

Gefährdung angegriffen werden“. Dort S. 368 auch Fn. 1<br />

m.w.N. auf andere Autoren und entsprechende Vorarbeiten in<br />

der 1. Aufl. Ferner S. 368 ff. und insbes. 374 ff. zur These<br />

von der „Wesensgleichheit des Deliktsmoments“.<br />

65<br />

Vgl. Kindhäuser (Fn. 58), S. 191 sowie 213 mit Fn. 30 zum<br />

Betrug S. 210 ff, S. 214 f., S. 277; Kindhäuser (Fn. 3), S. 249<br />

(S. 261 f.); Binding (Fn. 64), S. 372 ff; Gallas (Fn. 34),<br />

S. 176; Hoyer (Fn. 49), S. 37 f.; ferner Wohlers (Fn. 4 – Deliktstypen),<br />

S. 285, der ebenfalls auf die Ungefährdetheit des<br />

Rechtsgutsobjekts als Wert an sich verweist, sodass die konkrete<br />

Gefährdung einen neben der Verletzung eigenständigen<br />

Schädigungserfolg darstellt.<br />

66<br />

Hefendehl (Fn. 17), S. 129.<br />

67<br />

Hefendehl (Fn. 17), S. 131 ff.; zu diesem Zusammenhang<br />

auch Hefendehl (Fn. 21), § 263 Rn. 563 ff.


Betrug und Untreue als konkrete Gefährdungsdelikte de lege lata und de lege ferenda<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

(1) Unvereinbarkeit der vermögensbegrifflichen Dispositionslehre<br />

mit dem dispositionalen Charakter der konkreten<br />

Gefährdung?<br />

Der Grund für Hefendehls Annahme eines gewissen Zusammenhangs<br />

liegt in dem auch von ihm vertretenen Vermögensbegriff,<br />

der der Dispositionsmacht des Über-sein-Vermögen-verfügen-Dürfens<br />

breiten Raum beimisst. 68 Wenn das<br />

Vermögen nicht nur Bestand an Gütern, sondern auch das<br />

Potential, also die Macht der Verfügbarkeit über seine Bestandteile<br />

sein soll, dann gehört diese Dispositionsbefugnis<br />

mit dem 2. Strafsenat des BGH in der Tat „zum Kern der von<br />

§ 266 StGB geschützten Rechtsposition“ 69 , also zum Kern<br />

des Vermögens. Der 2. Strafsenat hat in seiner zugrundliegenden<br />

Siemens-Entscheidung daraus den Schluss gezogen,<br />

dass die „dauerhafte Entziehung der Verfügungsmöglichkeit<br />

über die veruntreuten Vermögensteile […] für den Treugeber<br />

[…] nicht nur eine („schadensgleiche“) Gefährdung des Bestands<br />

seines Vermögens […], sondern einen endgültigen<br />

Vermögensverlust“ 70 , also einen echten Verletzungsschaden<br />

darstellt.<br />

In dieser Disposition trifft sich das Schutzgut des Vermögens<br />

nun mit dem Wesen der konkreten Gefährdung: Auch<br />

dort ist eine Disposition, nämlich die Verfügungsmacht des<br />

Gefährdeten, die Gefahr durch eigenes Handeln letztlich<br />

abwenden zu können, wesensbestimmendes Merkmal. 71 Liegt<br />

die Vermögensschädigung also (auch) im Entzug von Verfügungsmöglichkeiten<br />

und ist andererseits der konkrete Gefahrerfolg<br />

immer dann ausgeschlossen, wenn das Opfer die<br />

Vermeidemacht hat, durch eigenes Tun die Beeinträchtigung<br />

des Rechtsguts abzuwenden, dann schrumpft der Annahmebereich<br />

für eine konkrete Vermögensgefährdung mit einem<br />

Mal gravierend: Hat das Opfer die unproblematische Möglichkeit<br />

zur Verhinderung der Dispositionsentziehung, indem<br />

es seine Vermeidemacht ausübt, scheiden konkrete Gefährdung<br />

und Schädigung aus. Hat das Opfer diese Macht nicht,<br />

so wird damit oftmals aber nicht nur der konkrete Gefahrentatbestand<br />

begründet, sondern zugleich oft direkt die Verletzungssituation.<br />

Denn dann ist die vermögensbegründende<br />

Dispositionsfreiheit bereits entzogen und der Schaden begründet.<br />

Im Beispiel der schwarzen Kassen wird sich deshalb<br />

oft nicht länger von einer konkreten Vermögensgefährdung<br />

sprechen lassen. Man wird hier vielmehr von einer Schädigung<br />

durch Verletzung auszugehen haben, soweit man den<br />

68<br />

Vgl. BGHSt 52, 323 (336 ff.). Freilich darf man die Disposition<br />

in diesem Verständnis als inhaltliches Kennzeichen des<br />

Schadensbegriffs nicht verwechseln mit der Disposition als<br />

Synonym der Vermögensverfügung. Im letztgenannten Sinne<br />

jedoch RGSt 16, 1 (4 f.): „Zwar kann man behaupten, daß es<br />

formell rechtswidrig sei, durch absichtliche Irrtumserregung<br />

jemand zu irgendeiner Disposition zu bestimmen“.<br />

69<br />

BGHSt 52, 323 (339); ferner Fischer, NStZ-Sonderheft für<br />

Klaus Miebach, 2009, 8 (17 f.); Hefendehl (Fn. 17), S. 91 f.<br />

und passim; dagegen Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57 (70).<br />

70<br />

BGHSt 52, 323 (338).<br />

71<br />

Kindhäuser (Fn. 58), S. 202: gezielte Neutralisierung der<br />

Schadensrelevanz des Geschehens.<br />

dispositionalen Charakter des Vermögensbegriffs überhaupt<br />

anerkennen will. 72<br />

Gleichwohl sind Worte der Vorsicht gegenüber der naheliegenden<br />

Versuchung angebracht, den Gattungsbegriff der<br />

Disposition ohne weiteres (!) als tertium comparationis für<br />

Schaden und Gefahr zu verstehen: Der Schutz der Disposition<br />

über das Vermögen will die Macht der Vermögensnutzung<br />

bzw. des Vermögenseinsatzes gewährleisten, während das<br />

Dispositionsmerkmal der konkreten Gefährdung die Macht<br />

zur Schadensabwehr kennzeichnet, also gerade zum Erhalt<br />

der positiven Dispositionsgewalt beiträgt. Damit äußert sich<br />

die Disposition einmal als Schutzmittel (zur Gefährdungsabwehr)<br />

und einmal als Schutzobjekt (zur Konstituierung des<br />

Vermögens).<br />

(2) Die Vermögensgefährdung in ihrer Abhängigkeit von der<br />

Vermeidemacht des Opfers, des Täters oder Dritter Personen?<br />

Jene Vermeidemacht des Opfers, die schon Binding als gefahrausschließenden<br />

Umstand ansah, 73 führt uns nun noch zu<br />

der Frage, ob die Vermögensgefährdung neben dem Opferverhalten<br />

auch vom Verhalten – oder genauer: der Schadens-<br />

Vermeidemacht – des Täters oder dritter Personen abhängig<br />

ist. Ganz entsprechend haben wir oben im Rahmen der Definition<br />

des konkreten Gefährdungstatbestandes festgestellt,<br />

dass die Gefährdung gerade aus Sicht des gefährdeten Objekts<br />

und nicht aus Sicht des Täters zu beurteilen sein soll. 74<br />

Dem scheint es zu widersprechen, wenn Hefendehl die<br />

Vermögensgefährdung als den Charakter eines konkreten<br />

Gefährdungsdelikts begründenden Umstand gerade deshalb<br />

verneinen will, weil die vermögensgefährdende Disposition<br />

vom Opfer vorgenommen werde, während es bei den konkreten<br />

Gefährdungsdelikten nicht der Gefährdete, sondern der<br />

gefährdende Täter sei, der über Eintritt oder Ausbleiben der<br />

gefährdenden Situation bestimmen könne. 75 Könne der Täter<br />

den Eintritt des Gefährdungserfolgs sicher beherrschen, so<br />

liege keine Gefährdung vor.<br />

Die Zuweisung solcher Vermeidemacht zum Täter 76 eines<br />

konkreten Gefährdungsdelikts schließt es aber keineswegs<br />

aus, ebensolche Vermeidemacht im Rahmen der Vermögensgefährdung<br />

auch dem (sich beim Betrug selbstschädigenden!)<br />

Opfer zuzuweisen. 77 Denn tatsächlich haben Disposition bzw.<br />

Vermeidemacht zwei ganz verschiedene Gegenstände, je<br />

nachdem, ob man diese Potenz aus Sicht der AT-Dogmatik<br />

72 A.A. statt vieler Gössel, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2,<br />

1996, § 21 Rn. 2; Tiedemann (Fn. 24), Vor § 263 Rn. 28; und<br />

oben Arzt/Weber (Fn. 27).<br />

73 Binding (Fn. 64), S. 386: „das Gefährdungsverbrechen ist<br />

nur verboten unter dem stillschweigenden Vorbehalte, dass<br />

bei der Handlung jene Gegenwirkung nicht stattgefunden<br />

hat.“<br />

74 Vgl. oben zu Fn. 36 und in Fn. 40.<br />

75 Hefendehl (Fn. 17), S. 132 f.<br />

76 So Riemann, Vermögensgefährdung und Vermögensschaden,<br />

1988, S. 25 f., im Anschluss an Seelmann, JR 1986, 346<br />

(347 f.).<br />

77 So letztlich auch Kindhäuser (Fn. 3), S. 249 (S. 259 f.).<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

927


Pierre Hauck<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

zum konkreten Gefährdungsdelikt oder aus Sicht der BT-<br />

Vermögensdeliktsdogmatik beleuchtet: Freilich schafft der<br />

Täter mit seiner Tathandlung erst die Voraussetzung einer<br />

konkreten Gefahr. Ihre Realisierung hängt dann davon ab, ob<br />

das Opfer, Dritte oder auch der Täter selbst den Eintritt der<br />

konkreten Gefährdung durch den Verzicht auf ihre Vermeidemacht<br />

zulassen. 78<br />

bb) Die „beunruhigende Rolle des Zufalls“ und die Forderung<br />

nach stark gefährlichem Verhalten – Zur Rückbindung<br />

des Gefährdungsschadens an die Tathandlung<br />

Dass sich das Konzept der Vermögensgefährdung als eigenständiger<br />

Bereich des Rechtsgüterschutzes in den aufgezeigten<br />

engen Grenzen begründen lässt, belegt jedoch mit keinem<br />

Wort, dass es gerade das konkrete Gefährdungsdelikt sein<br />

muss, anhand dessen dieser Schutzbedarf umzusetzen ist. Ein<br />

solches Gefährdungsdeliktskonzept hätte selbstverständlich<br />

den allgemeinen Vorgaben der Dogmatik der konkreten Gefährdungsdelikte<br />

zu folgen, was im Ergebnis nicht gelingen<br />

kann. 79<br />

Einzugehen ist hier zunächst auf die von Ulrich Weber im<br />

Anschluss an Radbruch sog. „beunruhigende Rolle des Zufalls“<br />

80 . Konkrete Gefährdungsdelikte teilen das Schicksal<br />

aller Erfolgsdelikte, wonach es mehr oder minder vom Zufall<br />

abhängt, ob der tatbestandsmäßige Erfolg eintritt oder ausbleibt.<br />

Auch bei den Vermögensdelikten ist es keineswegs<br />

sicher, dass die Tathandlung vermögensschädigende Wirkung<br />

haben wird. So muss sich das Opfer nicht täuschungsbedingt<br />

irren, es kann der Drohung in besonnener Selbstbehauptung<br />

widerstehen oder der Täter kann trotz gröblichster Pflichtverletzung<br />

einfach Glück haben und die Vermögenseinbuße<br />

bleibt aus. Aus diesem „Odium der Zufallshaftung“ 81 werden<br />

deshalb bestimmte Anforderungen an die Tathandlung abgeleitet.<br />

So wird zur Legitimation des konkreten Gefährdungsdelikts<br />

zum einen gefordert, bei der Tathandlung müsse es sich<br />

stets um ein „stark gefährliches“ Verhalten 82 handeln. Ähnlich<br />

dem Typizitätselement der Tathandlung beim abstrakten<br />

Gefährdungsdelikt bedarf es also eines Verhaltens, das in<br />

gesteigertem Maße gefährdungstauglich ist, wobei sich diese<br />

Eignung im Unterschied zum abstrakten Gefährdungsdelikt<br />

dann auch tatsächlich realisieren muss, z.B. die besondere<br />

Unfallträchtigkeit der sog. „Sieben Todsünden im Straßenverkehr“<br />

als eine der beiden Tathandlungstypen der Straßenverkehrsgefährdung<br />

(§ 315c Abs. 1 StGB). 83<br />

Genau darin liegt aber das Problem: Sicher sind die vermögensgerichtete<br />

Täuschung, eine hierauf bezogene Nöti-<br />

78<br />

Vgl. im Einzelnen Hefendehl (Fn. 21), § 263 Rn. 590 ff.<br />

(Opfer), 600 ff. (Täter), 625 ff. (Dritte).<br />

79<br />

Vgl. zu diesen „inhaltlichen Anforderungen an die konkrete<br />

Gefahr“ jüngst Radtke (Fn. 18), S. 461 (S. 465 ff.).<br />

80<br />

Arzt/Weber, Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 35 Rn. 31;<br />

ferner Radtke (Fn. 18), S. 466 ff.<br />

81<br />

Arzt/Weber (Fn. 80), § 35 Rn. 61.<br />

82<br />

Arzt/Weber (Fn. 80), § 35 Rn. 62 (Hervorhebung im Original).<br />

83<br />

Vgl. Lackner (Fn. 36), S. 10 f.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

928<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

gung und erst recht die Verletzung einer Pflicht, Vermögen<br />

(ordnungsgemäß) zu betreuen, allesamt das Vermögen in<br />

einem gesteigerten Maße gefährdende Handlungen. Wenn<br />

das Vermögen aber „stark gefährdet“ wird, wenn es also sehr<br />

wahrscheinlich ist, dass es zu seiner Verletzung und Schädigung<br />

kommen wird, weil Möglichkeiten des Opfers, des<br />

Täters oder dritter Personen zur Vermeidung dieser Schädigung<br />

ungenutzt bleiben, dann folgt aus der Gefährlichkeit des<br />

Täterverhaltens direkt die Vermögensverletzung, ohne dass<br />

für eine Vermögensgefährdung noch Raum bliebe. Aus dem<br />

Zusammenspiel zwischen der starken Gefährlichkeit der Tathandlung<br />

und der Eigenart des Vermögens, im Falle seiner<br />

starken Gefährdung sehr oft bereits verletzt zu sein, folgt so<br />

die Unvereinbarkeit des Charakters eines konkreten Gefährdungsdelikts<br />

mit den Besonderheiten des Vermögensschutzes.<br />

Dies zeigt auch die folgende Übersicht zu dem sehr engen<br />

Restbereich von Gefährdungsschäden.<br />

cc) Verbleibende Beispiele für „Gefährdungsschäden“ 84<br />

(1) Trotz eines (auch) dispositionalen Vermögensverständnisses<br />

Der Begriff des Gefährdungsschadens, den Fischer als „irreführende<br />

Bezeichnung für eine bloße Berechnungsart einer<br />

(nicht drohenden, sondern eingetretenen) Vermögensminderung“<br />

85 bezeichnet hat, entfaltet nach unseren obigen Überlegungen<br />

zunächst dort weiterhin Relevanz, wo weder das<br />

Opfer noch eine andere Person über die Vermeidemacht<br />

verfügt, den Schaden zu verhindern, in dieser Situation aber<br />

noch kein Verlust der Dispositionsbefugnis zu sehen ist.<br />

Denn dann ist mangels Verlusts der Vermeidemacht noch<br />

kein Vermögensschaden eingetreten, obwohl sich das Geschehen<br />

unaufhaltsam (!) in diese Richtung fortentwickelt.<br />

Beispiel: Geld, das unabänderlich einer schwarzen Kasse<br />

zugeführt werden soll, befindet sich noch an seinem regulären<br />

Standort. Hier vermag niemand den Vermögensentzug zu<br />

verhindern, was zu einer konkreten Vermögensgefährdung<br />

führt. 86<br />

(2) Außerhalb der saldierungsfähigen Vermögenswertminderungen<br />

Sodann bleiben theoretisch die Fälle, in denen sich vermögensbezogenes<br />

Verhalten nicht wertmäßig saldieren lässt.<br />

Wenn wir uns an die oben zitierte 87 Rechtsprechung des RG<br />

erinnern, handelt es sich dabei ursprünglich um die Domäne<br />

des Gefährdungsschadens schlechthin. Nach der neueren<br />

Rechtsprechung des BVerfG dürfte der Anerkennung solcher<br />

Konstellationen aber ein Riegel vorgeschoben sein: Vermögensgerichtetes<br />

Schädigungsverhalten, das sich nach bilanziellen<br />

Vorgaben nicht wertmäßig saldieren lässt, ist vermö-<br />

84 Vgl. Kindhäuser (Fn. 3), S. 249 (S. 261 ff.). Auch Perron,<br />

in: Sieber u.a. (Fn. 18), S. 737 (S. 748), hält die vollständige<br />

Aufgabe des Gefährdungsschadens für eine unangemessene<br />

Einschränkung des strafrechtlichen Vermögensschutzes.<br />

85 Fischer, StraFo 2008, 269 (271).<br />

86 Vgl. Hoyer (Fn. 24), § 263 Rn. 235.<br />

87 Vgl. oben zu und in Fn. 11.


Betrug und Untreue als konkrete Gefährdungsdelikte de lege lata und de lege ferenda<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gensstrafrechtlich nicht relevant. 88 So schließt die Möglichkeit<br />

des Getäuschten, sich bei einem Eingehungsbetrug durch<br />

die Ausübung von Gestaltungsrechten vom Vertrag loszusagen,<br />

die Vermögensgefährdung aus.<br />

III. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse<br />

1. Für die Figur eines konkreten Vermögensgefährdungsdelikts<br />

Selbst de lege ferenda ist es daher unmöglich, konkrete Vermögensgefährdungsdelikte<br />

durch die Formulierung eines<br />

entsprechenden Deliktstatbestandes (etwa mit dem Wortlaut:<br />

„Wer […] das Vermögen eines anderen dadurch konkret<br />

gefährdet oder beschädigt, dass […]“) zu konstruieren. Denn<br />

konkret vermögensgefährliches Verhalten, das konkret zu<br />

keinem Schaden führt, muss jedenfalls innerhalb der §§ 263<br />

Abs. 1, 266 Abs. 1, 253 Abs. 1 StGB straflos bleiben. Das<br />

ergibt sich aus dem Zusammenwirken zwischen den spezifischen<br />

Anforderungen an konkrete Gefährdungshandlungen<br />

(„stark gefährliches Verhalten“ und der fehlenden Vermeidemacht<br />

des Opfers und des Täters) einerseits und der Sensibilität<br />

des Vermögens als Rechtsgut andererseits. Sofern die<br />

Rechtsfigur der konkreten, unmittelbaren Vermögensgefährdung<br />

also nicht schon echte Saldierungsschäden erfasst und<br />

schon insofern entbehrlich ist, hat das Institut auch keine<br />

darüberhinausgehende Daseinsberechtigung. 89<br />

Was der Gesetzgeber aber de lege ferenda leisten kann, ist<br />

eine Korrektur der Begriffsverschiedenheit zwischen „Schädigung“<br />

und „Nachteil“, die für die §§ 263, 266 StGB und<br />

alle weiteren Vermögensdelikte i.e.S. bei nächster Gelegenheit<br />

zugunsten eines einheitlichen Begriffs des Vermögensschadens<br />

aufgelöst werden sollte. Es ist noch einmal klarzustellen:<br />

Wegen des Analogieverbots des Art. 103 Abs. 2 GG<br />

kann es sich niemand leisten, für die Verwirklichung des<br />

Schadens- oder Nachteilsmerkmals in den gesetzlichen Tatbeständen<br />

sog. „schadensgleiche“ Vermögensgefährdungen<br />

genügen zu lassen. Dieser Terminus gehört daher für immer<br />

auf der Müllhalde der Strafrechtsdogmatik entsorgt: Die<br />

konkrete Vermögensgefährdung ist kein Vermögensschaden<br />

oder -nachteil i.S.d. §§ 263 Abs. 1, 266 Abs. 1 StGB. 90 Eine<br />

„bloße konkrete Gefährdung von Vermögenswerten, [die]<br />

nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise bereits eine Ver-<br />

88<br />

Vgl. BVerfG NJW 2010, 3209 (3219 f.).<br />

89<br />

Dieser gegenüber konkreten Vermögensgefährdungsdelikten<br />

generell ablehnenden Haltung widerspricht die Anerkennung<br />

abstrakter Vermögensgefährdungsdelikte de lege lata<br />

keineswegs: Die abstrakten Gefährdungsdelikte bilden einen<br />

anderen, eigenständigen Deliktstyp, der seine Legitimation<br />

aus der typischen abstrakten Schadensneigung bezieht.<br />

90<br />

Für die Anerkennung des Betruges als Verletzungs- und<br />

konkretes Gefährdungsdelikt wohl aber etwa Kindhäuser<br />

(Fn. 3), S. 249 (258 ff., 261 f.); zuvor bereits ders. (Fn. 58),<br />

S. 213 mit Fn. 30; tendenziell auch Seelmann, JR 1986, 346<br />

(347); sowie Hefendehl (Fn. 17), S. 129 ff., der den Zusammenhang<br />

zwischen Vermögensgefährdung und konkretem<br />

Gefährdungsdelikt lediglich „von ihrem Ausgangspunkt aus“<br />

leugnet.<br />

schlechterung der gegenwärtigen Vermögenslage bedeutet“ 91 ,<br />

gibt es nicht, weil eine solche, nach wirtschaftlichen (bilanziellen)<br />

Grundsätzen ermittelte Vermögensverschlechterung<br />

bereits einen Vermögensschaden begründet.<br />

2. Für die Deliktskategorie der konkreten Gefährdungsdelikte<br />

im Allgemeinen<br />

Ganz allgemein erweisen sich die konkreten Gefährdungsdelikte<br />

aber als kriminalpolitisch notwendige und rechtsdogmatisch<br />

integrationsfähige Kategorie. Konkrete Gefährdungsdelikte<br />

haben in der heterogenen Gruppe der Gefährdungsdelikte<br />

durchaus ihre Berechtigung, weil sich ein effektiver<br />

Rechtsgüterschutz nicht auf Verletzungstatbestände beschränken<br />

kann. Bestimmte, freilich nicht alle Rechtsgüter<br />

bedürfen des Schutzes vor konkreten Gefährdungen der sie<br />

verkörpernden tatbestandlichen Angriffsobjekte. Diese in<br />

diesem Beitrag überall durchschimmernde Rückbindung der<br />

Dogmatik der konkreten Gefährdungsdelikte an das zugrundeliegende<br />

Schutzgut ermöglicht es, der Gefahr einer Hypertrophie,<br />

einer ausufernden Installation konkreter Gefährdungsdelikte<br />

wirksam vorzubeugen. Die vorliegende Untersuchung<br />

zum Vermögensschutz hat die theoretische Stellung<br />

der Schädigungsvermeidemacht (des Opfers, des Täters oder<br />

einer dritten Person?) als eine der heute größten Herausforderungen<br />

für die Dogmatik der konkreten Gefährdungsdelikte<br />

klargestellt. Diese allgemeine Dogmatik des konkreten Gefährdungsdelikts<br />

kann dann auch zur Vorzeichnung des BT<br />

herangezogen werden. Damit hätte aber Lackners Einschätzung:<br />

„Das konkrete Gefährdungsdelikt im Strafrecht […] ist<br />

ein höchst merkwürdiges und problematisches Phänomen“ 92<br />

heute keinen Bestand mehr.<br />

91 Cramer/Perron (Fn. 24), § 263 Rn. 143.<br />

92 Lackner (Fn. 36), S. 1.<br />

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929


Pierre Hauck<br />

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Graphik 1<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

930<br />

Abstraktes Gefährdungsdelikt Konkretes Gefährdungsdelikt Verletzungsdelikt<br />

Typische, nicht gefahrerfolgsobjektbezogene<br />

Tathandlung<br />

↓<br />

Abstrakte Gefährdung des Rechtsguts<br />

Graphik 2<br />

Konkrete Gefährdung des Handlungsobjekts<br />

↓<br />

Schädigung i.S.e. Beeinträchtigung des<br />

Rechtsguts<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

Konkrete Verletzung des Handlungsobjekts<br />

↓<br />

Schädigung i.S.e. Beeinträchtigung des<br />

Rechtsguts


Entwicklungen strafprozessualer Maßnahmen in Europa im Rahmen der Terrorfurcht*<br />

Von Wiss. Mitarbeiterin Dr. Anna Oehmichen, Wiesbaden**<br />

I. Einführung<br />

Wir erinnern uns an die verheerenden Anschläge des<br />

11.9.2001, als zwei Flugzeuge in die beiden Türme des<br />

World Trade Centers flogen und dabei etwa 3000 Menschen<br />

in den Tod rissen. Dieses Ereignis hatte weltweite Folgen.<br />

Am 12.9.2001 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat Resolution<br />

1368, mit welcher er die Terroranschläge vom 11.9.<br />

verurteilte und außerdem das individuelle und kollektive<br />

Recht zur Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN Charta<br />

bekräftigte.<br />

Auch die NATO rief am 12.9.2001 erstmals in ihrer Geschichte<br />

den Bündnisfall gem. Art. 5 der Nato-Charta aus,<br />

wonach bei einem „bewaffneten Angriff“ das inhärente Recht<br />

der Selbstverteidigung gem. Art. 51 der UN Charta ausgeübt<br />

werden kann.<br />

In den Vereinigten Staaten erklärte die damalige Regierung<br />

unter George W. Bush dann am 20.9.2001 den globalen<br />

Krieg gegen den Terror mit den Worten: „Either you are with<br />

us, or you are with the terrorists“ 1 und legitimierte den Krieg<br />

gegen die Taliban in Afghanistan („Operation Enduring<br />

Freedom“) mit diesem völkerrechtlichen Recht auf Selbstverteidigung.<br />

Die Rechtmäßigkeit dieses Krieges wurde in der<br />

Literatur unter zwei Aspekten heftig debattiert: Erstens war<br />

fraglich, ob die terroristischen Angriffe vom 11.9.2001 tatsächlich<br />

als „bewaffneter Angriff“ i.S.d. Charta zu qualifizieren<br />

waren, und zweitens war auch zweifelhaft, ob – angenommen,<br />

es handele sich um so einen Angriff – dieser den<br />

Einzug in Afghanistan rechtfertigen konnte, da ja augenscheinlich<br />

nicht die Regierung von Afghanistan, sondern Al<br />

Qaida bzw. Bin Laden für die Angriffe verantwortlich waren.<br />

2<br />

Am 28.9.2001 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat zudem<br />

Resolution 1373 (2001), mittels welcher bekräftigt wurde,<br />

dass terroristische Handlungen eine Bedrohung des Friedens<br />

und der Sicherheit darstellen. Zugleich wurden in dieser<br />

* Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den die Verf. am<br />

31.5.2011 im Rahmen der Jahrestagung des CEHAMER<br />

Instituts an der TC Istanbul Kültür Üniversitesi und der Universität<br />

Istanbul gehalten hat und dessen Veröffentlichung in<br />

türkischer Sprache durch das CEHAMER Institut geplant ist.<br />

** Dr. Anna Oehmichen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

an der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden e.V.<br />

1<br />

Address to a joint session of Congress on 20.9.2.2001.<br />

2<br />

Vgl. zu diesen Fragen Oehmichen, in: Silverburg (Hrsg.),<br />

International law, Contemporary Issues and Future Developements,<br />

2011, S. 448; Stahn, in: Walter u.a. (Hrsg.), Terrorism<br />

as a Challenge for National and International Law:<br />

Security versus Liberty?, 2004, S. 827; ders., Fletcher Forum<br />

World Affairs 27 (2003), 35; Byers, International & Comparative<br />

Law Quarterly 51 (2002), 401; reprinted in: International<br />

Relations 16 (2002), 155; Hovell, UNSW Law Journal<br />

2004, 398; Ulfstein, Security Dialogue 2003, 153; Murphy,<br />

Harvard International Law Journal 43 (2002), 41.<br />

Resolution Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus<br />

und insbesondere für den Kampf gegen die Finanzierung des<br />

Terrorismus festgelegt.<br />

Der Europäische Rat erklärte in einer außerordentlichen<br />

Tagung am 21.9.2001, dass der Terrorismus eine wirkliche<br />

Herausforderung für die Welt und für Europa darstelle und<br />

dass die Bekämpfung des Terrorismus eines der vorrangigen<br />

Ziele der Europäischen Union sein werde. Zur Bekräftigung<br />

dieser Erklärung wurden im Dezember zwei gemeinsame<br />

Standpunkte verabschiedet. 3 Diese zielten insbesondere auch<br />

auf die Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus i.S.d.<br />

UN-Sicherheitsrat-Resolution 1373 (2001) ab. Des Weiteren<br />

wurden im Juni 2002 mit der Verabschiedung des Rahmenbeschlusses<br />

zur Bekämpfung des Terrorismus die EU-Mitgliedsstaaten<br />

zur Kriminalisierung bestimmter terroristischer<br />

Handlungen aufgefordert. 4<br />

Auf nationaler Ebene reagierten die Vereinigten Staaten<br />

mit dem Patriot Act, der insbesondere die Entdeckung und<br />

Ermittlungen von terroristischen Tätigkeiten verbessern sollte.<br />

5 Auch in anderen Staaten der Welt wurden rasch neue<br />

Anti-Terror-Gesetze in Reaktion auf den 11.9.2001 verabschiedet.<br />

6<br />

Da viele dieser neuen Gesetze auf die Erhöhung der Sicherheit<br />

mittels Ausweitung der Befugnisse von Strafverfolgungs-<br />

und anderen staatlichen Behörden ausgerichtet waren,<br />

führte diese neue Entwicklung zugleich zu einer Einschränkung<br />

der Freiheits- und Bürgerrechte, die zum Teil bedenkliche<br />

Formen annahm. Im Kampf gegen den Terrorismus wurden<br />

zunehmend auch rechtsstaatliche Grundsätze in Frage<br />

gestellt. Dies betraf nicht nur die Vereinigten Staaten, in<br />

denen man durch die Inhaftierung „illegaler feindlicher<br />

Kombattanten“ in Guantanamo und durch die sog. außerordentlichen<br />

Überführungen (extraordinary renditions) einer<br />

3<br />

Gemeinsamer Standpunkt zur Bekämpfung des Terrorismus<br />

v. 27.12.2001 (2001/930/GASP), und Gemeinsamer Standpunkt<br />

zur Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung<br />

des Terrorismus (2001/931/GASP).<br />

4<br />

Rahmenbeschluss des Rates v. 13.6.2002 zur Terrorismusbekämpfung<br />

(2002/475/JI, ABl. EU Nr. L 164, S. 3).<br />

5<br />

Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate<br />

Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism (USA<br />

Patriot Act) of 2001, 26.10.2001 [H.R. 3162].<br />

6<br />

Für die Reaktionen des Vereinigten Königreichs, Spaniens,<br />

Frankreichs und Deutschland, vgl. Oehmichen, Terrorism and<br />

Anti-Terror Legislation: The Terrorised Legislator?, A comparison<br />

of counter-terrorism legislation and its implications<br />

on human rights in the legal systems of the United Kingdom,<br />

Spain, Germany, and France, 2009; Eine umfassende Übersicht<br />

über Anti-Terror-Gesetze und Recht-sprechung bietet<br />

zudem das Office for Democratic Institutions and Human<br />

Rights (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />

in Europa (OSZE), online verfügbar auf:<br />

http://legislationline.org/topics/topic/5.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

931


Anna Oehmichen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Gruppe von Menschen allein aufgrund eines (durch kein<br />

Gericht bestätigten) Terrorismusverdachts fundamentalste<br />

Grundrechte aberkannte. Auch in Deutschland und anderen<br />

westeuropäischen Staaten wurde eine Reihe von Sicherheitsgesetzen<br />

eingeführt, die die Menschenrechte nicht nur von<br />

mutmaßlichen Terroristen, sondern vermehrt auch von völlig<br />

Unbeteiligten, kontinuierlich stärker einschränkten. Sehr<br />

treffend beschrieb die mit der Terrorfurcht zugleich aufkeimende<br />

Sorge um Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien<br />

das Magazin „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe 28/2007 im<br />

Titelbild, welches Justitia zeigt, mit einem Sprengstoffgürtel<br />

bekleidet (Titel: „Der Preis der Angst“). Der deutsche Jurist<br />

und Journalist Heribert Prantl leitete sein Buch „Verdächtig“,<br />

in dem er diese Entwicklungen in Deutschland analysiert,<br />

mit den Worten ein: „Angst ist eine Autobahn für Sicherheitsgesetze“.<br />

7<br />

Im Folgenden soll der Einfluss der Angst vor Terrorismus<br />

auf gesetzgeberische Maßnahmen anhand einer Selektion<br />

konkreter Beispiele genauer dargestellt werden. Dabei wird<br />

die Darstellung weitgehend auf Europa und inhaltlich auf die<br />

Entwicklungen im Strafprozessrecht beschränkt sein. Zunächst<br />

werden einige strafprozessuale Entwicklungen im<br />

Recht der Europäischen Union (II.), sodann Entwicklungen in<br />

einigen europäischen Staaten (Vereinigtes Königreich, Spanien,<br />

Deutschland und Frankreich) dargestellt (III.). Im Anschluss<br />

wird auf eine weitere, nicht zu unterschätzende „indirekte“<br />

strafprozessuale Entwicklung eingegangen (IV.). Der<br />

Beitrag schließt mit einer kritischen Bewertung der dargestellten<br />

Trends.<br />

II. Regionale Entwicklungen in der Europäischen Union<br />

Der Rat der Europäischen Union verabschiedete neben den<br />

beiden gemeinsamen Standpunkten und dem Rahmenbeschluss<br />

zur Terrorismusbekämpfung (s.o.) zudem am 13.6.<br />

2002 zwei weitere Rahmenbeschlüsse, die die Kooperation<br />

der Strafverfolgungsbehörden innerhalb der EU stärken sollen.<br />

Zum einen wurde der Rahmenbeschluss über den Europäischen<br />

Haftbefehl verabschiedet. 8 Dieser soll das vorherige<br />

Auslieferungsverfahren ersetzen. Er verkürzt das herkömmliche<br />

Auslieferungsverfahren, weil der ersuchte Staat die<br />

Rechtmäßigkeit des Haftbefehls nicht mehr überprüfen muss<br />

(Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung). 9 Im Zusammenhang<br />

mit dem europäischen Haftbefehl ist auf zwei Entscheidungen<br />

hinzuweisen: Im Jahre 2005 erklärte das<br />

BVerfG das deutsche Umsetzungsgesetz des Europäischen<br />

Haftbefehls 10 für nichtig. 11 Das Gesetz greife unverhältnis-<br />

7<br />

Prantl, Verdächtig, Der starke Staat und die Politik der<br />

inneren Unsicherheit, 2002, S. 17.<br />

8<br />

Rahmenbeschluss 2002/584/JI, ABl. EG 2002 Nr. L 190,<br />

S. 1.<br />

9<br />

Vgl. hierzu: Harms/Knaus, in: Schünemann u.a. (Hrsg.),<br />

Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am<br />

15.5.2011, 2011, S. 1479.<br />

10<br />

Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den<br />

Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen<br />

den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäi-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

932<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

mäßig in die Auslieferungsfreiheit (Art. 16 Abs. 2 GG) ein,<br />

da der Gesetzgeber die ihm durch den Rahmenbeschluss<br />

eröffneten Spielräume nicht für eine möglichst grundrechtsschonende<br />

Umsetzung des Rahmenbeschlusses in nationales<br />

Recht ausgeschöpft habe. Zudem verstoße das Europäische<br />

Haftbefehlsgesetz aufgrund der fehlenden Anfechtbarkeit der<br />

(Auslieferungs-)Bewilligungsentscheidung gegen die Rechtsweggarantie<br />

(Art. 19 Abs. 4 GG). In der Folge verabschiedete<br />

der Bundestag ein neues Europäisches Haftbefehlsgesetz, in<br />

welchem es den verfassungsrechtlichen Vorgaben Rechnung<br />

trug. 12 Auch in anderen Staaten wurde die Umsetzung des<br />

Rahmenbeschlusses von verfassungsrechtlicher Seite gerügt.<br />

13 Eine Entscheidung des OLG Stuttgart demonstriert die<br />

Grenzen des Prinzips gegenseitiger Anerkennung: Es entschied<br />

in Bezug auf diesen neuen Umsetzungsakt, dass<br />

Art. 49 Abs. 3 Charta der Grundrechte der Europäischen<br />

Union (betreffend den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im<br />

Zusammenhang mit Straftaten und Strafen) der Auslieferung<br />

eines Verfolgten an einen Mitgliedstaat der Europäischen<br />

Union aufgrund Europäischen Haftbefehls entgegenstehen<br />

könne, wenn die dem Verfolgten drohende Strafe unerträglich<br />

hart wäre. 14 Beide Entscheidungen sind nur zwei Beispiele<br />

für die grundlegenden rechtsstaatlichen Probleme, die<br />

mit der – durch die Terrorfurcht maßgeblich beschleunigten –<br />

Umsetzung des Europäischen Haftbefehls einhergehen. Auch<br />

die Kommission musste bei einer Evaluierung dieses Rechtsinstruments<br />

im April 2011 feststellen, dass es in einigen Fällen<br />

zu erheblichen Einschränkungen von Verteidigungsrechten<br />

führte und das Fehlen einer uniformen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

erhebliche Ungleichheiten in den verschiedenen<br />

Mitgliedstaaten zur Folge hatte. 15<br />

sches Haftbefehlsgesetz [EuHbG]) vom 21.7.2004 (BGBl. I<br />

2004, S. 1748).<br />

11<br />

BVerfG, Urt. v. 18.7.2005 – 2 BvR 2236/04.<br />

12<br />

BGBl. I 2006, S. 1721.<br />

13<br />

So hielt das polnische Verfassungsgericht das Umsetzungsgesetz<br />

für unvereinbar mit Art. 55 der polnischen Verfassung<br />

(a.F.), der die Auslieferung von Polen ins Ausland verbot,<br />

vgl. Urt. v. 27.4.2005 – P 1/05. Eine deutsche Zusammenfassung<br />

des Urteils findet sich auf:<br />

http://www.trybunal.gov.pl/eng/summaries/documents/P_1_0<br />

5_DE.pdf. Auch der zyprische höchste Gerichtshof verweigerte<br />

die erste Auslieferung eines zyprischen Staatsbürgers an<br />

das Vereinigte Königreich mit der Begründung, dass es für<br />

die Festnahme beim Europäischen Haftbefehl an einer<br />

Rechtsgrundlage fehle. Dies war dem Umstand geschuldet,<br />

dass die Gründe für eine Festnahme gesetzlich abschließend<br />

in Art. 11 der zyprischen Verfassung aufgeführt waren und<br />

der Europäische Haftbefehl natürlich nicht als Grund dort<br />

genannt war. Vgl. die Urt. v. 7.11.2005 –294/2005 (eine<br />

englische Übersetzung der Entscheidung findet sich Council<br />

Document Nr. 14285/05 v. 11.11.2005).<br />

14<br />

OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.2.2010 – 1 Ausl. (24) 1246/09<br />

= StV 2010, 262 = NJW 2010, 1617 = Justiz 2010, 340.<br />

15<br />

Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und<br />

den Rat über die seit 2007 erfolgte Umsetzung des Rahmenbeschlusses<br />

des Rates v. 13.7.2002 über den Europäischen


Entwicklungen strafprozessualer Maßnahmen in Europa im Rahmen der Terrorfurcht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Am 16.6.2002 wurde neben dem Rahmenbeschluss zum<br />

Europäischen Haftbefehl auch ein solcher über gemeinsame<br />

Ermittlungsgruppen 16 verabschiedet. Hintergrund war, dass<br />

das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in<br />

Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU nur sehr<br />

schleppend ratifiziert worden war. Um die gemeinsame Ermittlung,<br />

insbesondere im Kampf gegen den Terrorismus, zu<br />

beschleunigen, verabschiedete der Rat daher diesen Rahmenbeschluss<br />

im Juni 2002. 17 Die Einsetzung von gemeinsamen<br />

Ermittlungsgruppen erfolgte bislang nur zögerlich. Ein Grund<br />

hierfür dürfte auch in den unterschiedlichen Beweisregeln der<br />

Mitgliedstaaten liegen, die zur gerichtlichen Unverwertbarkeit<br />

der gewonnenen Beweise führen können und den Nutzen<br />

dieses neuen Instruments erheblich einschränken. 18<br />

Die EU verstärkte die intereuropäische Zusammenarbeit<br />

im Kampf gegen den Terrorismus in der Folge mit einer<br />

Reihe weiterer Rechtsinstrumente: Im Jahre 2005 wurde der<br />

Beschluss 2005/671/JI des Rates über den Informationsaustausch<br />

und die Zusammenarbeit betreffend terroristische<br />

Straftaten verabschiedet, ein Jahr später die EG-Richtlinie<br />

2006/24 v. 15.3.2006 über die Vorratsdatenspeicherung eingeführt<br />

und im Jahre 2008 verabschiedete der Rat den Rahmenbeschluss<br />

2008/978/JI v. 18.12.2008 über die Europäische<br />

Beweisanordnung. 19 Aus grundrechtlicher Perspektive<br />

ist insbesondere die Vorratsdatenspeicherung wegen des<br />

Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung<br />

von verschiedenen Seiten kritisiert worden. So hielt etwa das<br />

BVerfG das deutsche Umsetzungsgesetz für mit Art. 10 GG<br />

unvereinbar. 20<br />

In Hinblick auf die Einschränkung von Grundrechten sollte<br />

im Rahmen der europäischen Bekämpfung gegen den Terrorismus<br />

insbesondere auf die Problematik der sog. „Terror-<br />

Listen“ eingegangen werden: 21<br />

Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten<br />

(KOM [2011] 175 endg., S. 3, 6 ff.).<br />

16<br />

Rahmenbeschluss 2002/465/JI, ABl. EG 2002 Nr. L 162,<br />

S. 1.<br />

17<br />

Das Übereinkommen wurde schließlich 2005 von allen<br />

Mitgliedstaaten ratifiziert und ersetzt seitdem den Rahmenbeschluss.<br />

18<br />

Vgl. hierzu auch die Studie des Europäischen Parlaments,<br />

DG Internal Policies of the Union, Policy Department C,<br />

Citizens' Rights and Constitutional Affairs, Implementation<br />

of the European Arrest Warrant and Joint Investigation<br />

Teams at EU and National Level (Januar 2009), PE 410.671,<br />

online verfügbar auf:<br />

http://www.eipa.eu/files/EUROPEANARRESTWARRANT.<br />

pdf.<br />

19<br />

Vgl. hierzu etwa: Murphy, in: Eckes/Konstadinides (Hrsg.),<br />

Crime within the Area of Freedom, Security and Justice: A<br />

European Public Order, 2011, online verfügbar unter:<br />

http://ssrn.com/abstract=1701956.<br />

20<br />

BVerfG, Urt. v. 2.3.2010 – 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1<br />

BvR 586/08. S. auch unten III. 3.<br />

21<br />

Eingehend hierzu: Guild, JCMS 46 (2008), 173; Vgl. auch<br />

International Commission of Jurists, Assessing Damage,<br />

Am 15.10.1999 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die<br />

Resolution 1267 (1999), in welcher u.a. die Einsetzung eines<br />

Ausschusses des Rates (im Folgenden: Sanktionsrat) beschlossen<br />

wurde, der für die Durchführung der in der Resolution<br />

beschlossenen Maßnahmen zuständig sein sollte. Zu<br />

diesen Maßnahmen gehörte u.a., dass alle Staaten „Gelder<br />

und andere Finanzmittel [...], die den Taliban gehören [...],<br />

einfrieren […]“ 22 In der Erwägung, dass die Europäische<br />

Gemeinschaft tätig werden musste, um die Resolution 1267<br />

(1999) umzusetzen, nahm der Rat der Europäischen Union<br />

zunächst den gemeinsamen Standpunkt 1999/727/GASP über<br />

restriktive Maßnahmen gegen die Taliban 23 an und erließ am<br />

15.2.2000 die Verordnung (EG) Nr. 337 über ein Flugverbot<br />

und das Einfrieren von Geldern und anderen Finanzmitteln<br />

betreffend die Taliban von Afghanistan. 24 Mit der Resolution<br />

1333 (2000) des Sicherheitsrates wurde das Einfrieren von<br />

Geldern erweitert und der Sanktionsausschuss wurde beauftragt,<br />

eine aktualisierte Liste der Personen und Einrichtungen<br />

zu führen, die als mit Osama bin Laden verbunden bezeichnet<br />

wurden. In der Folge verabschiedete der Rat der Europäischen<br />

Union den Gemeinsamen Standpunkt 2001/154/GASP<br />

und erließ die Verordnung (EG) Nr. 467/2001. Art. 2 Abs. 1<br />

dieser Verordnung lautet: „Alle Gelder und anderen Finanzmittel,<br />

die den von dem [Sanktionsausschuss] bezeichneten<br />

und in Anhang I genannten natürlichen oder juristischen<br />

Personen, Institutionen oder Einrichtungen gehören, werden<br />

eingefroren.“ Fast wortgleich ist auch Art. 2 der Verordnung<br />

Nr. 881/20002, welche im Nachgang auf eine weitere Sicherheitsratresolution<br />

(1390 [2002]) und einen weiteren Gemeinsamen<br />

Standpunkt (2002/402/GASP) verabschiedet wurde.<br />

Hierbei wurde insbesondere die Liste der Personen, deren<br />

Gelder eingefroren werden sollten, weiter ergänzt. Weder die<br />

EG-Verordnungen noch die Gemeinsamen Standpunkte sahen<br />

ein Verfahren vor, nach welchem den aufgelisteten Personen<br />

mitgeteilt werde, aufgrund welcher Umstände die Aufnahme<br />

ihrer Namen in der Liste gerechtfertigt war. Auch war<br />

weder gleichzeitig mit der Aufnahme noch im Anschluss<br />

daran eine Anhörung vorgesehen.<br />

Zwei der auf dieser Liste geführten Personen, Barakaat<br />

International Foundation und Al-Qadi Yasi (alias Kadi),<br />

wendeten sich gegen ihre Auflistung vor dem Europäischen<br />

Gerichtshof in Luxemburg. Sie beantragten, die streitigen<br />

EG-Verordnungen für nichtig zu erklären, soweit diese Verordnungen<br />

sie betrafen. Dabei sahen sie im Wesentlichen<br />

ihren Anspruch auf rechtliches Gehör, ihr Eigentumsrecht<br />

und ihr Recht auf effektive gerichtliche Kontrolle als verletzt<br />

an. Nachdem das Gericht erster Instanz ihre Anträge in vollem<br />

Umfang abgewiesen hatte, 25 legten sie Rechtsmittel ein.<br />

Urging Action, Report of the Eminent Jurists Panel on Terrorism,<br />

Counter-terrorism and Human Rights, 2009.<br />

22<br />

Ziff. 4 Buchst. B der Resolution.<br />

23<br />

ABl. EG v. 16.11.1999 Nr. L 294, S. 1.<br />

24<br />

ABl. EG v. 16.2.2000 Nr. L 43, S. 1.<br />

25<br />

EuGH, Urt. v. 21.9.2005, T-315/01 (Kadi v. Rat und<br />

Kommission) = Slg. 2005, II-3649 sowie EuGH, Urt. v.<br />

21.9.2005 – T-306/01 (Yusuf und Al Barakaat International<br />

Foundation v. Rat und Kommission) = Slg. 2005, II-3533.<br />

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933


Anna Oehmichen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Mit Urteil v. 3.9.2008 entschied die Große Kammer des<br />

EuGH, dass entgegen der Ansicht der Vorinstanz die streitigen<br />

Verordnungen justiziabel seien, dass die Verteidigungsrechte<br />

der Rechtsmittelführer, insbesondere der Anspruch auf<br />

rechtliches Gehör „offenkundig nicht gewahrt worden“ seien,<br />

da ihnen die Gründe für ihr Erscheinen auf der Liste auch auf<br />

Anfrage nicht mitgeteilt worden waren. Aus diesem Grund<br />

konnten sie auch ihre Rechte nicht unter zufriedenstellenden<br />

Bedingungen verteidigen, so dass auch das Recht auf effektiven<br />

Rechtsschutz verletzt war. Die Groβe Kammer sah auch<br />

das Eigentumsrecht des Herrn Kadi als verletzt an. Sie erklärte<br />

daher die streitigen Verordnungen für nichtig, soweit sie<br />

die Rechtsmittelführer betrafen.<br />

Das Verfahren zeigt die zunehmende Verzahnung europäischer<br />

und US-amerikanischer Anti-Terrormaßnahmen. Zugleich<br />

zeigt es auch, zu welchen „Kollateralschäden“ die<br />

verstärkte internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen<br />

den Terrorismus führt. Das Vertrauen, welches die Erfinder<br />

dieses Listensystems in die nationalen Sicherheits- und Polizeibehörden,<br />

die die Namen für die Liste lieferten, legten, ist<br />

unübertroffen. Die Gefahr, dass der Geheimdienst irgend<br />

eines Schurkenstaates dabei versehentlich den Namen eines<br />

unliebsamen Staatsfeindes auf die Liste setzen und ihn somit<br />

in einen Terroristen verwandeln könnte, wurde scheinbar als<br />

sekundär gegenüber der übermächtigen Terrorismusgefahr<br />

eingeschätzt. Dass daneben rechtsstaatliche Grundprinzipien<br />

wie etwa das Recht, sich gegen Akte der Exekutive wehren<br />

zu können (Recht auf wirksame Beschwerde, vgl. Art. 13<br />

EMRK), ebenso wie der Anspruch auf rechtliches Gehör<br />

ausgehöhlt wurde, wurde von der Staatengemeinschaft offenbar<br />

in Kauf genommen. Dabei kann die Entscheidung des<br />

EuGH, die effektiven Rechtsschutz letztlich gewährte, nur<br />

bedingt trösten.<br />

Gegenwärtig gibt es weitere Entwicklungen, die einen<br />

verstärkten europäischen und internationalen Informationsaustausch<br />

und erleichterte Zusammenarbeit (auch) im Kampf<br />

gegen den Terrorismus vermuten lassen: Erstens hat die Europäische<br />

Union mit den Vereinigten Staaten von Amerika<br />

das sog. „Swift-Abkommen“ 26 vereinbart, das den Zugriff<br />

US-amerikanischer Behörden auf die Daten der SWIFT<br />

(Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication)<br />

zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus<br />

regelt. Des Weiteren wurde ein Vorschlag für einen Rahmenbeschluss<br />

des Rates über die Verwendung von Fluggastdatensätzen<br />

(passenger name records oder PNR-Daten) zu<br />

Strafverfolgungszwecken unterbreitet. Schließlich plant die<br />

Kommission die Einführung einer europäischen Ermittlungsanordnung,<br />

die strafprozessuale Ermittlungen in anderen<br />

Mitgliedsstaaten vereinfachen soll. Letztere wird vor allem<br />

kritisiert, weil sie auf dem Prinzip gegenseitiger Anerkennung<br />

begründet ist, obgleich die eine solche Anerkennung<br />

voraussetzende Harmonisierung von grundrechtlichen Min-<br />

26<br />

Abkommen zwischen der Europäischen Union und den<br />

Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung von<br />

Zahlungsverkehrsdaten und deren Übermittlung für die Zwecke<br />

des Programms der USA zum Aufspüren der Finanzierung<br />

des Terrorismus.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

934<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

deststandards noch nicht überall in Europa in ausreichender<br />

Weise gewährt ist. 27 Schließlich ist noch kurz auf das nebulöse<br />

Projekt „INDECT“ der Europäischen Union einzugehen.<br />

INDECT ist ein Akronym für „Intelligent information system<br />

supporting observation, searching and detection for security<br />

of citizens in urban environment“. Das durch das 7. Rahmenprogramm<br />

der EU geförderte Forschungsvorhaben hat laut<br />

seines Internet-Auftritts das Ziel, „terroristische Bedrohungen<br />

automatisch zu entdecken und schweres strafrechtliches<br />

(„anormales“) Verhalten oder Gewalt zu erkennen. Ziel ist es<br />

auch, Gefahren im Vorfeld zu erkennen, die zu einem terroristischen<br />

Attentat führen könnten (z.B. abgestellte Koffer im<br />

Flughafen). So werden etwa Kameras entwickelt, die in der<br />

Lage sind, Gesichter zu erkennen sowie „abweichendes“<br />

Verhalten aufzudecken, wobei es freilich große Schwierigkeiten<br />

bereitet, letzteres zu definieren, ohne sozialübliches Verhalten<br />

mit einzubeziehen. 28 Bezeichnenderweise ist ja – jedenfalls<br />

nach traditioneller Auffassung – nicht jedes deviante<br />

Verhalten strafrechtlich relevant. 29 Bei der Vorstellung, dass<br />

man aufgrund abnormalen Verhaltens (etwa, weil man am<br />

Flughafen öfters als gewöhnlich die sanitären Anlagen besucht<br />

oder weil man es gar wagt, dreimal durch den Duty-<br />

Free-Shop zu laufen ohne etwas zu kaufen) die Aufmerksamkeit<br />

der Ermittlungsbehörden auf sich lenkt und infolgedessen<br />

befragt oder gar festgenommen werden kann, kann einem<br />

schon Angst und bange werden.<br />

III. Nationale Entwicklungen<br />

Im Folgenden wird auf einige Entwicklungen des Strafprozessrechts<br />

im Hinblick auf die Terrorbekämpfung auf nationaler<br />

Ebene eingegangen. Dabei wurde die Darstellung auf<br />

einige ausgewählte Maßnahmen aus dem Vereinigten Königreich,<br />

Spanien, Deutschland und Frankreich beschränkt. Diesen<br />

Staaten ist gemein, dass sie bereits vor dem 11.9.2001<br />

über Erfahrungen mit Terrorismus (IRA in England/Nordirland,<br />

ETA in Spanien, die RAF in Deutschland sowie die<br />

korsischen und algerischen Bewegungen, die auch im französischen<br />

Festland aktiv waren) verfügten und daher auch<br />

schon vor diesem Datum spezielle Antiterrorgesetze eingeführt<br />

hatten. Gleichzeitig handelt es sich bei allen vier Ländern<br />

um repräsentative Staaten für Europa, deren Menschenrechtspolitik<br />

sich am gleichen Maßstab, der Europäischen<br />

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

(EMRK) messen lässt und die sich auch insoweit<br />

für eine Übersicht der nationalen Entwicklungen im Rahmen<br />

der Terrorfurcht eignen.<br />

27<br />

Vgl. etwa Schünemann/Roger, <strong>ZIS</strong> 2010, 92; Ambos, <strong>ZIS</strong><br />

2010, 557; siehe auch Schierholt, <strong>ZIS</strong> 2010, 567.<br />

28<br />

Eine Vorstellung von INDECT findet sich auf<br />

http://www.indect-project.eu/. Auf Youtube findet sich eine<br />

offizielle Präsentation des Projektes:<br />

(http://www.youtube.com/watch?v=9gVBFJg1AbA&feature<br />

=related) wie auch verschiedene kritische Darstellungen (vgl.<br />

etwa http://www.youtube.com/watch?v=Rgl31tXdA4w.<br />

29<br />

Vgl. zu den Unterschieden zwischen strafrechtlichem,<br />

„natürlichem“ und soziologischem Verbrechensbegriff<br />

Schwind, Kriminologie, 20. Aufl. 2010, Rn. 2 ff.


Entwicklungen strafprozessualer Maßnahmen in Europa im Rahmen der Terrorfurcht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

1. Vereinigtes Königreich<br />

Bereits vor 2001 gab es im Vereinigten Königreich sehr weitreichende<br />

strafprozessuale Befugnisse zur Bekämpfung des<br />

Terrorismus. Sections 44-45 des Terrorism Act 2000 30 beispielsweise<br />

geben der Polizei sehr weitreichende Anhalte-<br />

und Durchsuchungsbefugnisse (sog. stop & search powers).<br />

Diese wurden im Fall „Gillan & Quinton gegen das Vereinigte<br />

Königreich“ Gegenstand einer Klage vor dem Europäischen<br />

Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). 31 Der<br />

EGMR erklärte, dass bei derart weitreichendem Ermessen ein<br />

klares Willkür-Risiko bestehe und erkannte darin eine Verletzung<br />

von Art. 8 EMRK. Obgleich mit dem Terrorism Act<br />

2000 die bis dahin verabschiedeten verschiedenen zeitlich<br />

bisher immer befristeten Anti-Terror-Gesetze konsolidiert<br />

worden waren, um weitere provisorische Gesetze künftig<br />

entbehrlich zu machen, wurde kurz nach den Anschlägen des<br />

11.9.2001 das nächste Anti-Terror-Gesetz verabschiedet, und<br />

zwar der Anti-Terrorism, Crime & Security Act (ATSCA)<br />

2001. Dessen Section 21 war besonders problematisch, da er<br />

die zeitlich unbeschränkte (administrative, nicht strafprozessuale)<br />

32 Festnahme von ausländischen Terrorverdächtigen<br />

vorsah. Diese konnte der Innenminister anordnen, wenn er<br />

vernünftige Gründe hatte, zu glauben, dass die Anwesenheit<br />

der fraglichen Person eine Gefahr für die nationale Sicherheit<br />

darstelle und er diese Person verdächtige, Terrorist zu sein.<br />

Im Dezember 2004 entschied das House of Lords, dass diese<br />

Bestimmung unvereinbar mit Art. 5 Abs. 1 lit. f und Art. 14<br />

EMRK sei und machte eine entsprechende Erklärung zur<br />

Unvereinbarkeit mit dem Human Rights Act 1998. Der Gesetzgeber<br />

reagierte rasch und verabschiedete den Prevention<br />

of Terrorism Act (PTA) 2005, in welchem er die unbegrenzte<br />

Festnahme durch die Einführung von Kontrollge- und -verboten<br />

(control orders) ersetzte. Damit kann nun – im Einklang<br />

mit Art. 14 EMRK Inländern wie Ausländern – verboten<br />

werden, für eine bestimmte, in dem konkreten Verbot<br />

festgesetzte Dauer ihr Haus zu verlassen, mit bestimmten<br />

Personen in Kontakt zu treten, etc. Viele dieser Control Orders<br />

wurden in der Folge rechtlich angegriffen. Im Verfahren<br />

„A und andere gegen das Vereinigte Königreich“ entschied<br />

der EGMR, dass die dort verhängte Control Order Art. 5<br />

Abs. 1, 4 und 5 EMRK verletze. 33<br />

Weitere strafprozessuale Veränderungen in Bezug auf<br />

Terrorismus wurden zudem mittels des Criminal Justice Act<br />

2003 eingeführt. Dieser verlängerte die Möglichkeit der Festnahme<br />

ohne Anklage von Terrorverdächtigen von 7 auf 14<br />

Tage (Section 306). Die Dauer wurde im Rahmen des Terrorism<br />

Act 2006 auf weitere 28 Tage verlängert (Section 23).<br />

Diese für kontinentaleuropäische Verhältnisse erschreckend<br />

30 Die zitierten Gesetze finden sich online auf<br />

http://www.legislation.gov.uk.<br />

31 EGMR, Urt. v. 12.1.2010 – 4158/05.<br />

32 Auch wenn es sich insoweit streng genommen nicht um<br />

eine strafprozessuale Maßnahme handelt, lässt sie sich wegen<br />

ihrer ähnlich einschneidenden Wirkung (Freiheitsentzug) und<br />

ihrem engen Bezug zur Terrorismusbekämpfung nicht ausklammern.<br />

33 EGMR, Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05.<br />

lang anmutende Festnahmedauer ohne Anklage muss allerdings<br />

vor dem Hintergrund des klassischen englischen Rechtes<br />

gesehen werden, welches bis vor kurzem nach Anklage<br />

keine polizeilichen Vernehmungen zuließ, so dass die Haft<br />

vor Anklage zum Zwecke der Durchführung von Vernehmungen<br />

so weit wie möglich ausgedehnt werden musste. Mit<br />

der Verabschiedung des Counter-Terrorism Act 2008 ist<br />

jedoch dieses Argument weggefallen, da nun auch Befragungen<br />

nach der Anklage (post-charge questioning) eingeführt<br />

wurden. Am 25.1.2011 ist zudem die Dauer von 28 Tagen<br />

Festnahme vor Anklage ausgelaufen, so dass nun mehr die<br />

maximale Dauer dieser Maßnahme wieder auf 14 Tage begrenzt<br />

ist. 34<br />

2. Spanien<br />

Auch in Spanien hat es schon vor dem 11.9.2001 einschlägige<br />

Antiterrorgesetze gegeben. Besonders problematisch ist in<br />

diesem Staat die in Art. 509 Abs. 2 der spanischen Strafprozessordnung<br />

(Ley del Enjuiciamiento Criminal, LECrim) vorgesehene<br />

Incommunicado-Haft. Diese konnte für eine Dauer<br />

von bis zu 5 Tagen, bzw. bei Verdacht einer Verbindung zu<br />

bewaffneten oder terroristischen Banden 35 sogar für bis zu 10<br />

Tage verhängt werden. Die Isolation kann während der Untersuchungshaft<br />

angeordnet werden. Ein Teil der während der<br />

U-Haft grundsätzlich zugestandenen Rechte 36 fallen beim<br />

incommunicado-Regime weg. Im Gegensatz zum „gewöhnlichen“<br />

U-Häftling hat ein incomunicado-Inhaftierter kein<br />

Recht, seinen Anwalt frei zu wählen, er hat kein Recht auf<br />

ein vertrauliches Gespräch mit seinem Anwalt und er hat<br />

auch nicht das Recht, eine Person seines Vertrauens bzw.,<br />

falls er Ausländer ist, sein Konsulat über die Haft zu informieren.<br />

37 Die Einschränkung dieser Rechte ist insbesondere<br />

deswegen bedenklich, weil sie die Häftlinge in eine Situation<br />

versetzt, die Folter und Misshandlung begünstigt. 38 Mit dem<br />

verfassungsausführenden Gesetz 15/2003 v. 25.11.2003 wurde<br />

die Höchstdauer der incomunicado-Haft zudem auf 13<br />

Tage ausgeweitet. Der praktische Nutzen dieser Ausweitung<br />

ist mehr als zweifelhaft vor dem Hintergrund, dass schon die<br />

maximale Dauer von 6 Tagen in der Praxis kaum ausgenutzt<br />

wird. 39 In der Folge kam es zu keinen weiteren strafprozessu-<br />

34<br />

Daily Mail Reporter v. 20.1.2011, Another terror<br />

climbdown: End of 28 days detention without charge for<br />

suspects, online verfügbar auf http://www.dailymail.co.uk/<br />

news/article-1348883/Terror-suspects-End-28-daysdetention-charge.html#ixzz1QxkhkroY.<br />

35 bis<br />

Vgl. Art. 384 des spanischen Strafgesetzbuches (Código<br />

Penal, CP).<br />

36<br />

Vgl. Art. 520 Abs. 2 LECrim.<br />

37<br />

Art. 527 LECrim.<br />

38<br />

Zúniga Rodríguez, in: Pérez Alvarez/Núñez Paz/García<br />

Alfaraz (Hrsg.), Universitats Vitae: Homenaje a Ruperto<br />

Núñez Barbero, 2007, S. 875.<br />

39<br />

Llobet Angli kritisiert diese Ausdehnung daher mit der<br />

überzeugenden Begründung, dass eine solch umstrittene<br />

Maßnahme mit Ausnahmecharakter wie die Incomunicado-<br />

Haft, die zudem vielfach kritisiert wird, weil sie die Begehung<br />

von Folter und Misshandlungen begünstigt, umso weni-<br />

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935


Anna Oehmichen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

alen Maßnahmen in Bezug auf Terrorismusbekämpfung in<br />

Spanien, doch wurde das materielle Strafrecht 2010 einer<br />

tiefgreifenden Reform unterzogen. In dieser wurden zur Umsetzung<br />

des Europäischen Rahmenbeschlusses von 2008 zur<br />

Terrorismusbekämpfung insbesondere neue Straftatbestände<br />

eingeführt. 40<br />

3. Deutschland<br />

Auch in Deutschland gab es ebenfalls bereits vor dem<br />

11.9.2001 strafprozessuale Maßnahmen, die auf den Terrorismus<br />

der 70er Jahre durch die Rote Armee Fraktion (RAF)<br />

zurückzuführen sind. Beispielhaft sei hier die Rasterfahndung<br />

erwähnt, welche es der Polizei erlaubt, aus einem öffentlichen<br />

Datensatz personenbezogene Informationen einer großen<br />

Menge unverdächtiger Personen nach bestimmten Kriterien<br />

mittels eines Computers automatisch zu durchsuchen,<br />

um so einen Anfangsverdacht in Bezug auf die Personen,<br />

welche diese Kriterien erfüllen, zu gewinnen. 41 Diese Fahndungsmethode<br />

wurde zunächst ohne Rechtsgrundlage in den<br />

70er Jahren in Deutschland praktiziert, um Mitglieder der<br />

RAF aufzuspüren. Nach dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom 15.12.1983, 42 welches das Recht<br />

auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1, 2 GG ableitete<br />

und damit für die Verwendung personenbezogener Daten<br />

eine Rechtsgrundlage verlangte, führte der Gesetzgeber im<br />

Jahre 1992 eine gesetzliche Regelung auf Bundesebene<br />

(§§ 98a, 98b Strafprozessordnung [StPO]) sowie auf Landesebene<br />

in verschiedenen Landespolizeigesetzen ein.<br />

Nach 2001 wurde der Anwendungsbereich insbesondere<br />

im präventiven Polizeirecht in den verschiedenen Bundesländern<br />

ausgeweitet bzw. (wieder-)eingeführt. Im Jahre 2006<br />

entschied das BVerfG in Bezug auf die in Nordrhein-Westfalen<br />

durchgeführte Rasterfahndung gem. § 31 des Polizeigesetzes<br />

des Landes Nordrhein-Westfalen, dass diese Vorschrift<br />

nicht mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung<br />

vereinbar sei. Es entschied, dass die Rasterfahndung<br />

als Vorfeldmaßnahme (etwa zur Identifikation von<br />

terroristischen „Gefährdern“, sog. „Schläfern“) nicht zulässig<br />

sei, sondern nur bei einer konkreten Gefahr für hochrangige<br />

Rechtsgüter. Auch eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie<br />

ger Sinn hat, als sie de facto nie mit der gesetzlich zulässigen<br />

Zeit angewandt wird. Sie verweist auf den 5. Periodischen<br />

Bericht über Spanien vor dem UN-Antifolterausschuss vom<br />

12.11.2009, wonach es im Jahre 2008 lediglich einen Fall<br />

von incomunicado-Haft gab, in welcher die Dauer von sechs<br />

Tagen überschritten wurde. Llobet Anglí, Derecho Penal del<br />

terrorismo, Límites de su punición en un Estado democrático,<br />

2010, S. 202-204.<br />

40<br />

Rahmenbeschluss 2008/919/JI des Rates v. 28.11.2008 zur<br />

Änderung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI zur Terrorismusbekämpfung,<br />

ABl. EU 2008 Nr. L 330/21.<br />

41<br />

Eingehend und kritisch hierzu Kühne, Strafprozessrecht,<br />

Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen<br />

Strafverfahrensrechts, 8. Aufl. 2010, S. 333 ff.<br />

42<br />

BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, 1 BvR<br />

269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR<br />

484/83 = BVerfGE 65, 1.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

936<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

seit dem 11.9.2001 durchgehend bestanden habe, reiche hierfür<br />

nicht aus. 43<br />

Eine weitere strafprozessuale Maßnahme war die Einführung<br />

der Vorratsdatenspeicherung gem. §§ 113a, 113b Telekommunikationsgesetz<br />

(TKG) und § 100g StPO, die in Umsetzung<br />

der EG-Richtlinie 2006/24 im Jahre 2007 er-folgte. 44<br />

Nach § 113a TKG konnten Verkehrsdaten von Telefondiensten<br />

(Festnetz, Mobilfunk, Fax, SMS, MMS), E-Mail-Diensten<br />

und Internetdiensten vorsorglich für die Dauer von sechs<br />

Monaten anlasslos gespeichert werden. Auch über diese Regelungen<br />

entschied das BVerfG und hielt sie für unvereinbar<br />

mit Art. 10 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis). 45<br />

Nach Medienberichten hat die Europäische Union im Juni<br />

2011 ein Vertragsverletzungsverfahren wegen fehlender Umsetzung<br />

der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen<br />

Deutschland eingeleitet. 46<br />

In einem weiteren Gesetz vom 25.12.2008 47 wurde durch<br />

Einführung einer neuen Vorschrift in das BKA-Gesetz die<br />

Durchsuchung der <strong>Inhalt</strong>e und Tätigkeiten auf fremden Computern<br />

online (remote) ermöglicht (sog. Online-Durchsuchung).<br />

48 Entsprechende Gesetze wurden auch in einigen<br />

Bundesländern für das Gefahrenabwehrrecht eingeführt. Die<br />

in Nordrhein-Westfalen eingeführte Regelung betreffend<br />

sowohl Polizei als auch Landesverfassungsschutz erklärte das<br />

BVerfG am 27.2.2008 für verfassungswidrig. 49 Das BVerfG<br />

nahm die Entscheidung zum Anlass, ein neues „Grundrecht<br />

auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer<br />

Systeme“ (als Ausfluss des Allgemeinen<br />

Persönlichkeitsrechts, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)<br />

zu erfinden.<br />

4. Frankreich<br />

Schon seit 1986 gab es in Frankreich spezielle Anti-Terror-<br />

Gesetze. 50 Dabei war eine besonders relevante und problematische<br />

Maßnahme die vorläufige Festnahme, deren Dauer im<br />

Falle von Terrorismusverdacht länger als in „gewöhnlichen“<br />

Fällen war. So konnten Terrorverdächtige nach dem Gesetz<br />

von 1986 für bis zu vier Tage vorläufig festgenommen werden.<br />

1993 gab es sogar einen Gesetzesentwurf, wonach wäh-<br />

43 BVerfG, Beschl. v. 4.4.2006 – 1 BvR 518/02.<br />

44 Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwa-<br />

chung v. 21.12.2007.<br />

45 BVerfG, Urt. v. 2.3.2010 – 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08,<br />

1 BvR 586/08.<br />

46 EU leitet Verfahren gegen Deutschland ein, Welt online v.<br />

22.6.2011<br />

(http://www.welt.de/politik/deutschland/article13443492/EUleitet-Verfahren-gegen-Deutschland-ein.html).<br />

47 Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus<br />

durch das Bundeskriminalamt.<br />

48 § 20k BKA-Gesetz.<br />

49 BVerfG, Urt. v . 27.2.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07.<br />

50 Loi n° 86-1020 du 9 septembre 1986 dite chalandon sur les<br />

repentis relative à la lute contre le terrorisme et aux atteintes<br />

à la sûreté de l’état, JORF v. 10.9.1986, S. 10956. Einen<br />

Überblick über französische Antiterrorgesetzgebung findet<br />

sich bei Oehmichen (Fn. 6), S. 291 ff.


Entwicklungen strafprozessualer Maßnahmen in Europa im Rahmen der Terrorfurcht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

rend dieser vorläufigen Festnahme im Falle von Terrorismus-<br />

oder Drogendelinquenz-Verdacht kein Zugang zum Rechtsanwalt<br />

erlaubt sein sollte. Der französische Verfassungsrat<br />

(Conseil Constitutionnel), der dieses Gesetz vor seiner Verabschiedung<br />

verfassungsrechtlich abstrakt zu prüfen hatte,<br />

entschied jedoch, dass der Zugang zum Rechtsanwalt in bestimmten<br />

Fällen zwar modifiziert, aber während der vorläufigen<br />

Festnahme nicht gänzlich abgeschafft werden durfte. 51<br />

Daraufhin wurde der Zugang zum Rechtsanwalt in Terrorismus-<br />

und Drogenfällen dahingehend modifiziert, dass er erst<br />

nach 72 Stunden gestattet werden musste. Im Jahre 2004<br />

wurde dann die Möglichkeit, Personen für bis zu vier Tage<br />

vorläufig festzunehmen, dahingehend erweitert, dass dies<br />

nicht mehr nur bei Terrorismus- und Drogenverdachtsfällen,<br />

sondern bei einer hierfür erstellten Liste von Straftaten aus<br />

dem Bereich der organisierten Kriminalität ermöglicht und<br />

zudem auch bei Jugendlichen zwischen dem 16. und 18.<br />

Lebensjahr zulässig wurde. 52 Eine weitere Verschärfung sah<br />

schließlich das Gesetz von 2006 vor, welches in diesen Fällen<br />

die Dauer der vorläufigen Festnahme auf bis zu sechs Tage<br />

verlängerte und einen Zugang zum Anwalt erst nach fünf<br />

Tagen erforderlich machte. 53<br />

Weitere, nach dem 11.9.2001 eingeführte Gesetze betrafen<br />

die Ausweitung polizeilicher Durchsuchungsbefugnisse,<br />

die Verwendung von DNA-Daten sowie die heimliche Beobachtung.<br />

Mit dem „Gesetz Nr. 2001-1062 über die Sicherheit<br />

im Alltag“ 54 wurden etwa die Möglichkeiten, Häuser und<br />

Kraftfahrzeuge zu durchsuchen, erweitert, und der bereits<br />

bestehende DNA-Straftatenkatalog wurde auch auf terroristische<br />

Straftaten ausgedehnt. Der DNA-Katalog wurde nur ein<br />

Jahr später durch das Gesetz Nr. 2003-239 über innere Sicherheit<br />

um weitere Straftaten erweitert. 55 Schließlich wurde<br />

im Jahre 2004 als neues strafprozessuales Instrument die<br />

heimliche Beobachtung durch Infiltration eingeführt. 56<br />

Diese Entwicklungen in Frankreich, die in ähnlichen oder<br />

anderen Spielarten auch in anderen Ländern beobachtet werden<br />

können, 57 zeigen, dass die Sammlung an Informationen<br />

51<br />

Conseil Constitutionnel, 11.8.1993, JORF v. 15.8.1993.<br />

52<br />

Gesetz Nr. 2004-204 zur Angleichung der Justiz an die<br />

Entwicklungen der Kriminalität (Loi portant sur l’adaptation<br />

de la justice aux évolutions de la criminalité), JORF v. 10.3.<br />

2004.<br />

53<br />

Gesetz Nr. 2006-64 über den Kampf gegen den Terrorismus<br />

und verschiedene Regelungen betreffend die Sicherheit<br />

und Grenzkontrollen (Loi n 2006-64 du 23 janvier 2006 relative<br />

à la lutte contre le terrorisme et portant dispositions diverses<br />

relatives à la sécurité et aux contrôles frontaliers),<br />

JORF v. 24.1.2006.<br />

54<br />

Loi no. 2001-1062, du 15 novembre 2001, relative à la<br />

sécurité quotidienne, JORF v. 16.11.2001, S. 18215.<br />

55<br />

Loi n 2003-239 du 18 mars 2003 pour la sécurité intérieure,<br />

JORF Nr. 66 v. 19.3.2003, S. 4761.<br />

56<br />

Gesetz Nr. 2004-204 (s. Fn. 47); vgl. auch Art. 706-81 des<br />

französischen Strafgesetzbuches (Code Pénal).<br />

57<br />

Vgl. etwa das Vereinigte Königreich mit seiner weltweit<br />

größten DNA-Datenbank oder Deutschland mit der auf dem<br />

durch die Behörden „zur Bekämpfung des Terrorismus“<br />

stetig zunimmt. Es liegt in der Natur der Sache, dass es dabei<br />

vorwiegend um die Informationen solcher Personen geht, die<br />

(noch) nicht als Terroristen identifiziert worden sind, da ja<br />

künftige terroristische Straftaten verhindert werden sollen.<br />

Die stetige Aufnahme neuer Delikte in den Straftatenkatalog,<br />

der zur Sammlung von DNA-Daten berechtigt, spricht jedoch<br />

dagegen, dass es dem Gesetzgeber hier wirklich in erster<br />

Linie um die Terrorbekämpfung geht. Gerade die sog.<br />

„Schläfer“ werden sich schließlich hüten, vor ihrem Anschlag<br />

strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Aber natürlich hat die<br />

Sammlung sensibler Daten über eine immer größer werdende<br />

Gruppe der Bevölkerung für die Sicherheitsbehörden auch<br />

viele andere Vorteile.<br />

IV. Weitere „indirekte“ strafprozessuale Entwicklungen<br />

Zum Schluss möchte ich noch auf einige „indirekte“ strafprozessuale<br />

Entwicklungen eingehen, die wichtig sind, um die<br />

Reichweite der o.g. Änderungen zu verstehen. Es geht um<br />

den engen Zusammenhang mit dem materiellen Recht. Man<br />

darf nicht aus den Augen verlieren, dass ein Verdacht wegen<br />

einer terroristischen Straftat Anknüpfungspunkt für die meisten<br />

der o.g. strafprozessualen Maßnahmen ist. Mit der Einführung<br />

neuer Tatbestände werden somit auch die Ermittlungsmöglichkeiten<br />

insgesamt erweitert. Insofern sind sowohl<br />

das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des<br />

Terrorismus von 2005 58 als auch der Rahmenbeschluss<br />

2008/919/JI des Rates zur Änderung des Rahmenbeschlusses<br />

2002/475/JI des Rates zur Terrorismusbekämpfung 59 von<br />

besonderem Interesse, da beide von den jeweiligen Mitgliedstaaten<br />

die Einführung von drei neuen terroristischen Straftatbeständen<br />

– öffentliche Aufforderung zu terroristischen<br />

Straftaten, Anwerben für terroristische Zwecke und Ausbildung<br />

für terroristische Zwecke – verlangen. Die Vorgaben<br />

dieser beiden völkerrechtlichen Instrumente wurden von den<br />

Mitgliedsstaaten zum Teil umgesetzt, zum Teil war eine<br />

Umsetzung auch nicht erforderlich (wie etwa im Falle des<br />

Vereinigten Königreiches), da das bestehende nationale<br />

Recht die fraglichen Handlungen bereits kriminalisierte.<br />

Ohne dies an dieser Stelle vertiefen zu wollen, sei nur kurz an<br />

die allgemeinen Probleme erinnert, die sich grundsätzlich bei<br />

der Formulierung und Definition terroristischer Straftaten<br />

stellen. So ist zunächst an die viel zitierte politische Konnotation<br />

des Begriffes zu denken: „Des einen Terrorist ist des<br />

anderen Freiheitskämpfer.“ Weiter sehen sich viele nationale<br />

strafrechtliche Terrorismus-Definitionen dem Einwand ausgesetzt,<br />

sie seien nicht bestimmt genug, zu vage formuliert<br />

und liefen daher besonders Gefahr, für politische Zwecke<br />

missbraucht zu werden. 60 An den mit dem Rahmenbeschluss<br />

und dem Übereinkommen des Europarats eingeführten neuen<br />

Straftatbeständen ist insbesondere kritikwürdig, dass die<br />

Gemeinsame-Dateien-Gesetz beruhenden sogenannten „Anti-<br />

Terror-Datei“.<br />

58 Council of Europe Treaty Series – Nr. 196, Warschau,<br />

16.5.2005, in Kraft seit 1.6.2007.<br />

59 ABl. EU Nr. L 330/21 v. 9.12.2008.<br />

60 International Commission of Jurists (Fn. 21), S. 37.<br />

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937


Anna Oehmichen<br />

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Strafbarkeit weit in das Vorbereitungsstadium kriminellen<br />

Verhaltens vorverlegt wird. Dadurch, dass Vorbereitungshandlungen<br />

kriminalisiert werden, welche noch nicht zu einer<br />

konkreten Rechtsgutverletzung oder -gefährdung geführt<br />

haben müssen, wird die Strafwürdigkeit dieser Handlungen<br />

mehr als zweifelhaft. 61<br />

Diese Einwände kommen ganz besonders zum Tragen,<br />

wenn man nicht nur auf nationaler Ebene, sondern in Übereinkunft<br />

mit internationalen Partnern eine gemeinsame Definition<br />

zu finden versucht. Der Generalversammlung der Vereinten<br />

Nationen ist dies trotz jahrelanger Bestrebungen in<br />

diese Richtung bisher nicht gelungen. Obwohl sie bereits im<br />

Dezember 1996 einen ad hoc-Ausschuss einrichtete, den sie<br />

beauftragte, ein allumfassendes Übereinkommen zur Bekämpfung<br />

des Terrorismus zu schaffen, 62 konnte sich dieser<br />

Ausschuss bis dato nicht auf eine gemeinsame Definition<br />

einigen. Die aufgrund dieses Umstandes im Oktober 2010<br />

eingerichtete Arbeitsgruppe ist ebenfalls nicht zu einer Einigung<br />

gelangt. 63 Die größten Streitpunkte sind dabei, ob das<br />

geplante umfassende Terrorismus-Übereinkommen aus strafrechtlicher<br />

oder kriegsvölkerrechtlicher Sicht behandeln<br />

sollte, ob eine Terrorismus-Definition auch Staatsterrorismus<br />

umfassen sollte oder nicht, ob auch Handlungen von staatlichem<br />

Militär mit einbezogen werden sollten und ob bewaffneter<br />

Widerstand in besetzten Gebieten oder unter kolonialer<br />

oder Fremdherrschaft (z.B. Palästina) von der Definition<br />

umfasst sein sollte. 64<br />

Die internationalen Tribunale sind diesem Problem bis<br />

zum Februar 2011 erfolgreich aus dem Wege gegangen.<br />

Weder die Charta von Nürnberg und Tokyo noch die späteren<br />

Statuten von Jugoslawien oder Ruanda kriminalisierten die<br />

Straftat des Terrorismus als Völkerstraftat. 65 Auch der per-<br />

61<br />

Vergleiche in Bezug auf die deutsche Gesetzgebung hierzu<br />

z. B. Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 562 ff.; ders.,<br />

GA 2010, 607; Radtke/Steinsiek, JR 2010, 107; Walter, KJ<br />

2008, 443 (445 ff.); Deckers/Heusel, ZRP 2008, 169; Gierhake,<br />

<strong>ZIS</strong> 2008, 397. Vgl. auch Sieber, NStZ, 2009, 353.<br />

62<br />

UNGA Res. 51/210 v. 17.12.1996.<br />

63<br />

UNGA Res. 64/118 v. 16.12.2009.<br />

64<br />

Stubbins Bates et al., Terrorism and International Law,<br />

2011, S. 1 ff.; Saul, Defining Terrorism in International Law,<br />

2008, S. 2 ff.; vgl. UN GA 6th Committee Report of the<br />

Working Group on Measures to eliminate international terrorism,<br />

3.11.2010, UN-Doc. A/C.6/65/L.10.<br />

65<br />

Vor dem Nürnberger Tribunal und dem Tokyo-Tribunal<br />

wurden „nur“ Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen,<br />

und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kriminalisiert<br />

(Art. 6 der Charta des Militärtribunals von Nürnberg,<br />

Art. 5 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofes für<br />

den Fernen Osten). Die materielle Gerichtsbarkeit des Tribunals<br />

für Ex-Jugoslawien ist auf schwere Verletzungen der<br />

Genfer Abkommen von 1949, Verstöße gegen die Gesetze<br />

oder Gebräuche des Krieges, Völkermord sowie Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit beschränkt (Art. 2-5 Statut des<br />

Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien),<br />

die des Ruandatribunals auf Völkermord, Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit und Verletzungen des gemeinsa-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

938<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

manente Internationale Strafgerichtshof in Den Haag verzichtete<br />

bisher auf eine politisch so umstrittene Straftat. 66 Einzig<br />

das Sondertribunal für den Libanon (Libanon-Tribunal) 67<br />

setzt sich mit den terroristischen Straftaten auseinander, allerdings<br />

ist dessen Statut dahingehend eindeutig, dass es<br />

keine neuen internationalen Straftatbestände schafft, sondern<br />

lediglich geltendes libanesisches Recht „in völkerrechtskonformer<br />

Weise“ anwendet. Damit ergab sich auch bei letzterem<br />

an sich keine Notwendigkeit, eine internationale terroristische<br />

Straftat zu schaffen. Nichtsdestotrotz fand die Berufungskammer<br />

des Libanon-Tribunals in ihrer interlocutory<br />

decision v. 16.2.2011 68 mit gehörigem Argumentationsaufwand<br />

69 Anlass, die Existenz eines völkergewohnheitsrechtlich<br />

anerkannten Terrorismus-Straftatbestandes zu erörtern<br />

und im Ergebnis zu bejahen. 70 Nach Ansicht der Kammer<br />

wird Terrorismus nun gewohnheitsrechtlich wie folgt definiert:<br />

� die willentliche Begehung einer Handlung [welche, wird<br />

nicht erklärt];<br />

� durch Mittel, die geeignet sind, eine öffentliche Gefahr<br />

hervorzurufen, und<br />

� die Absicht des Täters einen Zustand des Terrors zu verursachen.<br />

71<br />

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Definition problematisch<br />

ist. Als Mittel, die geeignet sind, eine öffentliche Gefahr<br />

hervorzurufen, kommen nicht nur Sprengbomben, sondern<br />

auch Handfeuerwaffen (auf öffentlichen Plätzen benutzt) in<br />

Betracht. Selbst Steine, die von Demonstranten auf Polizisten<br />

geworfen werden, könnten dieses Merkmal erfüllen. Dabei<br />

könnte man den politischen Demonstranten auch leicht eine<br />

Absicht, Terror zu verursachen, nachweisen, sowie dass sie<br />

men Artikels 3 der Genfer Konventionen und des Zweiten<br />

Zusatzprotokolls von 1977 (Art. 2 bis 4 des Statuts des Internationalen<br />

Strafgerichtshofs für Ruanda).<br />

66<br />

Gem. Art. 5 des Römischen Statuts des Internationalen<br />

Strafgerichtshofs kann dieser über Völkermord, Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen<br />

der Aggression richten.<br />

67<br />

Vgl. Das Statut des Sondertribunals für den Libanon, SC<br />

Res 1757, UN-Doc S/RES/1757 v. 30.5.2007 (Annex).<br />

68<br />

STL (Appeals Chamber), Interlocutory Decision on the<br />

Applicable Law: Terrorism, Conspiracy, Homicide, Perpetration,<br />

Cumulative Charging v. 16.2.1011 – STL-11-01/I/AC/<br />

R176bis.<br />

69<br />

Die Entscheidung umfasste 154 Seiten.<br />

70<br />

Die Entscheidung wurde in der Literatur vielfach kritisiert,<br />

vgl. Kirsch/Oehmichen, Durham Law Review 1 (2011), 1,<br />

abrufbar unter: http://durhamlawreview.co.uk/articles; dies.,<br />

<strong>ZIS</strong> 2011, 800; ebenso: Sliedregt/van den Herik, LJIL 24<br />

(2011), 651; Ambos, LJIL 24 (2011), 655; Saul, LJIL 24<br />

(2011), 1, DOI: 10.1017/S0922156511000215.<br />

71<br />

Vgl. S. 5, 89 der Entscheidung: „(1) the volitional commission<br />

of an act; (2) through means that are liable to create a<br />

public danger; and (3) the intent of the perpetrator to cause a<br />

state of terror“.


Entwicklungen strafprozessualer Maßnahmen in Europa im Rahmen der Terrorfurcht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

die Steine willentlich werfen. Problematisch ist die Entscheidung<br />

vor allem deswegen, weil sie Gefahr läuft, trotz der<br />

vehementen in der Literatur geäußerten Kritik ein Eigenleben<br />

zu entwickeln und in Zukunft von Staaten und Gerichtshöfen<br />

weltweit zitiert zu werden. Sie erleichtert und legitimiert das<br />

Bestreben von Despoten, politische Gegner als Terroristen zu<br />

dämonisieren. 72<br />

V. Fazit<br />

Die dargestellten Entwicklungen geben Grund zur Besorgnis.<br />

Im Ergebnis lassen sich eine Reihe europaweit ähnlicher<br />

Entwicklungen beobachten, die der globalen Furcht vor dem<br />

Terrorismus geschuldet sind:<br />

� die Ausweitung polizeilicher Ermittlungsbefugnisse (stop<br />

& search; DNA-Datenbanken, Online-Durchsuchung<br />

u.v.m.)<br />

� Einschränkungen von Bürgerrechten, insbesondere dem<br />

Recht auf Freiheit der Person (z.B. verlängerte vorläufige<br />

Festnahme ohne oder mit erheblich verspätetem Zugang<br />

zum Anwalt), Verteidigungsrechte (vgl. die incommunicado-Problematik),<br />

dem Anspruch auf rechtliches Gehör<br />

(Problem der sog. Terror-Listen) u.v.m.<br />

� eine Stärkung europäischer u. internationaler Zusammenarbeit<br />

und der Zusammenarbeit von Geheimdiensten und<br />

Polizei, u.a. durch zunehmenden Austausch von (sensiblen)<br />

Daten Verdächtiger wie Unverdächtiger auf allen<br />

Ebenen 73<br />

Diese Entwicklungen sind aus mehreren Gründen problematisch.<br />

Zum einen vergrößert sich mit der Ausweitung der<br />

Befugnisse von Polizei und Geheimdienst auch die Gefahr<br />

von Missbrauch und (ggf. auch absichtslos) fehlerhaftem<br />

Gebrauch dieser Befugnisse. Die diversen rechtsstaatlich<br />

geforderten Kontrollmechanismen (etwa Recht und Zugang<br />

zur Verteidigung, rechtliches Gehör, Recht auf effektive<br />

Rechtsmittel), die zum Teil ausgehöhlt wurden, hatten gerade<br />

den Sinn, staatlichen Machtmissbrauch und -fehlgebrauch zu<br />

verhindern. Zum anderen hat sich gezeigt, dass die eingangs<br />

nur für den speziellen („Not“-)Fall des Terrorismus eingeführten<br />

Gesetze nach und nach auch auf andere Straftaten<br />

oder sogar ganz andere Rechtsgebiete ausgeweitet werden<br />

(sog. Netwidening-Effekt). 74 Schließlich führt die zunehmende<br />

Vorverlagerung der Strafbarkeit ins Vorbereitungsstadium<br />

zu stetig zunehmenden Beschränkungen der Grundrechte<br />

einer immer größer werdenden Population. Dies kann in<br />

72<br />

So sehr deutlich Saul (Fn. 64), S. 23.<br />

73<br />

Dies sind nur die auffälligsten hier dargestellten Entwicklungen.<br />

Diese und weitere werden umfassender für das Vereinigte<br />

Königreich, Spanien, Frankreich und Deutschland<br />

dargestellt von Oehmichen (Fn. 6), S. 348 f.<br />

74<br />

Dies wurde am Beispiel des Kontaktsperreregimes in<br />

Deutschland demonstriert von Oehmichen, German Law<br />

Journal 2008, 855, online verfügbar auf<br />

http://www.germanlawjournal.com/pdfs/Vol09No07/PDF_V<br />

ol_09_No_07_855-888_Articles_Oehmichen.pdf.<br />

letzter Konsequenz in eine Umkehr der bisher rechtsstaatlich<br />

anerkannten Unschuldsvermutung münden. 75<br />

Um diese besorgniserregenden Nebenwirkungen der Terrorismusbekämpfung<br />

einzudämmen und gleichwohl den tatsächlich<br />

existierenden Gefahren des internationalen Terrorismus<br />

vorzubeugen, bedarf es kluger gesetzgeberischer Entscheidungen,<br />

die sich vom Terrorismus nicht terrorisieren<br />

lassen, sondern mit kühlem Kopf rechtsstaatlich unbedenkliche<br />

Lösungen erarbeiten. Um etwa die Gefahr von Missbrauch<br />

und Fehlgebrauch der zunehmenden polizeilichen und<br />

geheimdienstlichen Befugnisse auf ein Mindestmaß zu reduzieren,<br />

bedürfen diese jedenfalls der Transparenz und Kontrolle<br />

durch externe, unabhängige Instanzen. Zudem sollten<br />

die Voraussetzungen der jeweiligen Maßnahmen eng und klar<br />

umschrieben sein (nicht zuletzt auch, um den Strafverfolgungsbehörden<br />

Rechtssicherheit zu gewähren). Wichtig ist<br />

des Weiteren, dass gegen alle Grundrechte beschränkende<br />

Maßnahmen effektive Rechtsmittel zur Verfügung stehen<br />

(Art. 13 EMRK). Um die Nebenfolgen der tendenziell immer<br />

weiter gehenden Ermittlungsbefugnisse auf ein Minimum zu<br />

reduzieren, sollten bei der Ausbildung der relevanten Akteure<br />

(Polizei, Justiz, Geheimdienste) die Einhaltung rechtsstaatlicher<br />

Vorgaben und der Schutz von Grundrechten Schwerpunktthemen<br />

sein. Schließlich sollte, um auch mittelbare<br />

Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten möglichst<br />

effizient einzudämmen, eine polizeiliche oder geheimdienstliche<br />

grenzüberschreitende Zusammenarbeit (inklusive des<br />

Austauschs sensibler Daten) unter dem strikten Vorbehalt der<br />

Achtung der Menschenrechte stehen. Bei Staaten, für die ein<br />

begründeter Verdacht besteht, dass diese Informationen etwa<br />

mittels Folter oder Misshandlung gewonnen wurden, sollte<br />

man auf Kooperation verzichten, nicht nur, weil jedes andere<br />

Verhalten Ausdruck einer doppelten Moral wäre, sondern<br />

letztlich auch wegen der nachgewiesenen Unzuverlässigkeit<br />

der auf diese Weise erlangten Informationen.<br />

Heribert Prantl vergleicht die schrittweise die Situation<br />

der Bürger angesichts der Erosion ihrer Grundrechte im<br />

Kampf gegen den Terror mit einem Frosch, der, wenn man<br />

ihn in kaltes Wasser wirft, das sich nur langsam erhitzt, nicht<br />

aus dem Topf springen wird, weil sich sein Körper an die<br />

Temperatur gewöhnt und er nicht merkt, wie er irgendwann<br />

gekocht wird. 76 Dieses Beispiel ist Ausdruck einer anderen<br />

„Terrorfurcht“, nämlich der Angst, dass uns die Terroristen<br />

am Ende unserer rechtsstaatlichen Prinzipien und fundamentalen<br />

Rechte berauben und die Angst vor Terroristen durch<br />

Angst vor staatlicher Ermittlung substituiert wird. Diese<br />

Angst hat angesichts der Entwicklungen des letzten Jahrzehnts<br />

durchaus an Berechtigung gewonnen. Es ist gegenwärtig<br />

für jeden Bürger (zumindest in Europa) zweifelsohne um<br />

ein Vielfaches wahrscheinlicher, staatlich überwacht zu werden<br />

als einem terroristischen Anschlag zum Opfer zu fallen.<br />

75 Vgl. hierzu auch Sliedregt, Tien tegen één, Een hedendaagse<br />

bezinning op de onschuldpresumptie, Ten to one, A<br />

contemporary reflection on the presumption of innocence,<br />

2009.<br />

76 Prantl (Fn. 7), 2002.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

939


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick*<br />

Von Wiss. Angestellter Dominik Brodowski, LL.M. (Univ. Pennsylvania), Tübingen**<br />

In den vergangenen elf Monaten konnte ein Beitrittsabkommen<br />

der Europäischen Union zur Europäischen Konvention<br />

zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

(EMRK) ausgehandelt werden. Etliche Legislativmaßnahmen<br />

zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten – und<br />

von Opfern – wurden auf den Weg gebracht; zudem trat eine<br />

erste Richtlinie zur Harmonisierung des materiellen Strafrechts<br />

in Kraft. Diese enthält nach klassischem Muster Mindesthöchststrafen,<br />

doch zukünftig ist damit zu rechnen, dass<br />

die Europäische Union auch Mindeststrafen vorgeben wird.<br />

Im Anschluss an <strong>ZIS</strong> 2010, 749 bietet dieser Beitrag einen<br />

Überblick und eine erste Bewertung dieser und weiterer<br />

Neuerungen im Bereich der Europäisierung des Strafrechts<br />

von November 2010 bis Oktober 2011.<br />

In the past eleven months, a draft Accession Agreement allowing<br />

the European Union to accede to the European Convention<br />

of Human Rights was agreed upon, several initiatives<br />

on strengthening the rights of accused persons – and of victims<br />

– were tabled, and the first Directive on substantive<br />

criminal law entered into force. This third instalment continues<br />

the overview on these and other matters of EU Criminal<br />

Law provided in <strong>ZIS</strong> 2010, 749 and covers November 2010 to<br />

October 2011.<br />

I. Strafrechtsverfassung<br />

1. Beitritt zur EMRK 1<br />

Die Verhandlungen zum Beitritt der EU zur Europäischen<br />

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

(EMRK) konnten in der 8. Verhandlungsrunde<br />

vom 20. bis zum 24.6.2011 erfolgreich abgeschlossen werden.<br />

2 Die Arbeitsgruppe legte über das Steering Committee<br />

for Human Rights (CDDH) einen Entwurf eines Beitrittsabkommens<br />

3 dem Ministerkomitee vor. Nach Annahme durch<br />

das Ministerkomitee und durch die parlamentarische Ver-<br />

* Fortsetzung von <strong>ZIS</strong> 2010, 376 und <strong>ZIS</strong> 2010, 749.<br />

** Der Verf. ist Wiss. Angestellter an der Forschungsstelle<br />

für Europäisches Straf- und Strafprozessrecht (eurocrim) und<br />

am Lehrstuhl für Europäisches Straf- und Strafprozessrecht<br />

an der Eberhard Karls Universität Tübingen, Prof. Dr.<br />

Joachim Vogel, RiOLG. Alle in diesem Bericht aufgeführten<br />

EU-Rechtsakte und EU-Rechtsetzungsvorgänge sind verfügbar<br />

in der Datenbank der Forschungsstelle unter<br />

http://www.eurocrim.org/.<br />

1<br />

Vgl. zuletzt Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749; Leutheusser-<br />

Schnarrenberger, in: Hohmann-Dennhardt (Hrsg.), Grundrechte<br />

und Solidarität: Durchsetzung und Verfahren, Festschrift<br />

für Renate Jaeger, 2011, S. 135; Reich, EuZW 2011,<br />

379; Ress, EuZW 2010, 841; White, NJECL 1 (2010), 433.<br />

2<br />

Vgl. zu den Verhandlungsrunden auch die auf der Website<br />

des Europarats abrufbaren Informationen,<br />

http://tinyurl.com/6fufoco (Stand: 31.10.2011).<br />

3<br />

I.d.F. CDDH (2011) 009; neben dem Beitrittsabkommen<br />

enthält dieses Dokument auch einen erläuternden Bericht.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

940<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

sammlung des Europarats muss das Beitrittsabkommen von<br />

sämtlichen Vertragsstaaten des Europarats und der Europäischen<br />

Union abgeschlossen bzw. ratifiziert werden.<br />

a) Beitritt zur EMRK und zu ausgewählten Zusatzprotokollen;<br />

Vorbehalte<br />

Art. 1 Abs. 1 des Entwurfs entsprechend tritt die EU nicht<br />

nur der EMRK in der Fassung der Zusatzprotokolle Nr. 11 4<br />

und Nr. 14 5 bei, sondern zugleich auch den Zusatzprotokollen<br />

Nr. 1 6 (betreffend die Grundrechte auf Eigentum, Bildung<br />

und freie und geheime Wahlen) und Nr. 6 7 (über die Abschaffung<br />

der Todesstrafe). Der EU wird durch eine entsprechende<br />

Änderung des Art. 59 Abs. 2a EMRK die Möglichkeit eingeräumt,<br />

nach ihrem Belieben auch den weiteren Zusatzprotokollen<br />

zur EMRK beitreten zu können. In weiteren Absätzen<br />

des Art. 59 EMRK soll zum einen eine Schutzklausel enthalten<br />

sein, dass der Beitritt der EU deren Zuständigkeiten und<br />

Befugnisse unberührt lässt. 8 Zum anderen soll dort die Umschaltnorm<br />

verankert werden, dass Begriffe wie „Staat“,<br />

„innerstaatliches Recht“, „innerstaatliche Rechtsbehelfe“ in<br />

der EMRK entsprechend auch für die EU, deren Rechtsakte<br />

und die von der EU bereitgestellten Rechtsbehelfe gelten.<br />

Die EU verpflichtet sich, die Bestimmungen des Europäischen<br />

Übereinkommens über die an Verfahren vor dem Europäischen<br />

Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmenden<br />

Personen 9 sowie die Vorrechte und Immunitäten des Europarats<br />

und des EGMR 10 zu achten, auch ohne diesen Verträgen<br />

selbst beizutreten (Art. 9 Beitrittsabkommen-E).<br />

Im Lichte der Bosphorus-Rechtsprechung 11 und der über<br />

die Mitgliedstaaten ohnehin seit jeher vermittelten Geltung<br />

der EMRK 12 ist es schließlich schlicht unverständlich, dass<br />

sich die EU mit ihrer Forderung durchsetzen konnte, bei<br />

ihrem Beitritt zur EMRK Vorbehalte entsprechend Art. 57<br />

Abs. 1 EMRK anbringen zu können.<br />

b) Streitgenossenschaft zwischen EU und Mitgliedstaaten<br />

In Art. 36 Abs. 4 EMRK soll zukünftig eine Art Streitgenossenschaft<br />

(„co-respondents“) vorgesehen werden für Fälle,<br />

die Belange sowohl der EU als auch einzelner oder aller EU-<br />

Mitgliedstaaten betreffen: Sei es, dass ein Mitgliedstaat zu<br />

konventionswidrigem Verhalten durch Sekundärrecht der EU<br />

4 SEV Nr. 155.<br />

5 SEV Nr. 194.<br />

6 SEV Nr. 009.<br />

7 SEV Nr. 114.<br />

8 Diese ist auch primärrechtlich gefordert, s. Art. 2 Protokoll<br />

Nr. 8 zum Vertrag von Lissabon, ABl. EU 2010 Nr. C 83,<br />

S. 273.<br />

9 SEV Nr. 161.<br />

10 SEV Nr. 002, SEV Nr. 010 und SEV Nr. 162.<br />

11 EGMR, Urt. v. 30.6.2005 – 45036/98 (Bosphorus Hava<br />

Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Sireketi v. Irland) m.<br />

Bespr. von Bröhmer, EuZW 2006, 71.<br />

12 S. etwa Art. 6 Abs. 3 EUV.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

verpflichtet ist (sekundärrechtsbedingter Konventionsverstoß),<br />

sei es, dass die EU wegen primärrechtlich zwingenden<br />

Bestimmungen die Konvention verletzt (primärrechtsbedingter<br />

Konventionsverstoß). Besteht die Möglichkeit zu einer<br />

solchen Interdependenz, so kann der jeweils andere Akteur<br />

auf dessen Antrag hin durch Beschluss des EGMR als Streitgenosse<br />

zugelassen werden.<br />

Grundsätzlich soll im Lichte der Subsidiarität des EMRK-<br />

Rechtsschutzsystems (Art. 35 Abs. 1 EMRK) dem EuGH die<br />

Möglichkeit gegeben werden, über die Grundrechtskonformität<br />

von EU-Rechtsakten zu befinden, bevor der EGMR seinerseits<br />

eine Entscheidung trifft. Nun kann ein Beschwerdeführer<br />

jedoch kein Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267<br />

AEUV) vor dem EuGH erzwingen. Daher sieht Art. 4 Abs. 6<br />

des Beitrittsabkommens – entsprechend eines gemeinsamen<br />

Vorschlags der Richter am EGMR und am EuGH – vor, dass<br />

während des Verfahrens vor dem EGMR dem EuGH ausreichend<br />

Zeit gegeben werden soll, eine entsprechende Einschätzung<br />

(„assessment“) der Grundrechtskonformität zu liefern.<br />

Weder das Beitrittsabkommen noch die Materialien enthalten<br />

jedoch verlässliche Informationen zur Frage, um welche<br />

Verfahrensart es sich dabei vor dem EuGH handeln soll;<br />

die Praxis wird sich aber vermutlich auf eine von der Kommission<br />

zu erhebende Nichtigkeitsklage stützen.<br />

c) Beteiligung der EU an den Gremien des Europarats<br />

Trotz der zunächst vorherrschenden Bedenken soll eine –<br />

auch stimmberechtigte – Delegation des Europäischen Parlaments<br />

zur parlamentarischen Versammlung des Europarats<br />

stoßen, wann immer diese zur Wahl von Richtern am EGMR<br />

zusammentritt (Art. 6 Beitrittsabkommen-E). Unter Verweis<br />

darauf, dass die EU auf Augenhöhe mit den anderen Vertragsstaaten<br />

stehe, wird auch auf ihren Vorschlag hin ein<br />

Richter gewählt. 13 Aus demselben Grund wird ihr auch ein<br />

Sitz im Ministerkomitee zustehen. Dies – und die primärrechtliche<br />

Verzahnung der Außenpolitik der Mitgliedstaaten<br />

– führte zur Sorge des Europarats und zivilgesellschaftlicher<br />

Akteure, die EU und deren Mitgliedstaaten könnten jeweils<br />

en bloc abstimmen und so eine effektive Überwachung der<br />

Durchführung der Urteile der EMRK (Art. 46 Abs. 2, Abs. 4<br />

EMRK) torpedieren. Zwar werden die meisten Entscheidungen<br />

des Ministerkomitees ohnehin im Konsens getroffen,<br />

doch soll diesen Bedenken trotzdem Rechnung getragen<br />

werden durch erstens eine Bekräftigung der Primärrechtslage,<br />

die von den Mitgliedstaaten keine Abstimmung en bloc verlangt<br />

(Art. 7 Abs. 2 lit. b und lit. c Beitrittsabkommen-E),<br />

sowie zweitens durch eine Ergänzung der Geschäftsordnung<br />

des Ministerkomitees: Bei der Überwachung der Durchführung<br />

eines gegen die EU ergangenen Urteils sollen die Mitgliedstaaten<br />

und die EU einen Beschluss dann nicht verhindern<br />

können, wenn dieser von der (qualifizierten) Mehrheit<br />

der Nicht-Mitgliedstaaten getragen wird (Art. 7 Abs. 2<br />

lit. a Beitrittsabkommen-E). 14<br />

13<br />

Erläuternder Bericht zum Beitrittsabkommen (s.o. Fn. 3),<br />

Rn. 69.<br />

14<br />

Zu den Details s. den erläuternden Bericht zum Beitrittsabkommen<br />

(s.o. Fn. 3), Rn. 75 ff.<br />

2. Strategie der Inneren Sicherheit<br />

Zur Umsetzung der EU-Strategie der Inneren Sicherheit:<br />

„Hin zu einem europäischen Sicherheitsmodell“ 15 benennt<br />

eine Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament<br />

und den Rat „[f]ünf Handlungsschwerpunkte für mehr<br />

Sicherheit in Europa“: 16<br />

� Die Schwächung internationaler krimineller Netzwerke<br />

soll erfolgen<br />

� durch eine Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen<br />

(s. unten IV. 5.),<br />

� durch eine verbesserte Nachverfolgung von Zahlungsströmen,<br />

� durch eine verbesserte Korruptionsbekämpfung,<br />

� durch eine wirksamere Durchsetzung der Rechte am<br />

geistigen Eigentum (s. unten III .8. sowie VI. 4.) sowie<br />

� durch eine wirksame Einziehung von Vermögen,<br />

wozu die Kommission noch 2011 einen Vorschlag zur<br />

Änderung des Geldwäsche-Rahmenbeschlusses aus<br />

dem Jahr 2001 17 unterbreiten wird.<br />

� Der Terrorismusbekämpfung sollen dienen<br />

� ein EU-Aufklärungsnetz gegen Radikalisierung,<br />

� eine EU-eigene Überwachung von Finanztransaktionen<br />

(EU-TFTP; s. unten IV. 7.) und<br />

� ein besserer Schutz der Verkehrsträger, insbesondere<br />

auch des Nah- und Schienenverkehrs.<br />

� Zum verbesserten Schutz der Bürger und Unternehmen<br />

im Cyberspace soll<br />

� ein EU-Zentrum für Cyberkriminalität aufgebaut werden,<br />

das über „operationelle und analytische Kapazitäten<br />

für einschlägige Ermittlungen“ verfügen und zur<br />

„Zentralstelle für die Bekämpfung der Cyberkriminalität<br />

in der EU“ werden soll, 18 sowie<br />

� die Meldung von Auffälligkeiten und die technischen<br />

Reaktionsmöglichkeiten verbessert werden.<br />

� Die Außengrenzen sollen organisatorisch durch FRON-<br />

TEX und technisch durch SIS II besser geschützt werden.<br />

� Die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen und Katastrophen<br />

soll schließlich gestärkt werden u.a. durch die<br />

bessere Koordinierung des Katastrophenschutzes.<br />

Der Rat begrüßte diese Herangehensweise in den am 24. und<br />

25.2.2011 angenommenen Schlussfolgerungen, 19 wies auf die<br />

Bedeutung des COSI-Ausschusses 20 für die operationelle<br />

Umsetzung hin und beauftragte schließlich die Kommission,<br />

15 Ratsdok. 7120/10.<br />

16 KOM (2010) 673 endg. v. 22.11.2010.<br />

17 Rahmenbeschluss 2001/500/JI des Rates v. 26.6.2001 über<br />

Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme<br />

und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten,<br />

ABl. EG 2001 Nr. L 182, S. 1.<br />

18 S. hierzu Brodowski/Freiling, Cyberkriminalität, Computerstrafrecht<br />

und die digitale Schattenwirtschaft, 2011, S. 179.<br />

19 Ratsdok. 6699/11.<br />

20 S. hierzu auch ABl. EU 2010 Nr. L 52, S. 50.<br />

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941


Dominik Brodowski<br />

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bis Ende 2011 einen ersten Jahresbericht über die Umsetzung<br />

der Strategie der Inneren Sicherheit zu erstellen.<br />

3. Der Weg zu einer EU-Kriminalpolitik 21<br />

Im Gegensatz zur vergleichsweise klar formulierten Strategie<br />

der Inneren Sicherheit fehlt es nach wie vor an einem politischen<br />

Leitbild für eine EU-Kriminalpolitik. 22 Dieses Manko<br />

eines „weitgehend ungeformten Politikbereich[s]“ benannte<br />

auch ein Non-Paper der ungarischen Ratspräsidentschaft für<br />

die Tagung des Rates am 10.6.2011 – Der Weg zu einer EU-<br />

Kriminalpolitik. 23 Als oberste Ziele einer EU-Kriminalpolitik<br />

fordert dieses Papier erstens, dass Verbrechen sich in keinem<br />

Mitgliedstaat lohnen dürfen, damit Straftäter nicht auf die am<br />

wenigsten repressive Rechtsordnung ausweichen. Zweitens<br />

soll das Vertrauen der Bürger bestärkt werden, dass ihre<br />

Freiheit und Sicherheit europaweit effektiv geschützt werden.<br />

Zur Verwirklichung dieser Ziele konzentriert sich das Papier<br />

allerdings ausschließlich auf eine weitergehende Harmonisierung<br />

des materiellen Strafrechts und lässt sowohl Aspekte der<br />

Strafrechtsdurchsetzung als auch der wirksamen Begrenzung<br />

des Strafrechts außen vor. Die Strafrechtsharmonisierung<br />

solle sich – bei allem Bewusstsein für die (weichen) ultima<br />

ratio- und Subsidiaritätsprinzipien – neben den „Europa-<br />

Delikten“ (Art. 83 Abs. 1 AEUV) dabei vermehrt auch auf<br />

weitere Bereiche erstrecken, in denen die Union Regelungskompetenzen<br />

besitzt (Art. 83 Abs. 2 AEUV). Auf der Rechtsfolgenseite<br />

wird angeregt, über die Vorgabe „wirksame[r],<br />

verhältnismäßige[r] und abschreckende[r] strafrechtliche[r]<br />

Sanktionen“ mit gewissen Mindesthöchststrafen hinaus noch<br />

eine weitere Harmonisierung vorzunehmen; hiermit dürften<br />

Mindeststrafen gemeint sein.<br />

Hieran anknüpfend legte die Kommission Ende September<br />

2011 eine Mitteilung „Auf dem Weg zu einer europäischen<br />

Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen<br />

Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht“ vor, 24 die<br />

sich ebenfalls auf die Harmonisierung des materiellen Strafrechts<br />

und dabei auf die Rechtsgrundlage des Art. 83 Abs. 2<br />

AEUV konzentriert. Besonders hebt die Kommission dabei<br />

die Sachmaterien der Regulierung der Finanzmärkte, der<br />

Fälschung des Euro und des Schutzes der finanziellen Interessen<br />

der Europäischen Union als mögliche Gegenstände<br />

neuer strafrechtlicher Vorschriften hervor; mittelfristig erwägt<br />

sie aber auch den Einsatz des Strafrechts bei der Harmonisierung<br />

des Straßenverkehrs, des Datenschutzes, des<br />

Zollrechts, des Umweltschutzes einschließlich der Regulierung<br />

der Fischerei und im Recht des Binnenmarkts – dabei<br />

insbesondere zur Verfolgung von Korruption.<br />

21 Zu den verfassungsrechtlichen Schranken – insbesondere<br />

durch das Schuld- und das Gesetzlichkeitsprinzip – s. Landau,<br />

NStZ 2011, 537.<br />

22 Vgl. hierzu auch Kubiciel, <strong>ZIS</strong> 2010, 742; Meyer, EuR<br />

2011, 169; Satzger, <strong>ZIS</strong> 2009, 691; ders., Internationales und<br />

Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2011, § 9 Rdn. 54 f.; ECPI,<br />

<strong>ZIS</strong> 2009, 697; dies., EuCLR 1 (2011), 86.<br />

23 Ratsdok. 11155/11.<br />

24 KOM (2011) 573 endg. v. 20.9.2011.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

942<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

Bei sämtlichen strafrechtlichen Maßnahmen – die sich<br />

auch gegen juristische Personen richten könnten – sei aber<br />

der Grundsatz der Subsidiarität, das ultima ratio-Prinzip und<br />

die Verhältnismäßigkeit zu wahren und insbesondere die<br />

Nutzung alternativer Regelungsmodelle – etwa Verwaltungssanktionen<br />

– zu erwägen. Die auf Ebene der EU zu erlassenden<br />

„Mindestvorschriften“ können enthalten gerichtliche Zuständigkeiten,<br />

„bestimmte Strafarten (z.B. Geldstrafe, Freiheitsstrafe,<br />

Rechtsverlust), Strafhöhen“ (d.h. nicht nur Mindesthöchststrafen)<br />

sowie Definitionen der Straftaten und der<br />

Milderungs- und Erschwerungsgründe. Diese Definitionen<br />

aber sollen nach Auffassung der Kommission nicht dem<br />

strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügen müssen, da<br />

sie nur an die Gesetzgeber in den Mitgliedstaaten gerichtet<br />

sind. Damit unterscheidet sich die Herangehensweise der<br />

Kommission signifikant von den Musterbestimmungen für<br />

strafrechtliche Regelungen, die der Rat Ende 2009 angenommen<br />

hatte: 25 Diesen zufolge sei etwa der Bestimmtheitsgrundsatz<br />

auch in den europäischen Mindestvorschriften zu<br />

wahren, und gegenüber juristischen Personen sahen diese<br />

nicht zwingend strafrechtliche Sanktionen vor.<br />

II. Institutionen<br />

1. Eurojust/Europäische Staatsanwaltschaft 26<br />

Auf einem „Strategic Seminar on Eurojust and the Lisbon<br />

Treaty“ 27 unter Beteiligung der Europäischen Kommission,<br />

der Mitgliedstaaten und Eurojust wurde im September 2010<br />

ein Modell eines „Eurojust Plus“ diskutiert: In ihrem Grundsatzreferat<br />

betonte Anne Weyembergh die primärrechtliche<br />

Intention des Art. 85 AEUV, dass Eurojust nicht nur den<br />

horizontalen Austausch zwischen den Mitgliedstaaten fördern,<br />

sondern auch einer vertikalen Integration dienen solle, 28<br />

etwa indem Eurojust strafrechtliche Ermittlungs- und Verfolgungsmaßnahmen<br />

einleitet oder – mit Entscheidungskompetenzen<br />

– koordiniert. Hierzu sei es notwendig, die jeweiligen<br />

nationalen Mitglieder von Eurojust zumindest teilweise aus<br />

ihrer mitgliedstaatlichen Rolle und Verbundenheit herauslösen.<br />

29 Zudem weist sie darauf hin, dass Art. 85 Abs. 1<br />

UAbs. 2 lit. a sowie Abs. 2 AEUV zwar ein Tätigwerden der<br />

„zuständigen nationalen Behörden“ bzw. der „zuständigen<br />

einzelstaatlichen Bediensteten“ vorsehe, eine solch nationale<br />

Stelle jedoch auch das nationale Mitglied bei Eurojust sein<br />

könne. 30<br />

25 Ratsdok. 16542/2/09; Kritik der Kommission in Ratsdok.<br />

16798/09, S. 3; vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 376<br />

(381).<br />

26 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 376 (380); s. zudem<br />

Frenz, wistra 2010, 432; Ligeti, EuCLR 1 (2011), 123; Lingenthal,<br />

ZEuS 2010, 79; Nürnberger, ZJS 2009, 494.<br />

27 Eine Dokumentation des Seminars ist zu finden in NJECL<br />

2 (2011), 100 = Ratsdok. 17625/10.<br />

28 Weyembergh, NJECL 2 (2011), 75 (84).<br />

29 Weyembergh, NJECL 2 (2011), 75 (89 f.).<br />

30 Weyembergh, NJECL 2 (2011), 75 (92, 98).


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Wohin diese Überlegungen führen können, zeigte sich<br />

sodann in den Diskussionen auf dem Seminar: 31 Durch die<br />

Bündelung (pooling) dieser nationalen Kompetenzen, die<br />

jeweils durch die nationalen Mitglieder vermittelt werden,<br />

könnte Eurojust in weitreichender Weise zu einer faktischen<br />

Europäischen Staatsanwaltschaft mit eigenen Ermittlungskompetenzen<br />

und mit eigenen Zwangsbefugnissen aufgewertet<br />

werden, bei der – diesem Denkmodell zufolge – selbst die<br />

Anklageerhebung von den jeweiligen nationalen Mitgliedern<br />

von Eurojust übernommen werden könnte.<br />

Daher würde auch die Einrichtung einer europäischen<br />

Staatsanwaltschaft nach dem Art. 86 AEUV entbehrlich;<br />

dieser Weg wird von Verfechtern dieses „Eurojust Plus“-<br />

Modells für zu mühselig erachtet. Ob diese Umgehung zwar<br />

nicht des Wortlauts, wohl aber der Systematik und der Teleologie<br />

des Art. 86 AEUV einschließlich der dort vorgesehenen<br />

Verfahrensvorschriften zum Schutz der mitgliedstaatlichen<br />

Souveränität 32 verfassungsgerichtlicher Kontrolle standhalten<br />

könnte, muss angezweifelt werden.<br />

Auf einem weiteren „Strategic Seminar – Eurojust: new<br />

perspectives in judicial cooperation“ regten Wissenschaftler<br />

sowie Regierungs- und Kommissionsvertreter im Mai 2011<br />

an, Eurojust zukünftig weniger als Koordinationsorgan und<br />

die nationalen Mitglieder weniger als Vertreter mitgliedsstaatlicher<br />

Interessen zu verstehen. Eurojust solle vielmehr<br />

transformiert werden zu einer eigenständigen europäischen<br />

Strafverfolgungsbehörde, die auch dann tätig werden dürfe<br />

und solle, wenn eine Strafverfolgung „auf gemeinsamer<br />

Grundlage erforderlich ist“ (Art. 85 Abs. 1 S. 1 AEUV), und<br />

die mit operativen Befugnissen – etwa zur bindenden Entscheidung<br />

von Kompetenzkonflikten oder zur bindenden<br />

Einleitung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren – auszustatten<br />

sei. 33<br />

2. Europol<br />

Die Kontrolle von Europol durch das Europäische Parlament<br />

und die nationalen Parlamente ist gem. Art. 88 Abs. 2 S. 3<br />

AEUV in einer künftigen Verordnung über das Europäische<br />

Polizeiamt 34 zu regeln. Im Hinblick darauf unterbreitete die<br />

Kommission am 17.12.2010 ein Diskussionspapier „Die<br />

Verfahren für die Kontrolle der Tätigkeiten von Europol<br />

durch das Europäische Parlament unter Beteiligung der nationalen<br />

Parlamente“. 35 Angesichts des bestehenden Haushaltsrechts<br />

des Europäischen Parlaments, der Weiterleitung der<br />

jährlichen Berichte an das Europäische Parlament und der<br />

Möglichkeit des Europäischen Parlaments, Vertreter von<br />

Europol zur Erörterung von Europol betreffenden Angelegenheiten<br />

zu laden (Art. 48 Europol-Beschluss) und aufgrund<br />

31<br />

S. die Dokumentation in NJECL 2 (2011), 100 (insb. 109,<br />

118 f.).<br />

32<br />

BVerfGE 123, 267 (297 sowie 436).<br />

33<br />

Ratsdok. 14428/11.<br />

34<br />

Bislang: Beschluss des Rates über die Errichtung des Europäischen<br />

Polizeiamts (Europol), ABl. EU 2009 Nr. L 121,<br />

S. 37; zu jenem s. de Moor/Vermeulen, NJECL 1 (2010),<br />

178.<br />

35<br />

KOM (2010) 776 endg. v. 17.12.2010.<br />

der fehlenden Zwangsbefugnisse von Europol (Art. 88 Abs. 3<br />

AEUV) hält die Kommission die bestehenden Kontrollmöglichkeiten<br />

grundsätzlich für ausreichend. Doch auch ohne<br />

Änderung des Rechtsrahmens schlägt die Kommission bereits<br />

jetzt vor, ein ständiges Forum des Europäischen Parlaments<br />

und der nationalen Parlamente – also ein interparlamentarisches<br />

Forum – zu bilden, das regelmäßig vom Direktor von<br />

Europol über die Tätigkeiten zu informieren wäre.<br />

3. OLAF<br />

Am 17.3.2011 unterbreitete die Kommission einen Vorschlag<br />

für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des<br />

Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999<br />

über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung<br />

(OLAF), 36 durch den insbesondere die<br />

Zusammenarbeit von OLAF mit Eurojust und Europol sowie<br />

mit Behörden der Mitgliedstaaten verbessert werden soll. So<br />

sieht Art. 10a Abs. 1 UAbs. 2 des Entwurfs vor, dass OLAF<br />

bei Verdacht auf eine „schwere Straftat in Form eines Betrugs-<br />

oder Korruptionsdeliktes“ zwingend und umfassend<br />

Eurojust informieren müsse.<br />

4. Agentur über das Betriebsmanagement großer Informationssysteme<br />

37<br />

Der Rat und das Europäische Parlament billigten im Juli bzw.<br />

September den Kompromiss zu einer Verordnung zur Einrichtung<br />

einer Agentur für das Betriebsmanagement großer<br />

Informationssysteme. 38 Diese Agentur soll sich zunächst der<br />

technischen Administration der Fahndungsdatenbanken<br />

SIS/SIS II, des Visa-Informations-Systems (VIS) und der<br />

daktyloskopischen Datenbank EURODAC widmen; eine<br />

Ausweitung auf weitere Datenbanken erfordert eine Zustimmung<br />

des Rats und des Europäischen Parlaments. Ein Abgleich<br />

zwischen den Datenbanken ist der Agentur ohne explizite<br />

Rechtsgrundlage ebenso verwehrt wie sonstige Formen<br />

des data mining (Art. 1 Abs. 4 S. 2).<br />

III. Materielles Strafrecht<br />

1. Schutz der finanziellen Interessen der EU<br />

Ende Mai 2011 legte die Kommission eine Mitteilung vor<br />

über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen<br />

Union durch strafrechtliche Vorschriften und verwaltungsrechtliche<br />

Untersuchungen – Gesamtkonzept zum Schutz von<br />

Steuergeldern. 39 Sie fordert darin bis zum Jahr 2020 eine<br />

„Politik der ‚Nulltoleranz‘“ gegen Delikte zu Lasten des EU-<br />

Haushalts. Da nur fünf Mitgliedstaaten die – zudem unzureichenden<br />

– strafrechtlichen Vorgaben des Übereinkommens<br />

über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen<br />

Union 40 vollständig umgesetzt haben und sich die (theoreti-<br />

36<br />

KOM (2011) 135 endg. v. 17.3.2011; s. zum Rechtsrahmen<br />

von OLAF Covolo, NJECL 2 (2011), 201.<br />

37<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (751).<br />

38<br />

ABl. EU 2011 Nr. L 286, S. 1.<br />

39<br />

KOM (2011) 293 endg. v. 26.5.2011.<br />

40<br />

Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags<br />

über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen<br />

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943


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

schen wie praktischen) Strafrahmen deutlich unterscheiden,<br />

sei ein gleichwertiger strafrechtlicher Schutz in der gesamten<br />

EU nicht gegeben. Dies kann als Forderung nach einem harmonisierten<br />

Strafrahmen – und nicht nur nach einer Mindesthöchststrafe<br />

– verstanden werden. 41 Viele Meldungen von<br />

OLAF über potentiell strafrechtlich relevantes Verhalten resultieren<br />

laut der Kommission allein in summarischen Prüfungen;<br />

Ermittlungsverfahren würden zudem zu häufig wegen<br />

fehlenden öffentlichen Interesses eingestellt. Die langwierige<br />

und unzureichende strafrechtliche Reaktion behindere<br />

auch disziplinarrechtliche Maßnahmen, da diese erst nach<br />

einer strafrechtlichen Entscheidung eingeleitet werden können.<br />

Daher kündigt die Kommission drei Handlungsschwerpunkte<br />

an:<br />

� Materiell-rechtlich wird die Kommission eine Neuauflage<br />

eines Richtlinienvorschlags über den strafrechtlichen<br />

Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union<br />

vorlegen. 42 Neben einem Betrugstatbestand soll diese<br />

Richtlinie auch Tatbestände betreffend Veruntreuung sowie<br />

Machtmissbrauch mit finanziellem Hintergrund definieren.<br />

Ferner „könnte“ eine strafrechtliche Verantwortlichkeit<br />

auch vorgesehen werden für juristische Personen<br />

sowie für ernannte sowie gewählte Amtsträger. Besonders<br />

hervorzuheben ist zudem die Intention, die Richtlinie um<br />

detaillierte Bestimmungen eines allgemeinen Teils – Beihilfe<br />

und Anstiftung, Versuch und Vollendung, Vorsatz<br />

und Fahrlässigkeit – zu ergänzen und schließlich auch die<br />

Verjährungsvorschriften zu harmonisieren; sie greift damit<br />

Intentionen des corpus juris-Projekts auf. 43<br />

� Verfahrensrechtlich sei – noch über den bestehenden<br />

Rechtsrahmen der Zusammenarbeit in Strafsachen hinaus<br />

– die Sicherstellung und Einziehung von kriminell erlangtem<br />

Vermögen vorzusehen sowie die Beweiskraft der Untersuchungsberichte<br />

von OLAF zu gewährleisten. Diesbezüglich<br />

arbeite die Kommission derzeit Legislativvorschläge<br />

aus bzw. prüfe diese.<br />

� Institutionell verweist die Kommission auf die Reform<br />

von OLAF (s. oben II. 3.), verlangt eine Stärkung der Befugnisse<br />

von Eurojust (s. oben II. 1.) und regt schließlich<br />

die Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft<br />

(Art. 86 AEUV) an.<br />

2. Terrorismus 44<br />

Der EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung Gilles<br />

de Kerchove erneuerte in einem Diskussionspapier v. 27.5.<br />

Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl. EG 1995<br />

Nr. C 316, S. 49.<br />

41 Zur parallelen Tendenz im Non-Paper über eine EU-<br />

Kriminalpolitik siehe oben I. 3.<br />

42 Im Anschluss an KOM (2001) 272 endg. v. 23.5.2001<br />

sowie KOM (2002) 577 endg. v. 16.10.2002.<br />

43 Vgl. nur Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen<br />

Regelungen zum Schutze der finanziellen Interessen<br />

der Europäischen Union, 1998.<br />

44 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (751 f.).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

944<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

2011 45 unter anderem seine Forderung nach einer raschen<br />

Implementierung einer Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen<br />

(PNR-Daten, siehe hierzu unten IV. 5.) und<br />

einer Analyse von Finanztransaktionen (Terrorist Finance<br />

Tracking Program – TFTP, siehe hierzu unten IV. 7.). Der<br />

ebenfalls auf ihn zurückgehende Vermerk Justizielle Dimension<br />

der Terrorismusbekämpfung – Empfehlungen für Maßnahmen<br />

mündete inzwischen in einem tabellarischen Arbeitsprogramm.<br />

46 Besonders hervorzuheben ist hierbei die<br />

Intention, über die Europäische Ermittlungsanordnung (s. u.<br />

V. 2.) hinausgehend die Verkehrsfähigkeit von Beweisen zu<br />

erhöhen (Maßnahme R 13), einschließlich solcher Beweismittel,<br />

die außerhalb der Europäischen Union erlangt wurden<br />

(Maßnahme R 22). Ferner ist vorgesehen, einen einheitlichen<br />

Rechtsrahmen für bestimmte verdeckte Ermittlungsmaßnahmen<br />

zu schaffen – etwa für den Einsatz verdeckter Ermittler<br />

und für Online-Durchsuchungen – und deren transnationale<br />

Durchführung zu ermöglichen (Maßnahme R 3). Auch in<br />

anderer Hinsicht eigne sich die Terrorismusbekämpfung laut<br />

dem Vermerk als Türöffner, etwa bezüglich einer bindenden<br />

Entscheidung von Kompetenzkonflikten (Maßnahme R 15).<br />

3. Menschenhandel 47<br />

Die Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und<br />

des Rates v. 5.4.2011 zur Verhütung und Bekämpfung des<br />

Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur<br />

Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates 48<br />

trat am 16.4.2011 in Kraft und ist durch die Mitgliedstaaten<br />

bis zum 6.4.2013 umzusetzen. Im Vergleich zum ursprünglichen<br />

Kommissionsvorschlag 49 wurden die strafrechtlichen<br />

Bestimmungen erstens dahingehend ergänzt, dass eine Tatbegehung<br />

durch einen Amtsträger strafschärfend zu berücksichtigen<br />

sei. Zweitens sei zur Prävention von Menschenhandel<br />

auch auf der Nachfrageseite – im Sinne eines Marktdelikts –<br />

anzusetzen. Daher werden die Mitgliedstaaten aufgefordert,<br />

die Einführung einer Strafvorschrift in Erwägung zu ziehen,<br />

die sich richten solle gegen „die Inanspruchnahme von<br />

Diensten, die Gegenstand einer Ausbeutung [im Sinne des<br />

Menschenhandels] sind, in dem Wissen, dass die betreffende<br />

Person Opfer einer Straftat [im Sinne des Menschenhandels]<br />

ist“ (Art. 18 Abs. 4). Darüber hinausgehende, im Vergleich<br />

zum Rat noch punitivere Strömungen im Europäischen Parlament<br />

konnten sich hingegen nicht durchsetzen.<br />

45<br />

Ratsdok. 10622/11, nicht öffentlich.<br />

46<br />

Ratsdok. 5764/11; zuvor Ratsdok. 13318/1/10 sowie Ratsdok.<br />

15067/10.<br />

47<br />

Vgl. zuletzt Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (753) sowie Brand,<br />

DRiZ 2011, 125; zum durch die EMRK vermittelten Schutz<br />

vgl. Pati, NJW 2011, 128.<br />

48<br />

ABl. EU 2011 Nr. L 101, S. 1.<br />

49<br />

KOM (2010) 95 endg. v. 29.3.2010; s. hierzu Brodowski,<br />

<strong>ZIS</strong> 2010, 376 (382).


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

4. Sexuelle Ausbeutung von Kindern, Kinderpornographie 50<br />

Der informelle Trialog zwischen Kommission, Rat und Parlament<br />

führte im Juni 2011 zu einer Einigung auf einen<br />

Kompromiss zur Richtlinie des Europäischen Parlaments und<br />

des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und<br />

der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie<br />

und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2004/<br />

68/JI des Rates. 51 Das Europäische Parlament nahm den geänderten<br />

Vorschlag am 27.10.2011 an; die Abstimmung im<br />

Rat dürfte bis Ende 2011 folgen. Dieser Kompromiss orientiert<br />

sich relativ nahe an der allgemeinen Ausrichtung des<br />

Rates 52 und sieht die hoch umstrittene, präventive Zugangserschwerung<br />

zu kinderpornographischen Angeboten im Internet<br />

nur noch als fakultative Maßnahme vor (Erwägungsgründe<br />

13, 13aa, Art. 21 Abs. 2), die also ins Ermessen der Mitgliedstaaten<br />

gestellt wird. Der Änderungsbedarf des deutschen<br />

materiellen Strafrechts ist begrenzt; allerdings ist der Strafrahmen<br />

des sexuellen Missbrauchs von besonders schutzbedürftigen<br />

oder schutzbefohlenen Kindern auf mindestens bis<br />

zu acht Jahre Freiheitsstrafe zu erhöhen und eine Strafbarkeit<br />

für die wissentliche Teilnahme an pornografischen Darbietungen,<br />

an denen ein Kind oder Jugendlicher beteiligt ist<br />

(Art. 4 Abs. 3a), sowie für den wissentlichen Zugriff auf<br />

Kinderpornografie mittels Informations- und Kommunikationstechnologie<br />

(Art. 5 Abs. 3) 53 einzuführen.<br />

In europastrafrechtsdogmatischer Hinsicht bemerkenswert<br />

ist die – explizite (Erwägungsgrund 5a) – Abweichung von<br />

den Schlussfolgerungen des Rates über einen Ansatz zur<br />

Angleichung der Strafen aus dem Jahr 2002. 54 Diese sahen<br />

vor, dass bei der Festlegung von Mindesthöchststrafen vier<br />

„Niveaus“ Anwendung finden sollen. In dieser Richtlinie<br />

werden hingegen weitaus differenziertere Mindesthöchststrafen<br />

vorgegeben. Allerdings – auch dies ist ein Novum – sollen<br />

auch solche mitgliedstaatlichen Strafvorschriften der<br />

Richtlinie genügen, die in ihrer Kombination den unionsrechtlich<br />

geforderten Strafrahmen ergeben (Erwägungsgrund<br />

6ab). Eine solche additive Kombination ist in Deutschland<br />

bekanntlich nur bei Taten vorgesehen, die in Tatmehrheit<br />

begangen werden (§ 53 Abs. 1, Abs. 2 StGB).<br />

5. Angriffe auf Informationssysteme 55<br />

Auf seiner 3096. Tagung erzielte der Rat am 9./10.6.2011<br />

eine allgemeine Ausrichtung über den Vorschlag für eine<br />

Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über<br />

50 Vgl. zuletzt Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (752).<br />

51 Ratsdok. 11987/11.<br />

52 Ratsdok. 14279/10.<br />

53 Zur bisherigen Rechtslage in Deutschland s. einerseits die<br />

Rechtsprechung, etwa BGH, Beschl. v. 16.3.2011 – 5 StR<br />

581/10, OLG Hamburg StV 2011, 99, sowie andererseits die<br />

ablehnende Literatur, etwa Brodowski, StV 2011, 105; Hecker,<br />

StudZR 2011, 149; Hörnle, NStZ 2010, 704; Müller,<br />

MMR 2010, 342.<br />

54 Ratsdok. 9141/02.<br />

55 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (753 f.); Gercke,<br />

ZUM 2011, 609 (613).<br />

Angriffe auf Informationssysteme und zur Ersetzung des<br />

Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des Rates. 56 Der Kommissionsvorschlag<br />

wurde in mehrerlei Hinsicht entschärft: Erstens<br />

soll auch eine nationale Strafbestimmung – wie § 202a<br />

Abs. 1 StGB – explizit den Anforderungen des Art. 3 genügen,<br />

wenn diese als restriktives Tatbestandsmerkmal die<br />

Überwindung einer Zugangssicherung enthält. Zweitens sind<br />

erhöhte Mindesthöchststrafen nur noch vorgesehen für die<br />

Delikte rechtswidriger Systemeingriff (Art. 4) und rechtswidriger<br />

Eingriff in Daten (Art. 5). Strafschärfungsgründe sind<br />

die Begehung durch Botnetze (Art. 9 Abs. 3) sowie die Begehung<br />

im Rahmen einer kriminellen Vereinigung, die Verursachung<br />

eines schweren Schadens oder Angriffe gegen eine<br />

kritische Infrastruktur (Art. 9 Abs. 4). Auf Grundlage dieser<br />

allgemeinen Ausrichtung werden nun die Verhandlungen mit<br />

dem Europäischen Parlament folgen. Soweit es bei diesen<br />

Bestimmungen bleiben sollte, wäre der Umsetzungsbedarf in<br />

Deutschland darauf begrenzt, dass § 303b Abs. 4 StGB um<br />

eine Variante der Schädigung einer beträchtlichen Anzahl<br />

von Informationssystemen zu ergänzen wäre. 57<br />

6. Insiderhandel und Marktmissbrauch<br />

Am 20.10.2011 legte die Kommission Vorschläge für eine<br />

Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über<br />

strafrechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulationen<br />

58 sowie für korrespondierende wertpapierhandelsrechtliche<br />

Verordnungen 59 vor. Zwar waren die verwaltungsrechtlichen<br />

Vorschriften bereits zuvor – etwa durch<br />

die Marktmissbrauchsrichtlinie aus dem Jahr 2003 60 – harmonisiert,<br />

doch strafrechtliche Regelungen waren dabei explizit<br />

ausgenommen (vgl. Art. 14 Abs. 1 Marktmissbrauchs-<br />

RiLi). Die bloß bußgeldrechtliche Sanktionierung erachtet die<br />

Kommission nicht länger als ausreichend, insbesondere da<br />

die strafrechtlichen Regelungen zum Insiderhandel und zur<br />

Kurs- und Marktpreismanipulation zwischen den Mitgliedstaaten<br />

stark divergieren. Der auf Art. 83 Abs. 2 AEUV gestützte<br />

Richtlinienvorschlag sieht eine Verpflichtung der<br />

Mitgliedstaaten vor, Straftatbestände einzuführen betreffend<br />

� Insiderhandel durch Primär- und Sekundärinsider, auch<br />

durch nachträgliches Stornieren oder Ändern von Kauf-<br />

oder Verkaufsaufträgen (Art. 3 lit. a),<br />

� Weitergabe von Insiderinformationen (Art. 3 lit. b),<br />

56<br />

Ratsdok. 11566/11; zuvor Ratsdok. 10751/11 sowie ursprünglich<br />

KOM (2010) 517 endg. v. 30.9.2010.<br />

57<br />

Regelungsvorschlag in Brodowski/Freiling (Fn. 18), S. 159<br />

f.<br />

58<br />

KOM (2011) 654 endg. v. 20.10.2011; s. hierzu Vogel, in:<br />

Assmann/Schneider (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, 6.<br />

Aufl. 2012 (im Erscheinen), Vor § 20a WpHG Rn. 14a, Vor<br />

§ 38 WpHG Rn. 7a ff.<br />

59<br />

Insbesondere KOM (2011) 651 endg. v. 20.10.2011 und<br />

KOM (2011) 652 endg. v. 20.10.2011; zu den wertpapierrechtlichen<br />

Auswirkungen s. Vogel (Fn. 58), § 20a WpHG<br />

Rn. 25a f.<br />

60<br />

ABl. EU 2003 Nr. L 94 vom 11.4.2003, S. 16.<br />

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945


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

� „Aussenden falscher oder irreführender Signale hinsichtlich<br />

des Angebots oder des Kurses […] oder der Nachfrage“<br />

(Art. 4 lit. a),<br />

� „Beeinflussung des Kurses […], um ein anormales oder<br />

künstliches Kursniveau zu erzielen“ (Art. 4 lit. b),<br />

� „Abschluss einer Transaktion, Erteilung eines Kauf- oder<br />

Verkaufsauftrags und jegliche sonstige Tätigkeit an Finanzmärkten,<br />

die den Kurs […] beeinflusst, unter Vorspiegelung<br />

falscher Tatsachen oder unter Verwendung<br />

sonstiger Kunstgriffe oder Formen der Täuschung“<br />

(Art. 4 lit. c),<br />

� „Verbreitung von Informationen, die falsche oder irreführende<br />

Signale hinsichtlich Finanzinstrumenten [...] aussenden,<br />

sofern [der Täter] durch die Verbreitung dieser<br />

Informationen einen Vorteil oder Gewinn für sich selbst<br />

oder für Dritte“ erzielt (Art. 4 lit. d) sowie<br />

� jeweils Anstiftung, Beihilfe und – mit Ausnahme der<br />

Weitergabe von Insiderinformationen und der falschen<br />

Verbreitung von Informationen – auch der Versuch<br />

(Art. 5).<br />

Mindesthöchststrafen sind dabei nicht vorgesehen; die von<br />

den Mitgliedstaaten einzuführenden strafrechtlichen Sanktionen<br />

müssen jedoch wirksam, angemessen und abschreckend<br />

sein. Bereits aus genuin strafrechtlicher Sicht wären erhebliche<br />

Veränderungen des § 38 WpHG die Folge: So wäre unter<br />

anderem die Weitergabe von Insiderinformationen nicht<br />

länger als Sonderdelikt – bloß Primärinsider können bislang<br />

Täter sein – auszugestalten (so aber § 38 Abs. 1 Nr. 2<br />

WpHG), bei der Marktmanipulation wäre in weiten Teilen<br />

eine Versuchsstrafbarkeit vorzusehen (§ 38 Abs. 3 WpHG<br />

bezieht sich bislang nur auf den Insiderhandel) und – jedenfalls<br />

bei manchen Tathandlungen – wäre auf die Einwirkung<br />

auf den Marktpreis als tatbestandlicher Erfolg zu verzichten<br />

(so aber § 38 Abs. 2 WpHG).<br />

Bedeutsam sind ferner die Konsequenzen, die sich aus<br />

den Blankettverweisen (Art. 2) auf die neuen wertpapierhandelsrechtlichen<br />

Verordnungen ergeben: Über die – bereits<br />

vom WpHG strafrechtlich regulierten – organisierten („geregelten“)<br />

Märkte im In- und EU-Ausland, Warentermingeschäfte<br />

und des Emissionszertifikathandels hinausgehend<br />

sollen auch neuartige multilaterale und sonstige organisierte<br />

Handelssysteme (MTF und OTF) erfasst werden. 61 Hiermit<br />

sollen insbesondere sämtliche Geschäfte mit Credit Default<br />

Swaps (CDS) – die eine erhebliche Ursache für die vergangene<br />

Finanzkrise gewesen sein sollen – vor Marktmanipulationen<br />

geschützt werden.<br />

7. Bestechung im privaten Sektor<br />

Im Juni 2011 legte die Kommission ihren zweiten Bericht<br />

gemäß Art. 9 des Rahmenbeschlusses 2003/568/JI des Rates<br />

v. 22.7.2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten<br />

Sektor vor. 62 Die Kommission geht davon aus, dass die deut-<br />

61<br />

Zur bisherigen Rechtslage vgl. Vogel (Fn. 58), § 20a<br />

WpHG Rn. 38.<br />

62<br />

KOM (2011) 309 endg. v. 6.6.2011; der Rahmenbeschluss<br />

ist zu finden in ABl. EU 2003 Nr. L 192, S. 54.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

946<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

sche, italienische, österreichische und polnische Erklärungen,<br />

den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses auf Handlungen<br />

im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren<br />

oder gewerblichen Leistungen zu beschränken, nur bis Juni<br />

2010 gültig waren und nicht vom Rat verlängert wurden (Art.<br />

2 Abs. 4, Abs. 5), so dass nunmehr auch in diesen Staaten<br />

eine vollständige Umsetzung zu erfolgen habe. Es bleibt<br />

abzuwarten, ob der Rat aus Anlass dieser Evaluation nunmehr<br />

eine entsprechende Verlängerung beschließen wird.<br />

8. Strafrechtlicher Schutz des geistigen Eigentums<br />

Auf Betreiben der belgischen Ratspräsidentschaft und der<br />

Europäischen Kommission soll die Debatte über eine Harmonisierung<br />

des strafrechtlichen Schutzes geistigen Eigentums<br />

neu 63 gestartet werden. 64 Gestützt auf Art. 83 Abs. 2 AEUV<br />

bestehe eine legislative Handlungsmöglichkeit, die vor allem<br />

angesichts der durch Produktfälschungen bestehenden Gefahren<br />

zu ergreifen sei. Diese und weitere Fragen wurden auf<br />

einer Konferenz „Towards a more effective criminal enforcement<br />

of intellectual property rights“ diskutiert, über<br />

welche die belgische Ratspräsidentschaft den Rat informierte.<br />

65<br />

IV. Strafverfahrensrecht<br />

1. Recht auf Belehrung in Strafverfahren 66<br />

In den Verhandlungen zwischen Kommission, Europäischem<br />

Parlament und Rat über den Vorschlag für eine Richtlinie des<br />

Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf<br />

Belehrung in Strafverfahren 67 – der zweiten Maßnahme des<br />

Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen<br />

oder Beschuldigten in Strafverfahren 68 – wurden Bußgeldverfahren<br />

vor einer Verwaltungsbehörde aus dem Anwendungsbereich<br />

der Richtlinie herausgenommen (Art. 2<br />

Abs. 3). Des Weiteren soll im Richtlinientext explizit festgehalten<br />

werden, dass eine Belehrung unverzüglich („promptly“),<br />

jedenfalls aber bei – wohl: vor – einer (ersten) Vernehmung<br />

erfolgen müsse (Art. 3 Abs. 1). Ferner ist eine Belehrung<br />

zu ergänzen bzw. zu wiederholen, wenn einem Festgenommenen<br />

nunmehr eine andere Tat oder ein anderer Sachverhalt<br />

zur Last gelegt wird (Art. 6 Abs. 4). In einem „Letter<br />

of Rights“ soll der Beschuldigte u.a. über die Selbstbelastungsfreiheit,<br />

das Akteneinsichtsrecht und das Recht auf<br />

dringend erforderliche medizinische Betreuung und darüber<br />

63<br />

Das ursprüngliche, 2006 gescheiterte Gesetzgebungsvorhaben<br />

basierte auf KOM (2006) 168 endg. v. 26.4.2006 sowie<br />

zuvor auf KOM (2005) 276 endg. v. 12.7.2005.<br />

64<br />

Vgl. hierzu auch Böxter, wistra 2011, 11.<br />

65<br />

Ratsdok. 18259/10.<br />

66<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (754).<br />

67<br />

Ursprünglicher Vorschlag in KOM (2010) 392 endg. v.<br />

20.7.2010; vorbereitende Studie Spronken, An EU-Wide<br />

Letter of Rights, 2010; allgemeine Ausrichtung des Rates in<br />

Ratsdok. 17583/10; bislang letzter Kompromisstext in Ratsdok.<br />

12163/11.<br />

68<br />

ABl. EU 2009 Nr. C 295, S. 1; vgl. hierzu Brodowski, <strong>ZIS</strong><br />

2010, 376 (382).


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

belehrt werden, wie eine gerichtliche Überprüfung der Untersuchungshaft<br />

beantragt werden kann.<br />

Als wesentlicher Streitpunkt verbleibt jedoch das Akteneinsichtsrecht<br />

des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers<br />

(Art. 7): Dem Rat zufolge soll bezüglich der Haftprüfung ein<br />

Akteneinsichtsrecht betreffend aller für diese „wesentlich[en]“<br />

Unterlagen genügen (Art. 7 Abs. 1). Generell und<br />

jedenfalls nach Anklageerhebung soll das Akteneinsichtsrecht<br />

dem Rat zufolge nur insoweit gewährleistet werden, wie<br />

erforderlich ist, „um ein faires Verfahren zu gewährleisten<br />

und die Verteidigung vorzubereiten“ (Art. 7 Abs. 2). Die<br />

Sperrung von Dokumenten soll gestattet sein, wenn „Grundrechte<br />

einer anderen Person ernsthaft gefährdet werden“,<br />

wenn dies „zum Schutz eines wichtigen öffentlichen Interesses<br />

unbedingt erforderlich ist“, etwa weil weitere laufende<br />

Ermittlungen gefährdet oder die nationale Sicherheit beeinträchtigt<br />

werden könnten (Art. 7 Abs. 4). Angesichts dieser<br />

Fülle von generalklauselartigen, weichen Abwägungsfaktoren<br />

ist anzuzweifeln, ob dieser Entwurf auch in der Praxis zu<br />

wesentlichen Verbesserungen hin zu mehr Akteneinsicht<br />

führen wird.<br />

2. Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und auf Kontaktaufnahme<br />

bei der Festnahme<br />

Am 8.6.2011 unterbreitete die Kommission mit dem Vorschlag<br />

für [eine] Richtlinie des Europäischen Parlaments und<br />

des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren<br />

und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme 69<br />

eine Kombination der dritten und vierten Maßnahme des<br />

Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen<br />

oder Beschuldigten in Strafverfahren. Für Verwunderung<br />

seitens des Rates sorgte dabei, dass Fragen der Prozesskostenhilfe<br />

außen vor gelassen wurden. 70 Die Richtlinie wirkt<br />

dem Vorschlag zufolge ab einer Inkenntnissetzung, dass<br />

jemand „einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird“,<br />

gleich ob es sich um einen transnationalen oder einen rein<br />

nationalen Sachverhalt handelt (Art. 2 Abs. 1), nach der Festnahme<br />

aufgrund eines Europäischen Haftbefehls – im Ausstellungs-<br />

wie im Vollstreckungsmitgliedstaat, – (Art. 2<br />

Abs. 2, Art. 11), sowie wenn jemand während einer Zeugenaussage<br />

zum Beschuldigten wird (Art. 10 Abs. 1). Bedenklich<br />

sind zwei vom Rat vorgeschlagene Einschränkungen:<br />

erstens seine Forderung nach einer Nichtanwendbarkeit der<br />

Richtlinie bei geringfügigen Delikten (Abs. 1 Art. 3) – auch<br />

und gerade bei solchen Delikten ist das Recht auf Kontaktaufnahme<br />

bei einer Festnahme zu gewährleisten – sowie<br />

zweitens sein Postulat, dass bei einer Festnahme aufgrund<br />

eines Europäischen Haftbefehls ein Rechtsanwalt im Vollstreckungsmitgliedstaat<br />

genüge und es eines Anwalts im<br />

Ausstellungsmitgliedstaats nicht bedürfe: Aufgrund des<br />

Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ist es für eine<br />

effektive Verteidigung geradezu unerlässlich, auch gegen den<br />

zugrundeliegenden Europäischen Haftbefehl vorzugehen und<br />

69<br />

KOM (2011) 326 endg. v. 8.6.2011.<br />

70<br />

Ratsdok. 12643/11; Ratsdok. 12897/11; Ratsdok. 14568/<br />

11; Ratsdok. 15533/11; Ratsdok. 15812/11; Ratsdok. 15826/<br />

11.<br />

sich nicht nur auf den engen Katalog der möglichen Ablehnungsgründe<br />

zu konzentrieren.<br />

Das Recht auf Rechtsbeistand soll dem Vorschlag zufolge<br />

jedenfalls gewährleistet werden bei einer, auch polizeilichen,<br />

Vernehmung, aber auch bei Verfahrenshandlungen oder Beweiserhebungen,<br />

„bei der die Anwesenheit des Betroffenen<br />

nach innerstaatlichem Recht [...] zulässig ist, es sei denn, sie<br />

schadet der Beweiserhebung“ (Art. 3 Abs. 1 lit. b). Eine signifikante<br />

Gruppe von Mitgliedstaaten möchte jedoch den<br />

Anwendungsbereich bloß auf Haftsachen und das gerichtliche<br />

Verfahren begrenzen. Dem Verdächtigen oder Beschuldigten<br />

muss die Möglichkeit eingeräumt werden, mit dem<br />

Rechtsbeistand ausreichend lange, häufig und vertraulich<br />

zusammenzutreffen (Art. 4 Abs. 1, Abs. 5, Art. 7); der<br />

Rechtsbeistand wiederum hat ein Anwesenheitsrecht bei Vernehmungen,<br />

bei Beweiserhebungshandlungen und darf die<br />

Haftbedingungen vor Ort überprüfen (Art. 4 Abs. 2 bis 4);<br />

insbesondere letzteres stieß auf erhebliche Vorbehalte der<br />

Mitgliedstaaten. Einem Festgenommenen ist zudem dem<br />

Vorschlag zufolge zu ermöglichen, „möglichst rasch zu mindestens<br />

einer von [ihm] benannten Person Kontakt aufzunehmen“<br />

(Art. 5 Abs. 1); der Rat wünscht, dies auf die bloße<br />

Information einer bestimmten Person – einem Angehörigen<br />

oder dem Arbeitgeber – zu beschränken. Bei Ausländern ist<br />

zudem deren Recht auf konsularische Unterstützung zu gewährleisten<br />

(Art. 6).<br />

Abweichungen von den meisten Gewährleistungen sind<br />

dem Kommissionsvorschlag zufolge nur aufgrund einer gerichtlichen<br />

(„judicial“) Einzelfallentscheidung gestattet; diese<br />

darf nur ergehen, wenn sie zur Abwehr von konkreten Gefahren<br />

für Leib oder Leben einer anderen Person im Einzelfall<br />

erforderlich ist (Art. 8). Vom Recht auf Vertraulichkeit des<br />

Kontakts zwischen Rechtsanwalt und Beschuldigtem darf<br />

nicht abgewichen werden (Art. 7). All dies erachtet der Rat<br />

für zu weitgehend und regt Einschränkungen insbesondere<br />

bei Terrorismusverfahren und bei sonstigen schweren Straftaten<br />

oder aus Gründen effektiver Strafverfolgung an. Dies soll<br />

auch von sonstigen dazu ermächtigten Stellen angeordnet<br />

werden dürfen. Darüber hinausgehend kritisiert eine Gruppe<br />

von Mitgliedstaaten, dass sich dieser Vorschlag in seiner<br />

Gänze nicht an den Vorgaben der Rechtsprechung des<br />

EGMR orientiere, sondern – auf Kosten effektiver Strafverfolgung<br />

und unter Missachtung unterschiedlicher Strafrechtstraditionen<br />

– darüber hinausgehe. 71<br />

Bemerkenswert sind die im Kommissionsvorschlag enthaltenen<br />

Verwertungsverbote: Wenn jemand erst während<br />

einer Zeugenaussage zu einem Beschuldigten wird, sollen<br />

seine Aussagen vor einer entsprechenden Belehrung unverwertbar<br />

sein (Art. 10 Abs. 2). Dem Wortlaut zufolge liegt<br />

daher ein striktes Verwendungsverbot – auch bei belastenden<br />

Spontanäußerungen eines Zeugen und unabhängig von einem<br />

Widerspruch der Verteidigung – vor. 72 Bei sonstigen Verstößen<br />

gegen die Richtlinie – u.a. gegen das Recht auf einen<br />

71<br />

Ratsdok. 14495/11.<br />

72<br />

Zur bisherigen Rechtslage in Deutschland vgl. nur BGH<br />

NJW 1990, 461 (Spontanäußerung); BGHSt 42, 15 (23);<br />

BayObLGSt 2001, 64 (Widerspruchslösung).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

947


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Rechtsbeistand oder gegen das Recht auf konsularischen<br />

Beistand – ist ein Beweisverwertungsverbot vorgesehen, es<br />

sei denn, die Verwendung der rechtswidrig gewonnenen<br />

Beweise „beeinträchtigt die Rechte der Verteidigung nicht“<br />

(Art. 13 Abs. 3). Ob die vom BGH regelmäßig angenommene<br />

Widerspruchslösung die Rechte der Verteidigung unberührt<br />

lässt, ist allerdings bereits jetzt umstritten. 73 Wenig überraschend<br />

wünscht der Rat einen ersatzlosen Verzicht auf sämtliche<br />

Verwertungsverbote.<br />

3. Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften<br />

im Bereich des Freiheitsentzugs<br />

Im Juni 2011 nahm die Kommission ein Grünbuch zur Anwendung<br />

der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs<br />

an. 74 Auch diese Maßnahme war im Fahrplan<br />

zur Stärkung der Verfahrensrechte gefordert worden. Die<br />

tatsächliche Durchführung des Freiheitsentzugs ist der Kommission<br />

zufolge von europäischem Belang, da die diesbezüglich<br />

geltenden Standards erheblichen Einfluss auf das gegenseitige<br />

Vertrauen der Mitgliedstaaten und so auf das Prinzip<br />

der gegenseitigen Anerkennung habe. In Bezug auf die Instrumente<br />

der gegenseitigen Anerkennung fragt die Kommission<br />

an, welche Alternativen zu Freiheitsentziehung genutzt<br />

werden bzw. bei transnationalen Strafverfahren genutzt werden<br />

könnten. Bezüglich eigentlicher Mindeststandards für<br />

den Freiheitsentzug ist das Grünbuch wenig ambitioniert und<br />

konzentriert sich auf einen administrativen Austausch von<br />

„best practices“, um den insbesondere vom Europarat formulierten<br />

Mindeststandard 75 zu gewährleisten.<br />

4. Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations-<br />

Verbindungsdaten<br />

In ihrer Evaluation 76 der sog. Vorratsdatenspeicherungs-<br />

Richtlinie 77 erachtet die Kommission die Vorratsdatenspeicherung<br />

als ein „wertvolles Instrument“, stützt sich dabei<br />

vorrangig aber auf anekdotische Fallbeispiele und nicht auf<br />

eine statistisch unangreifbare, zwischen Bestandsdatenabfragen<br />

und Vorratsdatenabfragen differenzierende Auswertung,<br />

73<br />

Zum Streitstand vgl. nur Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl.<br />

2011, § 136 Rn. 25 m.w.N.<br />

74<br />

KOM (2011) 327 endg. v. 14.7.2011.<br />

75<br />

Recommendation Rec (2006) 2 of the Committee of Ministers<br />

to member states on the European Prison Rules, verfügbar<br />

unter https://wcd.coe.int/wcd/ViewDoc.jsp?id=955747<br />

(Stand: 31.10.2011).<br />

76<br />

KOM (2011) 225 endg. v. 18.4.2011.<br />

77<br />

Richtlinie 2006/24/EG des europäischen Parlaments und<br />

des Rates vom 15.3.2006 über die Vorratsspeicherung von<br />

Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher<br />

elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher<br />

Kommunikationsdienste erzeugt oder verarbeitet werden, und<br />

zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG, ABl. EU 2006<br />

Nr. L 105, S. 54; zur – zweifelhaften – Rechtsgrundlage vgl.<br />

EuGH, Urt. v. 10.2.2009 – C-301/06, m. Anm. u. Bespr.<br />

Ambos, JZ 2009, 468; Braum, ZRP 2009, 174; Petri, EuZW<br />

2009, 214; Simitis, NJW 2009, 1782.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

948<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

die alternative Ermittlungsansätze hinreichend berücksichtigt.<br />

Die Kommission weist auf die höchst unterschiedliche Umsetzung<br />

– etwa die Dauer der Speicherung, den Kreis der<br />

Zugriffsberechtigten, Anlasstaten, die Kostenerstattung für<br />

die Provider betreffend – sowie die (derzeit) fehlende Umsetzung<br />

in manchen Mitgliedstaaten ebenso hin wie auf verfassungsrechtliche<br />

wie zivilgesellschaftliche Bedenken gegen<br />

die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung. Sie kündigt an,<br />

an dem Instrument grundsätzlich festhalten zu wollen, aber<br />

durch eine Änderung der Richtlinie die Harmonisierung der<br />

Vorratsdatenspeicherung weiter voranzutreiben.<br />

In einem Vermerk der ungarischen Ratspräsidentschaft<br />

vom 27.4.2011 78 fasst diese den aus ihrer Sicht bestehenden<br />

Diskussionsbedarf zusammen: Ihrer Auffassung zufolge seien<br />

die schweren Straftaten näher zu definieren, für deren Verfolgung<br />

auf Vorratsdaten zugegriffen werden können, und die<br />

Möglichkeit eines Quick Freeze als milderer Ersatz für eine<br />

Vorratsdatenspeicherung zumindest zu erwägen. Ferner wirft<br />

sie die Frage auf, ob grundsätzlich jede Verwendung eines<br />

Netzwerks identifizierbar sein müsse und daher anonyme<br />

Mobiltelefon-SIM-Karten verboten werden sollen. Schließlich<br />

verweist sie auf Anzeichen, dass Vorratsdaten gelegentlich<br />

missbräuchlich Verwendung finden würden 79 und widerspricht<br />

damit der Kommission, die behauptet hatte, es gebe<br />

hierfür keine konkreten Beispiele.<br />

5. Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen (PNR-<br />

Daten) 80<br />

Erwartungsgemäß legte die Kommission im Februar 2011<br />

einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates über die Verwendung von Fluggastdatensätzen<br />

zu Zwecken der Verhütung, Aufdeckung, Aufklärung<br />

und strafrechtlichen Verfolgung von terroristischen<br />

Straftaten und schwerer Kriminalität vor. 81 Fluggesellschaften<br />

sollen verpflichtet werden, einen Tag vor Abflug und<br />

zudem unmittelbar nach Abfertigungsschluss von Flügen,<br />

welche die EU-Außengrenzen überschreiten, der jeweiligen<br />

Zentralstelle eines Mitgliedstaates u.a. Namen, Anschrift,<br />

weitere Kontaktdaten, Zahlungsinformationen, Gepäckangaben<br />

und Sitzplatznummer zu übermitteln. Diese Daten dürfen<br />

sodann für eine zielgerichtete Überprüfung der Fluggäste vor<br />

Abflug oder nach Ankunft verwendet werden, aber auch zur<br />

„individuelle[n] Beantwortung begründeter Anfragen von zuständigen<br />

Behörden […] zum Zwecke der Verhütung, Aufde-<br />

78<br />

Ratsdok. 9439/11.<br />

79<br />

So wies der polnische Professor Dr. Andrzej Adamski in<br />

einer Konferenz am 3.12.2010 darauf hin, dass mit Hilfe der<br />

Vorratsdaten von „zehn polnischen Journalisten, die der Regierung<br />

durch investigative Artikel lästig geworden waren,<br />

[…] umfassende Kommunikations- und Bewegungsprofile“<br />

angelegt worden seien; vgl. Moechel, http://fm4.orf.at/stories/<br />

1669759/ (Stand: 31.10.2011).<br />

80<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 376 (383) sowie McGinley,<br />

DuD 2010, 250.<br />

81<br />

KOM (2011) 32 endg. v. 2.2.2011; vgl. auch den vorangegangenen,<br />

gescheiterten Vorschlag KOM (2007) 654 endg. v.<br />

6.11.2007.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ckung, Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung“ terroristischer<br />

und solcher Straftaten, die dem Deliktskatalog des<br />

Europäischen Haftbefehls unterfallen und die wenigstens mit<br />

einer Höchststrafe von drei Jahren geahndet werden (Art. 4<br />

Abs. 2 lit. c). Die Daten werden für 5 Jahre und 1 Monat<br />

vorgehalten; nach Ablauf von 30 Tagen wird ein Zugriff<br />

allerdings weiteren prozeduralen und materiellen Einschränkungen<br />

unterworfen: Eine Auskunft unterliegt dann einem<br />

Behördenleitervorbehalt – der Leiter der Zentralstelle muss<br />

die Abfrage genehmigen – und darf nur dann erfolgen, „wenn<br />

berechtigter Grund zu der Annahme besteht, dass er für Ermittlungen<br />

zur Abwehr einer konkreten und akuten Bedrohung<br />

oder Gefahr oder für eine konkrete Ermittlung oder<br />

Strafverfolgungsmaßnahme erforderlich ist“ (Art. 9 Abs. 2<br />

UAbs. 1).<br />

Der Rat steht diesem Vorschlag wohlwollend gegenüber,<br />

einige Mitgliedstaaten wünschen jedoch auch eine Vorratsdatenspeicherung<br />

von PNR-Daten bei Flügen innerhalb der<br />

Europäischen Union sowie eine Erstreckung auch auf andere<br />

Verkehrsmittel, vorrangig Bahn- und Schiffsreisen.<br />

6. Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern, insbesondere<br />

in Strafverfahren<br />

Mit gleich mehreren Maßnahmen unterstreicht die Europäische<br />

Union ihre Sichtweise des Strafverfahrens als ein Dreiecksverhältnis<br />

zwischen Täter, Opfer und Staat.<br />

In einer Mitteilung der Kommission – Stärkung der Opferrechte<br />

in der EU 82 – betont sie die Bedeutung eines Mindeststandards<br />

von Opferrechten, um die Freizügigkeit in der<br />

Europäischen Union weiter zu fördern und das gegenseitige<br />

Vertrauen in die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu<br />

untermauern. Notwendig sei insbesondere eine Anerkennung<br />

und respekt- und würdevolle Behandlung des Opfers, Schutz<br />

und Unterstützung, Zugang zum Recht sowie zu Entschädigung<br />

und Schadensersatz. Zur Verfolgung dieser Ziele unterbreitete<br />

die Kommission zugleich zwei Legislativvorschläge:<br />

Der Vorschlag für [eine] Richtlinie des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates über Mindeststandards für die Rechte<br />

und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe<br />

83 soll den bestehenden Rahmenbeschluss aus dem<br />

Jahr 2001 84 ersetzen. Er soll Mindeststandards dahingehend<br />

entfalten, dass Opfer bei ihrem Erstkontakt mit Strafverfolgungsbehörden<br />

umfassend über ihre Rechte (Art. 3) und<br />

sodann über den Fortgang sowie das Ergebnis eingeleiteter<br />

Strafverfahren informiert werden sollen (Art. 4). Sie sollen<br />

für ihre Teilnahme an Gerichtsverhandlungen und bei Zeugenbefragungen<br />

nötigenfalls einen Dolmetscher kostenfrei in<br />

Anspruch nehmen können (Art. 5); auch soll ihnen Prozesskostenhilfe<br />

für eine Nebenklage gewährt werden können<br />

(Art. 12). Opfer sollen unverzüglich und so selten wie möglich<br />

vernommen werden (Art. 20); dabei und auch in Ge-<br />

82<br />

KOM (2011) 274 endg. v. 18.5.2011.<br />

83<br />

KOM (2011) 275 endg. v. 18.5.2011.<br />

84<br />

Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates v. 15.3.2001 über<br />

die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl. EG 2001<br />

Nr. L 82, S. 1; vgl. hierzu zuletzt Safferling, ZStW 122<br />

(2010), 87.<br />

richtsgebäuden und Polizeidienststellen ist dafür Sorge zu<br />

tragen, dass ein Zusammentreffen mit dem mutmaßlichen<br />

Täter vermieden wird (Art. 19). Besonders hervorzuheben ist<br />

schließlich die Maßgabe, dass die Mitgliedstaaten für alle<br />

Fälle, in denen auf eine Strafverfolgung nach dem Opportunitätsprinzip<br />

verzichtet wird, einen Rechtsbehelf einzuführen<br />

haben (Art. 10 Abs. 1).<br />

Die zweite legislative Maßnahme, der Vorschlag für eine<br />

Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über<br />

die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in<br />

Zivilsachen 85 ist im Zusammenhang mit der Europäischen<br />

Schutzanordnung zu sehen. Beides sei daher näher unten<br />

V. 3. betrachtet.<br />

Der Rat der Europäischen Union nahm parallel hierzu eine<br />

Entschließung des Rates über einen Fahrplan zur Stärkung<br />

der Rechte und des Schutzes von Opfern, insbesondere in<br />

Strafverfahren, an. 86 Dieser soll sich zwar an den positiven<br />

Erfahrungen mit dem Fahrplan zur Stärkung der Beschuldigtenrechte<br />

87 orientieren; auffallend ist allerdings, dass dieser<br />

Fahrplan sich in seinen legislativen Ansätzen auf Maßnahmen<br />

beschränkt, die sich ohnehin bereits im Gesetzgebungsverfahren<br />

befinden. Seine Bedeutung ist daher keinesfalls mit<br />

dem Fahrplan zur Stärkung der Beschuldigtenrechte vergleichbar.<br />

Konkret sieht der Fahrplan vor,<br />

� den Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates v. 15.3.2001<br />

durch eine Richtlinie – auf den entsprechenden Kommissionsvorschlag<br />

88 wird insoweit verwiesen – zu ersetzen,<br />

� Empfehlungen zu „best practices“ im Zusammenhang mit<br />

dieser Richtlinie zu entwickeln,<br />

� eine Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von<br />

Maßnahmen zum Schutz der Opfer in Zivilsachen – erneut<br />

wird auf den entsprechenden Kommissionsvorschlag<br />

89 verwiesen – zu erlassen,<br />

� die Richtlinie 2004/80/EG des Rates v. 29.4.2004 zur Entschädigung<br />

der Opfer von Straftaten zu überprüfen 90 sowie<br />

� Leitlinien zu entwickeln, wie auf besonders schutzbedürftige<br />

Opfer eingegangen werden kann.<br />

Mit Urteil v. 15.9.2011 91 konkretisierte der EuGH den<br />

Schutzzweck des bestehenden Rahmenbeschlusses 2001/220/<br />

JI: Dieser diene der Beteiligung des Opfers im Strafverfahren,<br />

ohne diesem aber ein Mitspracherecht einzuräumen. So<br />

85<br />

KOM (2011) 276 endg. v. 18.5.2011.<br />

86<br />

ABl. EU 2011 Nr. C 187, S. 1.<br />

87<br />

Entschließung des Rates v. 30.11.2009 über einen Fahrplan<br />

zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder<br />

Beschuldigten in Strafverfahren, ABl. EU 2009 Nr. C 295,<br />

S. 1.<br />

88<br />

KOM (2011) 275 endg. v. 18.5.2011; s. hierzu oben bei<br />

und mit Fn. 83.<br />

89<br />

KOM (2011) 276 endg. v. 18.5.2011; s. hierzu oben bei<br />

und mit Fn. 85 sowie näher unten bei und mit Fn. 104.<br />

90<br />

ABl. EU 2004 Nr. L 261, S. 15.<br />

91<br />

EuGH, Urt. v. 15.9.2011 – C-483/09 und C-1/10.<br />

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949


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

kann ein Gericht etwa Schutzanordnungen zum Schutz des<br />

Opfers auch gegen dessen Willen anordnen und so darf es<br />

von zwingenden Mindeststrafen und Nebenfolgen nicht abweichen,<br />

selbst wenn das Opfer dies wünscht. Diese Rechtsprechung<br />

dürfte sich auch auf die zukünftige Richtlinie<br />

übertragen lassen.<br />

In weiterem Zusammenhang ist schließlich zu nennen ein<br />

Vorschlag für [eine] Verordnung des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates über europäische Statistiken über den<br />

Schutz vor Kriminalität, 92 der eine umfassende statistische<br />

Erhebung für 2012 bis 2014 vorsieht über Erfahrungen mit<br />

Kriminalität, über das Sicherheitsempfinden und über Angst<br />

vor Kriminalität.<br />

7. EU-System zum Aufspüren der Terrorismusfinanzierung<br />

(EU-TFTP)<br />

Kurz vor der Sommerpause legte die Kommission eine Mitteilung<br />

„Optionen für ein EU-System zum Aufspüren der<br />

Terrorismusfinanzierung“ vor. 93 In Anlehnung an das USamerikanische<br />

„Terrorist Finance Tracking Program“ (TFTP)<br />

soll ein zukünftiges europäisches System dazu dienen, elektronisch<br />

abgewickelte Finanztransaktionen entweder anlasslos<br />

laufend nach bestimmten, auffälligen Suchkriterien zu durchforsten<br />

oder anlassbezogen die Finanzbeziehungen zwischen<br />

Verdächtigen oder „Gefährdern“ zu analysieren. Wenn ein<br />

solches europäisches System hinreichend effektiv funktioniert,<br />

könnte dies – so die Hoffnung der Kommission – die<br />

Notwendigkeit eines Datentransfers in die USA entfallen<br />

lassen, welcher derzeit aufgrund eines umstrittenen Abkommens<br />

zwischen der EU und den USA erfolgt (s. hierzu noch<br />

unten VI. 1. c).<br />

Die Wirksamkeit dieses Ermittlungsinstruments zur Terrorismusbekämpfung<br />

stehe, so die Kommission, „außer Frage“.<br />

Auch wenn die Kommission eine Anwendung dieses<br />

Instruments auf weitere Kriminalitätsbereiche als „wertvolles<br />

Mittel“ erachtet, hält sie zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit<br />

einen auf Terrorismus begrenzten Anwendungsbereich<br />

für geboten. Allerdings sollten sämtliche europäisch-transnationalen<br />

Transaktionen ausgewertet werden können, und<br />

nicht nur internationale Transaktionen über einen spezifischen<br />

Anbieter, wie dies beim derzeitigen US-TFTP-Programm<br />

angeblich der Fall sei.<br />

Die Rohdatenabfrage soll entweder einer „zentralen EU-<br />

Stelle zum Aufspüren der Terrorismusfinanzierung“ – die bei<br />

Europol angesiedelt werden könnte – in Absprache mit den<br />

Mitgliedstaaten oder aber einem mit Rechtspersönlichkeit<br />

ausgestatteten Pool der nationalen zentralen Meldestellen<br />

(„Financial Intelligence Unit – FIU“) 94 obliegen. Eurojust<br />

92<br />

KOM (2011) 335 endg. v. 8.6.2011; geringfügige Änderungsvorschläge<br />

des Rates in Ratsdok. 14042/11; Ratsdok.<br />

15005/11.<br />

93<br />

KOM (2011) 429 endg. v. 13.7.2011; zum Listungsverfahren<br />

zum Einfrieren aufgefundener Finanzmittel s. nun auch<br />

Vestergaard, NJECL 2 (2011), 175.<br />

94<br />

S. hierzu Art. 21 Richtlinie 2005/60/EG zur Verhinderung<br />

der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche<br />

und der Terrorismusfinanzierung (3. Geldwäsche-Richtlinie),<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

950<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

soll sodann die Rohdatenabfrage genehmigen und überwachen.<br />

Diese – bei Europol oder bei der IT-Agentur (s.o. II. 4.)<br />

zu speichernden – Rohdaten sollen sodann durch die „zentrale<br />

EU-Stelle“, durch den FIU-Pool oder aber von den Mitgliedstaaten<br />

abgestellten Analysten ausgewertet werden, die<br />

in dieser Tätigkeit einer „unabhängigen Beaufsichtigung“<br />

unterliegen sollen.<br />

Die Gremien des Rates warfen nun allerdings die Frage<br />

auf, ob ein eigenständiges europäisches System tatsächlich<br />

einen „Mehrwert“ zur bestehenden Kooperation mit den USA<br />

liefere, insbesondere wenn man die finanziellen Kosten eines<br />

solchen Systems und eine mögliche Beeinträchtigung der<br />

Zusammenarbeit mit den USA berücksichtige. 95<br />

V. Zusammenarbeit in Strafsachen<br />

1. Überblick über den Umsetzungsstand<br />

Einen – allerdings teilweise fehlerhaften und unvollständigen<br />

– Überblick über den Umsetzungsstand von Rechtsinstrumenten<br />

zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen<br />

Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen<br />

liefert nunmehr die Webseite des EJN, 96 wie es vom Rat zuvor<br />

97 gefordert worden war.<br />

2. Europäische Ermittlungsanordnung 98<br />

Der Rat erzielte im Juni 2011 eine partielle allgemeine Ausrichtung<br />

betreffend die grundlegenden Art. 1 bis 18 (einschließlich<br />

Art. Y) der Initiative für eine Richtlinie des Europäischen<br />

Parlaments und des Rates über eine Europäische<br />

Ermittlungsanordnung in Strafsachen. 99 Eine Europäischen<br />

Ermittlungsanordnung sollen nur (Ermittlungs-)Richter, Gerichte<br />

und Staatsanwälte bindend anordnen können; Anordnungen<br />

sonstiger Stellen müssen von solchen Justizbehörden<br />

bestätigt werden (Art. 2, Art. 5a Abs. 3). Diese Akteure des<br />

Anordnungsstaats müssen dabei dem Vorschlag zufolge in<br />

jedem Einzelfall prüfen, ob erstens die Verhältnismäßigkeit<br />

der Maßnahme gewahrt wird und ob zweitens die Maßnahme<br />

„in einem vergleichbaren nationalen Fall unter denselben<br />

Bedingungen angeordnet werden“ könnte (Art. 5a Abs. 1,<br />

Abs. 2) – was sich daher allein auf die Rechtmäßigkeit, nicht<br />

auf die bisweilen engere Zweckmäßigkeit bezieht.<br />

Dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zufolge ist<br />

die Anordnung „ohne jede weitere Formalität“ durch den<br />

Vollstreckungsstaat so zu vollstrecken, „als wäre die betreffende<br />

Ermittlungsmaßnahme von einer Behörde des Vollstre-<br />

ABl. EU 2005 Nr. L 309, S. 15 sowie in Deutschland §§ 10<br />

ff. Geldwäschegesetz.<br />

95<br />

Ratsdok. 14207/11.<br />

96<br />

Erreichbar unter http://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/<br />

(Stand: 31.10.2011).<br />

97<br />

Ratsdok. 13403/1/10 REV 1; Ratsdok. 13405/1/10 REV 1;<br />

s. hierzu Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (759).<br />

98<br />

Vgl. zuletzt Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (755 ff.) m.w.N.;<br />

Blackstock, NJECL 1 (2010), 481; Brand, DRiZ 2010, 317;<br />

Farries, NJECL 1 (2010), 425; Zimmermann/Glaser/Motz,<br />

EuCLR 1 (2011), 56.<br />

99<br />

Ratsdok. 11735/11 sowie Ratsdok. 10749/2/11.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ckungsstaats angeordnet worden“ (Art. 8 Abs. 1). Damit geht<br />

gem. Art. 8 Abs. 2 einher, dass sich die Durchführung grundsätzlich<br />

nach dem Recht des Vollstreckungsstaats richtet (lex<br />

loci). Dabei sind aber vom Anordnungsstaat „ausdrücklich<br />

angegebene Formvorschriften und Verfahren“ einzuhalten<br />

(Durchbrechung durch lex fori), es sei denn, dem stünden<br />

wesentliche Rechtsgrundsätze des Vollstreckungsstaats entgegen<br />

(nationaler ordre public-Vorbehalt).<br />

Die Ablehnungsgründe, die der Vollstreckungsstaat entgegenhalten<br />

kann, unterscheiden sich je nach der Intensität<br />

der Ermittlungsmaßnahme (vgl. Art. 10 Abs. 1a):<br />

� bei der Vernehmung eines Zeugen, eines Opfers oder<br />

eines Verdächtigen,<br />

� bei Ermittlungsmaßnahmen, „die keine Zwangsmaßnahmen<br />

sind“,<br />

� bei bereits rechtmäßig erhobenen Beweisen,<br />

� bei der Auskunftserteilung betreffend IP-Adressen, Telefonanschlussinhabern<br />

(sog. Bestandsdaten) und betreffend<br />

Datenbanken, auf welche die Polizei und die Justizbehörden<br />

unmittelbaren Zugriff haben, sowie auch<br />

� bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen wegen einer<br />

Tat, die einer Deliktsgruppe des Art. 2 Abs. 2 RBEuHb 100<br />

unterfällt, wenn diese nach dem Recht des Anordnungsstaats<br />

mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren<br />

bedroht ist,<br />

kann die Vollstreckung nur aufgrund der in Art. 10 Abs. 1<br />

genannten Gründe versagt werden:<br />

� Immunitäten und Vorrechte, etwa für rechtsberatende<br />

Berufe oder aufgrund der Meinungs- und Pressefreiheit<br />

(s. auch Erwägungsgrund 12b),<br />

� Gefährdung von wesentlichen nationalen Sicherheitsinteressen,<br />

� ne bis in idem und<br />

� ein Verstoß gegen das Primat des Territorialitätsprinzips:<br />

Ist eine Straftat außerhalb des Anordnungsstaats, aber<br />

ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats<br />

begangen worden, so kann einer Ermittlungsanordnung<br />

auch entgegen gehalten werden, dass es an der<br />

Strafbarkeit im Vollstreckungsstaat und damit an der beiderseitigen<br />

Strafbarkeit fehle.<br />

Bei allen anderen Ermittlungsmaßnahmen darf die Vollstreckungsbehörde<br />

� erstens auf andere, gleichermaßen effektive Ermittlungsmaßnahmen<br />

zurückgreifen (Art. 9 Abs. 1a),<br />

� zweitens die Vollstreckung versagen, wenn eine solche<br />

Maßnahme im Vollstreckungsstaat allgemein oder in einem<br />

vergleichbaren innerstaatlichen (konkreten) Fall<br />

nicht zur Verfügung steht und nicht auf eine alternative,<br />

100<br />

Rahmenbeschluss des Rates vom 13.6.2002 über den<br />

Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen<br />

den Mitgliedstaaten i.d.F. CONSLEG 2002F0584 v.<br />

28.3.2009.<br />

gleichermaßen effektive Maßnahme zurückgegriffen werden<br />

konnte (Art. 9 Abs. 1, Abs. 3), und<br />

� drittens die Vollstreckung versagen, wenn keine beiderseitige<br />

Strafbarkeit besteht – es sei denn, es handelt sich<br />

um eine Tat, die einer Deliktsgruppe des Art. 2 Abs. 2<br />

RBEuHb unterfällt, wenn diese nach dem Recht des Anordnungsstaats<br />

mit einer Freiheitsstrafe von mindestens<br />

drei Jahren bedroht ist (Art. 10 Abs. 1b lit. a) – und<br />

� viertens die Vollstreckung versagen, wenn die gewünschte<br />

Maßnahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaats<br />

eine bestimmte – und im konkreten Fall nicht vorliegende<br />

– Katalogtat (wie etwa in Deutschland bei §§ 100a<br />

Abs. 2, 100c Abs. 2 StPO) oder eine bestimmte – im konkreten<br />

Fall nicht drohende – Mindeststrafe (wie etwa<br />

„Verbrechen“ in § 81h Abs. 1 StPO) voraussetzt.<br />

Die Mitgliedstaaten sollen ferner verpflichtet werden, einen<br />

Rechtsbehelf zur Anfechtung der betreffenden Ermittlungsmaßnahme<br />

einzuführen (Art. 13 Abs. 1), wobei allerdings die<br />

Sachgründe nur im Anordnungsstaat geltend gemacht werden<br />

können (Art. 13 Abs. 3).<br />

Soweit Beamte des Anordnungsstaats bei der Vollstreckung<br />

anwesend sind – solchen Ersuchen ist gemäß Art. 8<br />

Abs. 3 in der Regel stattzugeben – unterliegen sie derselben<br />

zivil- und auch strafrechtlichen Verantwortlichkeit wie Beamte<br />

des Vollstreckungsstaats (Art. 16, Art. 17). Abseits von<br />

Amtshaftungsansprüchen trägt allein der Vollstreckungsstaat<br />

sämtliche Kosten, kann aber im Falle außerordentlich hoher<br />

Kosten mit dem Anordnungsstaat Konsultationen einleiten,<br />

um eine Kostenteilung zu erreichen; scheitern diese, so ist die<br />

Ermittlungsanordnung dennoch durchzuführen. Die das normale<br />

Maß übersteigenden Kosten können sodann dem Anordnungsstaat<br />

in Rechnung gestellt werden (Art. Y).<br />

Die partielle allgemeine Ausrichtung erstreckt sich noch<br />

nicht auf die Bestimmungen über diejenigen spezifischen<br />

Ermittlungsmaßnahmen, die in der Richtlinie gesondert geregelt<br />

werden sollen, insbesondere die Telekommunikationsüberwachung.<br />

Erst wenn insoweit eine allgemeine Ausrichtung<br />

erzielt werden konnte, können Verhandlungen mit dem<br />

Europäischen Parlament über die Richtlinie aufgenommen<br />

werden.<br />

3. Europäische Schutzanordnung; gegenseitige Anerkennung<br />

von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen 101<br />

Der spanische Kompromissvorschlag 102 zur Initiative für eine<br />

Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über<br />

die europäische Schutzanordnung wurde im Hinblick auf<br />

Bedenken mancher Mitgliedstaaten und der Kommission<br />

nochmals modifiziert und die Anknüpfung der Schutzanordnung<br />

an vorangegangenes – aber auch bloß mutmaßliches –<br />

strafrechtlich relevantes Verhalten betont (Art. 1). Auch muss<br />

die gegenseitig anzuerkennende Entscheidung in einem strafrechtlichen<br />

Verfahren ergangen sein (Art. 2 Abs. 1). Der<br />

Vollstreckungsstaat ist sodann aber frei, ob er zur Umsetzung<br />

101 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (757) sowie – aus<br />

zivilrechtlicher Sicht – Wagner, NJW 2011, 1404 (1405).<br />

102 Ratsdok. 17750/10.<br />

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951


Dominik Brodowski<br />

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einer Europäischen Schutzanordnung und zum fortdauernden<br />

Schutz (potentieller) Opfer zivil-, verwaltungs- oder strafrechtliche<br />

Mittel ergreift (Art. 9 Abs. 1). Vertreter des Europäischen<br />

Parlaments, des Rats und der Kommission einigten<br />

sich im September 2011 auf diesen Kompromiss, der inzwischen<br />

auch vom Rat politisch bestätigt wurde. 103 Die formelle<br />

Verabschiedung der Europäischen Schutzanordnung soll<br />

noch bis Ende 2011 erfolgen, so dass die Umsetzungsfrist bis<br />

Ende 2014 laufen dürfte (Art. 21 Abs. 1).<br />

Der bereits oben IV. 6. angesprochene Vorschlag für eine<br />

Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über<br />

die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in<br />

Zivilsachen 104 soll hingegen an „im Rahmen von Zivilsachen<br />

angeordnete Schutzmaßnahmen“ anknüpfen – man denke<br />

etwa an das deutsche Gewaltschutzgesetz. Der Kommission<br />

zufolge habe sich bestätigt, dass zivilrechtliche Maßnahmen<br />

effektiver seien und sich daher die gegenseitige Anerkennung<br />

von Schutzmaßnahmen „nach den bestehenden gemeinsamen<br />

Standards auf dem Gebiet des Zivilrechts richten sollte [...]<br />

und nicht nach den schwerfälligeren Standardverfahren im<br />

Bereich des Strafrechts.“ Strafrechtliche Sanktionen bei Verstößen<br />

gegen zivilrechtliche Schutzmaßnahmen überlässt der<br />

Vorschlag dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten.<br />

4. Europäischer Haftbefehl 105<br />

Im Dezember 2010 veröffentlichte die belgische Ratspräsidentschaft<br />

das überarbeitete Europäische Handbuch mit Hinweisen<br />

zum Ausstellen eines Europäischen Haftbefehls. 106<br />

Der Begriff „derselben Handlung“ im Rahmenbeschluss<br />

über den Europäischen Haftbefehl 107 ist europäisch-autonom<br />

und entsprechend dem Tatbegriff des Art. 54 SDÜ (und wohl<br />

auch des Art. 50 GRC) auszulegen, entschied der EuGH mit<br />

Urteil v. 16.11.2010. 108 Im vorliegenden Verfahren, welches<br />

das Verhältnis des Besitzes von Betäubungsmitteln zur Mitgliedschaft<br />

in einer (betäubungsmittel-)kriminellen Vereinigung<br />

betraf, hatte das zuständige italienische Untersuchungsgericht<br />

auf eine Anfrage des OLG Stuttgart 109 hin erklärt,<br />

dass kein Fall doppelter Strafverfolgung und keine Verletzung<br />

von ne bis in idem vorliege. Daher bestehe, so der<br />

EuGH, für das OLG Stuttgart „kein Anlass“, die Vollstreckung<br />

gemäß Art. 3 Nr. 2 RBEuHB abzulehnen. Damit entfernt<br />

sich der EuGH allerdings wieder von einer europäischautonomen<br />

Auslegung des europäisch-transnationalen Straf-<br />

103 Ratsdok. 14923/11.<br />

104 KOM (2011) 276 endg. v. 18.5.2011.<br />

105 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (758 f.) sowie aus<br />

der neueren Literatur insb. Weis, NJECL 2 (2011), 124;<br />

Heard/Mansell, NJECL 2 (2011), 133.<br />

106 Ratsdok. 17195/10.<br />

107 Rahmenbeschluss des Rates v. 13.6.2002 über den Europäischen<br />

Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen<br />

den Mitgliedstaaten i.d.F. CONSLEG 2002F0584 v. 28.3.<br />

2009.<br />

108 EuGH, Urteil v. 16.11.2010 –C-261/09 (Mantello) = NJW<br />

2011, 983 m. Anm. u. Bespr. Lampe, jurisPR-StrafR 2/2011<br />

Anm. 2; Rathgeber, ELR 2011, 30.<br />

109 OLG Stuttgart, Beschl. v. 29.6.2009 – 3 Ausl. 175/08.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

952<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

klageverbrauchs und lässt die Auffassung des Ausstellungsstaates<br />

entscheiden. 110<br />

Am 11.4.2011 legte die Kommission einen Bericht über<br />

die seit 2007 erfolgte Umsetzung des Rahmenbeschlusses des<br />

Rates v. 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl vor. 111<br />

Sie reflektiert dabei durchaus kritisch über die mit diesem<br />

Instrument verbundenen Schwierigkeiten und anerkennt dabei<br />

einen Ablehnungsgrund, wenn die Übergabe des Beschuldigten<br />

zu einem Verstoß gegen dessen Grundrechte<br />

aufgrund inakzeptabler Haftbedingungen führen würde. Des<br />

Weiteren weist sie auf das Problem hin, dass Europäische<br />

Haftbefehle oftmals wegen „sehr geringfügiger Vergehen“<br />

ausgestellt werden und daher unverhältnismäßig seien. Dem<br />

soll einerseits die verstärkte Nutzung von Alternativen zur<br />

Untersuchungshaft 112 entgegenwirken; andererseits wird darauf<br />

hingewiesen, dass es sich bei dem Erlass eines Europäischen<br />

Haftbefehls um eine Ermessensentscheidung handele<br />

(Art. 2 Abs. 1 RBEuHB: „Ein Europäischer Haftbefehl kann<br />

[...] erlassen werden“), die auch in Ländern, die ein striktes<br />

Legalitätsprinzip kennen, zum Anlass für eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

genommen werden müsse. Von den<br />

im Bericht enthaltenen statistischen Daten seien zwei hervorgehoben:<br />

Knapp mehr als die Hälfte der Festgenommenen<br />

stimmt einer Übergabe zu; in den anderen Fällen dauert die<br />

Auslieferung im Durchschnitt 48 Tage – und damit deutlich<br />

kürzer als vor der Einführung des Europäischen Haftbefehls<br />

(ca. 1 Jahr). Mehr als die Hälfte der Europäischen Haftbefehle<br />

wurden 2008 und 2009 in Polen, Deutschland und Rumänien<br />

erlassen (50-65 %) und auch in diesen drei Ländern<br />

vollstreckt (58-68 %).<br />

5. Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden<br />

Der Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates v. 18.12.2006<br />

über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen<br />

und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden<br />

der Mitgliedstaaten der Europäischen Union 113 dient der<br />

Verwirklichung des Prinzips der Verfügbarkeit, 114 demzufolge<br />

Daten, die in einem Mitgliedstaat dessen Strafverfolgungsbehörden<br />

verfügbar sind, ohne größere formelle oder<br />

materielle Hindernisse auch in anderen Mitgliedstaaten für<br />

andere polizeiliche und strafrechtliche Zwecke zur Verfügung<br />

stehen sollen. Die unzureichende Umsetzung dieses<br />

110<br />

Zutreffend Lampe, jurisPR-StrafR 2/2011 Anm. 2.<br />

111<br />

KOM (2011) 175 endg. v. 11.4.2011; s. hierzu auch<br />

Brand, DRiZ 2011, 206.<br />

112<br />

Siehe hierzu den Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates<br />

v. 23.10.2009 über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten<br />

der Europäischen Union – des Grundsatzes der gegenseitigen<br />

Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen<br />

als Alternative zur Untersuchungshaft,<br />

ABl. EU 2009 Nr. L 294, S. 20.<br />

113<br />

Abl. EU 2006 Nr. L 386, S. 89.<br />

114<br />

Böse, Der Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen<br />

in der strafrechtlichen Zusammenarbeit der Europäischen<br />

Union, 2007; Meyer, NStZ 2008, 188; Papayannis, ZEuS<br />

2008, 219; Zöller, <strong>ZIS</strong> 2011, 64.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Rahmenbeschlusses – auch in Deutschland befindet sich das<br />

Umsetzungsgesetz noch im Gesetzgebungsverfahren 115 – kritisiert<br />

nun sowohl die Kommission in ihrer Evaluation 116 als<br />

auch der Rat. 117 Der Rat erwägt zudem, diesen Rahmenbeschluss<br />

mit den Prüm-Instrumenten 118 zu verknüpfen: Jene<br />

sehen nämlich als Antwort – etwa auf eine Anfrage betreffend<br />

Fingerabdruckdaten – nur vor, ob ein Treffer in der<br />

Datenbank vorliegt (hit/no-hit). Mit Hilfe dieses Rahmenbeschlusses<br />

könnte sodann unmittelbar auf den Datensatz – also<br />

z.B. auf die Personalien des Verdächtigen – zugegriffen werden.<br />

6. Grenzüberschreitende Durchsetzung von Verkehrssicherungsvorschriften<br />

Zwischen Kommission, Rat und Europäischem Parlament<br />

konnte eine Einigung erzielt werden über eine Richtlinie des<br />

Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung der<br />

grenzübergreifenden Durchsetzung von Verkehrssicherheitsvorschriften;<br />

119 die Veröffentlichung im Amtsblatt steht jedoch<br />

noch aus. Im Gegensatz zum erst nach Rechtskraft einer<br />

Geldbuße einschlägigen Rahmenbeschluss 2005/214/JI des<br />

Rates v. 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der<br />

gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und -bußen 120<br />

soll durch ein Formblatt die Ermittlung des ausländischen<br />

Halters und die Zustellung des Bußgeldbescheides bei acht<br />

Katalogdelikten erleichtert werden: Geschwindigkeitsübertretung,<br />

Trunkenheit und Drogeneinfluss im Straßenverkehr,<br />

Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes, Nichttragen eines Helms,<br />

Befahren einer nicht freigegebenen Spur – etwa Standstreifen<br />

–, Benutzung eines Mobiltelefons am Steuer und Überfahren<br />

eines roten Stopplichts.<br />

VI. Zusammenarbeit mit Drittstaaten und internationalen<br />

Organisationen 121<br />

1. USA<br />

a) Datenschutzabkommen 122<br />

Der Rat erteilte im Dezember 2010 der Kommission ein<br />

Verhandlungsmandat für ein Abkommen zwischen der Euro-<br />

115 BR-Drs. 853/10; BT-Drs. 17/5906.<br />

116 SEK (2011) 593 endg. v. 13.5.2011.<br />

117 Ratsdok. 15277/11; Ratsdok. 15278/11.<br />

118 Beschluss 2008/615/JI des Rates v. 23.6.2008 zur Vertiefung<br />

der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere<br />

zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden<br />

Kriminalität, Abl. EU 2008 Nr. L 210, S. 1,<br />

sowie der Beschluss 2008/616/JI des Rates v. 23.6.2008 zur<br />

Durchführung des Beschlusses 2008/615/JI des Rates v.<br />

23.6.2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit,<br />

insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus<br />

und der grenzüberschreitenden Kriminalität, Abl. EU 2008<br />

Nr. L 210, S. 12. Der aktuelle Umsetzungsstand ist Ratsdok.<br />

6077/8/11 zu entnehmen.<br />

119 I.d.F. Ratsdok. 11046/11.<br />

120 Abl. EU 2005 Nr. L 76, S. 16.<br />

121 Zum Beitritt der EU zur EMRK s. bereits oben I. 1.<br />

122 Vgl. zuletzt Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (759 f.).<br />

päischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika<br />

über den Schutz personenbezogener Daten, die zu Strafverfolgungszwecken,<br />

einschließlich der Bekämpfung des Terrorismus,<br />

im Rahmen der polizeilichen oder justiziellen Zusammenarbeit<br />

transferiert oder verarbeitet werden. 123 Erste<br />

Konsultationen ließen jedoch wenig Bereitschaft der USA hin<br />

zu einem umfassenden, weitreichenden Datenschutzabkommen<br />

erkennen.<br />

b) PNR-Abkommen 124<br />

Ebenfalls im Dezember 2010 erteilte der Rat ein Verhandlungsmandat<br />

zu Verhandlungen mit den USA, Australien und<br />

Kanada im Hinblick auf Abkommen für die Übermittlung<br />

von Fluggastdatensätzen (PNR). 125 Einem nicht öffentlichen<br />

Vertragsentwurf 126 zufolge ist eine maximale Speicherdauer<br />

von 15 Jahren vorgesehen, wobei ein Zugriff nach fünf Jahren<br />

engeren prozeduralen und materiellen Voraussetzungen<br />

unterworfen ist. Die Nutzung der Daten ist den US-amerikanischen<br />

Behörden zur Verfolgung des Terrorismus und zur<br />

Verfolgung grenzübergreifender schwerer Kriminalität (Definitionen<br />

in Art. 4 Abs. 1 lit. b) zulässig; entsprechende<br />

Datenabfragen können allerdings auch von den Mitgliedstaaten<br />

sowie von Europol und Eurojust beantragt werden<br />

(Art. 18 Abs. 2).<br />

c) SWIFT/TFTP-Abkommen 127<br />

Eine erste Evaluation 128 des Abkommens zwischen der Europäischen<br />

Union und den Vereinigten Staaten von Amerika<br />

über die Verarbeitung von Zahlungsverkehrsdaten und deren<br />

Übermittlung aus der Europäischen Union an die Vereinigten<br />

Staaten von Amerika für die Zwecke des Programms zum<br />

Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus (TFTP/SWIFT-<br />

Abkommen) 129 berichtet von 27.006 Suchanfragen, die in den<br />

ersten sechs Monaten ausgeführt wurden, und die zu einigen<br />

weiterführenden Informationen – auch für Terrorismusermittlungen<br />

in der Europäischen Union – geführt hätten. Die Verfahrenssicherungen<br />

und die Begrenzungen der Datenübermittlungen<br />

sowie Suchanfragen bewertet die gemeinsame<br />

Evaluationskommission für weitgehend erfolgreich, wenn<br />

auch Europol noch mehr Informationen zur Erfüllung seiner<br />

Überwachungspflichten von amerikanischer Seite benötige.<br />

Das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht über gespeicherte<br />

oder verarbeitete Daten ist allerdings – auch aufgrund der<br />

mühseligen Prozedur – noch nicht hinreichend effektiv; für<br />

Verwunderung sorgt die Behauptung, es sei noch kein solches<br />

Auskunftsbegehren eingegangen, obwohl ein Abgeord-<br />

123<br />

KOM (2010) 252 – nicht öffentlich.<br />

124<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (760).<br />

125<br />

Zur zugrundeliegenden Strategie s. KOM (2010) 492<br />

endg. v. 21.9.2010.<br />

126<br />

Ratsdok. 10453/11.<br />

127<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (759).<br />

128<br />

SEK (2011) 438 v. 30.3.2011.<br />

129<br />

ABl. EU 2010 Nr. L 195, S. 5.<br />

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953


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

neter des Europäischen Parlaments sein entsprechendes Ersuchen<br />

zuvor publik gemacht hatte. 130<br />

2. Australien – PNR-Abkommen 131<br />

Auf seiner 3111. Tagung am 22. und 23.9.2011 billigte der<br />

Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – das Ergebnis<br />

der Verhandlungen über ein Abkommen zwischen der<br />

Europäischen Union und Australien über die Verarbeitung<br />

von Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records – PNR)<br />

und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an den<br />

Australian Customs and Border Protection Service. 132 Da das<br />

Europäische Parlament am 27.10.2011 dem Abkommen zustimmte,<br />

kann es nun sowohl unterzeichnet als auch – nach<br />

nochmaliger Beschlussfassung im Rat – abgeschlossen werden.<br />

Die Bestimmungen entsprechen im Wesentlichen dem<br />

entsprechenden Abkommensentwurf mit den USA; 133 allerdings<br />

ist hier eine Speicherung nur für maximal fünfeinhalb<br />

Jahre und eine Einschränkung bereits nach drei Jahren vorgesehen.<br />

3. Rechtshilfeabkommen EU-Japan 134<br />

Das Abkommen zwischen der EU und Japan über die gegenseitige<br />

Rechtshilfe in Strafsachen 135 trat am 2.1.2011 in<br />

Kraft. 136<br />

4. Handelsübereinkommen zur Bekämpfung der Produkt- und<br />

Markenpiraterie (ACTA) 137<br />

Die Kommission unterbreitete dem Rat und dem Parlament<br />

im Juni 2011 Vorschläge über den Abschluss und die Unterzeichnung<br />

des Handelsübereinkommens zur Bekämpfung von<br />

Produkt- und Markenpiraterie zwischen der Europäischen<br />

Union und ihren Mitgliedstaaten, Australien, Kanada, Japan,<br />

der Republik Korea, den Vereinigten Mexikanischen Staaten,<br />

dem Königreich Marokko, Neuseeland, der Republik Singapur,<br />

der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten<br />

Staaten von Amerika (ACTA). 138 Hauptsächlicher<br />

Streitpunkt sind dabei die Bestimmungen über eine strafrechtliche<br />

Harmonisierung. Diesbezüglich regt die Kommission<br />

an, nicht von der Kompetenz des Art. 83 Abs. 2 AEUV<br />

Gebrauch zu machen, was zur Folge hätte, dass sämtliche<br />

Mitgliedstaaten ebenfalls das Abkommen ratifizieren müssen<br />

130<br />

Vgl. http://tinyurl.com/3ur356k (Stand: 31.10.2011).<br />

131<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (760).<br />

132<br />

Ratsdok. 9825/11; Ratsdok. 9822/11; Ratsdok. 10093/11;<br />

Ratsdok. 14245/11; Ratsdok. 16240/11; zuvor KOM (2011)<br />

280 endg. v. 19.5. 2011; KOM (2011) 281 endg. v.<br />

19.5.2011.<br />

133<br />

S. oben bei und mit Fn. 126.<br />

134<br />

Vgl. zuletzt Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (760).<br />

135<br />

ABl. EU 2010 Nr. L 37, S. 20; s. hierzu Brodowski,<br />

NJECL 2 (2011), 21.<br />

136<br />

ABl. EU 2010 Nr. L 343, S. 1.<br />

137<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2010, 749 (760); s. auch<br />

Schrey/Haug, K&R 2011, 171.<br />

138<br />

KOM (2011) 379 endg. v. 24.6.2011; KOM (2011) 380<br />

endg. v. 24.6.2011.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

954<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

(sog. gemischtes Abkommen) und sodann nur direkt aus dem<br />

Handelsübereinkommen, nicht jedoch auch gegenüber der<br />

EU zur Umsetzung der strafrechtlichen Mindestvorgaben<br />

verpflichtet wären.<br />

5. Internationaler Strafgerichtshof<br />

Mit Beschluss 2011/168/GASP des Rates vom 21.3.2011<br />

über den Internationalen Strafgerichtshof und zur Aufhebung<br />

des Gemeinsamen Standpunkts 2003/444/GASP 139 unterstreicht<br />

die EU ihre politische Unterstützung des IStGH und<br />

verpflichtet sich und die Mitgliedstaaten, gegenüber Drittstaaten<br />

für deren Beteiligung am IStGH und für deren Ratifikation<br />

des IStGH-Statuts sowie der Änderungen infolge der<br />

Revisionskonferenz 2010 einzutreten. 140<br />

139<br />

ABl. EU 2011 Nr. L 76, S. 56; der vorangegangene Beschluss<br />

ist zu finden in ABl. EU 2003 Nr. L 150, S. 67. Es sei<br />

ferner verwiesen auf das Abkommen zwischen dem Internationalen<br />

Strafgerichtshof und der Europäischen Union über<br />

Zusammenarbeit und Unterstützung, ABl. EU 2006 Nr. L<br />

115, S. 50.<br />

140<br />

Der Umsetzung dieses Beschlusses dient ein (Entwurf<br />

eines) Aktionsplans, Ratsdok. 12077 REV 1/11.


La aplicación del Derecho Penal de la República Federal de Alemania en los homicidios<br />

en el muro de Berlín<br />

A su vez algunas notas generales sobre la superación del pasado de la República Democrática<br />

Alemana<br />

De abogado Andrés Falcone, LL.M., Regensburg*<br />

I. Introducción<br />

Finalidad de este trabajo es recorrer el arduo sendero que<br />

debió atravesar la República Federal de Alemania luego de la<br />

anexión 1 de la ex República Democrática Alemana 2 en lo<br />

atiente a la superación del pasado de este Estado a través del<br />

Derecho Penal. 3 La importancia del estudio de esta segunda<br />

experiencia alemana no se reduce meramente a su comprensión,<br />

sino que de la misma pueden inferirse soluciones de<br />

posible aplicación en la justicia de transición en distintas<br />

partes del globo. 4 Esto resulta especialmente relevante en<br />

* El autor es abogado egresado de la Universidad Nacional<br />

de Mar del Plata (Argentina), Magíster Legum, LL. M. (Universität<br />

Regensburg/Alemania) y doctorando en la misma<br />

universidad, bajo la orientación del Prof. Dr. Dres. h.c.<br />

Friedrich-Christian Schroeder. Agradezco a DAAD/Universität<br />

Regensburg por la beca concedida en 2009.<br />

1<br />

Sobre la preferencia de este concepto sobre otros como<br />

“unificación” o “reunificación” véase Lüderssen, StV 1991,<br />

482.<br />

2<br />

En adelante nos referiremos a este extinguido Estado como<br />

DDR, en función de sus iniciales en idioma alemán Deutsche<br />

Demokratische Republik.<br />

3<br />

Coincidiremos con Schroeder en que en la superación del<br />

pasado dictatorial no puede encontrarse el Derecho Penal en<br />

soledad, sino que paralelamente se requiere una elaboración<br />

cultural conjunta (parallele gesellschaftlich-kulturelle Aufarbeitung),<br />

la cual debe ser impulsada principalmente por el<br />

Estado. Schroeder, en: Rill (ed.), Vergangenheitsbewältigung<br />

im Osten, Russland, Polen, Rumänien, 2008, p. 9 (pp. 9-10,<br />

14-16). Sobre la relación género-especie entre la superación<br />

de la historia (Geschichtsbewältigung) y la superación del<br />

pasado (Vergangenheitsbewältigung), Schroeder, Beiträge<br />

zur Ge-setzgebungslehre und zur Strafrechtsdogmatik, 2001,<br />

p. 62.<br />

4<br />

Los procesos judiciales de superación de dictaduras pasadas<br />

por los nuevos Estados democráticos presentan, salvando las<br />

singularidades de cada caso, denominadores comunes, lo que<br />

vuelve especialmente útil el empleo del método comparativo.<br />

Entre estos denominadores comunes se destacan los<br />

problemas vinculados al principio de legalidad, como son el<br />

respeto a la garantía de irretroactividad de la ley penal y la<br />

prescripción de la acción penal. Otros obstáculos para la<br />

punición suelen ser los problemas vinculados a la participación<br />

criminal, a las amnistías dictadas, a las absoluciones<br />

en procesos fictos en relación a principio de non bis in idem y<br />

a la avanzada edad de los procesados. Cfr. Schroeder (n. 3 –<br />

Vergangenheitsbewältigung), p. 9 (pp. 10-11).<br />

Un somero análisis de las circunstancias socio-políticas que<br />

rodean la asunción, el desarrollo y la transición democrática<br />

de los estados dictatoriales en Muñoz Conde, en: Muñoz<br />

relación con el nuevo impulso que ha tomado la justicia<br />

intertemporal en Argentina luego de la declaración de<br />

imprescriptibilidad de los crímenes de lesa humanidad (caso<br />

Arancibia Clavel 5 ) y de la inconstitucionalidad de las leyes de<br />

Obediencia debida y Punto final (caso Simón 6 ) por parte de la<br />

Corte Suprema de Justicia de la Nación. Pero antes de<br />

introducirnos en las discusiones dogmáticas que el tema ha<br />

suscitado en la doctrina alemana, sobre todo en relación a la<br />

ley penal aplicable al caso de los homicidios en el muro de<br />

Berlín, es menester referirnos a los procesos instados luego<br />

de la caída del mismo.<br />

II. Los procesos judiciales en el marco de la anexión<br />

Aún antes de la anexión comenzaron los procesos contra los<br />

crímenes de la DDR. El veinticuatro de noviembre de 1989 se<br />

condenó a un policía (Volkspolizist) a la pena de catorce<br />

meses de prisión por su accionar en la represión contra<br />

manifestantes en la protesta contra los festejos oficiales por<br />

los cuarenta años de existencia de la DDR. Afirma Schroeder<br />

que estos procesos estaban todavía ceñidos por las características<br />

distintivas de la justicia de la DDR: una reacción<br />

ligera y la imposición de duras penas con la principal<br />

finalidad de acallar rápidamente el reclamo popular. Desde el<br />

treinta de noviembre hasta el cinco de diciembre de 1989<br />

comenzaron numerosas investigaciones por desfalco (Untreue)<br />

contra miembros de la cúpula del SED. El ocho de<br />

agosto de 1990 se procesó al ex secretario general del partido<br />

Erich Honecker por desfalco, abuso de confianza (Vertrauensmissbrauch)<br />

y sospecha por su participación en<br />

homicidios y lesiones en la “protección de la frontera”.<br />

Simultáneamente, en marzo de 1990, 73 personas fueron<br />

procesadas por fraude electoral (Wahlfälschung) y meses<br />

después el procurador general de la DDR Wendland, su<br />

representante Borchert y el procurador general de Berlín<br />

Simon fueron procesados por prevaricato (Rechtsbeugung). 7<br />

En Berlín hacia 1990 se creó una división auxiliar de la<br />

fiscalía general abocada especialmente a “crímenes de<br />

gobierno” (Arbeitsgruppe Regierungskriminalität) de toda la<br />

DDR. El establecimiento de estos organismos especiales<br />

resultó fundamental para el descongestionamiento de las<br />

fiscalías ordinarias. Este grupo de trabajo que colaboraba en<br />

260 casos hacía 1990 lo hacía en 7314 para 1998. Paralelamente<br />

se creó otra división dependiente de la fiscalía generar<br />

Conde/Vormbaum (ed.), La transformación jurídica de las<br />

dictaduras en democracias y la elaboración jurídica del<br />

pasado – Seminario Humboldt-Kolleg realizado en la Universidad<br />

Pablo de Olavide 7-9.2.2008, 2009, p. 2.<br />

5<br />

Fallos: 327:3312.<br />

6<br />

Fallos: 328:2056.<br />

7<br />

Cfr. por todo Schroeder, NJW 2000, 3017.<br />

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955


Andrés Falcone<br />

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de Berlín (Dezernat) encargada de contribuir con lo allí<br />

sucedido. La misma, que se abocaba a 122 casos en 1990, lo<br />

hacía en 3330 en 1993. 8<br />

Entre el gran número de procesamientos, algunos comenzados<br />

durante la existencia de la DDR y continuados en la<br />

nueva República Federal, se destacaron los siguientes ilícitos:<br />

fraude electoral, espionaje, prevaricato y los homicidios y<br />

lesiones producto del cruce de fronteras a través del muro de<br />

Berlín 9 . Este último caso es el que, por la importancia de los<br />

bienes jurídicos lesionados y por el significado político que<br />

significa el ultraje al derecho político de emigrar, más ha<br />

preocupado a los científicos del Derecho Penal y consecuentemente<br />

más atención le dedicaremos.<br />

III. La superación del pasado de la DDR en la doctrina<br />

alemana. La ley penal aplicable a los homicidios del muro<br />

de Berlín<br />

La justicia de transición suele presentar los inconvenientes<br />

generales mencionados en la introducción, sin embargo los<br />

límites del presente estudio nos impiden abocarnos a todos<br />

ellos, por lo que nos dedicaremos a desentrañar cual es la ley<br />

que debió aplicarse en la punición de los homicidios en el<br />

muro. 10<br />

8<br />

Cfr. Schroeder, NJW 2000, 3017 (3018).<br />

9<br />

Cfr. Schroeder, NJW 2000, 3017 (3018). Lüderssen, StV<br />

1991, 482 (483 s.). Vornbaum, por su parte, sostiene que la<br />

“patología especial” (Spezielle Pathologie) de la DDR<br />

fueron, además de los crímenes fronterizos, las adopciones<br />

forzosas, las deportaciones y los denominados Waldheimer<br />

Prozesse (procesamientos contra jerarcas nazis sin el mínimo<br />

respeto a las reglas del debido proceso). Por otra parte, es<br />

interesante el estudio que hace el autor sobre la impunidad<br />

que favoreció a los jueces de la DDR a la hora de afrontar los<br />

procesos por prevaricato, sosteniendo la existencia de un<br />

Richterprivileg similar al existente en la superación del<br />

pasado nacionalsocialista. Cfr. Vormbaum, Einführung in die<br />

moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, pp. 257-259.<br />

10<br />

De esta forma se prescinde aquí del análisis de la<br />

superación de las leyes de amnistía dictadas a favor de los<br />

criminales de la DDR y de la de la prescripción de ciertos<br />

delitos por parte de las instituciones de la República Federal<br />

de Alemania. Sólo se sostendrá sucintamente en relación al<br />

primer tópico que el BGH (Bundesgerichtshof – Tribunal<br />

Supremo Federal) decidió que tras una reinterpretación (más<br />

restringida) de los presupuestos fácticos de las leyes de<br />

amnistía los casos investigados no se encontraban por ellas<br />

amparados. Por otra parte, difícilmente pueda amnistiase un<br />

crimen cuya persecución siempre estuvo fuera del alcance de<br />

la justicia. Véase al respecto BGH NJW 1994, 3238 (3239).<br />

Por otro lado, y con respecto a la prescripción se sancionó<br />

una ley el veintitrés de marzo de 1993 en donde se establecía<br />

que todos los crímenes que por motivos políticos o por causas<br />

contrarias al Estado de Derecho no hayan podido ser<br />

juzgados no han de prescribir. Incluso aquellas conductas que<br />

fueran delitos según la normativa de la República Federal.<br />

Véase la confirmación del BGH en BGHSt 40, 48 (55). Con<br />

posterioridad se dictaron tres leyes más donde se estableció<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

956<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

Se expondrán en lo sucesivo los exámenes de los juristas<br />

que a nuestro entender se han referido a la problemática de<br />

forma más aventajada. Sus soluciones, aunque como se<br />

observará presentan matices distintos, pueden ser clasificadas<br />

en dos concurridos conjuntos: aquellos cuya solución es<br />

negativa, es decir, se pronuncian en contra de la punición de<br />

los criminales de la DDR y aquellos cuya conclusión es<br />

positiva. Dentro de las primeras se desarrollaran sólo aquellas<br />

que se hayan ocupado de la problemática de la ley aplicable.<br />

1. Las tesis negativas<br />

El penalista y iusfilósofo Günther Jakobs sostiene que en<br />

caso de fractura política (transición democrática) son tres las<br />

condiciones que han de darse para la imposición de una pena,<br />

por los hechos acaecidos durante el régimen anterior:<br />

imputabilidad, necesidad y positividad. Con respecto a la<br />

imputabilidad, ha de evaluarse si es en realidad la “mala<br />

voluntad del agente” la causa fundamental del mal acaecido o<br />

si en realidad ella es una causa menor, irrelevante, en<br />

comparación con las verdaderas, estructurales, que llevaron al<br />

sujeto a colocarse en esa situación. El ejemplo proporcionado<br />

es el siguiente: si en un Estado se les enseñara a los niños en<br />

edad escolar a delinquir, entonces el verdadero origen de los<br />

crímenes cometidos no sería la mala voluntad de los autores<br />

sino las falencias del sistema educativo. 11<br />

Con miras a la necesidad, Jakobs considera que la pena ha<br />

de servir para el reestablecimiento de la vigencia de la norma<br />

lesionada, de tal manera que si por otros medios la misma<br />

permanece incólume, la pena no tendría rezón de ser. Así en<br />

una sociedad donde el totalitarismo esté completamente fuera<br />

que la prescripción de dichos crímenes no podía acaecer antes<br />

del dos de octubre de 2000 (diez años después de la anexión).<br />

In extenso en Ambos/Meyer-Abich, Revista Penal 24 (2009),<br />

14. Véase también sobre todos estos puntos la competa tesis<br />

monográfica (aunque parcialmente desactualizada) Rosenau,<br />

Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, 1996.<br />

11<br />

Jakobs, en: Isensee (ed.), Vergangenheitsbewältigung<br />

durch Recht, Drei Abhandlungen zu einem deutschen<br />

Problem, 1992, p. 38. Esto es, según nuestro entender, una<br />

verdad a medias, ya que tanto en situaciones de fractura<br />

constitucional como de vigencia de la misma las circunstancias<br />

que llevan al agente a cometer el ilícito penal suelen<br />

estar vinculadas con falencias del sistema sociopolítico y sin<br />

embargo en situaciones “normales” esto no es tenido en<br />

cuenta para la completa desincriminación. Prima facie no<br />

sería la “mala voluntad del agente” la que llevaría a un niño<br />

en estado de riesgo habitante de una villa de emergencia a<br />

asaltar un mercado, sino que posiblemente sean las graves<br />

deficiencias del sistema sociopolítico argentino (desocupación,<br />

marginali-dad, pobreza, etc.) las que han gravitado para<br />

llevarlo a la comisión del hecho. Sin embargo, y a pesar de<br />

que esto salta a la vista, la extrema situación del menor, sería<br />

en el mejor de los casos tenida en cuenta sólo para atenuar su<br />

culpabilidad. El interrogante que se infiere de este análisis es<br />

el siguiente: ¿por qué han de gozar antiguos dictadores de<br />

consideraciones omitidas para agentes comunes en situación<br />

de riesgo?


La aplicación del Derecho Penal de la República Federal de Alemania<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

de discusión, frente a intentos totalitarios residuales, bastará<br />

con “encogerse de hombros y mirar sin entender”. 12<br />

La positivización se entiende como el hecho punible por<br />

el ordenamiento jurídico “de aquí y ahora”. Respetándose así<br />

el principio de territorialidad de la ley penal (§ 3 StGB) y la<br />

prohibición de retroactividad (art. 103 pára. 2 GG; § 1<br />

StGB). 13 Igualmente el Derecho Penal alemán reconoce su<br />

vigencia para hechos cometidos en el extranjero por un<br />

alemán (principio de personalidad activo) o contra un alemán<br />

(principio de protección), “cuando el hecho esté amenazado<br />

con una pena en el lugar de su comisión, o el lugar de los<br />

hechos no este sujeto a jurisdicción penal alguna” (§ 7<br />

StGB). 14<br />

Seguidamente analiza Jakobs el caso de la DDR y pone a<br />

prueba los tres criterios establecidos. Lo primero que evalúa<br />

el autor es la ley aplicable a los delitos cometidos en la DDR.<br />

Siendo que el Derecho Penal alemán se aplica a los hechos<br />

cometidos en el “interior del territorio” (§ 3 StGB) ha de<br />

12 Jakobs (n. 11), p. 38. La crítica aquí es de otra naturaleza y<br />

esta vinculada a que en realidad no existe en el mundo actual,<br />

según nuestro entender, ningún Estado en donde “un giro al<br />

totalitarismo esté completamente fuera de discusión”.<br />

Lamentablemente debido, entre otras causas, a dirigentes<br />

políticos oportunistas y a medios de comunicación, tendientes<br />

a provocar una permanente sensación de inseguridad en<br />

sociedad, que consecuentemente le exigirá al Estado se<br />

convierta en un mero ente ejecutor de la venganza pública.<br />

Debido a esto es que el totalitarismo nunca esta fuera de<br />

discusión. Asiste razón a Schroeder al sostener que por<br />

defender posturas similares es que luego del nacionalsocialismo<br />

Alemania debió atravesar un segundo gobierno<br />

autoritario. Schroeder, JZ 1992, 990 (992). Además Schroeder<br />

ha criticado con dureza este requisito de necesidad de<br />

pena ya que esto le otorgaría al juez una discrecionalidad<br />

incompatible con el Estado de Derecho y el principio de<br />

legalidad. Solo en contadas excepciones puede el juez<br />

apartarse de la ley y dejar de aplicar la pena, ya que esta<br />

evaluación sobre la necesaridad o innecesaridad le corresponde<br />

al legislador a la hora de crear el tipo penal o de<br />

amnistiar (Schroeder, JZ 1992, 990).<br />

13 La vigencia del principio de prohibición de retroactividad<br />

en casos de fractura constitucional ha sido ampliamente<br />

discutido en doctrina. Dencker sostiene que una abierta<br />

ruptura del mismo es posible, y que este de ningún modo es<br />

aplicable al caso de la DDR. Similar Naucke, Die<br />

strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität,<br />

1996, pp. 47 ss. Schroeder, en igual sentido, afirma que la<br />

finalidad de la prohibición de retroactividad es evitar la<br />

aplicación de arbitrarias leyes ad hoc volviendo así al<br />

Derecho “previsible y calculable”; el Estado de Derecho no<br />

es, consecuentemente, un fin en sí mismo. No han sido la<br />

falta de previsibilidad ni de calculabilidad lo que llevó a que<br />

se cometieran los ilícitos en estudio. Schroeder, NJW 2000,<br />

3017 (3019); el mismo, JZ 1992, 990 (992). En similar<br />

posición también Alexy, cuyas reflexiones serán tratadas ut<br />

infra.<br />

14 Jakobs (n. 11), p. 38.<br />

evaluarse si la ex DDR no fue también parte de este, y en<br />

todo caso la no ejecución del sistema de sanciones penales se<br />

correspondería con un problema de ejecución penal, ajeno a<br />

la cuestión en tratamiento y solucionado luego de la<br />

reunificación. Sin embargo luego del Pacto de Varsovia de<br />

1970 y del Tratado Fundamental de 1972 la jurisprudencia 15<br />

y la doctrina entendieron como interior del territorio a la<br />

República Federal y a Berlín occidental. Por ello dejó de lado<br />

el § 3 StGB y se comenzó a evaluar la competencia a partir<br />

de los principios de personalidad activo y de protección (§ 7<br />

StGB), a través de ellos podría llegarse a la punición. Pero el<br />

Derecho Penal alemán se relativiza a si mismo y consecuentemente<br />

es aplicable este principio sólo cuando el hecho<br />

sea sometido a pena en el lugar de comisión (asegurándose<br />

así la existencia de un ordenamiento jurídico similar al<br />

propio) o en casos en donde el lugar de comisión no reconozca<br />

jurisdicción penal. 16 Siendo que defender esta segunda<br />

solución resultaría mucho más complejo, 17 Jakobs se empeña<br />

en demostrar que los delitos cometidos no eran tales según el<br />

ordenamiento jurídico de la DDR, con lo que se desplomarían<br />

simultáneamente la aplicación del Derecho de la República<br />

Federal para entender en el caso y el tercer criterio: la<br />

positividad.<br />

Deteniéndonos en los homicidios en la frontera, eje<br />

central de nuestro estudio, la normativa en la DDR era la<br />

siguiente: hasta la entrada en vigor de la Ley de Fronteras<br />

(DDR-GrenzG) en 1982 rigió la Ley sobre funciones y<br />

competencias de la policía popular alemana (VoPoG) de<br />

1968. Según esta los miembros del ejército popular debían<br />

“ejecutar las competencias reguladas en esta ley […] de<br />

conformidad con las instrucciones del Ministerio para la<br />

Defensa Nacional”. Paralelamente a la VoPoG existía una<br />

Orden del Ministerio del Interior y Jefe de la Policía Popular<br />

alemana de junio de 1972 que establecía que las armas de<br />

15<br />

Cfr. BGHSt, 30, 1.<br />

16<br />

Más extenso, aprobando esta solución del legislador Jakobs,<br />

GA 1994, 1 (4).<br />

17<br />

Hruschka es de la opinión de que en la disonancia entre el<br />

Derecho formal de la DDR (relativamente respetuoso de los<br />

DDHH) y el Derecho material, mediante el cual se producían<br />

graves atropellos arrojaba como resultado un vacío normativo,<br />

ya el Derecho vigente no era finalmente ni el formal ni<br />

el material. Esto habilitaba consecuentemente el § 7 StGB,<br />

que permitía a su vez la aplicación del Derecho de la<br />

República Federal. Cfr. Hruschka, JZ 1992, 665 (669 ss.).<br />

Contrariamente Jakobs afirma que en realidad un lugar no<br />

sometido a jurisdicción penal alguna sería aquel en que<br />

cualquier Estado podría intervenir validamente sin interferir<br />

en asuntos de otro Estado. Para Jakobs una solución como la<br />

de Hruschka no sería aceptable ya que cualquier Estado<br />

intervendría en otro cuando considere que este no esta<br />

respetando los DDHH, y siendo que las naciones tienen ideas<br />

distintas sobre lo que es o no correcto, esta solución no tiene<br />

razón de ser. Jakobs, GA 1994, 1 (10 s.). Coincidiendo con<br />

Jakobs y oponiéndose a que la DDR, como territorio no<br />

sujeto a potestad punitiva alguna, reciba un tratamiento<br />

similar a la Antártida Schroeder, JZ 1992, 990 (991).<br />

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957


Andrés Falcone<br />

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fuego sólo serán empleadas por los custodios de la frontera<br />

de conformidad con las instrucciones militares del ministerio<br />

de defensa. Lamentablemente instrucciones de esta naturaleza<br />

hubo suficientes. Antes de la VoPoG sólo existían disposiciones<br />

internas de servicio en forma de órdenes del ministro<br />

competente. La formulación tanto del § 27 pára. 2 n. 1<br />

GrenzG como del § 17 pára. 2 lit. a VoPoG, que coincidían<br />

casi literalmente, permitía abrir fuego para evitar la comisión<br />

o la continuación de un delito (el delito en cuestión era el<br />

cruce ilegal de fronteras § 213 StGB-DDR, con la mayor<br />

protección posible a la vida, incluso prestando primeros<br />

auxilios al sujeto herido y evitando disparar a niños y mujeres<br />

(§ 27 páras. 4-5 GrenzG), 18 algo que en la práctica no<br />

ocurrió.<br />

A pesar de esto Jakobs considera que estos hechos no<br />

eran punibles según el Derecho de la DDR. Según él,<br />

entender el Derecho de la DDR como aparecía “en el papel”<br />

(Ley de Fronteras, etc.) es desacertado ya que en la práctica,<br />

en este caso, se empleó cualquier medio para evitar el cruce<br />

ilegal de fronteras, incluso disparar una ráfaga de ametralladora<br />

sobre un indefenso, sin ser el ejecutante pasible de<br />

ninguna sanción. La norma, entonces, no era la norma escrita<br />

y publicada sino una reglamentación real fundamentada en la<br />

“construcción jerárquica del Estado absolutista”, “una práctica<br />

generalizada al margen del Derecho”. 19<br />

En relación al segundo requisito, la necesidad, es<br />

rechazada por Jakobs al sostener que tras la reunificación no<br />

existen posibilidades de que sucedan casos comparables en<br />

situaciones comparables, de forma tal que la norma no<br />

necesita reafirmar su vigencia a través de la pena. 20<br />

La imputabilidad como criterio de punición tampoco<br />

mereció un extenso desarrollo. Se la niega distinguiendo<br />

entre los soldados fronterizos y los encargados de la conducción<br />

del Estado. Los primeros no han sido para Jakobs la<br />

causa de la producción de los ilícitos sino la perversión del<br />

sistema. Los segundos tampoco son punibles ya que no es<br />

función del Derecho Penal exportar la concepción de un<br />

Estado, sino respetar la de la DDR en este caso. Y allí este<br />

sistema político (comunista – autoritario) fue pensado como<br />

18 El presupuesto normativo de la causal de justificación<br />

contenida en § 27 GrenzG y en § 17 VoPoG permitía una<br />

interpretación restrictiva conforme a los principios del Estado<br />

de Derecho. No se podía disparar a cualquier fugitivo bajo<br />

cualquier circunstancia, sino que se debían tomar las precauciones<br />

necesarias para, intentar evitar pérdidas humanas y<br />

lesiones graves. A su vez estos preceptos legales han de<br />

combinarse con el art. 12 del Pacto Internacional sobre<br />

Derechos Civiles y Políticos, suscripto por la DDR, donde se<br />

garantizaba el derecho a abandonar el propio Estado y el § 95<br />

StGB-DDR donde se establecía que la desatención a derechos<br />

humanos o fundamentales no podía ampararse en ninguna<br />

ley. Véase al respecto Schroeder, JZ 1992, 990 (991). Sobre<br />

el tema volveremos ut infra.<br />

19 Cfr. Jakobs, GA 1994, 1 (6 s.); el mismo (n. 11), p. 51.<br />

20 Jakobs (n. 11), p. 51.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

958<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

una fuerza política (no fuerza criminal) capaz de recrear la<br />

esperanza de los hombres. 21<br />

En sentido similar Pawlik 22 sostiene que es imposible<br />

justificar la punición a partir del Derecho de la DDR, ya que<br />

en realidad este estaba fuertemente condicionado por la<br />

política, de tal modo que ambos eran inescindibles. El apego<br />

al derecho natural para la corrección del positivo significaría<br />

no otra cosa que la translación hacia la política de cuestiones<br />

ajenas ella, dejando entrever el fuerte contenido ideológico de<br />

los procesamientos.<br />

2. Las tesis positivas<br />

El Tribunal Territorial de Berlín, junto con la doctrina<br />

mayoritaria, prescindió del análisis del § 7 StGB y se abocó<br />

al art. 315 de la Ley de Introducción al Código Penal (Einführungsgesetz<br />

zum Strafgesetzbuch), recogido en el Anexo I<br />

del Tratado de Unificación (Einigungsvertrag). Este art.<br />

titulado “Validez del Derecho Penal para los hechos<br />

acaecidos en la DDR” (Geltung des Strafrechts für in der<br />

Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten)<br />

establece en su inciso primero, de conformidad con el § 2<br />

StGB que los acontecimientos producidos en la DDR no<br />

podrán ser imputados a sus autores si según el ordenamiento<br />

jurídico allí vigente los mismos no eran pasibles de sanción.<br />

El inciso cuarto del art. 315 establece, en lo pertinente, que el<br />

inciso primero sólo tendrá aplicación siempre y cuando para<br />

el hecho no hubiera sido aplicable el Derecho de la República<br />

Federal aún antes de la anexión. El tribunal territorial interpreto<br />

que en todo caso por imperio del principio de la aplicación<br />

de la ley penal más benigna (§ 2 pára. 3 StGB) ha de<br />

aplicarse el Derecho de la DDR frente al de la República<br />

Federal. Así se analizó la normativa para la custodia de la<br />

frontera como una supuesta causal de justificación, negando<br />

finalmente su existencia al interpretar los preceptos legales de<br />

conformidad con los principios del Estado de Derecho. 23<br />

Esto llevó al BGH, órgano revisor, a confirmar el resultado<br />

de la sentencia en primera instancia, aunque no su<br />

fundamentación. Se opuso a que dichos sucesos fueran<br />

punibles a partir del Derecho vigente en la DDR afirmando<br />

que el derecho positivo excede el tenor literal de la ley<br />

abarcando también la práctica interpretativa. Consecuentemente<br />

la normativa de protección de frontera justificaba los<br />

homicidios producidos. 24<br />

Sin embargo, el BGH evalúa estas causales de justificación<br />

a la luz de la fórmula de Radbruch, a saber: cuando la<br />

contradicción entre la ley positiva y la justicia se torna<br />

21 Jakobs (n. 11), p. 51. Posiciones similares a la de Jakobs<br />

en Grünwald, StV 1991, 31 (33 ss.) y Roellecke, NJW 1991,<br />

657 (659 ss.).<br />

22 Cfr. Pawlik, GA 1994, 472. Crít. Neumann, en: Prittwitz<br />

u.a. (ed.), Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag<br />

am 2. Mai 2002, 2002, p. 109 (pp. 123, 126).<br />

23 Cfr. BGHSt 40, 241 (248 ss.). Sobre ello Ambos, JA 1997,<br />

983 (trad. al español en: Cuadernos de Conferencias y Artículos<br />

Universidad Externado de Colombia 21 [1999], 56).<br />

24 BGHSt 40, 241 (243 ss.).


La aplicación del Derecho Penal de la República Federal de Alemania<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

insoportable, aquel ha de ceder ante esta, 25 y consecuentemente<br />

rechaza su aplicación. La astucia, a nuestro juicio, del<br />

BGH consiste efectuar una “positivización” de la conocida<br />

fórmula, no contrastando la letra de la ley con una “justicia a<br />

partir del derecho natural”, sino con los compromisos internacionales<br />

asumidos por la DDR, destacándose entre ellos la<br />

Declaración Universal de los Derechos Humanos de 1948 26 .<br />

El guardia fronterizo no sufriría ningún engaño en su confianza<br />

en la norma sino en que se mantendrá una determinada<br />

interpretación del derecho escrito, la cual que no puede ser<br />

digna de tutela, ya que la misma hade respetarse sólo en<br />

relación al derecho escrito (geschriebenes Gesetzesrecht). 27<br />

Robert Alexy aprueba el rechazo de los fundamentos de la<br />

primera instancia apuntando que no puede interpretarse la<br />

normativa de la DDR a la luz de los principios del Estado de<br />

Derecho de la RFA, so pena de caer en una maniobra<br />

interpretativa a posteriori (nachträgliche Uminterpretation),<br />

una retroactividad encubierta, más grave aún que la cubierta.<br />

Empero, afirma que la solución del BGH cae en el mismo<br />

error ya que un inconveniente similar se suscita al oponer la<br />

ley escrita al sistema internacional de los Derechos Humanos.<br />

Por ello es que, en su opinión, la solución correcta sería<br />

considerar como si el art. 103 pára. 2 de la Ley Fundamental<br />

(prohibición de retroactividad) tuviera una cláusula limitativa<br />

no escrita que excluiría la protección de una causal de<br />

justificación de esta naturaleza. El resultado sería el mismo<br />

que el de la primera instancia y del BGH, pero se estaría<br />

exponiendo con claridad “el precio que debe pagarse por<br />

ello”. 28<br />

Ulfrid Neumann, parte de la base de que solamente si los<br />

disparos en el muro eran punibles según el Derecho de la<br />

DDR podrán sus autores ser pasibles de sanción en la<br />

25<br />

Cfr. Radbruch, SJZ 1946, 105.<br />

26<br />

BGHSt 40, 241 (244). La fórmula de Radbruch significó,<br />

luego de la caída del nacionalsocialismo un resurgimiento de<br />

los postulados del iusnaturalismo, que ya por aquellos años<br />

había perdido gran terreno frente al positivismo. El apego al<br />

derecho natural, sumado al sinnúmero de desprolijidades<br />

jurídicas de la primera experiencia alemana en materia de<br />

justicia de transición, determinaron al BGH a modificar la<br />

tesis del gran jurista y así intentar sortear la crisis de<br />

legitimidad que padecieron aquellos procesamientos. Para un<br />

desarrollo más acabado del tema con referencias bibliográficas<br />

nos remitimos a nuestros trabajos Falcone, Revista<br />

de Derecho Penal 2010, 395 (404 ss., 410 ss.), también en<br />

Gaceta Penal y Procesal Penal 17 (2010), 426; trad. al<br />

portugués del Prof. Saad Diniz en Lex Magister, 7.1.2011,<br />

disponible en internet (acceso 18.9.11):<br />

http://www.editoralex.com.br/noticias/doutrinas/doutrinas_te<br />

xto.asp?ID=18897796&acesso=2; Revista Pensamiento Penal<br />

126 (2011), 19.<br />

27<br />

BGHSt 41, 101 (111). Por todos véase Ambos, JA 1997,<br />

983 (984 ss.).<br />

28<br />

Cfr. Alexy, DOXA 23 (2000), 197 (202). Sobre el problema<br />

de la retroactividad encubierta en general Alexy, Mauerschützen,<br />

Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit,<br />

1993, p. 30.<br />

República Federal. Para ello el autor propone relacionar los<br />

textos legales, la praxis de los tribunales y la calidad moral de<br />

las normas en cuestión, para lograr desentrañar que es en<br />

realidad el “Derecho”. 29 Estas fuentes, de escasa y en todo<br />

caso corregible disonancia en períodos de normalidad, sufren<br />

fuertes contradicciones en Estados ilícitos (Unrechtsstaaten),<br />

de allí que es menester establecer un orden jerárquico entre<br />

ellas. 30 El autor se encarga de desprenderse en primer término<br />

del derecho natural, y esto porque a la hora de evaluar<br />

ordenamientos jurídicos externos es menester resguardar la<br />

inmanencia del sistema. Cuando rechazamos, por ejemplo, la<br />

esclavitud en la antigua Grecia amparándonos en fundamentaciones<br />

iusnaturalistas, nos basamos en valoraciones “de<br />

hoy” distintas a las existentes en aquel sistema. Por supuesto<br />

que las posiciones iusnaturalistas dentro del ordenamiento<br />

jurídico extranjero o pasado sirve para describirlo, cuestión<br />

distinta es si podemos nosotros inferir conclusiones de tales<br />

posiciones iusnaturalistas que aquel ordenamiento no<br />

extrae. 31<br />

Oponiendo el realismo al positivismo el autor es concluyente:<br />

¿como puede un realista diferenciar una regla de<br />

una infracción colectiva y permanente por parte de los<br />

operadores del derecho? Si el derecho positivo hubiera de<br />

dejarse de lado en función del derecho judicial ¿llegaríamos a<br />

la conclusión de que en puridad en la DDR nunca existió un<br />

sistema jurídico legal sino una mera puesta en escena, un<br />

simple teatro sostenido por razones de propaganda, al que<br />

hoy fuera imposible apelar? Entonces hay que observar la ley<br />

de la DDR, con sus garantías “hacia afuera” para evitar que<br />

con efectos exculpatorios los imputados aleguen que todo<br />

aquello “no iba tan en serio”. 32<br />

Las posiciones de Schroeder 33 y Lüderssen 34 no presentan<br />

grandes disonancias. Basan la posibilidad de aplicación de la<br />

pena en la contraposición de dos aristas opuestas del<br />

ordenamiento jurídico de la DDR: por un lado las ocultas<br />

causales de justificación y por el otro la autorepresentación a<br />

partir del § 95 StGB-DDR y los conpromisos internacionales<br />

suscriptos. Manteniéndose en el Derecho de la DDR escogen<br />

su autorepresentación y se oponen a la justificación de los<br />

homicidios en el muro.<br />

En este sentido Küpper/Wilms sostienen que el reconocimiento<br />

por parte de la República Federal de las causales de<br />

justificación de la DDR, contrarias a los principios del Estado<br />

de Derecho, eran violatorias del su orden público (ordre<br />

public) y en consecuencia inaceptable. 35<br />

Finalmente resulta destacada la compleja posición del<br />

Profesor Kai Ambos, 36 y por ello conviene dedicarle algunas<br />

29<br />

Neumann (n. 22), p. 109 (p. 112).<br />

30<br />

Neumann (n. 22), p. 109 (p. 113).<br />

31<br />

Neumann (n. 22), p. 109 (p. 117).<br />

32<br />

Neumann (n. 22), p. 109 (p. 124).<br />

33<br />

Cfr. Schroeder, JZ 1992, 990 (991).<br />

34<br />

Cfr. Lüderssen, StV 1991, 482 (486 s.).<br />

35<br />

Küpper/Wilms, ZRP 1992, 91 (93). En contra BGH JZ<br />

1993, 199 (201).<br />

36<br />

Ambos, JA 1997, 983 (988 ss.); el mismo, KritV 2003, 31<br />

(41-43); trad. al español en: Anuario de Derecho Penal y<br />

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959


Andrés Falcone<br />

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líneas. Fiel a su tradición de hacer caer el peso del Derecho<br />

Penal Internacional sobre aquellos que detentan posiciones de<br />

poder (y así contribuir con el fortalecimiento de la legitimidad<br />

de esta ciencia), el profesor estudia el Derecho de la<br />

DDR distinguiendo entre el soldado raso, mero ejecutor de la<br />

orden homicida y el “hombre de atrás” (Hintermann). Se<br />

aboca consecuentemente al estudio del primer caso y analizando<br />

el § 27 GrenzG afirma que la prohibición de retroactividad<br />

(Art 103 pára. 2 GG) impide la negación de aquel a<br />

través de principios propios del Estado de Derecho y por lo<br />

tanto sistema-trascendentes. Dos citas sobre este punto reflejan<br />

su posición: “si se hubiera querido limitar la prohibición<br />

de retroactividad en función de determinados hechos acaecidos<br />

en la DDR se lo debió haber reglado en ocasión del<br />

Tratado de Unificación y de una reforma constitucional”, 37<br />

“una prohibición de retroactividad fundamental pero interrumpida<br />

por un sinnúmero de excepciones no colabora ni con<br />

la seguridad jurídica ni con más justicia”. 38 Sin embargo otra<br />

es la solución para aquellos que obraron excediéndose en la<br />

causa de justificación del § 27 GrenzG; estos hechos si son<br />

punibles, pues ya lo eran según aquel ordenamiento jurídico.<br />

Otra es empero la situación de los “hombres de atrás”. A<br />

ellos no les es aplicable la justificación ya que son justamente<br />

ellos quienes la han creado, de tal forma que su reconocimiento<br />

sería equiparable a una autoamnistía, inatendible<br />

según los fundamentos del Derecho Penal Internacional: “la<br />

prohibición de retroactividad no existe para garantizar la<br />

perpetuidad de la impunidad normativa o fáctica, de aquellos<br />

que crearon los presupuestos de la misma”. 39 Tampoco el<br />

principio de igualdad ante la ley (art. 3 GG) se vería vulnerado<br />

ya que el mismo sólo tutela el trato igualitario entre<br />

casos de igual circunstancia fáctica.<br />

IV. Toma de postura<br />

Por los motivos ya expuestos, en forma de críticas a los<br />

argumentos vertidos por las teorías negativas, y sumados a<br />

otros considerados in extenso en trabajos anteriores 40 ubicaremos<br />

nuestra posición entre las por nosotros denominadas<br />

teorías positivas. Por ello nos abocaremos directamente a la<br />

problemática de la ley aplicable, la que – adelantamos –<br />

habrá de resolverse a favor de la ley de la RFA. 41<br />

El § 7 StGB de la República Federal no ha sido<br />

modificado desde antes del nacimiento de la DDR y según él<br />

el Derecho de la República Federal sería aplicable cuando el<br />

hecho hubiera sido cometido por o contra un alemán en el<br />

extranjero siempre que, como ya analizamos, el territorio no<br />

este sujeto a potestad punitiva alguna o “el hecho esté<br />

Ciencias Penales 55 (2002), 319; Nueva Doctrina Penal 2003<br />

A, 3.<br />

37<br />

Ambos, JA 1997, 983 (988).<br />

38<br />

Ambos, JA 1997, 983 (989).<br />

39<br />

Ambos, JA 1997, 983 (989).<br />

40<br />

Véase Falcone, Revista de Derecho Penal 2010, 395 (389<br />

ss.); (n. 26 II), pp. 5 ss., 70.<br />

41<br />

También a favor de la aplicación al caso del Derecho Penal<br />

de la RFA aunque sin apelar al § 7 StGB Roxin, Strafrecht,<br />

Allgemeiner Teil, tomo 1, 4. ed. 2006, § 5 n. 52a y ss.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

960<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

amenazado con una pena en el lugar de su comisión. Por los<br />

motivos expuestos en el acápite anterior se rechaza la<br />

posibilidad de equiparar jurídicamente la DDR a la Antártida,<br />

en palabras de Schroeder. 42 En la DDR existió un Derecho,<br />

conformado por los textos legales y por la práctica judicial,<br />

desconocerlo sería un sinsentido. La segunda alternativa, sin<br />

embargo, resulta menos lejana.<br />

La decisión del legislador en los principios de<br />

personalidad activo y pasivo (este último también denominado<br />

principio de protección) es la de tutelar al alemán en el<br />

extranjero, aplicando el propio ordenamiento jurídico, respetuoso<br />

de los principios del Estado de Derecho, asegurándole<br />

así al alemán sujeto de imputación el respeto a las reglas del<br />

debido proceso y al alemán titular del bien jurídico el<br />

procesamiento de los responsables. 43 Pero como reconoce<br />

Jakobs, el Derecho de la República Federal se entiende a sí<br />

mismo como relativo y exige “un territorio sin Derecho” o<br />

que la conducta este amenazada con una pena – „wenn die<br />

Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist”. Esto lleva al autor a la<br />

confusión de sostener que debido a las causales de justificación<br />

estudiadas los homicidios en la frontera no eran<br />

punibles según el ordenamiento jurídico de la DDR. Lo que<br />

no se advierte es que el legislador de la República Federal no<br />

exige un ordenamiento jurídico en el que una pena sea<br />

aplicable a esa conducta, sino meramente que esta esté<br />

amenazada por aquella. 44 El legislador exige un tipo penal<br />

similar al de la RFA en el ordenamiento jurídico extranjero,<br />

sin sumergirse en el estudio de sus causales de justificación,<br />

¡justamente para evitar problemas como los que aquí se<br />

suscitan! El principio de personalidad, que muchos ordenamientos<br />

jurídicos como el argentino desconocen, colabora<br />

con la protección del alemán en el extranjero y su incorporación<br />

es una decisión eminentemente política, como también<br />

lo es su alcance. 45 Es el legislador alemán quien decide hasta<br />

42<br />

Véase n. 17.<br />

43<br />

En esta dirección, que es doctrina mayoritaria, véase por<br />

ejemplo (sobre todo en relación al principio de protección)<br />

Weber, en: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 11. ed. 2003, p. 95 § 7 n. 59 ss.; Fischer, Strafgesetzbuch<br />

und Nebengesetze, Kommentar, 58. ed. 2011, p 42, § 7<br />

n. 1; Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Tomo 1, 10.<br />

ed. 2009, § 11 n. 33; Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 41. ed. 2011, p. 19 n. 68 ss. Para un completo análisis de<br />

los fundamentos de Derecho Penal Internacional en los<br />

principios de personalidad activo y pasivo véase sobre todo<br />

Ambos, Internationales Strafrecht, 3. ed. 2011, § 3 n. 39 ss.;<br />

§ 3 n. 70 ss. También Satzger, Internationales und Europäisches<br />

Srafrecht, 5. ed. 2011, § 4 n. 7 ss.; Eser, en: Schönke/Schröder,<br />

Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. ed. 2010,<br />

Vorbem §§ 3-9 n. 15 ss.<br />

44<br />

El avezado lector observará aquí el tácito rechazo a la<br />

teoría de los elementos negativos del tipo, por el sinnúmero<br />

de dificultades que la misma presenta en las distintas<br />

estructuras de la teoría del delito. Véase sobre ello Roxin<br />

(n. 41), § 10 n. 13 ss.<br />

45<br />

La primer problemática a resolver resulta de los límites en<br />

la definición de “alemán”. Aunque el precepto se refiere al


La aplicación del Derecho Penal de la República Federal de Alemania<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

donde proteger a sus ciudadanos en el extranjero y en este<br />

caso la protección alcanza el elevado nivel de tipicidad. 46<br />

Sin embargo resulta dudosa la aplicación del Derecho de<br />

la República Federal en cualquier hecho acaecido en la DDR:<br />

un accidente automovilístico, una riña, una estafa, etc.; de<br />

haber tomado una determinación como esta, hubiera signi-<br />

Art 116 pára. 1 GG, anterior a la formación de la DDR, véase<br />

Ambos, KritV 2003, 31 (44), en tiempos de existencia de la<br />

misma, el término se redujo a los alemanes de la RFA (cfr.<br />

BGHSt 32, 293 [297]). Sin embargo acierta Jakobs ([n. 11],<br />

p. 49) en afirmar que cuestiones bien distintas son si el<br />

Derecho Penal de la RFA resultaba aplicable o si el mismo<br />

efectivamente hubo de aplicarse, lo que constituye eminentemente<br />

un problema del procedimiento penal. Por aquellos<br />

años lo primero era dudoso, lo segundo imposible. Otra<br />

posibilidad es la Neubürgerklausel (§ 7 pára. 2 n. 1 alt. 2<br />

StGB: que el agente hubiera adquirido la nacionalidad<br />

alemana luego de acaecido el hecho) como fuera sugerido por<br />

ejemplo en Liebig, NStZ 1991, 372 (Crit. BGHSt 39, 54<br />

[60]). En resumidas cuentas el tema que nos convoca nos es<br />

sino una muestra más de que la interpretación del tipo penal,<br />

lejos de mantenerse estanca, evoluciona acompañando el<br />

devenir de los tiempos y el progreso de los pueblos. En su<br />

origen (§ 7 StGB, art. 116 GG) se incluía dentro del término<br />

“alemán” al residente en el este de Alemania, luego el<br />

término se redujo al oriundo de la RFA, y tras la caída del<br />

muro se debió, a nuestro entender, retornar a una interpretación<br />

extensiva, que como veremos, le hubiera permitido<br />

al agente el procesamiento bajo la lex mitior.<br />

46<br />

El alcance del § 7 StGB en este punto es harto<br />

controvertido en doctrina. El sistema del profesor Ambos<br />

radica en dividir el precepto en dos, por un lado “el hecho”,<br />

que se refiere únicamente a la tipicidad – así también<br />

Mankowski/Bock, ZStW 120 (2008), 704 (740) – y por otro<br />

“la amenaza por una pena”. Según Ambos, de este último<br />

precepto se desprenden tres exigencias que deben darse en el<br />

ordenamiento jurídico extranjero: la punibilidad material<br />

(incluye la antijuricidad, la culpabilidad y la punibilidad), la<br />

posibilidad de persecución procesal – en contra Eser (n. 43),<br />

§ 7 n. 11; BGH NJW 54, 1086 – y la efectiva persecución.<br />

Ambos (n. 43), § 3 n. 48-54. Sin embargo, incluso aquellos<br />

autores que llegan a exigir la punibilidad – como categoría de<br />

la teoría del delito – en la materialidad son contestes en<br />

afirmar, que como se desprende de la exposición de motivos<br />

del Proyecto de 1962 con relación al § 6 StGB “el Derecho<br />

Penal alemán no puede quedar excluido en su aplicación por<br />

reconocer arbitrarias causales de justificación y de exclusión<br />

de la culpabilidad”. En este sentido aún quienes exigen que la<br />

conducta tenga, según el ordenamiento jurídico extranjero,<br />

los cuatro adjetivos de la teoría del delito no serán válidas<br />

aquellas causales justificantes- disculpantes que contraríen<br />

“los principios jurídicos reconocidos por todos los pueblos<br />

civilizados” (Entwurf 1962), ¡lo que a todas luces parece ser<br />

nuestro caso! Véase sólo a título ejemplificativo Ambos<br />

(n. 43), § 3 n. 54; Scholten, Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit<br />

in § 7 StGB, 1995, p. 167; Killian, NJW 1983, 2305;<br />

Rath, JA 2007, 26 (34); Satzger (n. 43), § 5 n. 89 ss.<br />

ficado un avance intolerable sobre la soberanía del país<br />

vecino. Distinta es la cuestión en el caso del homicidio de un<br />

alemán residente en la DDR que al momento de los hechos<br />

huía de allí para ponerse bajo la tutela del ordenamiento<br />

jurídico de la RFA, y así evitar el de un Estado de policía.<br />

Aquí la protección cobra sentido nuevamente, y la RFA tiene<br />

tanto derecho a tutelar la vida y la integridad corporal de la<br />

victima, como esta tiene a ser tutelada.<br />

La doctrina y la jurisprudencia han recorrido el sendero<br />

del art. 315 de la Ley de Introducción al Código Penal y el<br />

resultado aquí no debiera ser otro, siendo que si bien el inciso<br />

primero exige la aplicación del Derecho de la DDR para los<br />

actos allí cometidos, el inciso cuarto deja sin efecto a aquel<br />

cuando los hechos fueran punibles según el Derecho vigente<br />

de la RFA, lo que a nuestro entender acontecía, en virtud de<br />

los §§ 212-213 StGB (homicidio con y sin atenuaciones a la<br />

culpabilidad) en combinación con el § 7 StGB.<br />

Aún así buena parte de la doctrina se inclina por la<br />

aplicación del Derecho de la DDR, algunos incluso en<br />

función del principio de la ley penal más benigna (§ 2 pára. 3<br />

StGB), para luego, por distintos motivos (fórmula de<br />

Radbruch, orden público, interpretación restrictiva conforme<br />

a los principios del Estado de Derecho, autorepresentación<br />

según el § 95 StGB-DDR y compromisos internacionales,<br />

etc.) rechazar o limitar extensamente sus causales de justificación.<br />

Sin embargo el StGB- DDR conminaba el homicidio<br />

con una pena de no menos de diez años, y hasta 1987<br />

con pena de muerte (!) si el mismo se produjera “contra los<br />

Derecho Humanos”, mientras que en la República Federal el<br />

homicidio esta amenazado con una pena de no menos de<br />

cinco años y de uno a diez años si se obrare con culpabilidad<br />

atenuada.<br />

El interrogante entonces es el siguiente: con este sistema<br />

de penas y si a la postre no se han de reconocer las causales<br />

de justificación de la DDR ¿cual es la ley penal más benigna?<br />

o peor aún ¿si se aplica el Derecho de la DDR sin reconocer<br />

las causales de justificación no se estaría en realidad<br />

aplicando de forma encubierta el Derecho de la República<br />

Federal?<br />

Con una solución como la que estamos defendiendo no<br />

hubiera sido necesario evaluar la existencia o el reconocimiento<br />

por parte de la República Federal de siniestras y<br />

oscuras causales de justificación.<br />

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961


El Sistema Interamericano de Protección de los Derechos Humanos y el Derecho<br />

Penal Internacional<br />

Informe del VIII. Seminario del Grupo Latinoamericano de Estudios sobre Derecho Penal<br />

Internacional (Bruselas, 29.11.-2.12.2010)<br />

De Salvador Herencia Carrasco, LL.M. (Universidad de Ottawa), Lima*<br />

I. Introducción<br />

Entre el 29 de noviembre y el 2 de diciembre de 2010, se<br />

realizó el VIII encuentro del Grupo Latinoamericano de<br />

Estudios sobre Derecho Penal Internacional, en la ciudad de<br />

Bruselas, Bélgica. Este encuentro siguió con el proyecto<br />

iniciado el 2009 relativo a la aplicación del derecho penal<br />

internacional por parte de los órganos del sistema interamericano<br />

de protección de derechos humanos, especialmente<br />

la Corte Interamericana de Derechos Humanos (Corte<br />

IDH). En esta oportunidad, los estudios se centraron en<br />

aspectos procesales penales y la tendencia jurisprudencial de<br />

la Corte IDH vis-à-vis a la Convención Americana de<br />

Derechos Humanos de 1969 (CADH).<br />

Este seminario fue auspiciado por los Programas de<br />

Estado de Derecho para Sudamérica y para Europa de la<br />

Fundación Konrad Adenauer y, como siempre, co-organizado<br />

por el Departamento de Derecho Penal Extranjero e Internacional<br />

del Instituto de Ciencias Criminal de la Georg-<br />

August-Universität Göttingen. El motivo por el cual la VIII<br />

reunión del Grupo Latinoamericano se llevó a cabo en<br />

Bruselas fue por la decisión de la Fundación de impulsar la<br />

creación de un Grupo Africano de Estudios de Derecho Penal<br />

Internacional. Como es sabido, la mayoría de las situaciones<br />

y casos bajo investigación de la Corte Penal Internacional se<br />

encuentran en África, por lo que la constitución de un grupo<br />

académico, con expertos en derecho penal internacional y<br />

derechos humanos provenientes de la parte francesa e inglesa,<br />

que pudiese dar un análisis regional en la interpretación,<br />

aplicación e implementación del derecho penal internacional<br />

era necesaria.<br />

El programa del seminario estuvo dividido en cinco<br />

partes. La parte introductoria consistió en un análisis sobre la<br />

evolución de la labor de la Corte IDH y el análisis<br />

comparativo con la labor del Tribunal Europeo de Derechos<br />

Humanos (TEDH). La segunda parte estuvo centrada en la<br />

ideología penal en la Corte IDH así como el uso de fuentes en<br />

los tratados internacionales. La tercera parte se analizó la<br />

figura del desplazamiento forzado, la prueba de casos de<br />

desaparición forzada y los elementos contextuales para la<br />

determinación de crímenes de lesa humanidad. La cuarta<br />

parte se trabajó aspectos de derecho procesal, tal como el<br />

principio de legalidad, la peligrosidad, los recursos del<br />

imputado, aspectos probatorios y las detenciones preventivas.<br />

Finalmente, la quinta parte del seminario se debatió sobre el<br />

agotamiento de recursos internos, el derecho a la verdad, los<br />

estados de excepción y el sistema de reparaciones de la Corte<br />

IDH.<br />

* Asesor jurídico de la Comisión Andina de Juristas en Lima,<br />

Perú. E-mail: sherencia@cajpe.org.pe.<br />

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962<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

De forma complementaria, se organizó una conferencia<br />

pública en la sede del Consejo de Europa. La actividad final<br />

del encuentro consistió en una visita de los grupos africanos y<br />

latinoamericanos a la sede de la Corte Penal Internacional en<br />

La Haya para un encuentro con magistrados y funcionarios de<br />

la CPI.<br />

II. Aspecto Generales del Sistema Interamericano y del<br />

Derecho Penal Internacional<br />

La presentación del Prof. Dr. Kai Ambos y de la Dra. María<br />

Laura Böhm (Universidad de Gotinga) se centró en el análisis<br />

de la labor del Tribunal Europeo de Derechos Humanos<br />

(TEDH) y la Corte IDH. A modo de ver de los autores, la<br />

aproximación del TEDH demostraría un mayor judicial<br />

restraint frente a un activismo judicial más característico de la<br />

Corte IDH. Las explicaciones para esto tiene que ver con (i)<br />

el contexto social, histórico y político bajo el cual actúan<br />

estos tribunales; (ii) la naturaleza de los casos que llegan a<br />

estas instancias regionales; y (iii) el carácter infra-constitucional<br />

de la Convención Europea, a diferencia del rango<br />

constitucional que la Convención Americana de Derechos<br />

Humanos (CADH) tiene en la mayoría de sus Estados Parte.<br />

De acuerdo con Ambos y Böhm, la jurisprudencia del<br />

TEDH es limitada pero a su vez, extensa. Se considera<br />

limitada dado que no se imponen fallos con condenas de<br />

obligado cumplimiento, sino más bien de la constatación de<br />

situaciones de hecho para establecer la responsabilidad del<br />

Estado y sus efectos son inter partes. No obstante, en la<br />

práctica sus decisiones son extensas dado que los fallos son<br />

definitivos y los Estados están obligados a cumplir con ellos,<br />

creando un efecto erga omnes intra partes, teniendo la<br />

recepción de los fallos en Alemania como el ejemplo de esta<br />

práctica. En este caso, el conflicto se da entre la protección de<br />

los derechos colectivos y la de los derechos individuales.<br />

Un aspecto que se resalta es que el TEDH ve la<br />

Convención como un instrumento viviente, adaptando el<br />

texto a las necesidades y cambios sociales. Un ejemplo es lo<br />

decidido en el Caso Selmouni, en el cual hechos que bajo el<br />

Art. 3 de la Convención Europea serían en 1950 tratos degradantes<br />

o inhumanos, hoy son considerados como tortura.<br />

La principal diferencia que los autores ven en la práctica<br />

de estos tribunales regionales se refiere a la criminalización<br />

de conductas lesivas como medio para la protección de los<br />

derechos humanos. Mientras que la Corte IDH se ha centrado<br />

en el deber de castigar a los responsables, el TEDH ha<br />

ordenado medidas legislativas y judiciales como mecanismos<br />

necesarios para la aplicación de la ley y el acceso a la justicia<br />

penal. Es decir, el TEDH establece un deber de perseguir<br />

(obligación de medio) pero no de castigar (obligación de<br />

resultado), tal como quedó expuesto en el Caso Öneryldiz o<br />

en el Caso Ramsahai. Esta regla se ha visto reflejada en la


El Sistema Interamericano de Protección de los Derechos Humanos y el Derecho Penal Internacional<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

protección del derecho a la vida, el derecho al debido proceso<br />

y el acceso a un recurso efectivo. En estos casos, se tiende es<br />

a reafirmar el rol preventivo del derecho penal, asegurando la<br />

protección de toda persona de una eventual violación de<br />

derechos humanos (Caso Zwierzynski).<br />

Sin embargo, los autores consideran que a medida que el<br />

TEDH vaya conociendo de casos que puedan constituirse<br />

como crímenes internacionales (Caso Kononov), la respuesta<br />

de este tribunal podría asimilarse al activismo judicial propio<br />

del de su par latinoamericano.<br />

El Prof. Dr. Ezequiel Malarino (Universidad de Buenos<br />

Aires y Universidad de Belgrano) continuó la investigación<br />

realizada el año pasado sobre la evolución de la jurisprudencia<br />

de la Corte IDH y su impacto en la modificación<br />

del derecho interamericano. De acuerdo con el autor, la<br />

práctica de la Corte, está caracterizada por su activismo<br />

judicial, la punitivización y la nacionalización de su jurisprudencia,<br />

demostrando una tendencia antiliberal y antidemocrática.<br />

La Corte IDH ha ido reescribiendo de forma progresiva la<br />

CADH tanto en aspectos relacionados con los derechos de la<br />

persona, como en asuntos referidos a la competencia y<br />

función del tribunal. Para esto, la Corte ha creado nuevas<br />

reglas, nuevos derechos humanos, ha modificado el alcance<br />

de algunos existentes, ha extendido su competencia sobre<br />

situaciones ocurridas con anterioridad a la entrada en vigor de<br />

la Convención, así como la eficacia jurídica de sus decisiones<br />

más allá del caso concreto. Asimismo, ha intensificado el<br />

valor de su jurisprudencia y ha aplicado un concepto amplio<br />

de reparaciones, tanto individuales como colectivas.<br />

A lo largo de su jurisprudencia, especialmente a partir de<br />

finales de la década de los 90, la Corte IDH ha extendido, por<br />

un lado, su poder de control (ampliación de la base jurídica y<br />

temporal sobre la cual puede pronunciarse) y, por el otro, su<br />

poder de imposición (ampliación de lo que puede ordenar<br />

como reparación y de los casos en que puede hacerlo). Estos<br />

cambios han modificado en tal medida su fisonomía como<br />

tribunal judicial que hoy es posible constatar una metamorfosis<br />

de la Corte IDH.<br />

De acuerdo con Malarino, el activismo judicial de la<br />

Corte IDH ha llevado en la práctica a la modificación del<br />

derecho interamericano. Esto es contrario a la propia CADH<br />

por los siguientes motivos: (i) bajo el Art. 33 de la<br />

Convención, este tribunal únicamente puede velar por el<br />

cumplimiento del tratado pero no puede crear, modificar o<br />

suprimir los pactos existentes, ni controlar el ejercicio de<br />

derechos consagrados en otros tratados internacionales; (ii) la<br />

reforma a la CADH únicamente puede ser hecha por los<br />

Estados a la luz de lo establecido en los Arts. 76 y 77 y no<br />

judicialmente; (iii) la Corte es un instrumento del derecho<br />

interamericano con la específica función de interpretar y<br />

aplicar dichas normas; (iv) la Corte IDH no puede hacer<br />

oponible a los Estados reglas creadas por ella misma que no<br />

están reguladas en la Convención; y (v) la Corte no puede<br />

crear derecho interamericano dado que esta es una potestad<br />

exclusiva de los Estados.<br />

La consecuencia de esta tendencia en la Corte IDH es que<br />

se están abandonado garantías liberales que servían de límite<br />

frente al poder punitivo del Estado, creando un derecho penal<br />

de excepción (la punitivización) cuya razón de ser es la de<br />

castigar, lo cual se ve reflejado en las reparaciones. A juicio<br />

del autor, estas medidas inciden en la soberanía de los<br />

Estados y la Corte IDH se va convirtiendo en una suerte de<br />

legislador, juez y administrador supremo de los Estados<br />

americanos (nacionalización).<br />

Finalmente, el autor analiza si los tribunales nacionales<br />

tienen un deber de seguir la jurisprudencia de los órganos del<br />

sistema interamericano al decidir los procesos judiciales<br />

internos, concluyendo que ese deber no existe en la CADH y<br />

que el intento de la Corte de fundar la obligatoriedad de su<br />

jurisprudencia a través de la doctrina del control de convencionalidad<br />

(Caso Almonacid Arellano) implica una petición<br />

de principios.<br />

El Prof. Dr. Daniel Pastor (Universidad de Buenos Aires)<br />

analizó la ideología penal en la práctica del sistema interamericano,<br />

específicamente lo relativo a las garantías penales<br />

del acusado y de la víctima. A modo introductorio, el autor<br />

reconoce la labor de la Comisión y de la Corte IDH en el<br />

estricto monitoreo y aplicación de los derechos humanos y<br />

garantías fundamentales de las personas acusadas de cometer<br />

delitos comunes. El estándar desarrollado en torno al debido<br />

proceso, el derecho de defensa y aquellos que se desprenden<br />

de los Arts. 8 y 25 de la Convención contribuyen a fortalecer<br />

los sistemas judiciales nacionales.<br />

Sin embargo, esta práctica no se lleva a cabo cuando los<br />

hechos se centran en crímenes internacionales o graves violaciones<br />

a los derechos humanos. En este caso, la metamorfosis<br />

de la Corte IDH lleva a que los derechos del imputado sean<br />

devaluados y superados por unos derechos de las víctimas<br />

que no están previstos ni por los tratados internacionales ni<br />

por la ideología penal que preside el derecho de los derechos<br />

humanos, el cual se ve como un límite al poder, incluso al del<br />

derecho penal.<br />

Desde la perspectiva del acusado, la cultura de los derechos<br />

humanos implica una cultura de límites a la aplicación<br />

de penas. Sin embargo, desde la perspectiva de la víctima de<br />

crímenes internacionales, se ve una devoción por lo penal y<br />

por la aplicación del poder punitivo a cualquier precio. En el<br />

caso de crímenes internacionales, la Corte IDH ha hecho<br />

prevalecer los intereses de la víctima, lo cual implica que el<br />

aparato represivo del Estado está obligado (i) a garantizarle la<br />

investigación penal de los hechos; (ii) a imponer el derecho<br />

de las víctimas a la verdad; (iii) al enjuiciamiento de los<br />

sospechosos; y (iv) a castigar a los responsables, cualquiera<br />

sean las condiciones.<br />

Para Pastor, el favorecer a la víctima en desmedro del<br />

acusado implica la superación del modelo garantista aplicable<br />

a los casos de delitos comunes. En su lugar, se establece una<br />

garantía para la víctima de crímenes internacionales según la<br />

cual el absuelto por sentencia firme dictada después de un<br />

debido proceso no fraudulento puede ser enjuiciado posteriormente<br />

una vez más y condenado si nuevas pruebas indican<br />

que era culpable. La máxime de este cambio se vería en el<br />

paso del in dubio pro reo al in dubio pro víctima, lo cual<br />

incluye en la huída hacia el derecho penal consuetudinario<br />

para afirmar la supremacía de ésta sobre el derecho del<br />

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963


Salvador Herencia Carrasco<br />

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imputado a la ley penal escrita, cierta y previa (Caso Barrios<br />

Altos y Caso Almonacid Arellano).<br />

Como conclusión, el autor considera que transferir la<br />

protección de los derechos humanos en materia penal del<br />

acusado a la víctima, tal como lo ha hecho el sistema<br />

interamericano para los casos de crímenes internacionales y<br />

graves violaciones de los derechos humanos, implica<br />

abandonar el sistema jurídico-político de las democracias<br />

modernas, organizadas bajo una rule of law que impone<br />

límites al aparato represivo público y no estímulos.<br />

La Prof. Dra. Emanuela Fronza (Universidad de Trento)<br />

presentó un estudio sobre el sistema de fuentes establecido en<br />

el Art. 21 del Estatuto de Roma para determinar en qué<br />

medida se reconoce y aplica la jurisprudencia de los<br />

tribunales regionales de protección de los derechos humanos<br />

en las decisiones de la Corte Penal Internacional (CPI).<br />

La autora hace referencia a que por primera vez existe<br />

una norma convencional que sistematiza las fuentes del<br />

derecho que serán aplicados por la CPI, el cual contiene<br />

elementos de derecho penal y derecho internacional público.<br />

En las decisiones iniciales de la CPI, se constata que los<br />

jueces recurren a otras Convenciones en los casos que el<br />

Estatuto tenga una laguna o sea necesario una interpretación<br />

de las disposiciones del Estatuto, siendo la Convención de<br />

Viena del Derecho de los Tratados y los tratados de derechos<br />

humanos las referencias más habituales.<br />

Con respecto al uso de la jurisprudencia de órganos<br />

regionales, la CPI puede hacer uso de ellas como elementos<br />

de un derecho consuetudinario o como disposiciones que<br />

establecen y garantizan los derechos humanos internacionalmente<br />

reconocidos. La CPI ha usado fuentes diferentes y<br />

heterogéneas, confirmando de la estructura abierta del<br />

derecho penal internacional y del Estatuto de Roma. En el<br />

caso de las sentencias de la Corte IDH o del TEDH, estas han<br />

sido primordialmente empleadas para sostener la interpretación<br />

de la CPI para casos relativos al debido proceso, el<br />

derecho de defensa, el establecimiento de garantías del<br />

acusado y el plazo razonable, entre otras. Igualmente ha sido<br />

empleada para la determinación de un estándar común, como<br />

en los casos del derecho a la verdad o para apoyar un<br />

precedente judicial.<br />

Al hacer uso de estas fuentes, Fronza considera que la<br />

CPI lanza un mensaje de protección de los derechos<br />

humanos. Según esta interpretación, la tendencia a importar<br />

la jurisprudencia regional de estos tribunales regionales se<br />

basa en la idea que en el imaginario de la opinión pública esta<br />

envía un mensaje de respeto de los derechos humanos. Por lo<br />

tanto, se considera que estas decisiones no son empleadas o<br />

determinadas por necesidades operacionales, sino más bien<br />

por la imagen y la legitimación que el sistema de la CPI<br />

puede aprovechar. De ahí que el uso de la jurisprudencia<br />

regional por parte de la CPI sea, más que una fuente de<br />

derecho, una línea argumentativa.<br />

Esta situación lleva a reflexionar en torno a la identidad<br />

de la CPI: ¿esta se asemeja más a una jurisdicción criminal o<br />

más como una organización para el mantenimiento de la paz?<br />

5. El abogado Salvador Herencia Carrasco (Comisión<br />

Andina de Juristas) trabajó las reparaciones ordenadas por la<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

964<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

Corte IDH en casos vinculados a graves violaciones a los<br />

derechos humanos y crímenes de lesa humanidad. Las reglas<br />

relativas a la reparación por parte de la Corte han sido<br />

creadas jurisprudencialmente dado que estas no se desprenden<br />

del texto literal de la Convención.<br />

La Corte IDH ha desarrollado una interpretación amplia<br />

del Art. 63 de la Convención Americana para establecer las<br />

siguientes formas de reparación: (i) la restitución; (ii) las<br />

medidas de rehabilitación; (iii) las medidas de satisfacción;<br />

(iv) las garantías de no repetición; (v) la obligación de<br />

investigar, juzgar y, en su caso, sancionar; y (vi) el daño al<br />

proyecto de vida. La respuesta de los Estados generalmente<br />

ha sido positiva, especialmente en el aspecto pecuniario, pero<br />

es en el cumplimiento de las medidas de satisfacción, norepetición<br />

y de reformas institucionales que residen los principales<br />

desafíos por parte del sistema. Algunas reparaciones<br />

ordenadas van más allá del caso concreto, lo que debería<br />

llevar a una reflexión sobre la pertenencia de que sean ordenadas<br />

por este tribunal.<br />

La Corte IDH no se ha limitado a reparar el daño de la<br />

víctima del caso concreto sino que se ha tomado la libertad,<br />

dado el lenguaje amplio del Art. 63 de la Convención, de<br />

analizar los hechos que llevaron a una violación de los<br />

derechos humanos. El problema en este punto es que se han<br />

dado situaciones que la Corte ordena medidas cuyo cumplimiento<br />

constituye un reto para el Estado. Como resultado de<br />

esta situación, hacia finales de 2010, la Corte tenía 111 casos<br />

contenciosos bajo supervisión de cumplimiento de sentencia.<br />

La explicación de esta imposibilidad de concluir un caso<br />

no es el recelo de los Estados para pagar las expensas y las<br />

reparaciones individuales, dado que el cumplimiento de esta<br />

obligación se ha dado en un 80 % de los casos. El problema<br />

no reside en el aspecto pecuniario sino son las medidas de<br />

satisfacción, no-repetición y de reformas institucionales que<br />

son complejas de ser alcanzadas. El cumplimiento de estas<br />

medidas requiere no solo el accionar de la Rama Judicial sino<br />

también reformas legislativas cuyas aprobaciones son difíciles<br />

de alcanzar. Las decisiones judiciales de la Corte, independientemente<br />

del grado de autoridad y obligatoriedad que<br />

están investidas, no son suficientes como para revertir<br />

diferencias sociales y políticas, especialmente en casos de<br />

graves violaciones a los derechos humanos.<br />

A pesar de las críticas que se puede hacer a la parte<br />

resolutiva de la Corte IDH, estos fallos han contribuido a<br />

poner en la agenda pública de los Estados las causas y<br />

mecanismos empleados por los Estados para la perpetración<br />

de violaciones sistemáticas a los derechos humanos. Esto no<br />

implica que la Corte IDH debería reestructurar las medidas de<br />

derecho interno y las garantías de no repetición a fin de que<br />

estas puedan responder al caso concreto. Si bien la labor de la<br />

Corte es importante para identificar estas causas, son los<br />

Estados y sus sociedades los llamados a debatir sobre estas y<br />

derogarlas. El hecho que hasta la fecha aun haya 111 casos<br />

bajo supervisión de sentencia demuestra lo complejo que<br />

pueden ser algunas de estas reformas o investigaciones<br />

solicitadas.


El Sistema Interamericano de Protección de los Derechos Humanos y el Derecho Penal Internacional<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

III. Aspectos Específicos del Sistema Interamericano y del<br />

Derecho Penal Internacional<br />

El Prof. Dr. Alejandro Aponte (Pontificia Universidad<br />

Javeriana de Colombia) desarrolló un estudio sobre el<br />

desplazamiento forzado a la luz de las obligaciones establecidas<br />

por el sistema interamericano de protección de los<br />

derechos humanos, el sistema constitucional de derechos<br />

humanos y el derecho penal interno, los cuales crean una<br />

trípode en la persecución penal nacional de crímenes<br />

internacionales. El desplazamiento forzado de personas en<br />

Colombia representa un ejemplo de cómo puede funcionar la<br />

complementariedad de los sistemas de protección, cada uno,<br />

como se ha insistido, desde su propia perspectiva y ámbito de<br />

aplicación.<br />

Si bien la CADH no hace referencia expresa al desplazamiento<br />

forzado propiamente tal, los órganos del sistema<br />

interamericano han tratado el tema de forma extensa, tanto en<br />

informes como en sentencias. En el Caso Comunidad Moiwana,<br />

la Corte IDH determinó que el desplazamiento forzado<br />

representa una violación al Art. 22 de la Convención en<br />

relación con el Art. 1.1 y que los Principios Rectores del<br />

Desplazamiento Forzado Interno son necesarios para precisar<br />

el contenido y alcance de dicha norma. En el Caso Masacre<br />

de Mapiripán, la Corte IDH concluye que lo establecido en el<br />

Protocolo II a los Convenios de Ginebra es útil para analizar<br />

el tratamiento de este crimen en Colombia, incorporando las<br />

normas de Derecho Internacional Humanitario como elementos<br />

de interpretación de la CADH. En el Caso Masacres de<br />

Ituango, la Corte IDH consideró que el desplazamiento<br />

forzado no podía desvincularse de las otras violaciones a la<br />

Convención (como vida, integridad y libertad personal) que<br />

escapan al mero análisis del Art. 22 de la CADH.<br />

El autor llama la atención a que en América Latina hay<br />

una tendencia en cargar al sistema penal con tareas que no le<br />

corresponden, que lo hacen disfuncional y respecto del cual<br />

se producen reacciones y decepciones sociales que le restan<br />

legitimidad. En la persecución nacional de crímenes internacionales<br />

existen tendencias a llevar a cabo dicha persecución,<br />

violando el carácter restrictivo y acotado del derecho<br />

penal, en función de la persecución y sanciones loables y<br />

necesarias de grandes violadores de derechos humanos y del<br />

derecho internacional humanitario.<br />

Lo anterior se ve reflejado en el diseño de políticas para la<br />

persecución nacional de crímenes internacionales. Al hacer<br />

un análisis de la estrategia de la Dirección Nacional de<br />

Fiscalías de Colombia para la investigación del delito de<br />

desplazamiento forzado como delito autónomo, Aponte<br />

considera que existe una confusión entre el lenguaje de los<br />

derechos humanos, del Derecho Internacional Humanitario y<br />

del derecho penal, que se inicia desde la mera identificación<br />

de un hecho punible como delito común o crimen internacional,<br />

pasando por los elementos constitutivos del ilícito,<br />

los principios jurídicos aplicables y los plazos de prescripción,<br />

entre otros. Esto lleva a interpretaciones y aplicaciones<br />

contradictorias entre sí que afectan la aplicación de una<br />

política que permita la persecución efectiva del desplazamiento<br />

forzado.<br />

El Prof. Dr. Carlos Caro Coria (Pontificia Universidad<br />

Católica del Perú) centró su investigación en el estudio de la<br />

prueba del crimen de desaparición forzada de personas,<br />

desarrollado por la Corte IDH en su jurisprudencia, con el fin<br />

de contribuir al desarrollo de criterios válidos que puedan<br />

servir para llegar al convencimiento e imputación de responsabilidades<br />

individuales en las jurisdicciones internas.<br />

El estándar probatorio en la desaparición forzada de<br />

personas tiene una especial complejidad dado que debe<br />

comprobarse la concurrencia de dos eventos: (i) la privación<br />

de la libertad de una o más personas, sea legal o ilegal; y (ii)<br />

la falta de información o negativa a reconocer dicha privación<br />

de libertad, seguido de la no información del paradero de la<br />

persona.<br />

En el caso de la Corte IDH, las reglas probatorias para la<br />

desaparición forzada de personas tienen las siguientes<br />

características: (i) la flexibilización de las exigencias probatorias<br />

bajo el entendido de que se trata de demostrar la<br />

responsabilidad del Estado y no la responsabilidad penal<br />

individual; (ii) una inversión de la carga de la prueba hacia el<br />

Estado dado que la característica principal en este tipo de<br />

crímenes es que luego de su ocurrencia se acompañan actos<br />

tendientes a suprimir las pruebas; y (iii) el equilibro que la<br />

Corte debe tener para respetar el derecho de defensa y el<br />

objeto del proceso pero sin perder su liderazgo en la solicitud<br />

de pruebas y otros elementos que permitan determinar si<br />

hubo o no una violación a la CADH.<br />

Los distintos Reglamentos confeccionados por la Corte<br />

IDH no han fijado un criterio de apreciación de pruebas para<br />

los casos sometidos a su competencia. Sin embargo, su<br />

jurisprudencia ha afirmando de forma reiterada y coherente el<br />

sistema de libre convicción (sana crítica) dejando de lado a la<br />

íntima convicción y prueba tasada, por ser más garantista<br />

para los derechos fundamentales de las partes.<br />

Para Caro, el grado de acreditación exigido por la Corte<br />

IDH no busca exclusivamente la certeza o veracidad del<br />

hecho pero no es indispensable para determinar la responsabilidad<br />

de un Estado dado que en ciertos hechos no son<br />

sufrientes las pruebas documentales, testimoniales y periciales<br />

para alcanza tal grado de convencimiento. Ante tales<br />

carencias se debe acudir a los indicios o pruebas circunstanciales.<br />

Con ello ya no se obtiene certeza, pero si veracidad<br />

o verosimilitud de los hechos violatorios que se<br />

atribuyen a la conducta de los agentes del Estado. De esta<br />

manera, para la Corte IDH no cabe el concepto doctrinario de<br />

duda razonable vigente en todas las distintas jurisdicciones<br />

internas penales que, por cierto, guarda relación íntima con el<br />

principio de presunción de inocencia.<br />

Independiente de las exigencias establecidas por este<br />

sistema de apreciación probatoria y convencimiento, la Corte<br />

ha determinado que en los crímenes de desaparición forzada<br />

de personas los criterios de valoración son menos formales<br />

que en otras controversias, pues en este tipo de litigio no se<br />

puede ignorar la gravedad especial que a un Estado comprometido<br />

con la Convención se le atribuya el cargo de haber<br />

ejecutado o tolerado una práctica de desapariciones (Caso<br />

Velásquez Rodríguez).<br />

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965


Salvador Herencia Carrasco<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

El Prof. Dr. Javier Dondé (Instituto Nacional de Ciencias<br />

Penales de México) presentó los elementos contextuales de<br />

los crímenes de lesa humanidad (CLH) desarrollados por la<br />

Corte IDH en tres casos y que posteriormente no volvió a<br />

retomar. En dichos fallos, la Corte fue más allá de establecer<br />

la responsabilidad del Estado frente a la CADH para<br />

determinar si es que las conductas se habían cometido “como<br />

parte de un ataque generalizado o sistemático contra la<br />

población civil”.<br />

El Caso Almonacid Arellano es el primero en el que la<br />

Corte IDH determina la existencia de un CLH por hechos<br />

ocurridos en 1973. En esta oportunidad, la Corte determinó<br />

que los elementos contextuales constitutivos de estos crímenes<br />

eran los mismos tanto en Nüremberg como en 1973, año<br />

en que se efectuó la ejecución de la víctima, afirmando<br />

además que es posible que se cometa un CLH mediante una<br />

sola conducta. En el Caso Penal Castro Castro la Corte<br />

reafirmó que la constatación de un conflicto armado y la<br />

planificación de los operativos militares y policiales en el<br />

Perú eran evidencia suficiente para determinar que los elementos<br />

contextuales del CLH se habían dado, sin especificar<br />

si se trataba de un ataque generalizado, sistemático o ambos.<br />

En el Caso La Cantuta, la Corte IDH describió los<br />

elementos necesarios para determinar cuándo se está frente a<br />

un ataque sistemático, tales como la identificación de las<br />

personas agredidas y de un grupo específicamente formado<br />

para realizar los ataques contra la población civil. En este<br />

sentido, la Corte consideró que dichos elementos, juntos con<br />

la finalidad específica de eliminar a los miembros de<br />

organizaciones son suficientes para calificar una conducta<br />

como un CLH. Con respecto al elemento “con conocimiento<br />

de dicho ataque”, en los Casos Castro Castro y La Cantuta, se<br />

hace énfasis en torno a la presencia de altos mandos del<br />

gobierno peruano, incluyendo del Presidente, en el lugar de<br />

los hechos.<br />

En opinión de Dondé, la decisión de la Corte IDH de no<br />

volver a calificar una conducta como CLH es positiva da que<br />

este tribunal no tiene competencia para declarar su existencia.<br />

Al hacer este señalamiento, la Corte IDH cometió una serie<br />

de imprecisiones en la identificación de los elementos contextuales<br />

que convierten a una conducta aislada en un CLH.<br />

También ha creado confusión en cuanto a su propia competencia<br />

y la de los tribunales penales internacionales, que son<br />

la instancia adecuada para señalar cuándo se ha cometido un<br />

crimen internacional. Otra consecuencia de lo anterior es el<br />

desconocer la diferencia entre responsabilidad estatal y<br />

responsabilidad penal internacional.<br />

Igualmente, derivó consecuencias jurídicas como la inaplicabilidad<br />

de mecanismos que generan impunidad como<br />

las amnistías, prescripción y la aplicación de la cosa juzgada.<br />

Sin embargo, estás consecuencias ya las había derivado de las<br />

violaciones a derechos humanos que, aunque se pudieran<br />

calificar de masivas o sistemáticas, no eran necesarias retomar<br />

un concepto de Derecho Penal Internacional para considerar<br />

que estas medias impiden la adecuada protección de<br />

los derechos humanos.<br />

La Prof. Dra. Alicia Gil Gil (Universidad Nacional de<br />

Educación a Distancia de España) trabajó la excepción al<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

966<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

principio de legalidad establecido en el Art. 7.2 del Convenio<br />

Europeo para la Protección de los Derechos Humanos y las<br />

Libertades Fundamentales, el cual establece que no se<br />

“impedirá el juicio y el castigo de una persona culpable de<br />

una acción o de una omisión que, en el momento de su<br />

comisión, constituía delito según los principios generales del<br />

derecho reconocidos por las naciones civilizadas”.<br />

Esta disposición del Convenio se constituye en una<br />

excepción al principio de irretroactividad de la ley penal<br />

desfavorable. La justificación para esta norma es la existencia<br />

histórica de sistemas políticos totalitarios, como la Alemania<br />

nazi (Caso K.-H. W. y Caso Streletz, Kessler y Krenz), por lo<br />

que fue introducida para permitir la persecución de los<br />

crímenes nazis tras la Segunda Guerra Mundial mediante la<br />

aplicación retroactiva de las normas, siendo luego aplicada a<br />

todas las situaciones históricas en las que se hayan producido<br />

crímenes de guerra.<br />

La respuesta del TEDH frente a esta excepción ha sido la<br />

de circunscribir la aplicación de esta norma a lo ocurrido<br />

durante la Segunda Guerra Mundial (Caso Konokov) aunque<br />

excepcionalmente se ha extendido a otras situaciones (Caso<br />

Kolk y Kislyiy). Sin embargo, en los últimos años el TEDH<br />

ha sido reticente en aplicar la excepción del Art. 7.2 dado que<br />

al dejar la puerta abierta a una permanente excepción al<br />

principio de legalidad, además de acercar al derecho penal<br />

internacional peligrosamente a un derecho penal del enemigo<br />

no parece compatible con los esfuerzos codificadores que ha<br />

realizado el Derecho Penal Internacional.<br />

Gil hace una precisión con respecto al Art. 7.1 y 7.2 del<br />

Convenio. Considerando que este tratado es aplicable a países<br />

con culturas jurídicas diferentes (Common Law y derecho<br />

continental), el TEDH se ha centrado en garantizar los<br />

aspectos materiales del principio de legalidad tal como la<br />

seguridad jurídica exigiendo la previsibilidad y concreción<br />

del derecho aplicable, para lo cual se puede incluir la<br />

interpretación jurisprudencial que se hace de un determinado<br />

precepto, y que puede, incluso, completar una ley insuficientemente<br />

concreta.<br />

De forma similar a la Corte IDH, el TEDH ha ido conociendo<br />

de casos que versan sobre graves violaciones a los<br />

derechos humanos. A diferencia de su par latinoamericano, el<br />

TEDH ha sido reticente en calificar hechos como crímenes<br />

internacionales, limitándose a determinar si hubo una violación<br />

al Convenio, excepto cuando el peticionario haya sido<br />

condenado por un crimen internacional (Caso Korbely).<br />

Sin embargo, un aspecto que el TEDH ha ido progresivamente<br />

asimilando de la práctica de la Corte IDH es con<br />

respecto al conocimiento de casos cuyos hechos se produjeron<br />

antes de la entrada en vigor del Convenio. Si bien el<br />

TEDH se había rehusado a conocer de estos casos, en los<br />

últimos años ha variado su postura. El caso más peculiar es el<br />

Caso Šilih, en el cual se independiza absolutamente la<br />

obligación de investigar de la constatación de la existencia de<br />

una violación del derecho a la vida pretendiendo que por<br />

tanto podía exigirse incluso por muertes cometidas antes de la<br />

entrada en vigor de la Convención. Según la autora, la falta<br />

de precisión de estas normas podría llevar a que los Estados


El Sistema Interamericano de Protección de los Derechos Humanos y el Derecho Penal Internacional<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

se vean obligados de investigar todas las muertes ocurridas en<br />

un país.<br />

El Prof. Dr. Dr. h.c. José Luis Guzmán (Universidad de<br />

Valparaíso) analizó el concepto de peligrosidad vis-à-vis el<br />

principio de legalidad desarrollado por la Corte IDH en el<br />

Caso Fermín Ramírez, el cual trata sobre el proceso penal<br />

realizado a causa de la muerte violenta de una niña de doce<br />

años. En este caso, el Ministerio Público de Guatemala lo<br />

acusó de violación calificada pero el tribunal recalificó los<br />

hechos como homicidio calificado y considerando las circunstancias<br />

del hecho, la manera de realizarlo y los móviles<br />

determinantes, se reveló una mayor peligrosidad del agente,<br />

condenándolo a la pena capital. Solo la medida provisional<br />

ordenada por la Corte IDH pudo suspender la ejecución de la<br />

pena.<br />

La importancia de este fallo es que determina que lo<br />

realizado por el tribunal guatemalteco no podía ser analizado<br />

únicamente a la luz de lo establecido en el Art. 8 de la CADH<br />

sino que habría que estudiar la actuación del órgano estatal a<br />

la luz del principio de legalidad criminal. Para la Corte IDH,<br />

la peligrosidad sustituye el derecho penal de acto o de hecho,<br />

propio del sistema penal de una sociedad democrática, por el<br />

Derecho penal de autor, que abre la puerta al autoritarismo.<br />

A su vez, consideró que la preservación de la peligrosidad en<br />

las legislaciones penales internas es contraria a los derechos<br />

humanos y por ende, a la propia CADH.<br />

Para Guzmán, lo más importante del fallo es que se afirma<br />

enfáticamente la completa e insanable contradicción entre el<br />

concepto de peligrosidad aplicado a la persona, por una parte,<br />

y, por otra, la legalidad de delitos y penas. La principal crítica<br />

que se hace al fallo es que la Corte IDH no se pronunció<br />

sobre el problema del fin de la pena.<br />

A juicio del autor, la decisión en el Caso Fermín Ramírez<br />

debe llevar a dos reformas positivas en la legislación penal<br />

latinoamericana. En primer lugar, debe iniciar una reforma<br />

penal y procesal penal para abolir los elementos de la<br />

peligrosidad que aún persisten en los Códigos, especialmente<br />

en lo relativo a medidas cautelares, la reincidencia, la determinación<br />

de las penas y los delitos de posición o sospecha,<br />

entre otros. En segundo lugar, este fallo debe servir para<br />

contener la tendencia de extender la custodia de los delincuentes<br />

“peligroso” en instituciones como la cadena perpetua,<br />

la sentencia indeterminada y otras medidas que resultarían<br />

contrarios a un real principio de legalidad penal.<br />

Finalmente, Guzmán hace un llamado a que el derecho<br />

penal erradique las visiones deterministas y que la noción de<br />

responsabilidad penal, fundada en que el sujeto, en las<br />

condiciones concretas en que versó al delinquir, podía actuar<br />

según las exigencias del ordenamiento jurídico, vuelve a<br />

tener un rostro humano. En este sentido, hace un llamado<br />

para reivindicar el sentido de la pena a fin de no verla como<br />

un instrumento de venganza o de enseñanza a los demás, sino<br />

como la expresión simbólica del reproche por actos que<br />

ofenden un sistema preexistente de bienes jurídicos.<br />

El Prof. Dr. Alfredo Chirino (Universidad de Costa Rica)<br />

realizó un análisis del derecho del imputado a recurrir una<br />

sentencia, a la luz de lo establecido en el Art. 8.2 h) de la<br />

CADH y de lo dispuesto por la Corte IDH en el Caso Herrera<br />

Ulloa. De forma complementaria, el autor hace una reflexión<br />

sobre el futuro de los recursos de apelación y casación en<br />

América Latina vis-à-vis la lucha frontal contra la criminalidad.<br />

El derecho a recurrir la sentencia no sólo es un medio de<br />

alcanzar una sentencia justa y legal, sino también un<br />

mecanismo para lograr principios valiosos derivados de la<br />

legalidad criminal, intrínsecamente ligados al respeto de la<br />

dignidad humana. En el Caso Herrera Ulloa, que versa sobre<br />

el recurso de casación en Costa Rica, la Corte IDH determinó<br />

que las legislaciones internas deben garantizar un examen<br />

integral de la decisión recurrida, de todas las cuestiones<br />

debatidas y analizadas por el tribunal inferior, en especial, de<br />

la pena impuesta.<br />

Es decir, la Corte IDH favorece una revisión integral de la<br />

decisión y no únicamente de los problemas derivados de los<br />

errores de hecho o de derecho, sino que se requiere un<br />

análisis más amplio del fallo que garantice que hasta los<br />

elementos que repercutían en la medición y determinación de<br />

la pena puedan ser sopesados por un tribunal superior.<br />

A través de esta “nueva” casación se podría lograr un<br />

control efectivo de estos instrumentos de investigación y<br />

generar eficiencia y eficacia en el combate de estos eventuales<br />

vicios. Sin embargo, Chirino considera que se debe iniciar<br />

un debate para la ampliación del derecho de impugnar una<br />

sentencia pero tomando en cuenta los efectos nocivos que<br />

dicha reforma podría tener en la prolongación del proceso<br />

penal y la extensión excesiva de la detención preventiva.<br />

A raíz del Caso Herrera Ulloa, se ha puesto en debate la<br />

figura de la casación y si esta sentencia ha impulsado una<br />

casación convertida en apelación. Independiente de lo<br />

anterior, el autor llama la atención a la probable pérdida del<br />

equilibrio entre el derecho a recurrir una sentencia, conforme<br />

a los estándares internacionales, y la duración del proceso.<br />

Esta situación puede ser de especial gravedad en la persecución<br />

de crímenes internacionales.<br />

Como conclusión, la casación, pero también la apelación<br />

y la revisión de la sentencia, se encuentran en un momento<br />

difícil ante estos retos de la política criminal. Por una parte<br />

debe contarse con un proceso penal que llegue a una fijación<br />

de una verdad procesal lo más pronto posible, pero también<br />

debe proveer los medios para una discusión lo más amplia<br />

posible de la causa, y con medios posibles para alcanzar una<br />

aplicación justa y humana del derecho.<br />

El Prof. Dr. Juan Luis Modolell (Universidad Católica<br />

Andrés Bello) investigó el tratamiento de la detención preventiva<br />

por la Corte IDH. En líneas generales, la CIDH ha<br />

considerado que la detención preventiva (i) sólo es aplicable<br />

cuando sea estrictamente necesaria, dentro de un marco<br />

general de tratar al inculpado de manera consecuente con la<br />

presunción de inocencia (Caso Bulacio o Caso Acosta Calderón,<br />

entre otros); (ii) es la medida más severa que se le puede<br />

aplicar a un detenido, de allí su carácter excepcional (Caso<br />

Servellón García); (iii) es una medida cautelar, no punitiva<br />

(Caso Suárez Rosero) por lo tanto, la detención preventiva no<br />

puede constituir un adelantamiento de la punibilidad; y (iv)<br />

está limitada por el principio de legalidad, la presunción de<br />

inocencia, la necesidad y proporcionalidad, de acuerdo con lo<br />

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Salvador Herencia Carrasco<br />

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que es estrictamente necesario en una sociedad democrática<br />

(Caso Bayarri).<br />

De especial interés fue determinar si es que la detención<br />

preventiva es compatible con la presunción de inocencia.<br />

Sobre este punto, la jurisprudencia de la CIDH ha evolucionando<br />

a modo de incorporar los indicios de culpabilidad. En<br />

el Caso Suárez Rosero, la Corte solo justifica la prisión<br />

preventiva únicamente por razones procesales, es decir, para<br />

impedir la evasión de la justicia y para desarrollar eficientemente<br />

la investigación penal. Sin embargo, a partir del Caso<br />

Servellón García, se pasa a exigir indicios de participación<br />

para decretar la detención preventiva. Dicha autoría no<br />

implica una simple relación material con el hecho sino un<br />

vínculo valorativo con el mismo. De lo anterior se puede<br />

concluir que no se exige la simple relación material entre una<br />

persona y un hecho, sino una relación de imputación, por lo<br />

que los elementos de convicción llevan a pensar de forma<br />

verosímil que la persona pudiera ser responsable del hecho.<br />

Ante esta posición de la Corte IDH, la compatibilidad<br />

entre la presunción de inocencia y la naturaleza no punitiva<br />

de la detención preventiva solo se da si se toma en cuenta que<br />

la prisión preventiva pueda ser revocada si se desvirtúan los<br />

motivos que fundamentaron acordarla. Finalmente, Modolell<br />

concluye afirmando que la detención preventiva debe estar<br />

subordinada al proceso penal, es decir, a asegurar la presencia<br />

del imputado en el juicio, evitar el entorpecimiento de la<br />

investigación y garantizar la ejecución penal. Por lo tanto, la<br />

duración razonable depende de cada proceso, según su<br />

complejidad y la necesidad de la detención.<br />

El Prof. Dr. Marcos Coelho Zilli, la Prof. Dra. Maria<br />

Thereza Rocha de Assis Moura y la Prof. Fabiola Girão<br />

Monteconrado (Instituto Brasileiro de Ciências Criminais y<br />

Universidade de São Paulo) desarrollaron un estudio en torno<br />

al ne bis in idem y la cosa juzgada fraudulenta a raíz de las<br />

sentencias de la Corte IDH relativos a casos sobre graves<br />

violaciones a los derechos humanos y crímenes de lesa<br />

humanidad.<br />

La cosa juzgada y la garantía del ne bis in idem tienen una<br />

interrelación consagrada en los principios rectores de un<br />

Estado de Derecho, el cual está reconocido en tratados<br />

internacionales, incluyendo el Art. 8.4 de la CADH. Sin<br />

embargo, cuando se está frente a casos de potenciales crímenes<br />

internacionales, ambos principios son relativizados,<br />

dado que las garantías de preservación de la libertad individual<br />

frente al poder punitivo ceden en casos referidos a la<br />

lucha contra la impunidad.<br />

Esta relativización no es automática y está circunscrita al<br />

cumplimiento de determinados requisitos. En el caso del<br />

Estatuto de Roma, se puede revisar un caso cuando la CPI, de<br />

forma discrecional, considere que un proceso no haya sido<br />

conducido de forma imparcial o se haya realizado con la<br />

intención de evitar que la persona sea sometida al accionar de<br />

la justicia. Esta tendencia ha sido también llevada a cabo por<br />

la Corte IDH, bajo el concepto de cosa juzgada aparente o<br />

fraudulenta.<br />

Los casos que la Corte IDH ha analizado la figura de la<br />

cosa juzgada fraudulenta han tenido que ver con situaciones<br />

de graves violaciones a los derechos humanos, torturas,<br />

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968<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

desapariciones forzadas o ejecuciones extrajudiciales (Caso<br />

Loayza Tamayo, Caso Gutiérrez Soler) en los cuales la<br />

restricción a la regla de la cosa juzgada y del ne bis in idem<br />

fue uno de los mecanismos encontrados para viabilizar la<br />

punición de los agentes responsables, llevando a que la Corte<br />

IDH legitime la limitación de otros derechos humanos (de los<br />

imputados) como forma de asegurar y posibilitar la persecución<br />

penal nacional. En el Caso Almonacid Arellano, la Corte<br />

IDH además determinó que una sentencia absolutoria genuina<br />

y firme pierde el atributo de cosa juzgada cuando se presentan<br />

nuevos hechos o pruebas contra el imputado.<br />

Llama la atención del IBCCRIM que la Corte IDH no<br />

formule una serie de requisitos y elementos que permitan la<br />

relativización del ne bis in idem y de la cosa juzgada de<br />

forma excepcional, sino que estos varían de acuerdo al caso<br />

concreto. Lo que podría considerarse como una situación<br />

especial cuando se está frente a graves violaciones a los<br />

derechos humanos o crímenes internacionales, se ha visto<br />

ampliada a otras situaciones. Esto quedó de manifiesto en el<br />

Caso Escher, el cual trata sobre la preservación de privacidad<br />

e intimidad sobre conversas telefónicas en un régimen<br />

democrático, dónde la Corte IDH llegó a valorar las pruebas<br />

admitidas por los jueces brasileños. Lo preocupante de esta<br />

ampliación de la cosa juzgada fraudulenta es que puede<br />

afectar negativamente la actuación de instituciones nacionales<br />

que actúan en regímenes democráticos.<br />

El abogado César Alfonso Larangeira (Universidad Nacional<br />

de Asunción y becario de la DAAD en la Universidad<br />

de Münster, Alemania) analizó el principio de coherencia y el<br />

de iura novit curia en la jurisprudencia de la Corte IDH,<br />

especialmente a la luz de lo expuesto en el Caso Fermín<br />

Ramírez. La Corte IDH establece que independientemente de<br />

la configuración de los sistemas procesales penales internos,<br />

el fundamento de estos principios se encuentra en los<br />

Arts. 8.2 b) y c) de la Convención, siendo de obligatorio<br />

cumplimiento para todos los Estados Parte.<br />

Para la Corte IDH, el principio de coherencia establece<br />

que la sentencia puede tratar únicamente sobre hechos o<br />

circunstancias contemplados en la acusación penal. Sin embargo,<br />

reconoce el principio iura novit curia, permitiendo al<br />

juez, bajo circunstancias especiales, fallar recurriendo a una<br />

calificación jurídica distinta a la de la acusación o a la de la<br />

resolución que decide la apertura al procedimiento principal.<br />

Al hacer el análisis de ambos principios, esto implicaría que<br />

mientras el principio de coherencia se desprende del derecho<br />

de defensa, el principio iura iura novit curia en cabeza del<br />

juez se encuentra limitado por el principio de congruencia y<br />

el derecho de defensa.<br />

Por lo tanto, la Corte IDH reconoce la facultad del juez de<br />

modificar la calificación contenida en la acusación, pero la<br />

posibilidad de esta modificación debe ser comunicada de<br />

manera oportuna y directa, es decir, el imputado no debe<br />

enterarse de la nueva calificación al momento de conocer la<br />

sentencia o la decisión. El imputado debe contar ante esta<br />

situación con la posibilidad de ejercer sus derechos de defensa<br />

de manera práctica y efectiva. En este contexto entra en<br />

consideración la concesión de un tiempo suficiente para la


El Sistema Interamericano de Protección de los Derechos Humanos y el Derecho Penal Internacional<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

preparación de la defensa, de acuerdo con lo establecido en el<br />

Art. 8.2 c).<br />

Algunas de las hipótesis mencionadas por la Corte que<br />

ameritaría esto serían: (i) circunstancias nuevas con respecto<br />

a los momentos subjetivos del autor, específicamente cuando<br />

surgen circunstancias que pasan la atención de un hecho<br />

culposo a un hecho doloso; y (ii) cuando aparecen circunstancias<br />

no mencionadas en la acusación que permiten agravar<br />

la pena.<br />

De acuerdo con Alfonso, estas disposiciones legitiman a<br />

favor del acusado la exigencia de que el juez, por regla<br />

general, no se aparte de los hechos y la calificación que<br />

fueron previamente impuestos al acusado. Sin embargo, ante<br />

la aparición de una nueva circunstancia fáctica con la<br />

posibilidad de transcender a la sentencia o la posibilidad de<br />

una nueva calificación, el acusado debe, en virtud al Art. 8.2<br />

b) de la CADH, ser impuesto en forma precisa y oportuna de<br />

esta posibilidad.<br />

15. El Dr. Pablo Galain (Instituto Max Planck para<br />

Derecho Penal Internacional y Extranjero de Friburgo y<br />

Universidad Católica del Uruguay) trabajó la dimensión<br />

individual y colectiva del derecho a la verdad frente a la<br />

obligación del Estado en perseguir las graves violaciones a<br />

los derechos humanos.<br />

En un inicio, el derecho a la verdad se limitó a que las<br />

víctimas, o sus familiares, de ejecuciones sumarias, desapariciones<br />

forzadas, secuestro de menores o torturas, tienen un<br />

derecho de saber o conocer qué es lo que sucedió (Caso<br />

Castillo Paéz). Posteriormente este derecho adquiere una<br />

dimensión colectiva a causa del terrorismo de Estado y de las<br />

masacres contra grupos en contextos de estados de excepción<br />

(Caso Masacre Pueblo Bello). El carácter colectivo de este<br />

derecho también se desprende de la naturaleza masiva o<br />

sistemática de las violaciones a los derechos humanos, así<br />

como de la naturaleza del bien jurídico protegido, del tipo<br />

penal realizado y de la gravedad de la violación.<br />

Para Galain, los problemas comienzan cuando este<br />

derecho a la verdad no se legitima de forma autónoma sino a<br />

través de una vinculación con la justicia penal y con la<br />

obligación estatal de persecución de los responsables de los<br />

crímenes de lesa humanidad. Por ende, el autor considera que<br />

el derecho de la víctima a conocer lo sucedido y a participar<br />

del proceso de construcción de la verdad puede ser satisfecho<br />

por medios judiciales y/o extrajudiciales.<br />

Cuando se trata de la investigación y castigo de CLH en<br />

procesos de transición, la verdad sobre lo sucedido no se<br />

asemeja a la verdad material u objetiva requerida para la<br />

imputación de responsabilidad penal, sino que es una verdad<br />

políticamente construida, el producto de un acuerdo sobre<br />

hechos pasados que son muy sensibles a una sociedad<br />

enfrentada por un pasado violento. Como toda construcción,<br />

ella será una verdad parcial o subjetiva porque deriva de un<br />

proceso (político) de entendimiento, que sólo se acerca a la<br />

verdad surgida de un procedimiento penal en cuanto se trata<br />

de un procedimiento de averiguación de hechos que luego<br />

serán objeto de una interpretación subjetiva que determine el<br />

cómo sucedieron los hechos.<br />

En este contexto, la Corte IDH debería recurrir a juicios<br />

de proporcionalidad para determinar cuando el derecho de las<br />

víctimas a conocer la verdad puede amparar un castigo sin<br />

resentir el derecho a la reparación en sentido amplio, y<br />

determinar si el conocimiento de la verdad puede ser obtenido<br />

por alguna medida menos grave que el derecho penal,<br />

siempre y cuando no se trate de los principales responsables<br />

ni de los crímenes más graves.<br />

Como conclusión, Galain considera que no existe una<br />

relación de medio a fin entre el conocimiento de los hechos<br />

(verdad) y el castigo penal. El derecho a saber y conocer la<br />

verdad sobre un determinado momento histórico, no se<br />

desprende y legitima de un derecho a castigar. El castigo,<br />

además de merecido, tiene que ser necesario en el sentido<br />

actual dominante de la teoría de la pena. El conocimiento de<br />

la verdad no depende de esta decisión puntual en un caso<br />

concreto, ni tampoco es la legitimación del castigo. El castigo<br />

no depende del conocimiento de la verdad ni se fundamenta<br />

en él. El conocimiento de la verdad no implica en todos los<br />

casos el castigo penal. Entre verdad y castigo hay una<br />

relación que no puede negarse, pero debe quedar claro que el<br />

derecho a conocer la verdad no se realiza únicamente a través<br />

del castigo.<br />

El abogado Jaime Martínez (Corte Suprema de Justicia de<br />

El Salvador) contextualizó la jurisprudencia de la Corte IDH<br />

frente a los estados de excepción, el cual se encuentra<br />

regulado por el Art. 27 de la CADH. De especial interés fue<br />

identificar qué es lo que la Corte entiende por garantías judiciales<br />

indispensables. Los casos tratados por la Corte son<br />

principalmente aquellos llevados a cabo contra el Perú pero<br />

es en un caso contra Ecuador (Caso Zambrano Vélez) en el<br />

cual se da un mayor desarrollo de los principios que rigen un<br />

estado de excepción.<br />

El lineamiento base de la Corte en su análisis de los<br />

estados de emergencia se encuentra en la Opinión Consultiva<br />

OC-9/87. En dicha decisión, la Corte IDH determina que las<br />

garantías judiciales indispensables no susceptibles de suspensión<br />

bajo estados de excepción son el hábeas corpus<br />

(Art. 7.6), el amparo o a cualquier recurso sencillo, rápido y<br />

efectivo, (Art. 25.1) entiendo ambas consideradas dentro del<br />

marco establecido del respeto al debido proceso (Art. 8).<br />

Luego la Corte incluye la protección de los procedimientos<br />

inherentes a la forma democrática representativa de gobierno,<br />

previstos en el derecho interno de los Estados (Art. 29.c).<br />

Al hacer un examen de los casos contenciosos de la Corte<br />

IDH, Martínez concluye que en algunos casos se determinó la<br />

responsabilidad internacional del Estado debido a la vigencia<br />

de ciertos decretos emanados del Poder Ejecutivo que si bien<br />

no prohíben explícitamente las garantías o recursos del<br />

hábeas corpus y otras garantías judiciales no susceptibles de<br />

suspensión, en la práctica el mismo se vio suspendido de<br />

hecho por su pérdida de eficacia como efecto de dicha<br />

normatividad (Caso Neira Alegría, Caso Castillo Petruzzi).<br />

En otros fallos, la Corte reitera que la tortura está prohibida<br />

en situaciones regidas por el Art. 27 de la Convención (Caso<br />

Hermanos Gómez Paquiyauri).<br />

No obstante esa importante protección con relación al<br />

hábeas corpus y otras garantías judiciales, en el Caso Durand<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

969


Salvador Herencia Carrasco<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

y Ugarte, la Corte se contradice en cuanto a la protección<br />

explícita de las garantías judiciales indispensables no susceptibles<br />

de suspensión bajo estados de excepción, ya que a<br />

pesar de reconocer en la parte expositiva de su sentencia la<br />

violación del Art. 27.2 de la CADH que prohíbe la suspensión<br />

de varias garantías, en la parte resolutiva no determina la<br />

violación a dicha disposición.<br />

Sin embargo, en el Caso Zambrano Vélez, la Corte supera<br />

esas incoherencias, ya que tanto en la parte expositiva de sus<br />

sentencias como en su parte resolutiva, determina que el<br />

Estado parte violó una serie de obligaciones que la CADH<br />

impone para decretar los estados de excepción, entre ellas la<br />

prohibición de afectar las garantías judiciales indispensables<br />

que proclama el Art. 27.2 de la Convención (principio de<br />

intangibilidad), así como los principios de notificación,<br />

excepcionalidad, temporalidad, necesidad y proporcionalidad<br />

que deben regir a dichos estados de excepción.<br />

Finalmente, el autor concluye que la jurisprudencia de la<br />

Corte IDH pueda llegar a influir las decisiones de otros<br />

tribunales internacionales relacionados con la protección de<br />

los derechos humanos, en particular la Corte Penal Internacional.<br />

El Prof. Ramiro García (Universidad Central de Ecuador)<br />

presentó la adecuación del derecho interno al Derecho<br />

Internacional en el sistema interamericano, especialmente en<br />

lo referido a las leyes penales. Tomando en cuenta lo dispuesto<br />

por el Art. 68.1 de la CADH, los Estados deben<br />

garantizar el cumplimiento de las disposiciones convencionales<br />

y sus efectos propios en el plano de sus respectivos<br />

derechos internos. Sin embargo, ante la complejidad de las<br />

disposiciones ordenadas por la Corte IDH, especialmente en<br />

los casos de violaciones graves a los derechos humanos o<br />

crímenes de lesa humanidad, la efectividad del cumplimiento<br />

puede verse condicionada a las reformas legislativas o institucionales<br />

que este tribunal pueda llegar a ordenar.<br />

Para García, uno de los problemas que la Corte ha tenido<br />

que afrontar es con respecto a la tipificación de tipos penales<br />

como el terrorismo (Caso Loayza Tamayo) o el de traición a<br />

la patria (Caso Castillo Petruzzi) , siendo los casos contra el<br />

Perú el principal exponente de esta práctica. En estos casos,<br />

la Corte IDH ha señalado que la existencia de elementos<br />

comunes y la imprecisión en el deslinde entre ambos tipos<br />

penales afecta la situación jurídica de los inculpados en<br />

diversos aspectos: la sanción aplicable, el tribunal del conocimiento<br />

y el proceso correspondiente. La Corte determinó que<br />

estas disposiciones eran contrarias al Art. 9 de la CADH,<br />

referido al principio de legalidad. En estos casos, el Tribunal<br />

Constitucional declaró la inconstitucionalidad de los decretos<br />

leyes que regulaban estos delitos, ordenando al Congreso la<br />

adopción de una nueva legislación sobre la materia.<br />

Otra situación que la Corte IDH ha tenido que lidiar son<br />

las normas internas sobre la amnistía. En este sentido, el Caso<br />

Barrios Altos es uno de las sentencias más emblemáticas de<br />

este tribunal, en el cual se determina la inadmisibilidad las<br />

disposiciones de amnistía, las disposiciones de prescripción y<br />

el establecimiento de excluyentes de responsabilidad que<br />

pretendan impedir la investigación y sanción de los responsables<br />

de las violaciones graves de los derechos humanos. La<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

970<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

regla de este fallo ha sido aplicada en varios casos,<br />

incluyendo el Caso Almonacid Arellano.<br />

En lo referido a las reformas legislativas, el autor<br />

demuestra que la Corte IDH también ha llegado a abordar la<br />

necesidad de que los Estados reformen normas constitucionales<br />

que sean contrarias a la CADH. Esto se dio en el Caso<br />

Caesar, en el cual la Corte tuvo que determinar si la orden un<br />

tribunal de Trinidad y Tobago que ordenaba una sanción de<br />

castigo corporal era compatible con la CADH. La Corte<br />

determinó que al ser este castigo una forma de trato cruel,<br />

inhumano y degradante, esta no podía ser aplicada, una vez<br />

que la Convención entrara en vigor para dicho país. Aludiendo<br />

disposiciones constitucionales internas, Trinidad y<br />

Tobago no podía reformar esta norma. Como consecuencia,<br />

la Corte ordenó enmendar la Constitución, decisión que no ha<br />

sido atendida.<br />

La Prof. Elizabeth Santalla (Universidad Católica Boliviana)<br />

trabajó el agotamiento de recursos internos vis-à-vis el<br />

principio de subsidiaridad en la CADH y el principio de<br />

complementariedad en el Estatuto de Roma. Si bien la Corte<br />

IDH y la CPI tratan sistemas de responsabilidad internacional<br />

distintos en cuanto a su naturaleza, la regla del agotamiento<br />

de recursos internos funciona esencialmente sobre la base del<br />

escrutinio de la efectividad y el carácter genuino de los<br />

procedimientos nacionales. En este sentido, la autora considera<br />

que la interpretación de la Corte IDH con relación a la<br />

obligación del Estado de investigar, procesar y, en su caso,<br />

sancionar graves violaciones a los derechos humanos puede<br />

ser de utilidad para el desarrollo de la interpretación de los<br />

criterios de admisibilidad en el contexto de la CPI.<br />

Un elemento común a ambas jurisdicciones para determinar<br />

si se puede asumir competencia sobre un caso, aun<br />

cuando no se hayan cumplido con la regla del agotamiento<br />

de los recursos internos, es el relativo a los estándares del<br />

debido proceso (OC -11/90 Excepciones al Agotamiento de<br />

los Recursos Internos). Sea por la falta de voluntad o sea por<br />

la incapacidad de los Estados por actuar, la dilatación<br />

injustificada de procesos, la realización de juicios falsos o<br />

aparentes o cuando los procedimientos internos son incapaces<br />

de asegurar un juicio justo, son ejemplos de situaciones que<br />

legitimarían la actuación de estos tribunales, haciendo una<br />

conexión en lo establecido en el Art. 46.2 de la CADH con el<br />

Art. 17.2 del Estatuto.<br />

En la Corte IDH, existe una línea jurisprudencia para<br />

determinar la aplicación de la regla del agotamiento de<br />

recursos internos y del principio de complementariedad.<br />

Estos son para casos que versan sobre: (i) situaciones de<br />

denegación de justicia (Caso Castillo Petruzzi); (ii) violaciones<br />

masivas a los derechos humanos (Caso Velásquez<br />

Rodríguez, Caso Godínez Cruz); (iii) la existencia o no de un<br />

recurso interno efectivo (Caso Castillo Paéz); y (iv) la<br />

inexistencia del debido proceso legal (Caso Castillo Petruzzi).<br />

Al analizar la jurisprudencia emergente de la CPI en<br />

cuestiones de admisibilidad, Santalla determina que el puente<br />

hacia la jurisprudencia de la Corte IDH se da a través del<br />

Art. 21.3 del Estatuto de Roma, el cual determina que la<br />

aplicación e interpretación del derecho aplicable por parte de


El Sistema Interamericano de Protección de los Derechos Humanos y el Derecho Penal Internacional<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

la CPI deberá ser compatible con los derechos humanos<br />

internacionalmente reconocidos. A través de esta norma, la<br />

CPI ha empleado (Caso Lubanga) las reglas del agotamiento<br />

de recursos internos desarrolladas por la Corte IDH,<br />

siguiendo con el cross-fertilization process que los tribunales<br />

internacionales vienen aplicando de forma progresiva.<br />

IV. Conclusión<br />

Los órganos del sistema interamericano de protección de<br />

derechos humanos, especialmente la Corte IDH, ha desarrollado<br />

una jurisprudencia que ha permitido la persecución<br />

penal de crímenes internacionales. Independientemente de las<br />

deficiencias argumentativas, las contradicciones, el overarching<br />

approach de los derechos humanos hacia instituciones<br />

del derecho penal internacional y derecho internacional<br />

humanitario, así como la transformación que ha experimentado<br />

a lo largo de sus treinta y un años de existencia, si no<br />

hubiese una Corte IDH, gran parte de las reformas legales e<br />

institucionales que ha experimentado América Latina no<br />

hubiesen sido posible.<br />

La posición de la mayoría de los miembros del grupo es<br />

crítica de la labor de la Corte IDH. Esto debe ser visto como<br />

un elemento positivo y un llamado a que este órgano<br />

reexamine algunas prácticas que permita su consolidación<br />

como un tribunal de excepción que debe velar por el respeto<br />

de la CADH. De los dieciocho informes reseñados de forma<br />

sumamente breve en este informe, las conclusiones comunes<br />

podrían ser: (i) el llamado al equilibrio entre las fuentes<br />

jurídicas utilizadas; (ii) la necesidad de contar con un<br />

desarrollo más técnico de las normas de derecho penal y<br />

derecho penal internacional; (iii) la abolición de términos<br />

ambiguos carentes de contenido cierto (“conciencia jurídica<br />

universal” o “moral de las naciones”); y (iv) a la revisión del<br />

sistema de reparaciones que se ha desarrollado jurisprudencialmente.<br />

En este orden de ideas, un aspecto de la jurisprudencia de<br />

la Corte IDH que debería ser revisada (y del cual existe un<br />

consenso por parte de todos los integrantes del Grupo) es la<br />

tendencia a convertir el derecho penal como un instrumento<br />

de venganza o retaliación, en desmedro del carácter excepcional<br />

que el poder punitivo del Estado debe tener.<br />

Esto es de especial relevancia ahora que la Corte IDH<br />

deberá conocer casos de posibles violaciones sistemáticas a<br />

los derechos humanos en Brasil, Uruguay y el caso de la<br />

Unión Patriótica en Colombia, el cual tendrá el mayor<br />

número de víctimas acreditadas en un solo caso.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

971


Fernandes, Das portugiesische Strafgesetzbuch Nóbrega<br />

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_____________________________________________________________________________________<br />

972<br />

B u c h r e z e n s i o n<br />

João Manuel Fernandes, Das portugiesische Strafgesetzbuch<br />

– Código Penal Português, Verlag Duncker & Humblot,<br />

Berlin 2010, VIII, 286 S., € 45,-<br />

I. Zu Rezensionswerk und dessen Akteuren<br />

In dieser Rezension wird die zweisprachige Ausgabe des<br />

portugiesischen Strafgesetzbuchs in portugiesischer und<br />

deutscher Sprache behandelt. Eine Kodifikation zu rezensieren<br />

ist zugegebenermaßen außergewöhnlich und wird hier<br />

nicht angestrebt. Diese Rezension beschäftigt sich grundsätzlich<br />

mit der Einführung in das portugiesische Strafrecht von<br />

Dr. iur. João Manuel Azevedo Alexandrino Fernandes und<br />

dessen Bezügen auf den von ihm meisterhaft übersetzten<br />

Gesetzestext. Neben der Einführung und dem in beiden Sprachen<br />

gegenüber gestellten Gesetzestext umfasst das gesamte<br />

Werk Danksagungen, sowie <strong>Inhalt</strong>s- und Stichwortverzeichnisse.<br />

Es erschien in der Schriftenreihe des Max-Planck-<br />

Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht als<br />

Band G122 der Sammlung ausländischer Strafgesetzbücher<br />

in deutscher Übersetzung, herausgegeben von Prof. Dr. Dr.<br />

h.c. mult. Ulrich Sieber und Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jörg<br />

Albrecht mit Redaktion von Dr. Barbara Huber.<br />

Zu den Tätigkeiten von Dr. João Manuel Fernandes zählen<br />

Lehraufträge u.a. an der Juristischen Fakultät der Universität<br />

Tübingen, sowie jahrelange Erfahrungen als Rechtsanwalt<br />

und als Dozent an der Universidade Portucalense in<br />

Portugal. Hervorzuheben sind noch seine Interessen für die<br />

Rechtsphilosophie sowie die Terminologie der portugiesischen<br />

und spanischen Rechtssprachen. 1<br />

II. Zur Einleitung in das portugiesische Strafrecht<br />

Für die nichtoffizielle Übersetzung einer Kodifikation bzw.<br />

von Teilen davon kann im Grunde genommen nur zwischen<br />

zwei Wegen gewählt werden: entweder eine systematische<br />

Einführung zu verfassen und anschließend den übersetzten<br />

Gesetzestext vorzulegen oder den übersetzten Gesetzestext<br />

mit zahlreichen Anmerkungen in Form von Fußnoten oder<br />

Randkommentaren zu erläutern bzw. zu vervollständigen.<br />

Das vorliegende Rezensionswerk wählt richtigerweise den<br />

ersten Weg und stellt Entstehung, Entwicklung und aktuelle<br />

Reformen des portugiesischen Strafrechts in einer Einführung<br />

ausführlich und kompetent dar.<br />

Seine Einführung beginnt Fernandes sogleich mit dem<br />

Hinweis auf den Reformbedarf im Straf- und Strafprozessrecht<br />

in Portugal angesichts der „Ineffizienz der strafrechtlichen<br />

Reaktion auf neue Kriminalitäts- und Entwicklungsformen<br />

der Gesellschaft“ (S. 1) und infolgedessen die Notwendigkeit<br />

einer grundlegenden Reform des Código Penal und<br />

des Código de Processo Penal, die 2007 in Kraft getreten ist.<br />

Die Geschichte des Strafgesetzbuches ist das folgende<br />

Thema in der Einführung (S. 1-5). Hier wird dem Leser klar<br />

gemacht, dass die Entstehung des geltenden Strafgesetzbuches<br />

von 1982 sowohl auf der Rezeptionsgeschichte als auch<br />

1<br />

Für Details s. http://www.jura.uni-tuebingen.de/ professoren_und_dozenten/fernandes/JMFernandes.<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2011<br />

auf früheren nationalen Gesetzeswerken beruht. In diesem<br />

Sinn wurde die moderne Zeit in Portugal vom Zeitgeist der<br />

französischen Aufklärung sowie von den Ideen u.a. von<br />

Beccaria und Feuerbach entscheidend geprägt. Ausländische<br />

Kodifikationen galten gleichfalls als Vorbild für den portugiesischen<br />

Gesetzgeber, wie der französische Code Pénal von<br />

1810 und dessen Einwirkungen u.a. auf den brasilianischen<br />

Código Criminal von 1830 (S. 4). 2 Letztendlich wurden die<br />

königlichen Gesetzessammlungen (Ordenações Filipinas von<br />

1603) in ihrer strafrechtlichen Materie endgültig mit dem<br />

ersten modernen Strafgesetzbuch von 1852 3 außer Kraft<br />

gesetzt. 4 Danach folgte das Strafgesetzbuch von 1886 5 , das<br />

als eine reformierte Fassung des Strafgesetzbuches von 1852<br />

wahrgenommen wird (S. 5). 6 Schließlich verweist Fernandes<br />

auf die Vorarbeiten von Eduardo Correia und die Verabschiedung<br />

des geltenden portugiesischen Gesetzbuches von<br />

1982 durch Decreto-Lei 400/82 v. 23.9.1982 (S. 5).<br />

Die Einführung wird gemäß der Systematik des Código<br />

Penal von 1982 fortgeführt, d.h. entsprechend der Einteilung<br />

in einen Allgemeinen Teil (S. 5-16) und einen Besonderen<br />

Teil (S. 16-26). Die Systematik und Einteilung des StGB als<br />

solche werden für den deutschsprachigen Leser genauer erläutert<br />

(S. 5-6).<br />

Zum Allgemeinen Teil (Art. 1-130) erklärt Fernandes,<br />

dass das portugiesische Recht der Unterscheidung zwischen<br />

Verbrechen und Vergehen nicht gefolgt sei, sodass von nur<br />

zwei Arten von Delikten auszugehen ist, nämlich den Straftaten<br />

in dem Strafgesetzbuch bzw. in zahlreichen Sondergesetzen<br />

und den Ordnungswidrigkeiten i.d.F. des Decreto-Lei<br />

433/82 v. 27.10.1982. Im Código Penal geht es also um „crime“<br />

und nicht um die „contra-ordenações“. Fernandes begründet<br />

seine Übersetzung vom Terminus „crime“ als „Straftat“<br />

und nicht als „Verbrechen“ zusätzlich in einer Fußnote<br />

2<br />

Es ist meines Erachtens noch nicht ausführlich erforscht<br />

worden, inwieweit das brasilianische Recht seinerseits das<br />

Mutterlandsrecht beeinflusst hat. Sicher ist nur, dass die fortdauernden<br />

intensiven Verflechtungen zwischen dem portugiesischen<br />

und dem brasilianischen Recht Anlass für die<br />

aktuelle Diskussion über die Eigenständigkeit der Rechtsfamilie<br />

der lusophonen Rechte geben, vgl. Jayme, IPRax 2011,<br />

199, mit Hinweis auf Nordmeier, RabelsZ 74 (2010) 230 f.<br />

Mit diesem Thema beschäftigt sich u.a. das in Lissabon neu<br />

gegründete Instituto do Direito de Língua Portuguesa<br />

(http.//www.idipl.net).<br />

3<br />

Decreto v. 10.12.1852.<br />

4<br />

Es ist jedoch immer noch von Interesse zu sagen, dass die<br />

Reform von 2007 gleichermaßen das Strafrecht und das<br />

Strafprozessrecht betrifft, so wie damals die „königlichen<br />

Ordonnanzen“, die beide Materien umfassten.<br />

5<br />

Decreto v.16.9.1886.<br />

6<br />

Vom Código Penal von 1886 gibt es zwei Fassungen in<br />

deutscher Sprache: Zander, Das Portugiesische Strafgesetzbuch,<br />

1903 (mit Einleitung von Zander), die in dem Rezensionswerk<br />

unerwähnt geblieben ist, und Basedau, Das Portugiesische<br />

Strafgesetzbuch vom 16. September 1886, 1962<br />

(mit Einleitung von José Beleza dos Santos), siehe dazu S. 4,<br />

Fn. 12.


Fernandes, Das portugiesische Strafgesetzbuch Nóbrega<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

(Fn. 21), die leider aufgrund eines Druckfehlers nicht mehr<br />

vorhanden ist, denn Fn. 21 ist lediglich die Wiederholung<br />

von Fn. 19 (S. 6-7). Dazu kommen die Erläuterungen der<br />

Prinzipien nulla poena sine lege und nulla poena sine culpa<br />

sowie des Rückwirkungsgebots, die im portugiesischen StGB<br />

Ausdruck finden (S. 7). Portugal gilt bekanntermaßen als<br />

eines der ersten Länder, das die Todesstrafe abgeschafft hat –<br />

hierzu findet sich eine sehr informative Anmerkung vom<br />

Verf. (Fn. 22). Mittlerweile ist sogar auch die lebenslange<br />

Freiheitsstrafe abgeschafft worden, sodass die höchste Freiheitsstrafe<br />

25 Jahre nicht überschreiten kann (S. 7-8). Es<br />

folgen Erläuterungen zu den Konzepten von Schuld und<br />

Irrtum (S. 8-10), Täter (S. 10-13) und Resozialierung (S. 13-<br />

16) und der entsprechenden Vorschriften im Código Penal<br />

sowie ausführliche Hinweise auf die h.L. (nicht nur) in Portugal,<br />

auf das Vorwort des Gesetzgebers zum Strafgesetzbuch<br />

von 1982, auf Urteile des nationalen Obersten Gerichtshofs<br />

(Supremo Tribunal de Justiça) u.v.m. Der Allgemeine Teil<br />

wird im Hinblick auf bereits durchgesetzte wie auch bevorstehende<br />

Reformen analysiert, wie z.B. im Hinblick auf die<br />

Einführung der strafrechtlichen Verantwortung der juristischen<br />

Person in Art. 11 Abs. 2 Código Penal (S. 12).<br />

Der Besondere Teil (Art. 131-386) gilt als „der zentrale<br />

Teil des Gesetzbuchs“ (S. 16), in dem die einzelnen Tatbestände<br />

angesichts des Analogieverbots genauestens formuliert<br />

sind. Dazu zählen nach der Systematik des Código Penal die<br />

Straftaten jeweils gegen die Person, das Vermögen, die kulturelle<br />

Identität bzw. die persönliche Unversehrtheit, das gesellschaftliche<br />

Leben und schließlich den Staat. In der Einleitung<br />

werden einige Straftaten vom Verf. hervorgehoben.<br />

Fernandes widmet sich zuerst der in Portugal hoch umstrittenen<br />

Problematik um den Schwangerschaftsabbruch, der durch<br />

das Gesetz 16/2007 v. 17.4.2007 infolge von erheblicher<br />

Öffentlichkeitsdiskussion sowie zwei Volksabstimmungen<br />

reformiert wurde: der Abbruch der Schwangerschaft kann<br />

nun aufgrund der Entscheidung der Frau gemäß Art. 142,<br />

Abs. 1 lit. e port. StGB straflos bleiben (S. 17-18). Im Weiteren<br />

werden aktuell sozialrelevante Themen erläutert, die<br />

Ausdruck im Código Penal finden, u.a. die verstärke Bekämpfung<br />

der häuslichen Gewalt und der Genitalverstümmelung<br />

von Frauen (S. 18-19), der Umgang mit Informationsschutz<br />

und Computerkriminalität (S. 20-22), Strafmaßnahmen<br />

gegen Diskriminierung aufgrund von Rasse, Religion<br />

oder Geschlecht, einschließlich aufgrund sexueller Orientierung<br />

(S. 22), der neue Tatbestand der Brandstiftung in Waldgebieten<br />

(S. 23), Bekämpfung der organisierten Kriminalität<br />

auch angesichts der Verwendung von Minderjährigen zur<br />

Bettelei (S. 24) und die Strafmaßnahmen gegen das amtsmissbräuchliche<br />

Handeln mit einflussreichen Beziehungen<br />

(S. 25). Der Amtsmissbrauch ist weiterhin ausführlicher<br />

Gegenstand des letzten Kapitels im Código Penal unter der<br />

Rubrik „Straftaten, die in der Ausübung eines öffentlichen<br />

Amtes begangen werden“ (S. 26). Dazu sind inzwischen, wie<br />

vom Verf. aufmerksam vorgewarnt worden ist (vgl. Fn. 31,<br />

58 u. 61), Gesetzesänderungen eingetroffen, wie durch das<br />

Gesetz 40/2010 v. 3.9.2010 und neuerdings durch das Gesetz<br />

4/2011 v. 16.2.2011, sodass die Tatbestände betreffend die<br />

Korruption im öffentlichen Dienst nun neu gefasst und dem-<br />

entsprechend neu zu übersetzen sind. Die vorliegende Übersetzung<br />

des portugiesischen Strafgesetzbuches berücksichtigt<br />

den Stand v. 8.9.2010, die Übersetzungsleistung als solche ist<br />

beispielhaft!<br />

In seiner Schlussbemerkung (S. 26-31) zieht Fernandes<br />

unter Berücksichtigung von unterschiedlichen Berichten,<br />

einschließlich die der Medien und der sog. ständigen Stelle<br />

zur Beobachtung des portugiesischen Justizsystems, 7 kritische<br />

Folgerungen zur Reform des portugiesischen Straf- und<br />

Strafprozessrechts, die zeigen, dass Reformen und Verbesserungen<br />

nicht unbedingt zu verwechseln sind.<br />

III. Fazit<br />

Die durchaus gelungene Übersetzung des portugiesischen<br />

Strafgesetzbuches von Dr. João Manuel Fernandes ist zweifelsohne<br />

für Praxis und Wissenschaft (aber auch Wissenschaftspraxis)<br />

sehr empfehlenswert, nicht zuletzt aufgrund<br />

seiner fachkundigen Einführung mit umfassender Darstellung<br />

der geltenden Kodifikation und wichtigen Stellungnahme<br />

zum Reformprozess. Zum Stichwortverzeichnis lässt sich<br />

allerdings noch sagen, dass es lediglich für den deutschsprachigen<br />

Leser gedacht wurde, sodass nicht alle Möglichkeiten<br />

einer zweisprachigen Ausgabe ausgeschöpft wurden. Das<br />

schadet jedoch keineswegs der Exzellenz dieser wichtigen<br />

Veröffentlichung, die ich mit großer Freude gelesen habe.<br />

Wiss. Mit. José Carlos Nóbrega, European Legal Studies<br />

Institute, Universität Osnabrück<br />

7<br />

Observatório Permanente da Justiça Portugesa<br />

(http://opj.ces.uc.pt) unter wissenschaftlicher Leitung des<br />

Soziologen Prof. Dr. Boaventura de Sousa Santos.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

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