frings. Das Misereor-Magazin 1/2023: Wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Wofür es sich zu kämpfen lohnt: Ein Heft über Demokratie und Menschenrechte. www.misereor.de/magazin
Wofür es sich zu kämpfen lohnt:
Ein Heft über Demokratie und Menschenrechte.
www.misereor.de/magazin
Verwandeln Sie Ihre PDFs in ePaper und steigern Sie Ihre Umsätze!
Nutzen Sie SEO-optimierte ePaper, starke Backlinks und multimediale Inhalte, um Ihre Produkte professionell zu präsentieren und Ihre Reichweite signifikant zu maximieren.
Uganda<br />
Kampf gegen<br />
Vertreibung<br />
Menschenpflichten<br />
Eine Hausordnung<br />
in 19 Artikeln<br />
Runter vom Sofa<br />
Für das, was wir<br />
schützen wollen<br />
<strong>Wofür</strong><br />
<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />
<strong>kämpfen</strong><br />
<strong>lohnt</strong><br />
Ein Heft<br />
über Demokratie<br />
und Menschenrechte
EDITORIAL<br />
INHALT<br />
Menschenrechte fungieren als<br />
kritische Instanz gegen dehumanisierende<br />
Tendenzen in G<strong>es</strong>ellschaften.<br />
Sie geben dem R<strong>es</strong>pekt<br />
vor der Würde d<strong>es</strong> Menschen<br />
Rückendeckung und sind<br />
stets auf Freiheit bezogen. Di<strong>es</strong><br />
gilt nicht nur für bürgerliche und politische Rechte (Religionsfreiheit,<br />
Meinungsfreiheit usw.), sondern ebenso für<br />
wirtschaftliche und soziale Rechte (auf Bildung, Nahrung,<br />
Arbeit usw.). Es geht niemals nur um Versorgungsansprüche,<br />
sondern immer um den ganzheitlichen Menschen.<br />
So lässt <strong>sich</strong> das Recht auf Nahrung <strong>zu</strong>m Beispiel<br />
kein<strong>es</strong>wegs auf die Versorgung mit Kalorien und Proteinen<br />
reduzieren, sondern sieht den Menschen als Verantwortungssubjekt.<br />
Er soll nicht bloß „gefüttert“ werden,<br />
sondern <strong>sich</strong> nach seinen Vorstellungen ernähren und<br />
die Nahrungsmittelproduktion und -verteilung verantwortlich<br />
mitg<strong>es</strong>talten.<br />
Menschenrechte sind Fundament jeder demokratischen<br />
G<strong>es</strong>ellschaft. Sie reagieren auf Erfahrungen himmelschreienden<br />
Unrechts. Weltweit und akut sehen wir eine Vielzahl<br />
an Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen: Kriege, Unterdrückung,<br />
Machtmissbrauch, Gefährdungen durch Klimawandel.<br />
Ebenso finden <strong>sich</strong> Menschen und Gruppen, die entschlossen<br />
<strong>zu</strong>gunsten der Menschenrechte agieren: Ugandische<br />
Aktivist*innen gegen die längste beheizte Öl-Pipeline<br />
der Welt, Frauen in Bolivien mit Radiobeiträgen gegen<br />
sexualisierte Gewalt und Landwirte weltweit mit Ideen<br />
<strong>zu</strong>r Eindämmung d<strong>es</strong> Klimawandels.<br />
Wir alle sind gefordert! Freiheit und Demokratie sind<br />
nicht selbstverständlich <strong>zu</strong> erhalten.<br />
Herzlich Ihr<br />
Pirmin Spiegel<br />
<strong>Misereor</strong><br />
Foto: Klaus Mellenthin<br />
LIEBE LESERINNEN<br />
UND LESER!<br />
GESICHTER DIESER AUSGABE<br />
Seite 2<br />
SCHWERPUNKT:<br />
WOFÜR ES SICH<br />
ZU KÄMPFEN LOHNT<br />
FOTOSTRECKE<br />
Vom Aufstehen, Einstehen<br />
und auf die Knie gehen<br />
Seite 4<br />
REPORTAGE UGANDA<br />
Widerstand gegen<br />
eine beheizte Öl-Pipeline<br />
Seite 10<br />
MEINUNG<br />
Wir brauchen einen Weltgerichtshof<br />
für Menschenrechte<br />
Seite 19<br />
INFOGRAFIK<br />
Gefährdete Freiheit<br />
Seite 20<br />
BOLIVIEN<br />
Lokalreporterin aus Überzeugung<br />
Seite 22<br />
PHILIPPINEN<br />
Maria R<strong>es</strong>sa verteidigt<br />
die Demokratie im Internet<br />
Seite 25<br />
GUT ZU WISSEN<br />
Die Allgemeine Erklärung<br />
der Menschenpflichten<br />
Seite 28
LANDWIRTSCHAFT<br />
Vom Traum der Nachhaltigkeit<br />
Seite 30<br />
DAS GLOBALE ABENDMAHL<br />
„Alle mal an einen Tisch“<br />
Seite 34<br />
THEMEN<br />
PHILIPPINEN<br />
Göttliche Früchte<br />
für menschliche Rechte<br />
Seite 38<br />
Foto: Eduardo Soteras<br />
10<br />
In Uganda gehen Aktivist*innen<br />
für Menschenrechte<br />
auf die Straße –<br />
und ins Gefängnis<br />
MISEREOR IM GESPRÄCH<br />
„Wir wollen die Dinge verändern“<br />
Seite 40<br />
BILDBAND<br />
Über Tyrannei.<br />
20 Lektionen für den Widerstand<br />
Seite 42<br />
MISEREOR IN AKTION<br />
Da ist Musik drin!<br />
Seite 44<br />
Foto: dpa picture-alliance<br />
25<br />
Die philippinische<br />
Friedensnobelpreisträgerin<br />
Maria R<strong>es</strong>sa verteidigt<br />
die Demokratie<br />
KOLUMNE<br />
Runter vom Sofa<br />
Seite 46<br />
RÄTSEL<br />
Wer hat’s g<strong>es</strong>agt?<br />
Seite 48<br />
IMPRESSUM<br />
Seite 49<br />
Titel: Artikel 1, Grundg<strong>es</strong>etz<br />
Die Würde d<strong>es</strong> Menschen ist unantastbar.<br />
Sie <strong>zu</strong> achten und <strong>zu</strong> schützen ist Verpflichtung<br />
aller staatlichen Gewalt.<br />
Foto: Benedikt Bösel<br />
32<br />
Benedikt Bösel geht<br />
in Brandenburg neue<br />
Wege für eine nachhaltige<br />
Landwirtschaft<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
1
Reportage Uganda auf Seite 10 Bericht auf Seite 22<br />
EDUARDO SOTERAS JALIL<br />
SIMONE SCHLINDWEIN<br />
FLORIAN KOPP<br />
Fotos (v. l. n. r.): Eduardo Soteras , Isaac Kasamani, Sandra Weiss, Britta Knäbel, Klaus J.A. Mellenthin, Marco Rose<br />
2<br />
ist als Kind liban<strong>es</strong>ischer Migranten in<br />
Argentinien geboren, lebt mit seiner<br />
Frau und seinen zwei Kindern in Nairobi.<br />
Er hat als Dokumentarfotograf Lateinamerika,<br />
Afrika und den Nahen<br />
Osten b<strong>es</strong>ucht. In Uganda war er <strong>zu</strong>m<br />
ersten Mal.<br />
„Schockierend war für<br />
mich der gewaltige Unterschied<br />
zwischen der<br />
schlechten Situation der<br />
Menschen auf dem Land,<br />
wo die Pipeline entlangläuft,<br />
und der monströsen<br />
Infrastruktur, die <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>gunsten<br />
der Öl-Industrie<br />
entwickelt.“<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
lebt und arbeitet als freie Korr<strong>es</strong>pondentin<br />
seit 2008 in der Region der<br />
Großen Seen, vor allem in Uganda,<br />
Ruanda und der Demokratischen Republik<br />
Kongo. Sie schreibt vor allem<br />
für die tag<strong>es</strong>zeitung in Berlin und produziert<br />
Reportagen für deutsche und<br />
österreichische Radiosender.<br />
„Als ich 2010 <strong>zu</strong>letzt am<br />
Albert-See war, waren die<br />
ersten Ölverträge gerade<br />
unterzeichnet worden. Damals<br />
war di<strong>es</strong> noch eine<br />
unberührte Landschaft mit<br />
gewaltigen Rinderherden.<br />
Jetzt sieht <strong>es</strong> aus wie ein<br />
Industriegebiet.“<br />
Nach seinem Geografie-Studium und<br />
mehreren Hilfseinsätzen in Zentralasien<br />
begann er vor fast 20 Jahren,<br />
mit seiner Kamera die Welt <strong>zu</strong> bereisen<br />
und für Hilfsorganisationen und<br />
sozial engagierte Medien das Leben<br />
der Menschen und Projekte <strong>zu</strong> dokumentieren.<br />
„Auf der Reise <strong>zu</strong> <strong>Misereor</strong>-Projekten<br />
in Bolivien<br />
haben mich b<strong>es</strong>onders<br />
die starken Frauen in Tarija<br />
beeindruckt, die <strong>sich</strong> mit<br />
einfachsten Mitteln gegen<br />
Missbrauch und Unterdrückung<br />
einsetzen.“
Bericht auf Seite 30 Interview auf Seite 38 Rezension auf Seite 42<br />
ANNETTE JENSEN<br />
ist Journalistin, Buchautorin und ehrenamtliche<br />
Sprecherin d<strong>es</strong> Ernährungsrats<br />
Berlin. Ihre Schwerpunkte<br />
sind Ökologie, Wirtschaft und Transformation.<br />
„Menschen wie Ibrahim<br />
Abouleish erwärmen mein<br />
Herz. Er hatte den Mut<br />
etwas <strong>zu</strong> wagen, obwohl<br />
alle sagten, <strong>es</strong> könne nicht<br />
funktionieren. Und heute<br />
sprießt Gemüse in der<br />
Wüste!“<br />
KLAUS MELLENTHIN<br />
Neben seiner angewandten Fotografie<br />
entwickelt Klaus Mellenthin kontinuierlich<br />
ein künstlerisch<strong>es</strong> Werk, in dem<br />
er <strong>sich</strong> mit der Positionierung d<strong>es</strong><br />
Menschen in der G<strong>es</strong>ellschaft auseinandersetzt.<br />
„<strong>Wofür</strong> <strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong> <strong>kämpfen</strong><br />
<strong>lohnt</strong>? Die vielfältigen Freiheiten,<br />
die das Leben in<br />
Europa bietet, <strong>zu</strong> bewahren<br />
und daran <strong>zu</strong> arbeiten,<br />
dass di<strong>es</strong>e möglichst vielen<br />
Menschen <strong>zu</strong>gänglich<br />
werden, ist für mich eine<br />
der wichtigsten Herausforderungen<br />
unserer Zeit.“<br />
MELE BRINK<br />
arbeitet als freiberufliche Illustratorin<br />
in Aachen. Nach einem Studium der<br />
Architektur b<strong>es</strong>chloss sie, lieber vom<br />
Zeichnen <strong>zu</strong> leben. Angefangen mit<br />
Cartoons ist das Portfolio inzwischen<br />
um einig<strong>es</strong> gewachsen. Sie zeichnet<br />
für Verlage, Behörden, Firmen und<br />
auch Privatleute und illustriert Kinderbücher.<br />
Seit 2000 bebildert sie auch<br />
die Kinderfastenaktion von <strong>Misereor</strong>.<br />
„Nora Krug illustriert<br />
den ohnehin erhellend<br />
bedrückenden Inhalt<br />
so eindrücklich, dass<br />
man <strong>sich</strong> als L<strong>es</strong>erin<br />
direkt bei der eigenen<br />
Verantwortung gepackt<br />
fühlt.“<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
3
FOTOSTRECKE<br />
<strong>Wofür</strong><br />
<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />
<strong>kämpfen</strong><br />
<strong>lohnt</strong><br />
FÜR GLEICHE RECHTE<br />
Foto: dpa picture-alliance<br />
Der amerikanische Footballspieler Eric Reid (links) und<br />
sein Mannschaftskollege Colin Kaepernick knien im Herbst<br />
2016 während der Nationalhymne vor einem Wettkampf<br />
gegen die Los Angel<strong>es</strong> Rams in Santa Clara, Kalifornien.<br />
Sie wenden <strong>sich</strong> damit gegen Polizeibrutalität, Rassenungerechtigkeit<br />
und soziale Ungleichheit. Hintergrund ihr<strong>es</strong><br />
Prot<strong>es</strong>ts ist die Ermordung ein<strong>es</strong> Schwarzen durch Polizeibeamte.<br />
Die beiden sind nicht die ersten Sportler*innen,<br />
die ihre Prominenz für politische Anliegen nutzen.<br />
Der Box-Champion Muhammad Ali verweigerte 1965<br />
den Kriegsdienst, trat in die militante Sekte Black Muslims<br />
ein, änderte seinen Namen von Cassius Clay in Muhammad<br />
Ali und wurde so <strong>zu</strong>r Symbolfigur der Prot<strong>es</strong>tbewegung<br />
gegen die Rassendiskriminierung.<br />
4<br />
EINS<strong>2023</strong>
<strong>Wofür</strong><br />
<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />
<strong>kämpfen</strong><br />
<strong>lohnt</strong><br />
FÜR NATÜRLICHE RESSOURCEN<br />
Die Quelccaya-Eiskappe in Cusco, Peru, bildet den<br />
zweitgrößten tropischen Gletscher der Welt. Wegen<br />
d<strong>es</strong> Klimawandels schrumpft er Jährlich um etwa<br />
60 Meter, sodass er im Laufe der nächsten 30 Jahre<br />
verschwunden sein wird, wenn der weltweite<br />
Ausstoß von Treibhausgasen nicht reduziert wird.<br />
Die Qechua-Gemeinschaft, die an den Hängen d<strong>es</strong><br />
Gletschers wohnt, ist unmittelbar betroffen. Sie<br />
hat <strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>m Ziel g<strong>es</strong>etzt, die Welt auf den Verlust<br />
d<strong>es</strong> Eis<strong>es</strong> und die Auswirkungen d<strong>es</strong> Klimawandels<br />
aufmerksam <strong>zu</strong> machen. Mit Hilfe ihr<strong>es</strong><br />
Wissens und traditioneller Anden-Rituale versuchen<br />
sie ihre schneebedeckten Berge <strong>zu</strong> schützen.<br />
Die Bilderserie der Fotografin Angela Ponce ist auf<br />
der Shortlist der World Pr<strong>es</strong>s Photo Awards <strong>2023</strong>.<br />
Foto: Angela Ponce<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
5
6<br />
EINS<strong>2023</strong>
<strong>Wofür</strong><br />
<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />
<strong>kämpfen</strong><br />
<strong>lohnt</strong><br />
FÜR EINE MÜNDIGE JUSTIZ<br />
Gemeinsam gegen die geplante Justizreform auf<br />
der Straße: Allein in Tel Aviv demonstrieren rund<br />
100.000 Menschen und schwenken die weiß-blaue<br />
israelische Flagge. In Haifa sind <strong>es</strong> rund 50.000.<br />
Auch in Jerusalem, Beerscheba, Eilat und etlichen<br />
anderen Städten gibt <strong>es</strong> Kundgebungen. Nach Angaben<br />
der Organisatoren prot<strong>es</strong>tierten im ganzen<br />
Land insg<strong>es</strong>amt eine halbe Million Menschen. Nach<br />
Plänen der Regierung soll <strong>es</strong> dem Parlament künftig<br />
möglich sein, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen<br />
d<strong>es</strong> Höchsten Gerichts auf<strong>zu</strong>heben. Außerdem<br />
sollen Politiker bei der Ernennung von Richtern<br />
mehr Einfluss erhalten. W<strong>es</strong>tliche Politiker hatten<br />
<strong>sich</strong> d<strong>es</strong>wegen b<strong>es</strong>orgt geäußert, weil die Reform<br />
Israels demokratische Grundlagen untergrabe.<br />
Foto: Anadalu/Getty imag<strong>es</strong><br />
EINS<strong>2023</strong><br />
7
FÜR BEDROHTE KULTUREN<br />
<strong>Wofür</strong><br />
<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />
<strong>kämpfen</strong><br />
<strong>lohnt</strong><br />
Foto: Florian Kopp<br />
Pablo Samon und Pedro Miranda aus der Indigenen-Gemeinde<br />
Oñedí in der Provinz Formosa, Argentinien,<br />
haben ein Schild aufg<strong>es</strong>tellt, das ihre Forderung an die<br />
Regierung auf den Punkt bringt: Artikel 75, Abschnitt 17<br />
der argentinischen Verfassung, lautet „Die ethnische und<br />
kulturelle Präexistenz der indigenen Völker wird anerkannt.“<br />
Die Realität sieht anders aus. Den indigenen Kulturen<br />
ist <strong>es</strong> weder möglich, ihre traditionelle Sammlerund<br />
Jägerg<strong>es</strong>ellschaft aufrecht<strong>zu</strong>erhalten, noch haben<br />
sie Zugang <strong>zu</strong>r bäuerlichen Lebensweise. Ohne jede <strong>sich</strong>ere<br />
Einkommensquelle leben sie am Rande d<strong>es</strong> Existenzminimums.<br />
Die wirtschaftliche und politische Macht<br />
konzentriert <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>m größten Teil in den Händen der<br />
weißen Einwohner.<br />
8<br />
EINS<strong>2023</strong>
<strong>Wofür</strong><br />
<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />
<strong>kämpfen</strong><br />
<strong>lohnt</strong><br />
Foto: dpa picture-alliance<br />
FÜR FRAUEN, LEBEN, FREIHEIT<br />
Ohne das von der Regierung in Teheran vorg<strong>es</strong>chriebene<br />
Kopftuch nimmt die iranische Klettermeisterin Elnas Rekabi<br />
am Final-Wettbewerb der Asienmeisterschaften in Seoul<br />
teil. Ihr Verstoß gegen die Hidschab-Pflicht wird weltweit<br />
als Zeichen der Solidarität mit der Frauenbewegung im<br />
Iran gewertet, die <strong>sich</strong> unter anderem dagegen wehrt,<br />
dass die weibliche Bevölkerung d<strong>es</strong> Land<strong>es</strong> in der Öffentlichkeit<br />
ihre Haare verschleiern muss. Später entschuldigt<br />
die Sportlerin <strong>sich</strong> für ihr Verhalten. Internationale Beobachter*innen<br />
deuten di<strong>es</strong> allerdings als erzwungene Stellungnahme.<br />
Nach dem Tod einer 22-jährigen Frau, die<br />
während ihr<strong>es</strong> Arr<strong>es</strong>t<strong>es</strong> bei der Sittenpolizei <strong>zu</strong> Tode kam,<br />
<strong>kämpfen</strong> Frauen im Iran gegen die Unterdrückung durch<br />
das Regime der Mullahs.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
9
UGANDA<br />
Im W<strong>es</strong>ten Ugandas haben Geologen 2006 Öl entdeckt,<br />
seitdem plant die ugandische Regierung den Bau<br />
der ostafrikanischen Rohölpipeline, von Raffinerien und Flughäfen.<br />
Die Folgen für die Anwohnerinnen und Anwohner<br />
sind schon jetzt verheerend. Doch <strong>es</strong> regt <strong>sich</strong> Widerstand.<br />
Text von Simone Schlindwein<br />
Fotos von Eduardo Soteras Jalil<br />
10<br />
EINS<strong>2023</strong>
Es war eine Holzlatte mit einer grauen Markierung, die<br />
Bauer Leodinus Tutyatembas Leben und das seiner<br />
Großfamilie von einem Tag auf den anderen veränderte.<br />
Sie wurde von Regierungsvertretern 2015 in seinen<br />
Ackerboden gerammt – zwischen Maisstengeln, dort wo<br />
seine Ziegen grasen.<br />
„Sie sagten, sie werden hier die Pipeline verlegen“, nickt<br />
der 50-jährige Ugander und guckt etwas betrübt auf den<br />
fruchtbaren Boden, wo er bislang seinen Mais angebaut hat.<br />
Rund 30 Quadratmeter sein<strong>es</strong> Grundstücks musste er für<br />
den Bau der Röhre hergeben. „Ich habe wirklich Angst“,<br />
sagt Tutyatemba: „Was ist, wenn die Pipeline leckt?“,<br />
fragt er. „Ich fürchte, dass wir dadurch sterben können.“<br />
Leodinus Tutyatembas Gemüseacker liegt in dem<br />
kleinen Dorf Kyakatemba im W<strong>es</strong>ten Ugandas, nahe<br />
dem Albertsee, der Uganda vom Kongo trennt. In di<strong>es</strong>er<br />
einst unerschlossenen Region entlang d<strong>es</strong> ostafrikanischen<br />
Grabenbruchs haben Geologen im Jahr<br />
2006 Öl entdeckt. Internationale Firmen kamen<br />
und bohrten tiefe Löcher in den Boden. In der 200<br />
Kilometer entfernten Hauptstadt Kampala wurden<br />
große Infrastrukturprojekte geplant: Industriepark,<br />
Raffinerie sowie ein Flughafen. <strong>Das</strong><br />
größte, teuerste und kompliziert<strong>es</strong>te Projekt<br />
ist jedoch die Pipeline EACOP (Ostafrikanische<br />
Rohölpipeline), die bis <strong>zu</strong>m tansanischen<br />
Hafen Tanga führen wird. Ende Januar hat<br />
Ugandas Regierung den Startschuss für die<br />
Bauarbeiten gegeben.<br />
In Tutyatembas kleinem Dorf Kyakatemba<br />
ist außer der Markierung noch nichts<br />
davon <strong>zu</strong> sehen. Doch dem Bauer wurde<br />
erklärt: Hier sollen <strong>sich</strong> gleich zwei<br />
Röhren kreuzen. Eine Zulieferpipeline,<br />
die vom 50 Kilometer entfernten Ölfeld<br />
Kingfisher <strong>zu</strong>r Raffinerie führen<br />
soll, sowie die EACOP, die das verarbeitete<br />
Öl von der Raffinerie auf<br />
den Weltmarkt pumpen soll. Der<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
11
In Kyakatemba kreuzen<br />
<strong>sich</strong> zwei Pipelin<strong>es</strong>:<br />
Die Häuser mit dem<br />
roten Kreuz werden<br />
abgerissen<br />
„Ich habe wirklich<br />
Angst. Was ist, wenn<br />
die Pipeline leckt?“<br />
Karte: Wikipedia<br />
Bauer hatte Glück: „Ich habe noch immer genug Land übrig,<br />
damit <strong>es</strong> für meine Familie <strong>zu</strong>m Leben reicht“, sagt er und<br />
zeigt auf seine Frau, seine ält<strong>es</strong>te Tochter und die beiden Enkelkinder,<br />
die vor seiner Hütte Kartoffeln schälen.<br />
Immerhin: Für das markierte Land habe er im Jahr 2020<br />
Entschädigung erhalten. Dafür habe ihm die Regierung ein<br />
Bankkonto eröffnet, wo die Summe einbezahlt wurde, berichtet<br />
er. Wie viel <strong>es</strong> war, will er nicht sagen. „Ich war<br />
glücklich, dass ich überhaupt etwas bekommen habe“, sagt<br />
er. Von dem Geld habe er seinem ält<strong>es</strong>ten Sohn woanders<br />
ein Stück Land gekauft. „Er lebt<br />
jetzt mit den Enkeln weit weg“,<br />
sagt Tutyatemba traurig. <strong>Das</strong><br />
Pipelineprojekt habe seine Familie<br />
und seine Gemeinde auseinandergerissen.<br />
Der Mann mit dem karierten<br />
Hemd zeigt mit dem ausg<strong>es</strong>treckten<br />
Zeigefinger auf ein<br />
unverputzt<strong>es</strong> Haus auf dem<br />
Grundstück nebenan. An d<strong>es</strong>sen<br />
Holztür prangt ein Kreuz, g<strong>es</strong>prüht mit roter Farbe. Die<br />
Markierung, dass <strong>es</strong> abgerissen werden soll: „Fast alle meine<br />
Nachbarn mussten wegziehen“, berichtet Tutyatemba betrübt.<br />
Es werde nun einsam hier in der Gegend. Nur die Gräber<br />
der toten Angehörigen, die in den Gärten beerdigt wurden,<br />
seien noch übrig.<br />
So wie Tutyatembas Nachbar*innen ging <strong>es</strong> vielen Leuten<br />
in der Gegend. Nur wenige Kilometer entfernt stehen Schaufelbagger<br />
am Wegrand. Planierraupen ebnen eine Schneise<br />
durch die hügelige Landschaft: Hier entsteht eine neue<br />
Schnellstraße, die von der Stadt Hoima mit den Bürogebäuden,<br />
Hotels und Konferenzsälen bis <strong>zu</strong>m neu geplanten, 40<br />
Kilometer w<strong>es</strong>tlich gelegenen Industriepark mit dem Flughafen<br />
führen soll. 30 Quadratkilometer Land hat die Regierung<br />
hierfür bereitstellen müssen, 13 Dörfer mit über 7.000<br />
Einwohner*innen mussten dafür weichen. Sie wurden vor<br />
die Wahl g<strong>es</strong>tellt: entweder Entschädigungszahlungen auf<br />
ein Konto oder ein neu<strong>es</strong> Haus mit einem Acker woanders.<br />
„Es war keine leichte Entscheidung“, erinnert <strong>sich</strong> Innocent<br />
Tumwebaze an das Jahr 2013, als die Regierungsvertreter<br />
in Begleitung von fünf bewaffneten Polizisten auch in<br />
seinem Dorf Nyahaira aufg<strong>es</strong>chlagen waren. Sie begutachteten<br />
jed<strong>es</strong> Haus, jeden Acker, jeden Ziegenstall. Die Zahlen<br />
der Bäume, der Hühner, der Maisstängel wurden aufgelistet.<br />
All das sollte entschädigt werden – denn all<strong>es</strong> musste weg.<br />
Wo damals noch Tumwebaz<strong>es</strong> Elternhaus stand, wird<br />
heute die über drei Kilometer lange Landebahn asphaltiert.<br />
„Von Anfang an machten Gerüchte den Umlauf, dass sie uns<br />
nach Karamoja umsiedeln“, erzählt der heute 30-jährige<br />
Mann, der als einer der wenigen aus seinem Dorf einen Studienabschluss<br />
hat. Die Bäuerinnen und Bauern hätten<br />
Angst bekommen, denn die wüstenartige karge Region Karamoja<br />
im äußersten Nordosten ist berüchtigt für Dürre, Hunger<br />
und Konflikte. „D<strong>es</strong>wegen haben <strong>sich</strong> viele für die Bargeldzahlungen<br />
entschieden“, berichtet Tumwebaze.<br />
Er selbst hatte <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>nächst auch für Geld entschieden.<br />
„Doch als die Regierungsvertreter mir im Dokument zeigten,<br />
was als Entschädigungssumme errechnet wurde, war<br />
ich entsetzt“, sagt er. Er habe sein Haus für umgerechnet<br />
rund 200 Euro gebaut, doch sie wollten nur rund 70 Euro<br />
dafür ausbezahlen. „Da habe ich meine Entscheidung geändert“,<br />
sagt er. Zur selben Zeit begannen Nichtregierungsorganisationen<br />
wie die Caritas mit ihrer lokalen Entwicklungsorganisation<br />
HOCADEO (Hoima Caritas Entwicklungsorganisation),<br />
die auch aus Deutschland gefördert wird, die<br />
Leute in den betroffenen Gebieten über ihre Rechte auf<strong>zu</strong>klären<br />
– auch darüber, wie sie die Entscheidungen vor Gericht<br />
anfechten können.<br />
12<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
Die neue Straße <strong>zu</strong>m<br />
Kabaale International Airport<br />
reißt tiefe Furchen<br />
in die Landschaft
Leonidus Tutyatemba<br />
zeigt auf seinem Acker die<br />
Markierung, wo die Pipeline<br />
verlaufen soll<br />
die Gemeinde<br />
auseinandergerissen<br />
Di<strong>es</strong> hat den damals 24-jährigen Studenten Tumwebaze ermutigt,<br />
im Jahr 2014 den Betroffenenverband ORRAUG (Verband<br />
der Anwohner der Öl-Raffinerie) <strong>zu</strong> gründen. Gemeinsam<br />
zogen sie 2014 gegen Ugandas Regierung vor Gericht,<br />
um die Zahlungen an<strong>zu</strong>fechten. Bis heute zieht <strong>sich</strong> das Verfahren<br />
hin. Mitte Februar wurde der Proz<strong>es</strong>s erneut vertagt,<br />
der Richter war nicht anw<strong>es</strong>end.<br />
„Von Anfang an hat <strong>sich</strong> all<strong>es</strong> verzögert“, erinnert <strong>sich</strong><br />
Tumwebaze. Während er von 2014 an auf das Umsiedelungsprogramm<br />
wartete, bekamen<br />
seine Nachbarn und Familie bereits<br />
ihr Geld auf das Konto.<br />
<strong>Das</strong> Pipeline- „Von da an begannen die Konflikte“,<br />
erinnert er <strong>sich</strong>. Da die<br />
projekt hat<br />
Konten in der Regel auf den<br />
Mann registriert wurden, machten<br />
<strong>sich</strong> viele Ehemänner mit dem Geld aus dem Staub oder<br />
inv<strong>es</strong>tierten <strong>es</strong> falsch“, erklärt er als Beispiel. Viele Familien<br />
zogen weg. Plötzlich saßen nur noch wenige Kinder im Klassenzimmer.<br />
„D<strong>es</strong>wegen machte die Schule irgendwann<br />
dicht, auch die G<strong>es</strong>undheitsstation.“ Von da an lungerten<br />
die Kinder tatenlos in den Dörfern herum. Die Folge, so<br />
Tumwebaze: Viele Mädchen wurden schwanger, die Jungs<br />
begannen <strong>zu</strong> trinken oder kriminell <strong>zu</strong> werden.<br />
Heute sitzt der junge Mann im blauen Polo-Shirt mit<br />
dem Logo sein<strong>es</strong> Verband<strong>es</strong> auf der Brust im Büro seiner Organisation<br />
in einem kleinen, schmucken Haus in der Siedlung<br />
Kyakabooga, 70 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt.<br />
Wie eine künstliche Reihenhaussiedlung inmitten<br />
einer kargen Landschaft wirkt der Ort, am Ende ein<strong>es</strong> holprigen,<br />
schmalen Trampelpfad<strong>es</strong>. Die rund 50 Häuser, die<br />
alle gleich aussehen, stehen dicht an dicht. Rund 1.000 Men-<br />
EINS<strong>2023</strong> 13
Die Pipeline<br />
Es ist die längste beheizte Öl-Pipeline der Welt mit<br />
rund 1.400 Kilometern: Sie soll von den Ölfeldern am<br />
Albert-See im W<strong>es</strong>ten Ugandas bis an den tansanischen<br />
Hafen Tanga am Indischen Ozean führen.<br />
<strong>Das</strong> in W<strong>es</strong>tuganda entdeckte Rohöl ist extrem zähflüssig.<br />
Damit <strong>es</strong> durch die Pipeline fließt, muss die<br />
Röhre ständig auf 50 Grad Celsius erhitzt werden.<br />
Ugandas Regierung hat in den vergangenen Jahren in<br />
zahlreiche Staudammprojekte am Nil inv<strong>es</strong>tiert, um<br />
mehr Energie <strong>zu</strong> erzeugen. Viele Dörfer entlang der<br />
Pipeline haben noch immer keinen Zugang <strong>zu</strong> Strom,<br />
während die Pipeline nun die Energier<strong>es</strong>erven weiter<br />
dezimiert.<br />
G<strong>es</strong>peist wird die Pipeline von zwei großen Öl-Feldern<br />
am Albert-See: <strong>Das</strong> Kingfisher Ölfeld, das von der chin<strong>es</strong>ischen<br />
Staatsfirma CNOOC erkundet wird, sowie<br />
das Tilenga Ölfeld, teilweise im Murchison-Falls-Nationalpark,<br />
das von der französischen Firma Total Energi<strong>es</strong><br />
erkundet wird. Über 400 Bohrtürme sollen dort<br />
errichtet werden, 130 davon im Naturschutzgebiet. Die<br />
G<strong>es</strong>amtkosten belaufen <strong>sich</strong> nach aktuellen Schät<strong>zu</strong>ngen<br />
auf rund vier bis fünf Milliarden US-Dollar.<br />
schen wurden 2018 hierher umg<strong>es</strong>iedelt, sie leben nun<br />
dicht gedrängt. Die Außentoiletten sind direkt neben den<br />
Außenküchen. Fliegen summen umher. Dazwischen spielen<br />
unzählige Kinder im Unrat. Es<br />
wächst kein einziger Baum und<br />
kaum ein Grashalm.<br />
Vier Jahre haben die meisten<br />
gewartet, bis sie 2018 endlich<br />
hier einziehen konnten. „Als<br />
wir hier ankamen, waren wir<br />
alle g<strong>es</strong>chockt“, berichtet er.<br />
„Damals gab <strong>es</strong> keine Schule,<br />
keine Kirche, keinen Gemeind<strong>es</strong>aal,<br />
keine G<strong>es</strong>undheitsstation,<br />
ja nicht einmal einen Brunnen“, erinnert er <strong>sich</strong>.<br />
„Auch die Häuser waren nicht alle fertig“, sagt Tumwebaze<br />
und zeigt aus dem Fenster. „Der Boden ist<br />
nicht sehr fruchtbar, die Äcker liegen weit entfernt<br />
und <strong>zu</strong>r nächsten Wasserquelle müssen wir über<br />
eine Stunde laufen“, seufzt der junge Mann. Tumwebaze<br />
ist einer von zwölf Klägern, die Total Energi<strong>es</strong><br />
13 Dörfer mit über<br />
7.000 Menschen<br />
mussten weichen<br />
Innocent Tumwembaze<br />
hat den Verband der von<br />
der Ölraffinerie Betroffenen,<br />
ORAUG, mitbegründet<br />
in Paris vor Gericht verklagt<br />
haben: wegen Nichteinhaltung<br />
der Sozial-<br />
„Wir sind mit<br />
standards und Verzögerung<br />
der Kompensations-<br />
unseren Problemen<br />
zahlungen. Die Klage wurde<br />
Ende Februar abgewie-<br />
nicht alleine.“<br />
sen. Von Anfang an habe<br />
<strong>es</strong> unter den neuen Nachbarn<br />
Konflikte gegeben. Bis heute gebe <strong>es</strong> viele Diebstähle,<br />
sexuelle Übergriffe, Gewalt. Immerhin: Im vergangenen<br />
Jahr erhielten die Anwohner*innen ihre Grundbücher, sie<br />
sind nun legale Eigentümer*innen. Doch von den ursprünglich<br />
1.000 Menschen seien bereits viele wieder weggezogen.<br />
Auch er habe seine Tochter <strong>zu</strong> Verwandten nach Hoima<br />
g<strong>es</strong>chickt, wo sie nun <strong>zu</strong>r Schule gehe, berichtet er. Doch er<br />
selbst habe hier einen Grund gefunden, wofür <strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />
<strong>kämpfen</strong> <strong>lohnt</strong>, so sagt er und erzählt vom B<strong>es</strong>uch einer Delegation<br />
aus Nigeria im vergangenen Jahr, deren Heimatdörfer<br />
durch die Öl-Projekte im berüchtigten Nigerdelta verseucht<br />
und dadurch unbewohnbar wurden. „Wir müssen<br />
d<strong>es</strong>wegen dafür <strong>kämpfen</strong>, dass <strong>es</strong> hier nicht so weit<br />
kommt“, nickt er und berichtet von seinem B<strong>es</strong>uch im November<br />
2022 auf der globalen UN-Klimakonferenz in Ägypten.<br />
Dort habe er <strong>sich</strong> mit anderen Aktivisten aus aller Welt<br />
ausgetauscht. „Di<strong>es</strong> hat mich ermutigt, weiter <strong>zu</strong> <strong>kämpfen</strong>“,<br />
sagt er: „Denn ich habe g<strong>es</strong>ehen, dass wir mit unseren Problemen<br />
nicht alleine sind.“<br />
Inmitten einer kargen<br />
Landschaft gebaut:<br />
Kinder spielen in der<br />
neuen Siedlung von<br />
Kyakabooga<br />
14<br />
EINS<strong>2023</strong>
INTERVIEW<br />
„Die Regeln sind klar,<br />
sie werden nur nicht<br />
von allen beachtet“<br />
Wie wichtig vernetzt<strong>es</strong> Wissen ist im Kampf für selbstb<strong>es</strong>timmt<strong>es</strong> Handeln,<br />
weiß Dickens Amanya, Direktor d<strong>es</strong> Ugandischen Netzwerks BAPENECO<br />
(Bunyoro Albertine Petroleum Network on Environmental Conservation).<br />
Simone Schlindwein hat mit ihm g<strong>es</strong>prochen.<br />
Wie ist das Netzwerk entstanden?<br />
Wir haben uns 2010 gegründet, um<br />
die Herausforderungen durch das Öl<br />
b<strong>es</strong>ser <strong>zu</strong> verstehen. Als 2006 in Uganda<br />
<strong>zu</strong>m ersten Mal Öl entdeckt wurde,<br />
hatten die meisten Ugander*innen von<br />
dem ganzen Sektor keine Ahnung. Es<br />
gab fast gar keine öffentlichen Informationen,<br />
und wenn doch, dann<br />
waren sie komplex. Unser Ziel war<br />
<strong>zu</strong>nächst, alle Nichtregierungsorganisationen<br />
(NGOs) in dem Bereich <strong>zu</strong> vernetzen<br />
und eine gemeinsame Bibliothek<br />
ein<strong>zu</strong>richten, auch online, um<br />
Zugang <strong>zu</strong> relevanten Informationen<br />
überhaupt möglich <strong>zu</strong> machen. Wir<br />
reden in Anbetracht all der Verträge<br />
und Verordnungen von über 5.000 Seiten<br />
komplexem Material. Es gibt nur<br />
wenige Menschen, die überhaupt verstehen,<br />
was da g<strong>es</strong>chrieben steht. Und<br />
<strong>es</strong> ist unsere Rolle als NGOs, di<strong>es</strong>e<br />
Infos nun so <strong>zu</strong> übersetzen und den<br />
Bäuerinnen und Bauern in den Dörfern<br />
so <strong>zu</strong> erläutern, dass di<strong>es</strong>e selbstb<strong>es</strong>timmt<br />
handeln und entscheiden<br />
können.<br />
Ist di<strong>es</strong>er Mangel an Informationen<br />
das fundamentale Problem?<br />
Absolut, das rührt daher, dass Uganda<br />
in nur kurzer Zeit den Ölsektor aufgebaut<br />
hat. Als 2006 Öl entdeckt wurde,<br />
wurden die ersten Ugander*innen ins<br />
Ausland g<strong>es</strong>chickt, um öl- und gasrelevante<br />
Studiengänge <strong>zu</strong> absolvieren. 2008<br />
wurde bereits das erste G<strong>es</strong>etz verabschiedet,<br />
das den Sektor bis heute reguliert<br />
und mit dem Ugandas nationale<br />
Ölfirma ins Leben gerufen wurde. Damals<br />
hieß <strong>es</strong>, 2016 schon werde das<br />
erste Öl fließen. Aber dann verzögerte<br />
<strong>sich</strong> all<strong>es</strong>, weil noch gar nicht alle relevanten<br />
G<strong>es</strong>etze verabschiedet waren.<br />
Erst 2019 kam das Umweltg<strong>es</strong>etz ins<br />
Parlament, das auch die Sozialstandards<br />
regelt, nach welchen die betroffenen<br />
Menschen entschädigt werden sollten.<br />
2021 erst wurde eine Verordnung<br />
herausgebracht, wie Öl-Lecks verhindert<br />
und behandelt werden sollen. Seitdem<br />
sehen wir einen positiven Trend,<br />
denn all di<strong>es</strong>e G<strong>es</strong>etze geben klare Regeln<br />
vor, und unsere Rolle ist <strong>es</strong>, <strong>zu</strong> prüfen,<br />
ob sie auch eingehalten werden –<br />
und auch hier sehen wir seitdem deutliche<br />
Verb<strong>es</strong>serungen, sowohl bei den<br />
Firmen als auch bei der Regierung.<br />
Aber die betroffenen Gemeinden<br />
fühlen <strong>sich</strong> dennoch als Opfer, warum?<br />
Von 2019 bis 2021 hatten wir die weltweite<br />
Corona-Pandemie. In Uganda gab<br />
<strong>es</strong> monatelang einen radikalen Lockdown.<br />
Niemand durfte das Haus verlassen,<br />
auch die Behördenmitarbeiter*innen<br />
nicht. Die Regierung hat quasi<br />
alle Bearbeitungsproz<strong>es</strong>se für die Kompensationszahlungen<br />
eing<strong>es</strong>tellt. <strong>Das</strong><br />
hat letztlich <strong>zu</strong> der Verzögerung geführt,<br />
die nun alle beklagen.<br />
Dennoch geht die Regierung gegen<br />
alle vor, die das Projekt kritisieren.<br />
Es ist nicht die Regierung an <strong>sich</strong>, sondern<br />
einige Individuen in verschiedenen<br />
Behörden, die gegen uns vorgehen.<br />
Unsere Spendengelder aus dem<br />
Ausland wurden g<strong>es</strong>toppt, die Polizei<br />
kam mehrfach in unsere Büros g<strong>es</strong>türmt,<br />
auch ich wurde f<strong>es</strong>tgenommen.<br />
Doch dann zeigten wir ihnen das<br />
NGO-G<strong>es</strong>etz von 2016, das klar sagt,<br />
dass nur die NGO-Behörde uns die Lizenz<br />
entziehen kann – nicht die Polizei.<br />
Die Regeln sind klar, sie werden<br />
nur nicht von allen beachtet.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
15
UGANDA<br />
Ugandas kleine aber aufsteigende Klimabewegung<br />
macht mobil gegen den Bau der längsten Öl-Pipeline<br />
der Welt. Simone Schlindwein und Eduardo Soteras<br />
haben Aktivisten aus der jungen, gebildeten<br />
Elite in der Hauptstadt Kampala getroffen.<br />
16<br />
EINS<strong>2023</strong>
Aktivist John Hillary<br />
zeigt im katholischen<br />
Jugendzentrum in Kampala<br />
den Film „The Letter“<br />
Als John Hillary den Startknopf an seinem Computer<br />
drückt und der Vorspann d<strong>es</strong> Films anläuft, wirkt er<br />
etwas enttäuscht. Über 50 Aktivist*innen, Mitglieder<br />
von Umweltorganisationen und Student*innen hat er <strong>zu</strong>r Vorführung<br />
ins katholische Jugendzentrum in Ugandas Hauptstadt<br />
Kampala eingeladen. Doch nicht einmal eine Handvoll<br />
Leute sind an di<strong>es</strong>em Samstagvormittag erschienen.<br />
Der 28-jährige Hillary ist der ugandische Vorsitzende der<br />
Laudato-Si-Bewegung, einer katholischen, internationalen<br />
Umweltorganisation, die <strong>sich</strong> weltweit für Klimagerechtigkeit<br />
einsetzt. Im vergangenen Jahr hat Laudato Si den Film<br />
„The Letter“ (Der Brief) mit Papst Franziskus produziert, der<br />
in einem Schreiben alle Menschen der Erde da<strong>zu</strong> aufruft,<br />
die Umwelt <strong>zu</strong><br />
schützen. Der 90-<br />
minütige Dokumentarfilm<br />
begleitet Ak-<br />
Demonstrant*innen<br />
tivist*innen auf verschiedenen<br />
Konti-<br />
wurden mit Tränengas<br />
b<strong>es</strong>prüht, vernenten<br />
und schildert<br />
ihre täglichen<br />
Herausforderungen.<br />
haftet und angeklagt<br />
„Ziel der Filmvorführung ist <strong>es</strong>, dass wir uns auch in Uganda<br />
b<strong>es</strong>ser untereinander austauschen und vernetzen“, erklärt<br />
der IT-Student Hillary die Idee der Filmvorführung. Danach<br />
soll noch eine Diskussionsrunde stattfinden.<br />
Ugandas junge, aber aufsteigende Szene der Umweltaktivist*innen<br />
kämpft derzeit mit großen Herausforderungen.<br />
Im Januar hat Ugandas Präsident Yoweri Museveni den<br />
Startschuss für die Ölförderung sowie den Bau der längsten<br />
beheizten Rohöl-Pipeline der Welt gegeben. Dagegen haben<br />
im vergangenen Jahr land<strong>es</strong>weit immer wieder einzelne,<br />
kleine Aktivistengruppen demonstriert. Doch die Polizei<br />
ging brutal gegen sie vor. Mehrfach wurden Demonstranten<br />
mit Tränengas b<strong>es</strong>prüht, verhaftet und angeklagt, sie kamen<br />
nur auf Bewährung wieder frei. Büros von Umwelt- und<br />
Menschenrechtsorganisationen wurden vom Geheimdienst<br />
g<strong>es</strong>türmt, Computer und Akten konfisziert. Einige Nichtregierungsorganisationen<br />
wurden sogar ganz g<strong>es</strong>chlossen.<br />
Die Botschaft d<strong>es</strong> Regim<strong>es</strong> ist klar: Jegliche Kritik an<br />
Ugandas gigantischen Ölförderplänen wird als Opposition<br />
<strong>zu</strong> Präsident Museveni interpretiert, der seit 37 Jahren an<br />
der Macht ist. Die Ölprojekte sind Grundpfeiler seiner Zukunftsvision,<br />
das (arme) ostafrikanische Land <strong>zu</strong> industriali-<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
17
Immer droht die Verhaftung:<br />
Aktivisten<br />
kleben im Uganda<br />
Museum Plakate<br />
gegen die Öl-Pipeline<br />
sieren und damit Arbeitsplätze und Wohlstand für die nächsten<br />
Generationen <strong>zu</strong> fördern. <strong>Das</strong>s nun ausgerechnet die<br />
junge, gebildete Elite, die eigentlich in Musevenis Denken<br />
von di<strong>es</strong>en Jobs profitieren sollte, dagegen aufschreit,<br />
kommt quasi einer Maj<strong>es</strong>tätsbeleidung gleich.<br />
Als Ugandas Ölverträge mit internationalen Konzernen<br />
wie Total unterzeichnet wurden, gab <strong>es</strong> noch keine Fridays<br />
for Future Bewegung.<br />
Doch mittlerweile ist die Aktivistin Van<strong>es</strong>sa Nakate, die<br />
2019 noch freitags alleine mit einem Schild auf der Hauptstraße<br />
in Kampala stand, <strong>zu</strong> einer der engsten Mitstreiterinnen<br />
Greta Thunbergs in der Fridays for Future-Bewegung geworden.<br />
Und auch die Deutsche Luisa Neubauer hat <strong>sich</strong><br />
den Kampf gegen die EACOP-Pipeline in Ostafrika auf die<br />
Fahnen g<strong>es</strong>chrieben.<br />
<strong>Das</strong>s nun weltweit junge Aktivist*innen gegen die ugandischen<br />
Pipeline-Pläne mobil machen, wird vom Regime in<br />
Uganda als Kampfansage betrachtet. Und die ugandischen<br />
Aktivist*innen fürchten jetzt die Brutalität der Geheimdienste.<br />
In den letzten Jahren wurden Oppositionelle mehrfach<br />
gefoltert und misshandelt. Eine EU-R<strong>es</strong>olution hat im September<br />
2022 auf die Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen in Uganda<br />
im Zusammenhang mit den Ölprojekten hingewi<strong>es</strong>en,<br />
auch auf den brutalen Umgang<br />
mit Kritiker*innen.<br />
Ugandas Klimabewegung ist<br />
vor<strong>sich</strong>tiger geworden. Ihre Protagonist*innen<br />
kommunizieren<br />
nun vor allem abhör<strong>sich</strong>er und<br />
verschlüsselt, treffen <strong>sich</strong> nur<br />
an geheimen Orten. Doch die<br />
meisten agieren in kleinen<br />
Gruppen, wissen voneinander<br />
In den letzten Jahren<br />
wurden Oppositionelle<br />
gefoltert<br />
und misshandelt<br />
Breiter Prot<strong>es</strong>t:<br />
Ugandas Klimaaktivist*innen<br />
machen Front gegen<br />
ihre Regierung<br />
nur wenig. Mit der Filmvorführung wollte Hillary<br />
die verschiedenen Einzelkämpfer*innen in<br />
einem Saal <strong>zu</strong>sammenbringen, wie er sagt: „Damit<br />
wir uns austauschen und vernetzen können,<br />
um in Zukunft mit einer Stimme <strong>zu</strong> sprechen.“<br />
Immerhin, während der Film läuft, füllt <strong>sich</strong><br />
allmählich der Gemeind<strong>es</strong>aal. Studierende der<br />
Fakultät für Forstwirtschaft trudeln verschlafen<br />
ein, Musikerinnen, Künstler, junge Medizinstudent*innen<br />
rücken auf Plastikstühlen <strong>zu</strong>sammen.<br />
Als der Abspann läuft, wird in dem mittlerweile<br />
fast vollen Saal laut geklatscht. Schauspieler Cosmas<br />
Sserubogo steht ganz berührt auf. Er hat Tränen in den<br />
Augen. „Danke, dass ihr uns di<strong>es</strong>en Film gezeigt habt“, sagt<br />
er in die Runde. „<strong>Das</strong> inspiriert mich sehr, die Botschaft für<br />
mehr Umweltschutz nun auch in meine Theaterstücke und<br />
Musiktexte ein<strong>zu</strong>bringen“, nickt er und wischt <strong>sich</strong> die Tränen<br />
weg. Dafür erntet er ermutigenden<br />
Applaus.<br />
Viele der hier Anw<strong>es</strong>enden<br />
waren noch im Herbst<br />
„Wir müssen <strong>zu</strong>- vergangenen Jahr<strong>es</strong> auf die<br />
Straße gegangen. Sie zeigen<br />
auf ihren Handys Fotos<br />
sammenkommen<br />
und gemeinsam<br />
von vergangenen Prot<strong>es</strong>taktionen.<br />
„Menschen statt Profit“,<br />
steht auf den Plakaten<br />
<strong>kämpfen</strong>.“<br />
g<strong>es</strong>chrieben. „Hört auf, die<br />
Klimakrise <strong>zu</strong> fördern!“,<br />
verlangen sie. Doch in Anbetracht<br />
der Polizeigewalt traut <strong>sich</strong> mittlerweile niemand<br />
der Aktivist*innen mehr auf die Straße. Sie suchen nun<br />
nach alternativen Wegen, auf das Problem aufmerksam <strong>zu</strong><br />
machen.<br />
„Der Klimawandel ist schon voll im Gange!“, hat der 32-<br />
jährige Aktivist Chrispus Mwemaho vergangen<strong>es</strong> Jahr noch<br />
auf sein Poster gemalt. Er unterstützt in W<strong>es</strong>tuganda diejenigen<br />
Menschen, die 2021 vor Fluten und Erdrutschen aus<br />
ihren zerstörten Häusern fliehen mussten und jetzt in<br />
einem Lager ohne genügend Verpflegung leben. „Der Film<br />
verbreitet eine wunderbare Botschaft“, stellt er nach der<br />
Vorführung in der Diskussionsrunde klar: „Wir können als<br />
Einzelpersonen die Probleme d<strong>es</strong> Klimawandels nicht<br />
lösen“, betont er. „Wir müssen <strong>zu</strong>sammenkommen und gemeinsam<br />
<strong>kämpfen</strong>.“<br />
18<br />
EINS<strong>2023</strong>
MEINUNG<br />
Von Manfred Nowak<br />
Foto (o.): iStock.com<br />
W<br />
ir stehen an einer Zeitenwende.<br />
Der russische Angriffskrieg<br />
auf die Ukraine führt<br />
nicht nur <strong>zu</strong> schwersten Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen,<br />
sondern er stellt<br />
die g<strong>es</strong>amte Weltordnung in Frage, die<br />
1945 auf den Trümmern d<strong>es</strong> 2. Weltkriegs<br />
und nach dem Holocaust errichtet<br />
wurde. Sie basiert auf drei eng miteinander<br />
verbundenen Säulen: Friede,<br />
Entwicklung und Menschenrechte.<br />
Wenn <strong>es</strong> der internationalen Gemeinschaft<br />
unter Führung der Vereinten<br />
Nationen gelingt, di<strong>es</strong>en brutalen<br />
Krieg <strong>zu</strong> beenden, dann könnte uns im<br />
Jahr <strong>2023</strong> ein entscheidender Schritt<br />
<strong>zu</strong>r Verwirklichung einer auf den Menschenrechten<br />
basierenden neuen Weltordnung<br />
gelingen.<br />
Heuer jährt <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>m 75. Mal die<br />
Universelle Erklärung der Menschenrechte<br />
und <strong>zu</strong>m 30. Mal die Wiener Erklärung<br />
der Menschenrechte. Zur Zeit<br />
d<strong>es</strong> Kalten Kriegs hat <strong>sich</strong> der internationale<br />
Schutz der Menschenrechte als<br />
der einzig universell anerkannten normativen<br />
Grundlage für Sicherheit und<br />
Prosperität kontinuierlich weiter entwickelt:<br />
Dekolonisierung und Bekämpfung<br />
von Armut in Afrika und Asien,<br />
bindende Menschenrechtsverträge im<br />
Rahmen der Vereinten Nationen und<br />
regionaler Organisationen wie dem Europarat,<br />
der Organisation Amerikanischer<br />
Staaten und der Afrikanischen<br />
Union, der Kampf gegen Rassendiskriminierung<br />
und Apartheid, die Rechte<br />
von Frauen und Kindern, die Überwindung<br />
von Militärdiktaturen in Lateinamerika,<br />
Einparteienregimen in Afrika<br />
und kommunistischen Diktaturen in<br />
Europa sind nur die wichtigsten Beispiele<br />
di<strong>es</strong><strong>es</strong> Fortschritts.<br />
Mit dem Ende d<strong>es</strong> Kalten Kriegs<br />
eröffnete <strong>sich</strong> eine historische Chance,<br />
das friedliche Zusammenleben der Völker<br />
auf der Basis von Rechtsstaat, Demokratie<br />
und Menschenrechten Wirklichkeit<br />
werden <strong>zu</strong> lassen. Die Wiener<br />
Weltkonferenz bekräftigte 1993 die Universalität<br />
und Unteilbarkeit aller Menschenrechte<br />
und schuf ein Hochkommissariat<br />
für Menschenrechte als treibende<br />
Kraft der Weltgemeinschaft. Die<br />
Hauptverantwortlichen für die Völkermorde<br />
in Bosnien und Ruanda wurden<br />
vor speziell eingerichteten Strafgerichten<br />
<strong>zu</strong>r Verantwortung gezogen, was<br />
den Weg für ein generell<strong>es</strong> Weltstrafgericht<br />
in Den Haag ebnete. Und regionale<br />
Menschenrechtsgerichte in Europa,<br />
Amerika und Afrika bieten Tausenden<br />
von Menschen die Möglichkeit,<br />
Verlet<strong>zu</strong>ngen ihrer Menschenrechte<br />
gegen ihre Regierungen ein<strong>zu</strong>klagen<br />
und deren Urteile durch<strong>zu</strong>setzen. D<strong>es</strong>wegen<br />
ist <strong>es</strong> höchste Zeit, dass auch<br />
die Vereinten Nationen einen Weltgerichtshof<br />
für Menschenrechte einrichten,<br />
der allen Menschen di<strong>es</strong>er Welt<br />
die Möglichkeit gibt, ihre Menschenrechte<br />
gegen ihre eigenen Regierungen,<br />
transnationale Konzerne und andere<br />
Machtträger wirksam durch<strong>zu</strong>setzen.<br />
Denn Gerichte sprechen nicht<br />
nur Recht im Einzelfall, sondern sie erfüllen<br />
die Menschenrechte auch mit<br />
Leben und entwickeln sie weiter, wie<br />
wir in jüngster Zeit gerade bei den<br />
großen Herausforderungen der Gegenwart<br />
wie bei der Digitalisierung und<br />
beim Klimawandel g<strong>es</strong>ehen haben.<br />
Manfred Nowak ist Jurist,<br />
Prof<strong>es</strong>sor für Menschenrechte<br />
und Menschenrechtsanwalt<br />
in Wien und Generalsekretär<br />
d<strong>es</strong> Global Campus<br />
of Human Rights in Venedig.<br />
Von 2004 bis 2010<br />
war er als Sonderberichterstatter<br />
der Vereinten Nationen über Folter tätig.<br />
Nowak setzt <strong>sich</strong> für Menschenrechte in verschiedenen<br />
Ländern ein, in denen Menschen gefoltert<br />
und misshandelt werden.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
19
INFOGRAFIK<br />
Anzahl der Länder mit einer<br />
demokratischen Regierungsform 2022<br />
24 Länder sind<br />
vollständige Demokratien<br />
48 Länder sind<br />
unvollständige Demokratien<br />
36 Länder sind<br />
Hybridregime<br />
59 Länder sind<br />
autoritäre Regime<br />
36,9 %<br />
Prozent der<br />
Weltbevölkerung<br />
8,0 %<br />
37,2 %<br />
Quelle: EIU<br />
17,9 %<br />
Grafik: Infotext Berlin<br />
Verfahren am Europäischen Gerichtshof<br />
für Menschenrechte 2022<br />
72.750<br />
Verfahren insg<strong>es</strong>amt anhängig<br />
17.550 Verfahren anhängig gegen Russland<br />
17.200 Verfahren anhängig gegen die Türkei<br />
11.400 Verfahren anhängig gegen die Ukraine<br />
Quelle: Statista<br />
Umfrage<br />
Menschenrechte<br />
<strong>Das</strong> Recht auf Meinungsfreiheit<br />
ist das bekannt<strong>es</strong>te der durch die Vereinten Nationen<br />
definierten Menschenrechte.<br />
Es wurde von 58 Prozent der Befragten<br />
in einer weltweiten Umfrage genannt.<br />
Sechs Prozent der Befragten waren der Meinung,<br />
dass das Waffenrecht durch die UN<br />
als Menschenrecht definiert sei.<br />
Nur 43 Prozent der Befragten (vier von zehn)<br />
sind der Meinung, dass jede*r in ihrem Land<br />
die gleichen grundlegenden Menschenrechte genießt.<br />
20<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
Quelle: IPSOS Studie <strong>zu</strong>m Thema<br />
Menschenrechte im Jahr 2018
Quelle: Europäische Kommission,<br />
Umfrage Sommer 2022<br />
Umfrage 2022 <strong>zu</strong>r Demokratie<strong>zu</strong>friedenheit<br />
in Deutschland<br />
Sind Sie mit der Art und Weise,<br />
wie die Demokratie in Deutschland<br />
funktioniert, all<strong>es</strong> in allem g<strong>es</strong>ehen<br />
<strong>zu</strong>frieden?<br />
22 %<br />
sehr <strong>zu</strong>frieden<br />
ziemlich <strong>zu</strong>frieden<br />
nicht sehr <strong>zu</strong>frieden<br />
überhaupt nicht <strong>zu</strong>frieden<br />
weiß nicht<br />
1 %<br />
6 %<br />
12 %<br />
59 %<br />
Moderne Sklaverei<br />
49,6 Millionen<br />
Menschen lebten 2021 weltweit in moderner Sklaverei –<br />
davon 27,6 Millionen<br />
als Arbeitssklav*innen,<br />
weitere 22 Millionen<br />
in erzwungenen Ehen.<br />
Moderne Sklaverei gibt <strong>es</strong><br />
in jedem Land der Welt, am höchsten<br />
ist ihr Wert im Asien-Pazifik-Raum mit<br />
29,3 Millionen Menschen.<br />
+ 10 Mio.<br />
Im Vergleich <strong>zu</strong> 2016 ist die Anzahl<br />
um zehn Millionen g<strong>es</strong>tiegen.<br />
Quelle:<br />
International Labour Organisation<br />
29,3 Mio.<br />
Zwölf Prozent aller von Zwangsarbeit betroffenen Personen sind Kinder.<br />
World Happin<strong>es</strong>s<br />
Report<br />
Die 20 Länder<br />
mit den<br />
glücklichsten Menschen<br />
sind Demokratien.<br />
23 von 25 Ländern<br />
mit der<br />
höchsten Lebenserwartung<br />
sind Demokratien.<br />
Die ersten 32 Länder<br />
in der Rangliste<br />
der Pr<strong>es</strong>sefreiheit<br />
sind Demokratien.<br />
Morde an Journalist*innen<br />
nehmen <strong>zu</strong><br />
Der steile Anstieg getöteter<br />
Journalist*innen zeige Risse<br />
im Rechtsstaatlichkeitssystem,<br />
warnt die UNESCO.<br />
Staaten versagten beim<br />
Schutz von Journalist*innen<br />
und bei der Strafverfolgung,<br />
wenn di<strong>es</strong>e angegriffen werden.<br />
Die gefährlichsten Länder<br />
für Journalist*innen<br />
Haiti<br />
9 Tötungen<br />
Ukraine<br />
10 Tötungen<br />
58<br />
2019 – 2021<br />
86<br />
Mexiko<br />
19 Tötungen<br />
2022<br />
Quelle: UNESCO<br />
Quelle: World Happin<strong>es</strong>s Report,<br />
Tim<strong>es</strong> Higher Education Ranking<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
21
Blick auf das Stadtviertel<br />
Barrìo 12 de Abril:<br />
Der Alltag ist hier von<br />
Mangel und Entbehrung<br />
gekennzeichnet<br />
BOLIVIEN<br />
Text von Constanze Bandowski<br />
Fotos von Florian Kopp<br />
Die Bolivianerin Inés Rodriguez engagiert <strong>sich</strong> beim Bürger*innensender<br />
„Mi Barrio Observa“ in Tarija. Ihr Ziel: Mehr Gerechtigkeit<br />
und b<strong>es</strong>sere Lebensbedingungen für benachteiligte Menschen<br />
in ihrem Stadtviertel.<br />
Inés Rodríguez hat eine Mission. Die 50-jährige Bolivianerin<br />
will die Missstände in ihrer Heimatstadt Tarija aufdecken<br />
und das Leben der Menschen verb<strong>es</strong>sern. „Bei<br />
uns gibt <strong>es</strong> <strong>zu</strong> viel Ungerechtigkeit“, sagt die Bewohnerin<br />
d<strong>es</strong> Stadtrandviertels Barrio 12 de Abril. In Jeans, Sneakern<br />
und warmer Fleecejacke steht die kleine, charismatische<br />
Frau auf einer unbef<strong>es</strong>tigten Schotterpiste an den Ausläufern<br />
der Anden. Der Regen hat tiefe Furchen in die Erde g<strong>es</strong>pült,<br />
der Wind wirbelt Staub auf. Herrenlose Hunde streunen<br />
durch die baumlose Ödnis. Aus den unverputzten Häusern<br />
ragt Bewehrungsstahl in die Luft. Die meisten Menschen<br />
in Barrio 12 de Abril verdienen ihr Geld als Tagelöhner,<br />
Straßenhändlerinnen, Putzkräfte oder Gelegenheitsarbeitende.<br />
Im Stadtteil gibt <strong>es</strong> große Probleme mit Alkohol,<br />
Gewalt und Drogen. Junge Männer driften leicht in die Kriminalität<br />
ab, aber der Staat hält <strong>sich</strong> fern.<br />
„In Barrio 12 de Abril gibt <strong>es</strong> keine Kanalisation, kein<br />
Trinkwassersystem, keine Abfallentsorgung. Es gibt kaum<br />
öffentliche Transportmittel und auf die Polizei ist auch<br />
kein Verlass“, sagt Inés Rodríguez. Immerhin bietet eine<br />
Straßenbeleuchtung den Bürgerinnen und Bürgern inzwischen<br />
etwas mehr Sicherheit im Dunkeln. Die Installierung<br />
ist unter anderem ein Verdienst von Doña Inés. Neben<br />
ihrem Vollzeitjob als Reinigungskraft berichtet sie für den<br />
Bürger*innensender „Mi Barrio Observa“ – „Mein Stadtviertel<br />
berichtet“ – aus den Problemzonen der Stadt. Mit Auf-<br />
22<br />
EINS<strong>2023</strong>
„Ich bin stolz,<br />
als Journalistin<br />
<strong>zu</strong> arbeiten und<br />
Dinge in Bewegung<br />
<strong>zu</strong> setzen.“<br />
nahmegerät und Smartphone interviewt<br />
die Amateurreporterin regelmäßig<br />
Betroffene und holt<br />
auch Gemeindevorsitzende,<br />
Polizisten, Krankenschw<strong>es</strong>tern<br />
oder Politikerinnen vor ihr Mikrofon.<br />
„Unser Programm hat einen großen Einfluss<br />
auf die öffentliche Wahrnehmung“, sagt Elena<br />
Peña von <strong>Misereor</strong>s Partnerorganisation ECAM.<br />
„Die Behörden merken, dass <strong>sich</strong> die Menschen<br />
für ihre Stadtviertel engagieren. Dadurch<br />
können sie <strong>es</strong> <strong>sich</strong> nicht mehr leisten,<br />
weg<strong>zu</strong>schauen und die Entwicklung<br />
<strong>zu</strong> vernachlässigen.“ Die Medienexpertin<br />
unterstützt ehrenamtliche Reporterinnen<br />
wie Inés Rodríguez bei<br />
ihren samstäglichen Live-Sendungen<br />
im Radio und auf Facebook. Doña<br />
Inés gehört <strong>zu</strong> den engagiert<strong>es</strong>ten<br />
Köpfen im Team. Pro Monat übernimmt<br />
sie mind<strong>es</strong>tens zwei Themen,<br />
egal, ob <strong>es</strong> <strong>sich</strong> dabei um fehlende<br />
Sickergruben handelt, um häusliche<br />
Gewalt, Probleme mit den Männern<br />
oder Schulbusse für die Kinder. „Früher<br />
war ich viel <strong>zu</strong> schüchtern, um andere<br />
Menschen an<strong>zu</strong>sprechen“, sagt Doña Inés.<br />
„Heute muss ich mich zwar nach wie vor überwinden,<br />
aber ich bin stolz, als Journalistin <strong>zu</strong> arbeiten<br />
und Dinge in Bewegung <strong>zu</strong> setzen.“<br />
Der Weg <strong>zu</strong>r Radioreporterin war lang, aber<br />
Inés Rodríguez hat ihn trotz aller Widerstände<br />
g<strong>es</strong>chafft. Sie hat keinen Schulabschluss, keine<br />
Ausbildung und kein Studium. „Ich kann nicht<br />
einmal schreiben“, sagt die ruhige Frau mit<br />
stramm <strong>zu</strong>rückgebundenem Haarzopf und<br />
schmalen Lippen. Mit acht Jahren schickten<br />
ihre Eltern sie als Hausmädchen fort.<br />
Im 800 Kilometer entfernten Cochabamba<br />
schuftete die kleine Inés in Privathaushalten,<br />
schlief auf Küchenfußböden<br />
und wurde g<strong>es</strong>chlagen.<br />
Mit 19 zog sie <strong>zu</strong>rück nach Tarija,<br />
heiratete einen Metallbauer und<br />
bekam zwei Söhne. Ihr Mann war Alko-<br />
Inés Rodríguez<br />
produziert ein Interview<br />
für ihre samstäglichen Live-<br />
Sendungen im Radio<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
23
ECAM –<br />
der Stolz bolivianischer Frauen<br />
Die <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation ECAM (Equipo de<br />
Comunicacíon Alternativa con Mujer<strong>es</strong> – Team für alternative<br />
Kommunikation mit Frauen) ist seit 1993<br />
aktiv für Demokratie und G<strong>es</strong>chlechtergerechtigkeit.<br />
Die <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation engagiert <strong>sich</strong> für<br />
die politische Teilhabe und Selbstwirksamkeit von<br />
Frauen sowie die B<strong>es</strong>eitigung sexualisierter Gewalt.<br />
Mehr Informationen und Spendenmöglichkeit unter<br />
misereor.de/bolivien-kolumbien-frauenrechte<br />
Die Direktorin<br />
von ECAM, Peky Rubín<br />
de Celis, plant im Team die<br />
nächsten Projekte<br />
holiker. Und wenn er trank, schlug er <strong>zu</strong>. „Als Frau bist du<br />
hier nichts wert“, sagt Doña Inés. Bolivien ist ein Land d<strong>es</strong><br />
Machismo. Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigungen in der<br />
Ehe oder wirtschaftliche Unterdrückung gelten gemeinhin<br />
als Kavaliersdelikte. Die hübsche Kolonialstadt Tarija im<br />
Süden Boliviens hat land<strong>es</strong>weit die höchste Rate an Gewalt<br />
gegen Frauen. Jeden Tag melden zehn Frauen und Mädchen<br />
einen Übergriff an die <strong>zu</strong>ständigen Behörden. Die meisten<br />
Straftaten bleiben jedoch ungeahndet, die Dunkelziffer<br />
liegt deutlich höher. Meist kennen die Opfer ihre Täter, oft<br />
sind <strong>es</strong> ihre Lehrer, Onkel, Nachbarn, Väter oder Ehemänner.<br />
Gerade in den ärmeren Vierteln wie Barrio 12 de Abril<br />
leiden viele Frauen und Kinder unter häuslicher Gewalt.<br />
D<strong>es</strong>halb setzt <strong>sich</strong> ECAM seit 1993 für die Rechte der Frauen<br />
in Tarija und ganz Bolivien ein, für ihre g<strong>es</strong>ellschaftliche<br />
Teilhabe und für G<strong>es</strong>chlechtergerechtigkeit.<br />
Jeden Tag melden<br />
zehn Frauen und<br />
Mädchen einen<br />
Übergriff an die<br />
Behörden<br />
„ECAM war für mich wie eine Offenbarung“, sagt Inés Rodríguez<br />
unter dem Wellblechdach ihrer Veranda. Nach Jahren<br />
der Gewalt und Demütigung b<strong>es</strong>chloss sie im Alter von 35<br />
Jahren, <strong>sich</strong> scheiden <strong>zu</strong> lassen. „Ich hielt die Brutalität mein<strong>es</strong><br />
Mann<strong>es</strong> nicht mehr aus.“ ECAM war in der Nachbarschaft<br />
bekannt und so traute <strong>sich</strong> die verschüchterte Inés<br />
Rodríguez, die kostenfreie Rechtsberatung in Anspruch <strong>zu</strong><br />
nehmen. „Bei ECAM erfuhr ich <strong>zu</strong>m ersten Mal in meinem<br />
Leben: Ich darf mich wehren!“ Inés Rodríguez traf Frauen<br />
mit ähnlichen Schicksalen, Frauen, die über ihre Traumata<br />
sprechen wollten, die <strong>sich</strong><br />
wehren und für ihre Gleichberechtigung<br />
<strong>kämpfen</strong> wollten.<br />
Sie b<strong>es</strong>uchte Workshops,<br />
lernte ihre Rechte kennen,<br />
entwickelte Selbstbewusstsein<br />
und Lebensfreude.<br />
Die Scheidung reichte<br />
sie <strong>zu</strong>nächst nicht ein, aber<br />
sie wi<strong>es</strong> ihren Ehemann in<br />
die Schranken und erzog<br />
ihre Söhne <strong>zu</strong> r<strong>es</strong>pektvollen<br />
jungen Männern. Bei ECAM<br />
lernte sie auch, Radiobeiträge für „Mi Barrio Observa“ <strong>zu</strong><br />
produzieren. Themen gibt <strong>es</strong> reichlich: Wenn sie in ihrem<br />
Stadtviertel unterwegs ist, bietet das, was sie hört und sieht,<br />
viel Stoff für journalistische Recherchen.<br />
Durch ECAM führt Inés Rodríguez heute ein selbstb<strong>es</strong>timmt<strong>es</strong><br />
Leben. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Reinigungskraft.<br />
In ihrer Freizeit engagiert sie <strong>sich</strong> bei „Mi Barrio<br />
Observa“. Ihr Mann lebt noch im gemeinsamen Haus,<br />
hat hier ein Zimmer und seine Werkstatt, aber nichts mehr<br />
<strong>zu</strong> sagen. „Unsere Männer müssen <strong>sich</strong> verändern“, sagt<br />
Doña Inés mit Nachdruck. Auf ihrem dunklen T-Shirt von<br />
ECAM prangen klare Forderungen in Weiß auf Schwarz: „Sexuelle<br />
Gewalt ist ein Verbrechen“ und „Schluss mit der<br />
Straffreiheit“. Bis di<strong>es</strong>e Ziele erreicht sein werden, kämpft<br />
Inés Rodríguez weiter mit Zivilcourage, Aufnahmegerät und<br />
am liebsten auch mit Block und Stift. „Ich bin Journalistin“,<br />
sagt sie mit aufrechter Haltung. „Ich will schreiben können.“<br />
Ihre Chancen stehen nicht schlecht. ECAM ist in der<br />
Stadt gut vernetzt und kann ihr den Zugang <strong>zu</strong> kostenfreien<br />
Alphabetisierungskursen verschaffen.<br />
Florian Kopp: siehe Seite 3<br />
Constanze Bandowski hätte Doña Inés und ihre<br />
kämpferischen Mitstreiterinnen gerne selbst kennengelernt.<br />
Auf ihren Recherchereisen hat sie schon viele<br />
Frauenrechtlerinnen begleitet. Für di<strong>es</strong><strong>es</strong> Porträt mussten<br />
jedoch G<strong>es</strong>präche, Fotos und Videos reichen.<br />
Di<strong>es</strong>e waren aber so lebendig, dass <strong>sich</strong> die Autorin<br />
fast fühlte, als sei sie selbst vor Ort gew<strong>es</strong>en.<br />
24<br />
EINS<strong>2023</strong>
PHILIPPINEN<br />
Die philippinische<br />
Friedensnobelpreisträgerin<br />
Maria R<strong>es</strong>sa verteidigt<br />
die Demokratie im Internet<br />
und streitet für Plattformen,<br />
die nicht spalten, sondern<br />
verbinden. Dafür drohen ihr<br />
100 Jahre Haft.<br />
Text von Elisa Rheinheimer<br />
Foto: dpa picture-alliance<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
25
Die philippinische Inv<strong>es</strong>tigativ-Journalistin Maria R<strong>es</strong>sa<br />
wurde immer wieder Zielscheibe von Hass und Gewaltandrohungen,<br />
sowohl von staatlicher Seite als<br />
auch im Netz. Sie hat miterlebt, wie der Ex-Regierungschef<br />
Rodrigo Duterte in seinem „Kampf gegen die Drogen“ Zehntausende<br />
Menschen ermorden ließ. Sie war in Kriegsgebieten<br />
Südostasiens als Reporterin unterwegs, hat Nächte auf<br />
harten Stühlen in Polizeigewahrsam verbracht, Wellen von<br />
Gewalt durchs Internet rollen sehen, die <strong>sich</strong> dann im echten<br />
Leben entluden, und mit al-Qaida-nahen Extremisten<br />
Fotos: dpa picture-alliance<br />
Verhandlungen geführt. Die 59-Jährige verlässt ihr Haus nur<br />
noch mit kugel<strong>sich</strong>erer W<strong>es</strong>te, Dutzende Haftbefehle wurden<br />
aufgrund ihrer Arbeit gegen sie erlassen. Ihren Glauben<br />
an das Gute im Menschen hat sie dennoch nicht verloren:<br />
„<strong>Das</strong> Vertrauen auf das Gute im Menschen ist integraler B<strong>es</strong>tandteil<br />
meiner Welt<strong>sich</strong>t“, schreibt sie in ihrer aktuell auf<br />
Deutsch erschienenen Biografie „Wie man <strong>sich</strong> gegen einen<br />
Diktator <strong>zu</strong>r Wehr setzt“.<br />
26 EINS<strong>2023</strong><br />
Lohn d<strong>es</strong> Engagements<br />
für die Wahrheit:<br />
Maria R<strong>es</strong>sa hält die Haftbefehle<br />
in die Kameras<br />
Die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit<br />
stehen für sie an erster Stelle. Auch ihr Glaube<br />
hat sie geprägt, wenngleich sie hier<strong>zu</strong> nicht<br />
viele Worte verliert. Während ihr<strong>es</strong> Studiums<br />
an einer US-amerikanischen Elite-Uni brachte<br />
ihre Mutter ihr einst eine ri<strong>es</strong>ige Marien-Statue<br />
mit, die fortan auf ihrer Kommode thronte.<br />
Aber erst viel später, als sie nach einer<br />
Sturzflut auf den Philippinen <strong>zu</strong>sah, wie<br />
mehr als 600 Leichen in einem Massengrab in<br />
Ormoc verscharrt wurden, das Wehklagen der<br />
Familien hörte und umgeben war vom G<strong>es</strong>tank<br />
verw<strong>es</strong>enden Fleisch<strong>es</strong>, „in di<strong>es</strong>em Moment“,<br />
so schreibt sie, „b<strong>es</strong>chloss ich, an Gott<br />
<strong>zu</strong> glauben.“ Di<strong>es</strong>er schnörkellose Pragmatismus<br />
zieht <strong>sich</strong> durch ihre Biografie.<br />
Ihr Lebensthema ist jedoch der Kampf<br />
gegen die Übermacht der Technologiekonzerne,<br />
die die sozialen Medien kontrollieren.<br />
Deren Algorithmen, das wird sie nicht müde <strong>zu</strong> beweisen,<br />
belohnen Hass und Gewalt und bereiten so die Saat für den<br />
Aufstieg von Scharfmachern und Kriegstreibern. Als die sozialen<br />
Netzwerke der breiten Mehrheit noch als willkommene<br />
Kommunikationsmittel galten, warnte sie bereits davor,<br />
welch zerstörerisch<strong>es</strong> Potenzial Facebook und Co. innewohnt.<br />
Wie ein Lauffeuer verbreiten <strong>sich</strong> dort Lügen, was<br />
autoritäre Regime g<strong>es</strong>chickt für <strong>sich</strong> nutzen – Rodrigo Du-
Buchhinweis<br />
Maria R<strong>es</strong>sa:<br />
How to stand up<br />
to a Dictator<br />
Der Kampf<br />
um unsere Zukunft<br />
terte und <strong>zu</strong>letzt der Diktatorensohn und jetzige Präsident<br />
Ferdinand Marcos Junior machten das vor. Was heute auf<br />
den Philippinen passiert, g<strong>es</strong>chieht morgen anderswo, so<br />
ihre Überzeugung.<br />
Fakten zählen nicht mehr – di<strong>es</strong>e Erfahrung machte<br />
R<strong>es</strong>sa, die jahrelang für CNN in Indon<strong>es</strong>ien und den Philippinen<br />
tätig war und das preisgekrönte Online-Nachrichtenportal<br />
Rappler gründete, lange vor dem Aufstieg der<br />
Trumps di<strong>es</strong>er Welt. Die ehemals begeisterte Facebook-Nutzerin<br />
suchte das G<strong>es</strong>präch mit Gründer Mark Zuckerberg<br />
und warnte vor den Folgen der unregulierten Flut an Fake<br />
News für die Demokratie. Erst 2021, als sie für die Verteidigung<br />
der Pr<strong>es</strong>sefreiheit den Friedensnobelpreis bekam, begann<br />
die Welt ihr <strong>zu</strong><strong>zu</strong>hören. „Die Technologieplattformen<br />
haben Regeln eingeführt, die digitalen Populisten und autoritären<br />
Herrschern das Äquivalent einer Atombombe in die<br />
Hand gaben, mit dem sie die G<strong>es</strong>ellschaften und Demokratien<br />
überall auf der Welt<br />
auf den Kopf stellen<br />
können“, berichtet sie.<br />
Fakten zählen nicht<br />
mehr – di<strong>es</strong>e Erfahrung<br />
machte die<br />
Journalistin Maria<br />
R<strong>es</strong>sa lange vor<br />
dem Aufstieg der<br />
Trumps di<strong>es</strong>er Welt<br />
Quadriga Verlag,<br />
Köln 2022,<br />
352 Seiten<br />
Gemeinsam auf der<br />
Straße: Demonstration<br />
für Pr<strong>es</strong>sefreiheit und<br />
Rechtsstaatlichkeit<br />
Davor <strong>zu</strong> warnen wird<br />
sie nicht müde.<br />
R<strong>es</strong>sa ist nicht nur<br />
Heldin, sondern auch<br />
eine Getriebene. Sie<br />
kann nicht mehr tagsüber<br />
ihrer Arbeit nachgehen<br />
und abends Zeit mit der<br />
Familie verbringen. Sie weiß<br />
<strong>zu</strong> viel. Von den Zusammenhängen<br />
zwischen Algorithmen und Autokratien. Von den<br />
Gefahren, die <strong>es</strong> mit <strong>sich</strong> bringt, wenn seriöser Journalismus<br />
nicht mehr zählt und <strong>sich</strong> eine G<strong>es</strong>ellschaft nicht auf<br />
unumstößliche Fakten einigen kann.<br />
Doch sie weigert <strong>sich</strong>, <strong>sich</strong> mit einer solchen Welt ab<strong>zu</strong>finden.<br />
Und fordert eine b<strong>es</strong>sere. Wie die aussehen könnte?<br />
Zunächst gelte <strong>es</strong>, „die Rechtsstaatlichkeit in der virtuellen<br />
Welt wiederher(<strong>zu</strong>)stellen –<br />
damit eine Vision ein<strong>es</strong> Internets<br />
entsteht, das uns nicht<br />
Erst 2021, als sie für<br />
die Verteidigung der<br />
Pr<strong>es</strong>sefreiheit den<br />
Friedensnobelpreis<br />
bekam, begann die<br />
Welt ihr <strong>zu</strong><strong>zu</strong>hören<br />
spaltet, sondern verbindet.“ Verbundenheit<br />
und Zusammenarbeit<br />
sind für sie unabdingbar.<br />
Daher stellte sie ihr Nachrichtenportal<br />
Rappler so auf, dass<br />
<strong>es</strong> nicht nur im Inter<strong>es</strong>se der eigenen<br />
Firma agiert, sondern gelernte<br />
Lektionen teilt, auch mit<br />
Mitbewerbern. Die von ihr mit<br />
ins Leben gerufene Datenbank<br />
Sharktank ist heute für wissenschaftliche<br />
Einrichtungen und<br />
Forscher <strong>zu</strong>gänglich, die verstehen wollen, „wie der Umgang<br />
mit b<strong>es</strong>timmten Informationen eine stabile Demokratie<br />
in ein autoritär<strong>es</strong> Herrschaftssystem verwandeln kann.“<br />
Sie setzt auf bürgerschaftlich<strong>es</strong> Engagement und erlebte<br />
<strong>es</strong> selbst, als Wildfremde in einen Fonds einzahlten, sodass<br />
Maria R<strong>es</strong>sa und Rappler die Anwaltskosten begleichen<br />
konnten, die aufgrund der staatlichen Repr<strong>es</strong>sionen immer<br />
wieder anfallen. „Ich bin selten enttäuscht worden. <strong>Das</strong> ist<br />
für mich Stärke und der Grund, warum ich an das Gute in<br />
der menschlichen Natur glaube.“ Ihrer Erfahrung nach entstehen<br />
dort, wo <strong>es</strong> Verletzlichkeit gibt, die stärksten Bindungen<br />
und inspirierende Möglichkeiten.<br />
Elisa Rheinheimer ist freie Journalistin, unter anderem<br />
für die Frankfurter Rundschau, welt-<strong>sich</strong>ten, Qantara<br />
und den Evangelischen Pr<strong>es</strong>sedienst. Am liebsten<br />
ist sie unterwegs – ob auf Recherche in Ägypten<br />
oder Taiwan, Banglad<strong>es</strong>ch oder dem Gazastreifen. Ehrenamtlich<br />
engagiert sie <strong>sich</strong> im Vorstand d<strong>es</strong> Vereins<br />
„journalists network“.<br />
EINS<strong>2023</strong> 27
Artikel<br />
1<br />
Jede Person,<br />
gleich welchen G<strong>es</strong>chlechts,<br />
welcher ethnischen<br />
Herkunft, welchen sozialen Status,<br />
welcher politischer Überzeugung,<br />
welcher Sprache, welchen Alters,<br />
welcher Nationalität oder Religion,<br />
hat die Pflicht, alle Menschen<br />
menschlich <strong>zu</strong> behandeln.<br />
Die „Allgemeine Erklärung<br />
der Menschenpflichten“ –<br />
eine Hausordnung für alle<br />
<strong>Das</strong>s <strong>es</strong> Menschenrechte gibt, hat <strong>sich</strong> inzwischen<br />
herumg<strong>es</strong>prochen, dass <strong>es</strong> aber auch eine „Allgemeine<br />
Erklärung der Menschenpflichten“ gibt, weiß kaum<br />
jemand. <strong>Das</strong> Dokument wurde 1997 von dem InterAction<br />
Council den Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit<br />
<strong>zu</strong>r Diskussion vorgelegt. Unterzeichnet wurde <strong>es</strong><br />
von hochrangigen Staats- und Regierungschefs,<br />
unter ihnen Helmut Schmidt.<br />
In den 19 Artikeln <strong>zu</strong>m Thema Menschenpflichten<br />
geht <strong>es</strong> um Grundregeln für einen r<strong>es</strong>pektvollen Umgang<br />
miteinander und der Welt, die uns umgibt.<br />
Also: wie gemacht für Zeiten wie di<strong>es</strong>e.<br />
Illustrationen von<br />
Mehrdad Zaeri<br />
Artikel<br />
Keine Person,<br />
keine Gruppe oder<br />
Organisation, kein Staat, keine<br />
Armee oder Polizei steht jenseits von<br />
Gut und Böse; sie alle unterstehen<br />
moralischen Maßstäben. Jeder<br />
Mensch hat die Pflicht,<br />
unter allen Umständen<br />
Gut<strong>es</strong> <strong>zu</strong> fördern<br />
und Bös<strong>es</strong> <strong>zu</strong><br />
meiden.<br />
3<br />
28<br />
EINS<strong>2023</strong>
Artikel<br />
5<br />
Jede Person<br />
hat die Pflicht, Leben<br />
<strong>zu</strong> achten. Niemand hat das<br />
Recht, eine andere menschliche<br />
Person <strong>zu</strong> verletzen, <strong>zu</strong> foltern oder<br />
<strong>zu</strong> töten. Di<strong>es</strong> schließt das Recht<br />
auf gerechtfertigte Selbstverteidigung<br />
von Individuen<br />
und Gemeinschaften<br />
nicht aus.<br />
Artikel<br />
7<br />
Jede Person<br />
ist unendlich kostbar<br />
und muss unbedingt<br />
g<strong>es</strong>chützt werden. Schutz verlangen<br />
auch die Tiere und die natürliche<br />
Umwelt. Alle Menschen haben<br />
die Pflicht, Luft, Wasser und Boden<br />
um der gegenwärtigen Bewohner<br />
und der <strong>zu</strong>künftiger Generationen<br />
willen <strong>zu</strong><br />
schützen.<br />
Artikel<br />
9<br />
Alle Menschen,<br />
denen die notwendigen<br />
Mittel gegeben sind, haben die<br />
Pflicht, ernsthafte Anstrengungen <strong>zu</strong><br />
unternehmen, um Armut, Unterernährung,<br />
Unwissenheit und Ungleichheit <strong>zu</strong> überwinden.<br />
Sie sollen überall auf der<br />
Welt eine nachhaltige Entwicklung<br />
fördern, um für alle Menschen<br />
Würde, Freiheit, Sicherheit und<br />
Gerechtigkeit <strong>zu</strong><br />
gewährleisten.<br />
Zum<br />
Nachl<strong>es</strong>en!<br />
Mehrdad Zaeri wurde in Isfahan/Iran geboren. Im Alter<br />
von vierzehn Jahren floh er mit seiner Familie über<br />
die Türkei nach Deutschland. Seit 2006 ist er als Buchillustrator,<br />
Live-Performance-Zeichner und G<strong>es</strong>chichtenerzähler<br />
im deutschsprachigen Raum tätig. 2016<br />
gründete er mit Christina Laube das „Duo Sourati“, um<br />
großformatige Zeichnungen an Fassaden <strong>zu</strong> sprühen.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
29
LANDWIRTSCHAFT<br />
Text von<br />
Annette Jensen<br />
Eine Landwirtschaft, die <strong>zu</strong>r Eindämmung d<strong>es</strong> Klimawandels beiträgt,<br />
die Fairn<strong>es</strong>s und das Wohlergehen der Landwirte fördert und<br />
erschwingliche, nachhaltige und g<strong>es</strong>unde Lebensmittel hervorbringt.<br />
Di<strong>es</strong>en Traum wahr werden <strong>zu</strong> lassen, daran arbeiten Helmy Abouleish<br />
in Ägypten und Benedikt Bösel in Brandenburg.<br />
Beispiel Ägypten<br />
Die Wüste <strong>zu</strong>m Blühen bringen<br />
Vor einem halben Jahrhundert war hier all<strong>es</strong> Wüste.<br />
Jetzt grünt, blüht und duftet <strong>es</strong> 60 Kilometer nördlich<br />
von Kairo. Menschen ernten Kamille, Fenchel,<br />
Zucchini und Paprika, andere bauen Saatgut an oder nähen<br />
Strampler aus Bio-Baumwolle. Weiße Häuser mit g<strong>es</strong>chwungenen<br />
Formen beherbergen Produktionsstätten, Konzertsäle<br />
und Klassenzimmer. 2.000 Menschen arbeiten auf dem<br />
200 Hektar großen Gelände von Sekem. Viele b<strong>es</strong>chreiben<br />
die Entwicklung als Wunder. Auch Markus Wolter, Referent<br />
für Landwirtschaft und Welternährung<br />
bei <strong>Misereor</strong>, war schwer<br />
beeindruckt, als er vor Kurzem<br />
Bis 2057 soll<br />
die Landwirtschaft<br />
in Ägypten nachhaltig<br />
sein<br />
die Partnerorganisation b<strong>es</strong>ucht<br />
hat. „<strong>Das</strong> all<strong>es</strong> ist kein Hexenwerk,<br />
sondern zeigt, was mit<br />
einem ganzheitlichen Ansatz von<br />
Bio-Landwirtschaft, Bildung und<br />
Kultur all<strong>es</strong> möglich ist.“<br />
1977 brach Ibrahim Abouleish seine Karriere als Leiter einer<br />
pharmazeutischen Forschungsabteilung in Graz ab. Zusammen<br />
mit seiner Familie kehrte er nach über 20 Jahren in<br />
seine Heimat Ägypten <strong>zu</strong>rück. Im Gepäck hatte er eine Vision,<br />
die seine Freunde und die neuen Nachbarn für völlig<br />
verrückt hielten: Mit Hilfe von Kuhdung und Kompost wollte<br />
er toten Sandboden in fruchtbare Erde verwandeln. Und<br />
er wollte noch mehr. Die dort B<strong>es</strong>chäftigten sollten ein Drittel<br />
ihrer Arbeitszeit mit Bildung, Gemeinschaftsaktivitäten<br />
30<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
Wo einst toter Sandboden<br />
war, wächst nun<br />
duftende Kamille für Kräuterte<strong>es</strong><br />
– und viel<strong>es</strong> mehr
Die einst für verrückt<br />
gehaltene Vision gibt mittlerweile<br />
2.000 Menschen<br />
Arbeit und Bildung<br />
Bei Sekem („Lebenskraft“)<br />
gehören Unterricht,<br />
Gemeinschaft und Kreativität<br />
<strong>zu</strong>r Arbeitszeit<br />
Nichts ist überzeugender,<br />
als<br />
eine Vision,<br />
die wahr wird<br />
Fotos: Sekem (3), dpa picture-alliance (1)<br />
und Kreativität verbringen. „Sekem“ nannte er sein Projekt ̶<br />
das altägyptische Wort für Lebenskraft.<br />
Nach und nach entstanden die ersten Äcker, der Humusgehalt<br />
nahm <strong>zu</strong>, die Produktivität wuchs. „Weil bei uns Milliarden<br />
von Mikroorganismen in jedem Teelöffel Boden<br />
leben, kommen wir mit 20 bis 40 Prozent weniger Wasser<br />
aus als andere Betriebe“, berichtet Helmy Abouleish, der<br />
nach dem Tod sein<strong>es</strong> Vaters d<strong>es</strong>sen Lebenswerk weiterführt.<br />
Inzwischen gibt <strong>es</strong> auf dem Gelände vier Produktionsstätten.<br />
Sekem beliefert auch<br />
Deutschland: <strong>Das</strong> Fair Handelshaus<br />
GEPA, <strong>zu</strong> deren G<strong>es</strong>ellschaftern<br />
auch <strong>Misereor</strong> zählt,<br />
mit Zutaten für Kräuterte<strong>es</strong><br />
und den Saatgutproduzenten<br />
„Bingenheimer Saatgut“ mit<br />
Radi<strong>es</strong>chen. Doch 80 Prozent<br />
Helmy Abouleish glaubt<br />
an eine nachhaltige und<br />
wassersparende Landwirtschaft<br />
für Ägypten<br />
der Ernte verbleiben in Ägypten. Und das gute Beispiel<br />
strahlt aus ins Land. Schon 1.500 heimische Biobauern und<br />
-bäuerinnen arbeiten mit dem Betrieb <strong>zu</strong>sammen und beliefern<br />
Sekem. 40.000 weitere möchten Lieferanten werden.<br />
1991 konnte Ibrahim Abouleish die ägyptische Regierung<br />
überzeugen, auf den flächendeckenden Einsatz von P<strong>es</strong>tizien<br />
im Baumwollanbau <strong>zu</strong> verzichten.<br />
Nachdem er starb, bildete die Gemeinschaft einen generationenübergreifenden<br />
Zukunftsrat. Der arbeitete ein Jahr<br />
lang an der Vision für die nächsten 40 Jahre. Einfach irgendwann<br />
die Zahl der Teebeutel von 800 Millionen auf acht Milliarden<br />
<strong>zu</strong> steigern, fand die Gruppe nicht spannend, berichtet<br />
Helmy Abouleish. Stattd<strong>es</strong>sen setzte sie <strong>sich</strong> ein Ziel,<br />
das heute genauso unrealistisch erscheint wie einst der<br />
Plan sein<strong>es</strong> Vaters:<br />
Bis 2057 soll die g<strong>es</strong>amte Landwirtschaft in Ägypten<br />
nachhaltig sein. „Wir sind <strong>sich</strong>er, dass das der Fall sein<br />
wird“, sagt der 61-Jährige Abouleish während ein<strong>es</strong> Vortrags<br />
und lächelt. Agrochemie würde immer teurer, die Reduzierung<br />
d<strong>es</strong> Wasserverbrauchs sei in Zeiten der Erderhit<strong>zu</strong>ng<br />
unabdingbar. Nichts ist überzeugender, als eine Vision, die<br />
wahr wird. Sekem zeigt, wie <strong>es</strong> geht.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
31
Angus- und Salers-<br />
Rinder sorgen auf dem Hof<br />
von Benedikt Bösel für reichlich<br />
Humus in den Böden<br />
Beispiel Deutschland<br />
Für eine fruchtbare Zukunft<br />
32 EINS<strong>2023</strong><br />
„W<br />
enn <strong>es</strong> an di<strong>es</strong>em Standort funktioniert, kann <strong>es</strong><br />
überall funktionieren”, sagt Benedikt Bösel frohgemut.<br />
Die 1.000 Hektar Acker und 2.000 Hektar<br />
Wald in Alt Madlitz in Ostbrandenburg sind sandig und weisen<br />
durchschnittlich 30 Bodenpunkte auf. <strong>Das</strong> ist sehr mager.<br />
Hin<strong>zu</strong> kommt, dass <strong>es</strong> in der Region schon immer wenig<br />
regnet – in den vergangenen Jahren hat <strong>sich</strong> die Situation<br />
durch die Klimaerwärmung noch einmal spürbar verschärft.<br />
Trotzdem ist der 38-Jährige voller Optimismus. Zusammen<br />
mit seinen 30 Mitarbeiter*innen, einer Kuhherde und<br />
mehreren Wissenschaftler*innen arbeitet er seit ein paar<br />
Jahren systematisch und lustvoll an der Verb<strong>es</strong>serung von<br />
Böden und Mikroklima. Ziel aller Anstrengungen ist <strong>es</strong> <strong>zu</strong><br />
verstehen, wie g<strong>es</strong>unde und widerstandsfähige Ökosysteme<br />
durch landwirtschaftliche Nut<strong>zu</strong>ng aufgebaut werden können.<br />
Nur wenn das gelingt, kann <strong>es</strong> in Zukunft genug Essen<br />
für alle geben, ist Bösel überzeugt. Und nicht nur das: Der<br />
studierte Agrarökonom möchte die ausgeräumte Landschaft<br />
südöstlich von Berlin wieder <strong>zu</strong> einem Lebensraum<br />
für viele verschiedene Pflanzen- und Tierarten machen.<br />
„Beyond Farming“ nennt er seinen ganzheitlichen Ansatz,<br />
bei dem Landnut<strong>zu</strong>ng mehr ist als nur Landwirtschaft. Es<br />
geht auch um G<strong>es</strong>undheit, Natur, G<strong>es</strong>ellschaft – das ganze<br />
Leben eben.<br />
Humusaufbau und das Halten von Feuchtigkeit im Boden<br />
sind die entscheidenden Hebel. D<strong>es</strong>halb gehören Mulchen,<br />
schonende Bearbeitung, Fruchtwechsel und der Anbau<br />
von stickstoffbindenden Leguminosen selbstverständlich<br />
da<strong>zu</strong>. Doch Bösel will mehr als die bewährten Methoden<br />
d<strong>es</strong> Bioanbaus anwenden. Gezielt sucht er kundige und<br />
experimentierfreudige Menschen, die seine Vision teilen.<br />
Zusammen probieren sie verschiedene Formen der regenerativen,<br />
multifunktiona-<br />
Die ausgeräumte<br />
Landschaft wieder<br />
<strong>zu</strong> einem Lebensraum<br />
für viele<br />
Pflanzen- und<br />
Tierarten machen<br />
len Landwirtschaft aus.<br />
<strong>Das</strong> reicht von ganzheitlichem<br />
Weidemanagement<br />
über Agroforst mit eigener<br />
Baumschule bis hin<br />
<strong>zu</strong> neuer Software und<br />
Technik. Die von ihm ge-
Rosanna Gahler baut<br />
auf Gut Madlitz Agroforstsysteme<br />
auf, eine traditionelle<br />
Art von Landbau<br />
Aus Simbabwe<br />
lernte er, wie Weidetiere<br />
das Leben<br />
auf ausgemergelten<br />
Flächen wieder<br />
in Gang bringen<br />
Diversität im Boden wieder auf<strong>zu</strong>bauen“, erzählt der Mann,<br />
der im Internet ebenso <strong>zu</strong> Hause ist wie in Brandenburg. Er<br />
begann <strong>zu</strong> recherchieren und traf auf den in Simbabwe geborenen<br />
Allan Savory. Von ihm lernte er, wie Weidetiere das<br />
Leben auf ausgemergelten Flächen wieder in Gang bringen<br />
können. Bösel schaffte Angus- und Salers-Rinder an, die das<br />
ganze Jahr draußen leben und nun beim Humusaufbau helfen.<br />
Mehrfach am Tag werden die Zäune in Alt Madlitz umg<strong>es</strong>teckt,<br />
damit die 150-köpfige Herde ständig anderswo<br />
rupft, trampelt und kackt. „Die Kuhfladen ziehen Insekten,<br />
Würmer und Kleinstlebew<strong>es</strong>en an – und die locken Vögel<br />
an. <strong>Das</strong> ist eine ganze Biodiversitäts-Kaskade“, schwärmt er.<br />
Fotos: Benedikt Bösel<br />
gründete Stiftung arbeitet mit Prof<strong>es</strong>sor*innen<br />
von der Hochschule für Nachhaltige<br />
Entwicklung in Eberswalde und<br />
der Berliner Humboldt-Uni <strong>zu</strong>sammen.<br />
Ständig bevölkern auch mehrere Praktikant*innen<br />
das Gelände, das 30 Kilometer<br />
von der polnischen Grenze entfernt liegt.<br />
Mittags treffen <strong>sich</strong> alle <strong>zu</strong>m Essen, die gerade<br />
da sind. Da<strong>zu</strong> gehören auch Bösels<br />
kleine Tochter und seine Partnerin sowie seine Eltern und<br />
zwei Schw<strong>es</strong>tern mit ihren Familien. Gemeinschaft wird<br />
großg<strong>es</strong>chrieben auf Gut Madlitz.<br />
Wo der Schlüssel für eine <strong>zu</strong>kunftsfähige Landwirtschaft<br />
liegt, hatte Benedikt Bösel im extrem niederschlagsarmen<br />
Sommer 2018 verstanden – zwei Jahre, nachdem er den Biohof<br />
von seinen Eltern übernommen hatte. Bis dahin hatte<br />
er die notwendigen Innovationen vor allem auf technischer<br />
Ebene g<strong>es</strong>ucht. Doch allein auf einem staubtrockenen Acker<br />
spürte er plötzlich, dass all<strong>es</strong> unter ihm tot war. Seither<br />
steht für ihn f<strong>es</strong>t, dass er <strong>sich</strong> für eine fruchtbare Zukunft<br />
vor allem um die Regeneration d<strong>es</strong> Bodens kümmern muss.<br />
„Ich habe mich gefragt, was <strong>es</strong> für Methoden gibt, um die<br />
Mit regenerativer Landnut<strong>zu</strong>ng<br />
schafft das Team<br />
um Bösel g<strong>es</strong>unde, widerstandsfähige<br />
Ökosysteme<br />
„Landwirtschaft ist der größte Hebel, um die großen Probleme<br />
unserer Zeit <strong>zu</strong> lösen!“ ist er <strong>sich</strong> <strong>sich</strong>er. Dabei hatte<br />
Bösel nach der Schule <strong>zu</strong>nächst einen ganz anderen Weg<br />
eing<strong>es</strong>chlagen. Er studierte Busin<strong>es</strong>s Finance und arbeitete<br />
zehn Jahre lang als Inv<strong>es</strong>tmentbanker. Nach einem Studium<br />
der Agrarökonomie kehrte er 2016 nach Alt Madlitz <strong>zu</strong>rück<br />
– dorthin, wo die Familie sein<strong>es</strong> Stiefgroßvaters schon 300<br />
Jahre lang Felder b<strong>es</strong>tellt und Wälder gepflegt hatte. 2022<br />
kürte „agrarheute“ ihn <strong>zu</strong>m Landwirt d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> und begründete<br />
das so: „Benedikt Bösel folgt seinem Herzen, geht<br />
Risiken ein und mit seinen Überzeugungen voran.“ Bund<strong>es</strong>landwirtschaftsminister<br />
Cem Özdemir gehörte <strong>zu</strong> den ersten<br />
Gratulanten.<br />
Annette Jensen siehe Seite 3<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
33
INTERVIEW<br />
34<br />
EINS<strong>2023</strong>
Die Künstlerin Lilli Muller will mit einem „Globalen Abendmahl“<br />
für mehr Mitmenschlichkeit in schwierigen Zeiten werben.<br />
Im Mai ist ihre Installation im Rahmen d<strong>es</strong> Karlspreis<strong>es</strong> in Aachen <strong>zu</strong> sehen.<br />
<strong>Das</strong> G<strong>es</strong>präch führte Birgit-Sara Fabianek<br />
rufe ich symbolisch alle Länder der<br />
Welt auf, <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>sammen an einen<br />
Tisch <strong>zu</strong> setzen – und eine gemeinsame<br />
Vision für ein gut<strong>es</strong> und nachhaltig<strong>es</strong><br />
Zusammenleben für alle <strong>zu</strong> entwickeln.<br />
Fotos: Lilli Muller (li.), Robert Poorten (re.)<br />
Mehrere lange Tische,<br />
mit Tischdecken aus<br />
lilafarbenem Samt<br />
bedeckt, setzen di<strong>es</strong><strong>es</strong><br />
außerordentliche<br />
Abendmahl in Szene<br />
Lilli Mullers<br />
Installation im Kreuzgang<br />
d<strong>es</strong> Aachener Doms ist<br />
ein Symbol für den Frieden<br />
<strong>Das</strong> Motto für Ihre Installation<br />
heißt „We are Humanity!“<br />
Was verstehen Sie darunter?<br />
Die Art und Weise, wie wir miteinander<br />
umgehen. Wir leben in einer Zeit<br />
d<strong>es</strong> Umbruchs, wir müssen lernen, als<br />
Menschheit <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>stehen, um<br />
uns durch den selbst verursachten Klimawandel<br />
nicht selbst aus der Schöpfung<br />
<strong>zu</strong> katapultieren. Da<strong>zu</strong> erleben<br />
wir weltweit Kriege, Flüchtlingskrisen,<br />
Hunger und wachsende Angriffe auf<br />
Demokratie und Freiheit. Mit meiner<br />
Installation „<strong>Das</strong> Globale Abendmahl“<br />
Es geht Ihnen um Austausch<br />
und Dialog?<br />
Es geht um Mitmenschlichkeit. Und<br />
die beginnt damit, dass ich den anderen<br />
wahrnehme und ihm <strong>zu</strong>höre. Aus<br />
di<strong>es</strong>em Grund bin ich auch während<br />
der g<strong>es</strong>amten Zeit anw<strong>es</strong>end, in der<br />
das „Globale Abendmahl“ in Aachen<br />
<strong>zu</strong> sehen ist. Denn das G<strong>es</strong>präch der<br />
B<strong>es</strong>ucherinnen und B<strong>es</strong>ucher untereinander,<br />
aber auch mit mir ist ein Teil<br />
der Performance, das Feedback der<br />
Gäste ist Teil der Kunst.<br />
Was charakterisiert Ihre Kunst?<br />
Ich möchte Menschen mit meiner<br />
Kunst ein Modell anbieten, mit dem<br />
sie <strong>sich</strong> identifizieren können, das ist<br />
auch beim „Global Supper“ so, <strong>es</strong> ist<br />
ein interaktiv<strong>es</strong> Konzept: Die B<strong>es</strong>ucher<br />
sehen einen f<strong>es</strong>tlich gedeckten Tisch<br />
mit 199 individuellen Gedecken, gehen<br />
daran entlang und stellen <strong>sich</strong> vor, wie<br />
<strong>es</strong> wäre, wenn dort tatsächlich 199 Regierungsvertreter<br />
Platz nehmen würden,<br />
um gemeinsam <strong>zu</strong> <strong>es</strong>sen und <strong>zu</strong><br />
trinken – und <strong>sich</strong> auf Augenhöhe <strong>zu</strong><br />
begegnen. Daraus entstehen Bilder im<br />
Kopf, die Denkweisen verändern und<br />
neue Möglichkeiten eröffnen könnten.<br />
Di<strong>es</strong>e teilnehmende Erfahrung bewegt<br />
etwas in den Menschen.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
35
Die Installation „<strong>Das</strong> Globale Abendmahl“ für 199 Länder ist vom 8.<br />
bis 18. Mai <strong>2023</strong> im Rahmenprogramm d<strong>es</strong> Internationalen Karlspreis<strong>es</strong><br />
im Kreuzgang d<strong>es</strong> Aachener Doms <strong>zu</strong> sehen (freier Eintritt). Die<br />
Künstlerin ist in di<strong>es</strong>er Zeit anw<strong>es</strong>end. Am 15. Mai wird begleitend<br />
erstmals eine Folge d<strong>es</strong> <strong>Misereor</strong>-Podcasts „Mit Menschen“ vor Publikum<br />
aufgenommen. WDR2-Moderator Jan Malte Andr<strong>es</strong>en erwartet ab<br />
19.00 Uhr in der Aachener Domsingschule spannende Gäste.<br />
<strong>Misereor</strong> bietet dort mit einer eigens entwickelten mobilen Mini-Küche<br />
„Micro-Meals“ an, um auf den Hunger in der Welt aufmerksam <strong>zu</strong> machen.<br />
Jede di<strong>es</strong>er Mini-Mahlzeiten enthält 380 Kalorien – so viele, wie<br />
ein unterernährt<strong>es</strong> afrikanisch<strong>es</strong> Kind täglich <strong>zu</strong>r Verfügung hat.<br />
Jed<strong>es</strong> Land der<br />
Welt hat seinen<br />
Platz am Tisch und<br />
ist mit einem eigenen<br />
Gedeck vertreten.<br />
Zurzeit sind insg<strong>es</strong>amt<br />
199 Länder<br />
der Welt am Tisch<br />
versammelt.<br />
jede erreichbar, weil sie öffentlich <strong>zu</strong>gänglich<br />
ist. Sie setzt auch kein Vorwissen<br />
voraus, nur die Bereitschaft,<br />
<strong>sich</strong> ein<strong>zu</strong>lassen. Kunst ist Selbstentwicklung.<br />
Eine Katharsis.<br />
Lilli Muller ist eine deutsche Künstlerin,<br />
die in Los Angel<strong>es</strong> lebt und arbeitet. Sie<br />
wurde mehrfach mit internationalen Preisen<br />
ausgezeichnet. In ihren Projekten<br />
b<strong>es</strong>chäftigt sie <strong>sich</strong> immer wieder mit sozialen<br />
und globalen Themen.<br />
Jed<strong>es</strong> Gedeck b<strong>es</strong>teht<br />
aus einem Teller, der<br />
jeweils mit einem<br />
Olivenzweig als universalem<br />
Symbol d<strong>es</strong><br />
Friedens handbemalt<br />
ist, und einem „gefüllten“<br />
Rotweinglas,<br />
d<strong>es</strong>sen Füllmenge<br />
den aktuellen Stand<br />
d<strong>es</strong> Bruttosozialprodukts<br />
d<strong>es</strong> jeweiligen<br />
Land<strong>es</strong> darstellt<br />
Wie haben denn die Menschen<br />
während der Biennale in Venedig auf<br />
Ihre Installation reagiert?<br />
Einige B<strong>es</strong>ucher fragten, wi<strong>es</strong>o ich<br />
denn auch für Russland einen Platz gedeckt<br />
habe. Genau darum geht <strong>es</strong> ja:<br />
Alle gehören an di<strong>es</strong>en Tisch, niemand<br />
wird ausgegrenzt. Beim letzten Abendmahl<br />
war auch Judas dabei, obwohl<br />
klar war, dass er J<strong>es</strong>us verraten hat.<br />
Die B<strong>es</strong>ucher in Venedig haben ganz<br />
anders reagiert, als ich erwartet habe:<br />
Ich dachte, sie würden <strong>sich</strong> drei, vier<br />
Plätze ansehen und dann wieder gehen:<br />
Sieht ja doch irgendwie all<strong>es</strong> gleich<br />
aus. Aber die meisten Menschen sind<br />
den ganzen Tisch abg<strong>es</strong>chritten, sind<br />
immer wieder stehen geblieben, viele<br />
waren berührt, manche haben geweint,<br />
ein paar haben mir persönliche<br />
G<strong>es</strong>chichten erzählt, die der Rundgang<br />
bei ihnen ausgelöst hat.<br />
Wen wollen Sie<br />
mit Ihrer Kunst ansprechen?<br />
Meine Kunst wendet <strong>sich</strong> nicht speziell<br />
an die „Kunst-Elite“, die <strong>sich</strong> den<br />
Zugang <strong>zu</strong> Kunst und Kultur selbstverständlich<br />
leisten kann. <strong>Das</strong> ist eine<br />
Hürde, vor allem in Amerika, wo ich<br />
lebe. Meine Kunst ist für jeden und<br />
<strong>Das</strong> „Globale Abendmahl“ knüpft<br />
an das Werk d<strong>es</strong> italienischen Renaissancemalers<br />
Jacopo Tintoretto an,<br />
der mit seiner Darstellung d<strong>es</strong> biblischen<br />
Abendmahls viele der damals<br />
geltenden Regeln gebrochen hat.<br />
Welche Bezüge möchten Sie damit<br />
herstellen?<br />
Tintorettos Werk ist kein fromm<strong>es</strong> Andachtsbild,<br />
sein Abendmahl ist eine<br />
Darstellung im Diagonalformat. Die<br />
Leute wenden <strong>sich</strong> einander <strong>zu</strong> oder<br />
voneinander ab, J<strong>es</strong>us bedient <strong>sich</strong><br />
selbst – <strong>es</strong> ist eine sehr lebendige und<br />
chaotische Tischszene, die zeigt, wie<br />
auch vor mehr als 400 Jahren, als di<strong>es</strong><strong>es</strong><br />
Bild entstand, die Welt ins Wanken<br />
geriet und im Umbruch war. <strong>Das</strong> ist<br />
dem, was wir gerade erleben, nicht<br />
unähnlich. Der Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> Tintoretto<br />
war mit dem „Global Supper“ in Venedig<br />
allerdings viel lokaler.<br />
Und das heißt?<br />
Tintoretto hat sein „Abendmahl“ für<br />
die Kirche „San Giorgio Maggiore“ in<br />
Venedig gemalt, dort sind auch die<br />
größten seiner Wandgemälde <strong>zu</strong> sehen.<br />
Meine Installation in Venedig habe ich<br />
in dem Kreuzgang aufgebaut, der <strong>zu</strong><br />
di<strong>es</strong>er Kirche gehört, in der Tintoretto<br />
auch begraben ist.<br />
Foto: Lilli Muller<br />
36<br />
EINS<strong>2023</strong>
Dieter Rehfeld hat Lilli<br />
Mullers „Global Supper“ mit<br />
seiner Frau in Venedig g<strong>es</strong>ehen<br />
und nach Aachen geholt<br />
Zu Ihrer Installation gehören auch<br />
G<strong>es</strong>ichtsmasken, die über den Teller<br />
g<strong>es</strong>pannt sind. Di<strong>es</strong>e Masken erinnern<br />
an die <strong>zu</strong>rückliegende Coronazeit. Sind<br />
sie noch passend im Mai, nachdem die<br />
Pandemie endlich hinter uns liegt?<br />
Ich hatte überlegt, das Konzept <strong>zu</strong> verändern,<br />
aber di<strong>es</strong>e Masken haben noch<br />
weitere w<strong>es</strong>entliche Bedeutungen. Etwa<br />
die, nicht <strong>es</strong>sen <strong>zu</strong> können oder<br />
kein Essen <strong>zu</strong> haben, die Bedeutung<br />
Eine an jedem Gedeck<br />
platzierte Tischkarte<br />
soll die Unterschiede<br />
der Länder in Be<strong>zu</strong>g<br />
auf Einwohnerzahl,<br />
Lebenserwartung,<br />
Hunger und andere<br />
Fakten unterstreichen<br />
frei sprechen <strong>zu</strong> können oder di<strong>es</strong>e<br />
Freiheit eben nicht <strong>zu</strong> haben. Aus der<br />
Entfernung sehen sie aus wie kleine<br />
Mahlzeitenhügel, b<strong>es</strong>tickt mit einem<br />
Begriff für Mitmenschlichkeit. Ich mag<br />
die Bedeutung, damit eine Portion<br />
Menschlichkeit <strong>zu</strong> servieren.<br />
Eine Kritik an Ihrer Kunst lautet,<br />
sie sei eindimensional, eine Kunst<br />
für Gutmenschen.<br />
Was sagen Sie da<strong>zu</strong>?<br />
Ich möchte mit meiner Kunst niemanden<br />
brüskieren und vor den Kopf<br />
stoßen. Meine Kunst ist einladend und<br />
eingängig. Sie möchte Menschen ermuntern,<br />
<strong>sich</strong> heran<strong>zu</strong>wagen und Teil<br />
d<strong>es</strong> Kunstwerks <strong>zu</strong> werden, indem sie<br />
<strong>sich</strong> damit auseinandersetzen und auf<br />
di<strong>es</strong>em Weg etwas über <strong>sich</strong> erfahren.<br />
Wenn jemand das eindimensional findet,<br />
ist das auch in Ordnung.<br />
Woran glauben Sie?<br />
Ich glaube an das Gute im Menschen,<br />
das <strong>sich</strong> wie ein moralischer Code<br />
durch alle Kulturen und Religionen<br />
zieht. Da bin und bleibe ich Optimistin.<br />
<strong>Das</strong> „Global Supper“ sollte eigentlich<br />
schon 2021 in Venedig gezeigt werden.<br />
<strong>Das</strong> ging wegen Covid nicht. Wie haben<br />
Sie die Zeit der Pandemie erlebt?<br />
Fundraising in Covidzeiten war der<br />
Hammer, <strong>es</strong> war unglaublich schwer,<br />
auf <strong>sich</strong> aufmerksam <strong>zu</strong> machen. Installationen<br />
wie das „Global Supper“<br />
sind Großprojekte, die sind sehr aufwändig,<br />
dafür benötige ich Unterstüt<strong>zu</strong>ng.<br />
Es war ein Glück, dass ich etliche<br />
Sammler und Philanthropen kannte,<br />
sodass ich mich direkt an sie wenden<br />
konnte, ebenso wie an Stiftungen, die<br />
Stipendien für Projekte ausschreiben<br />
und <strong>zu</strong> denen ich Kontakte hatte.<br />
EINS<strong>2023</strong> 37
PHILIPPINEN<br />
Foto: Raffy Lerma<br />
Der bis <strong>zu</strong> hundert Jahre alt werdende Mangobaum<br />
steht für Kraft und Stärke. Mit seiner Hilfe verteidigen<br />
Fair-Trade-Bauern auf den Philippinen ihr Land.<br />
D<strong>es</strong>halb brauchen sie mehr davon.<br />
Text von Emmalyn Liwag Kotte<br />
Foto: Nana Buxani<br />
Die typische Behausung der Aetas im Dorf Aglao in der<br />
Provinz Zambal<strong>es</strong> auf den Philippinen b<strong>es</strong>teht aus<br />
Bambus und Palmenblättern. <strong>Das</strong> Haus von Robert de<br />
la Cruz ist aus Zement und Hohlblocksteinen gebaut und<br />
hat ein Eisendach. Es ist noch nicht vollständig fertig, aber<br />
Elektro- und Wasserinstallationen sind schon vorhanden.<br />
De la Cruz‘ Familie geht <strong>es</strong> gut, drei seiner vier Kinder<br />
gehen <strong>zu</strong>r Schule an der San Marcelino National High-<br />
School. Seit sechs Jahren ist de la Cruz Mitglied der lokalen<br />
Vereinigung indigener Mangobauern.<br />
„Der Mangoanbau hat uns ermöglicht,<br />
der Armut <strong>zu</strong> entkommen. Auch wenn<br />
wir nur einmal im Jahr ernten können“,<br />
sagt de la Cruz.<br />
<strong>Das</strong> Geheimnis hinter den b<strong>es</strong>seren<br />
Zukunftsperspektiven der Aetas, die <strong>zu</strong><br />
den indigenen Völkern auf der Hauptinsel<br />
Luzon gehören, ist der Faire Handel<br />
und die langjährige Zusammenarbeit<br />
mit PREDA-Fairtrade. Die Handelsorganisation<br />
wurde von dem irischen Pater Shay Cullen gegründet<br />
und stützt <strong>sich</strong> auf ethische Regeln d<strong>es</strong> Fairen Handels.<br />
Zu einem existenz<strong>sich</strong>ernden Preis kauft sie den Kleinbäuerinnen<br />
und -bauern ihre Mangofrüchte ab, lässt sie <strong>zu</strong><br />
Bio-Mango-Püree und getrockneten Mangos verarbeiten und<br />
verkauft sie an Weltläden in Deutschland und anderen europäischen<br />
Ländern. <strong>Das</strong> Projekt hilft, das Einkommen der<br />
Kleinbauern <strong>zu</strong> erhöhen und die Lebenssituation der Aeta-<br />
Gemeinschaften in den Bergdörfern Aglao und Buhawen <strong>zu</strong><br />
verb<strong>es</strong>sern. Die Zusammenarbeit von PRE-<br />
DA mit indigenen Völkern in Zambal<strong>es</strong><br />
trägt aber noch mehr Früchte: Sie stärkt<br />
das Wissen um den Anspruch der Aeta-Gemeinschaft<br />
auf ihr ang<strong>es</strong>tammt<strong>es</strong> Land,<br />
Robert de la Cruz pflanzt<br />
Mangobäume, damit kein<br />
Konzern das Land der<br />
Aetas rauben kann<br />
38<br />
EINS<strong>2023</strong>
„Es gibt nur eine Welt.<br />
Die Verantwortung endet<br />
nicht vor der eigenen<br />
Haustür. <strong>Das</strong> fängt im<br />
Kleinen bei mir selbst an:<br />
dem eigenen bewussten<br />
Einkauf. Machen wir Ernst<br />
mit der Idee der fairen<br />
Weltgemeinschaft. Ich<br />
bin auf jeden Fall dabei.“<br />
Dietmar Bär<br />
PREDA-Gründer Pater<br />
Shay Cullen und Tatort-<br />
Schauspieler Dietmar Bär b<strong>es</strong>uchen<br />
Mangobäuerinnen<br />
Fotos Mangos: iStock.com<br />
10.000 Mangobäume in einem Jahr<br />
Als langjährige Partner von PREDA in Deutschland<br />
haben der Kölner Verein Tatort – Straßen der Welt<br />
und <strong>Misereor</strong> eine Aktion g<strong>es</strong>tartet, um 10.000<br />
Mangobaum-Setzlinge innerhalb ein<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> <strong>zu</strong><br />
finanzieren. Für eine Spende in Höhe von zehn<br />
Euro b<strong>es</strong>chafft PREDA einen Setzling und lässt ihn<br />
in der Region der Aetas in Zambal<strong>es</strong> pflanzen.<br />
Mehr <strong>zu</strong> der Mangobaum-Aktion unter:<br />
www.misereor.de/mangotango<br />
die Grundstücke, die sie von ihren Vorfahren geerbt haben.<br />
Die Setzlinge werden bei einer gemeinsamen Pflanzaktion<br />
auf di<strong>es</strong>em Land verteilt, <strong>zu</strong>sätzlich können die Aetas an Seminaren<br />
über Themen wie Kinderrechte, Gewalt gegen Frauen<br />
und das G<strong>es</strong>etz Indigenous Peopl<strong>es</strong> Rights Act (IPRA) teilnehmen.<br />
Di<strong>es</strong><strong>es</strong> G<strong>es</strong>etz enthält wichtige B<strong>es</strong>timmungen<br />
über die Rechte indigener Völker auf ihr ang<strong>es</strong>tammt<strong>es</strong> Gebiet,<br />
ihr Recht auf Selbstverwaltung und Selbstb<strong>es</strong>timmung.<br />
Denn viele ang<strong>es</strong>tammte Gebiete, in denen die Aetas leben,<br />
sind reich an Bodenschätzen wie Kupfer, Silber und Gold.<br />
Nach philippinischem Recht dürfen di<strong>es</strong>e Gebiete ausschließlich<br />
von den indigenen Gemeinschaften genutzt und<br />
bewohnt werden. Mächtige Wirtschaftskonzerne sind jedoch<br />
in der Lage, das G<strong>es</strong>etz <strong>zu</strong> umgehen und <strong>sich</strong> Zugang<br />
<strong>zu</strong> di<strong>es</strong>en Gebieten <strong>zu</strong> verschaffen. Um einen starken Anspruch<br />
auf das Land <strong>zu</strong> erheben, ist <strong>es</strong> wichtig, dass die<br />
Aetas <strong>es</strong> bewirtschaften und Bäume pflanzen.<br />
Auch Robert de la Cruz nimmt an den Baumpflanzaktionen<br />
von PREDA in seinem Dorf Aglao teil. De la Cruz ist hier<br />
der offizielle Vertreter seiner indigenen Aeta-Gemeinschaft<br />
im Gemeinderat. „<strong>Das</strong> ang<strong>es</strong>tammte Gebiet unserer Gemeinschaft<br />
kann g<strong>es</strong>tohlen werden, wenn die jungen Leute<br />
nicht gebildet sind und lernen, <strong>sich</strong> gegen eindringende<br />
Konzerne <strong>zu</strong> wehren“, sagt de la Cruz.<br />
<strong>Das</strong> Mangobaum-Projekt erweist <strong>sich</strong> als wirksam<strong>es</strong> Mittel<br />
<strong>zu</strong>r Wiederaufforstung von Flächen, die <strong>zu</strong>vor von<br />
großen Bergbauunternehmen und Holzfällern verwüstet<br />
wurden. Auch im Umgang mit dem Klimawandel bietet <strong>es</strong><br />
große Chancen. Unwetter, die jetzt auch außerhalb der Regenzeit<br />
kommen, zerstören die Mangoblüte. In manchen<br />
Jahren ist <strong>es</strong> <strong>zu</strong> heiß und die Bäume tragen nur wenige<br />
Früchte. Die Wiederaufforstung in den Bergen trägt auch<br />
<strong>zu</strong>r Bekämpfung di<strong>es</strong>er Probleme bei. Die Berge werden grüner,<br />
und das ist gut für alle.<br />
Emmalyn Liwag Kotte ist Journalistin und arbeitet als<br />
Bildungsreferentin beim Kölner Verein Tatort – Straßen<br />
der Welt. Sie lebt in Bochum und b<strong>es</strong>chäftigt <strong>sich</strong> mit<br />
entwicklungspolitischen Fragen, die ihr Herkunftsland<br />
Philippinen und Deutschland betreffen. Die Aeta-Gemeinschaft<br />
in Zambal<strong>es</strong> hat sie bereits mehrfach b<strong>es</strong>ucht<br />
und die Veränderungen dokumentiert.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
39
INTERVIEW<br />
<strong>Misereor</strong>-G<strong>es</strong>chäftsführer Thomas Antkowiak<br />
im G<strong>es</strong>präch mit WDR-Moderatorin Steffi Neu<br />
über Fairen Handel, Freiwilligendienst und<br />
die Arbeit in der katholischen Kirche<br />
Foto von Klaus Mellenthin<br />
Steffi Neu: Was erzählen Sie,<br />
wenn Sie jemand fragt: Was machen<br />
Sie eigentlich beruflich?<br />
Thomas Antkowiak: <strong>Das</strong>s ich für <strong>Misereor</strong><br />
arbeite, dass wir als größt<strong>es</strong> katholisch<strong>es</strong><br />
Entwicklungshilfswerk Menschen<br />
unterstützen, die in Armut leben und<br />
uns dafür einsetzen, dass sie ihre Rechte<br />
einfordern und ihre eigenen Ideen<br />
umsetzen können.<br />
Und was sagen Sie, wenn dann<br />
der Vorwurf kommt: „Ihr steckt ja all<strong>es</strong><br />
in die Verwaltung“?<br />
Ich erkläre dann, wie <strong>sich</strong> unsere Kosten<br />
für Verwaltung und Werbung <strong>zu</strong>sammensetzen:<br />
Sie wollen eine Spendenquittung<br />
haben. Wer schreibt die?<br />
Wer verschickt sie? Wer bezahlt das<br />
Porto? Möglicherweise haben Sie Inter<strong>es</strong>se,<br />
Informationen über das Projekt<br />
Wir merken,<br />
wie sehr wir die<br />
Ideen von jungen<br />
Erwachsenen<br />
brauchen<br />
<strong>zu</strong> bekommen, das Sie zweckgebunden<br />
unterstützen? Sie möchten einen<br />
Rechenschaftsbericht? All<strong>es</strong> das kostet<br />
Geld. Der Anteil an Verwaltungs- und<br />
Werbekosten liegt bei uns etwa bei<br />
sechs Prozent. Für das DZI, das in<br />
Deutschland den Einsatz von Spendengeldern<br />
überprüft und das „Spendensiegel“<br />
vergibt, liegen wir mit di<strong>es</strong>em<br />
Prozentsatz im niedrigen Bereich.<br />
Sie verantworten ein Finanzvolumen<br />
von fast 250 Millionen Euro mit.<br />
Woher kommt das Geld?<br />
Wir erhalten den größten Anteil über<br />
die Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe,<br />
ungefähr 200 Millionen<br />
Euro. Di<strong>es</strong>e Zentralstelle bekommt das<br />
Geld wiederum aus staatlichen Mitteln<br />
für Entwicklungs<strong>zu</strong>sammenarbeit.<br />
Di<strong>es</strong>e Mittel können wir entsprechend<br />
den BMZ-Richtlinien in eigener Verantwortung<br />
ausgeben. Di<strong>es</strong> ist seit über<br />
60 Jahren eine bewährte Form der Zusammenarbeit<br />
mit dem Staat. Die staatlichen<br />
Institutionen vertrauen bis heute<br />
darauf, dass die weltweit präsenten<br />
Kirchen um die Probleme vor Ort B<strong>es</strong>cheid<br />
wissen. Der übrige Anteil unser<strong>es</strong><br />
Finanzvolumens stammt <strong>zu</strong>m<br />
größten Teil aus Spendengeldern<br />
sowie aus kirchlichen Mitteln.<br />
40<br />
EINS<strong>2023</strong>
Die R<strong>es</strong>sourcen der Welt sind<br />
ungerecht verteilt: <strong>Das</strong> ist eine der<br />
Kernaussagen von <strong>Misereor</strong>.<br />
Kriegen wir das jemals in den Griff?<br />
Ich hoffe <strong>es</strong>. Auch wenn ich mir unter<br />
den gegenwärtigen Bedingungen nur<br />
schwer vorstellen kann, dass wir in absehbarer<br />
Zeit sagen werden: Unser Job<br />
ist erledigt und wir können den Laden<br />
<strong>zu</strong>machen.<br />
Aber ist der Faire Handel nicht<br />
eine „Schraube“, mit der <strong>sich</strong> daran<br />
etwas drehen lässt?<br />
Ja, das ist eine w<strong>es</strong>entliche Stellschraube.<br />
D<strong>es</strong>halb ist <strong>es</strong> so wichtig, dass das<br />
Fair-Handelshaus GEPA, <strong>zu</strong> deren G<strong>es</strong>ellschaftern<br />
auch <strong>Misereor</strong> zählt, seine<br />
Produkte wie Tee, Kaffee oder Schokolade<br />
in den Einzelhandel bringt. Damit<br />
klar wird, dass Entwicklungs<strong>zu</strong>sammenarbeit<br />
nichts Abstrakt<strong>es</strong> ist, sondern<br />
<strong>zu</strong> einer Erfahrung wird, die man<br />
beim Essen und Trinken macht, und<br />
die für jeden offensteht. Wenn <strong>es</strong><br />
selbstverständlicher wird, bei der Herstellung<br />
von Produkten darauf <strong>zu</strong> achten,<br />
dass <strong>es</strong> <strong>zu</strong>m Beispiel keine Kinderarbeit<br />
gibt und die Leute gerechte<br />
Löhne bekommen – dann ändert <strong>sich</strong><br />
etwas an der ungerechten Verteilung.<br />
Ändern Freiwilligendienste<br />
auch etwas am Blick auf globale<br />
Gerechtigkeit?<br />
Definitiv. D<strong>es</strong>halb war <strong>Misereor</strong> von<br />
Anfang an dabei. Gemeinsam mit anderen<br />
Organisationen haben wir am<br />
Konzept d<strong>es</strong> weltwärts-Programms mitgewirkt<br />
und <strong>es</strong> weiterentwickelt. Ich<br />
sehe darin eine Gelegenheit, jungen<br />
Menschen unabhängig von den finanziellen<br />
Möglichkeiten ihrer Eltern<br />
Lernerfahrungen <strong>zu</strong> ermöglichen, die<br />
ihren Blick auf die Welt und ihre Rolle<br />
darin verändern können. Sie reisen als<br />
Jugendliche aus und kommen als Erwachsene<br />
mit einem ganz anderen<br />
Hintergrund <strong>zu</strong>rück.<br />
Wie wichtig sind denn umgekehrt<br />
die jungen Freiwilligen für <strong>Misereor</strong>?<br />
Extrem wichtig, weil wir merken,<br />
wie sehr wir die Ideen von jungen<br />
Erwachsenen brauchen. Beim Freiwilligendienst<br />
gibt <strong>es</strong> eine intensive<br />
Arbeit mit den Rückkehrenden.<br />
Sie entwickeln oft eigene<br />
Ideen und Aktivitäten und geben<br />
Impulse. Daran an<strong>zu</strong>knüpfen<br />
sehen wir als Chance, sie<br />
auch langfristig an di<strong>es</strong>en Fragen<br />
wirklich <strong>zu</strong> beteiligen,<br />
die uns umtreiben.<br />
Thomas Antkowiak ist seit 2006 Vorstandsmitglied<br />
von <strong>Misereor</strong> und verantwortlich<br />
für Finanzen, Verwaltung und<br />
Personal sowie für die Belange d<strong>es</strong> Fairen<br />
Handels und d<strong>es</strong> Entwicklungspolitischen<br />
Freiwilligendiensts. Mitte d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong><br />
verlässt Thomas Antkowiak <strong>Misereor</strong><br />
und geht in den Ruh<strong>es</strong>tand.<br />
Steffi Neu ist Redakteurin und eine bund<strong>es</strong>weit<br />
bekannte Radiostimme als Moderatorin<br />
im WDR, wo sie regelmäßig<br />
die Sendungen W<strong>es</strong>tzeit und WDR 2 am<br />
Samstag moderiert. Sie lebt mit ihrer Familie<br />
in Uedem am Niederrhein.<br />
Die katholische Kirche ist<br />
aktuell umstritten. Wie wirkt <strong>sich</strong><br />
das auf <strong>Misereor</strong> aus?<br />
Wir merken, dass <strong>sich</strong> viele schwertun<br />
mit der Institution Kirche, mit einzelnen<br />
Verantwortlichen in der Kirche.<br />
Viele hadern mit der Kirche, weil sie<br />
sehen, dass <strong>es</strong> bei den Missbrauchsthemen,<br />
der Aufarbeitung und dem Umgang<br />
mit den Betroffenen nicht wirklich<br />
weitergeht. Ich habe für <strong>Misereor</strong><br />
am G<strong>es</strong>prächsformat d<strong>es</strong> Synodalen Weg<strong>es</strong><br />
der katholischen Kirche teilgenommen,<br />
um gemeinsam mit der Bischofskonferenz<br />
und dem Zentralkomitee der<br />
Katholiken an den Ursachen <strong>zu</strong> arbeiten:<br />
der mangelnden Beteiligung von Frauen,<br />
dem Klerikalismus, der Rolle der<br />
Pri<strong>es</strong>ter und der Verteilung von Macht.<br />
Finden Sie das Format<br />
erfolgsversprechend?<br />
Wir haben B<strong>es</strong>chlüsse gefasst, um die<br />
Dinge <strong>zu</strong> verändern. Jetzt kommt <strong>es</strong><br />
darauf an, ob die Bischöfe in Deutschland<br />
den Mut haben weiter<strong>zu</strong>machen,<br />
trotz Roter Karte aus Rom. Ich ärgere<br />
mich darüber, weil ich glaube, dass<br />
viele bis hin <strong>zu</strong>m Papst nicht verstehen,<br />
dass wir hier nicht Kirchenspaltung<br />
betreiben, sondern die Dinge <strong>zu</strong>m<br />
Positiven verändern wollen.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
41
BILDBAND<br />
Timothy Snyders Brandschrift „Über Tyrannei“ ist 2017 erschienen,<br />
aber wird heute schon als ein Klassiker in der Tradition<br />
von Hannah Arendt und George Orwell bezeichnet. Mele Brink<br />
hat <strong>sich</strong> mit der Frage b<strong>es</strong>chäftigt, ob die neue, illustrierte Ausgabe<br />
einen Mehrwert hat.<br />
42 EINS<strong>2023</strong><br />
Nora Krug hat On Tyranny (2017) von Timothy Snyder<br />
bebildert. Nein, nicht nur bebildert, sie hat aus Text<br />
und Bildern ein ganz neu<strong>es</strong> Medium gemacht. Die 20<br />
Lektionen „im Sinne einer wehrhaften Demokratie“ erhalten<br />
mit ihren Illustrationen und ihrer Seiteng<strong>es</strong>taltung eine<br />
ganz neue Dimension und sprechen mit di<strong>es</strong>er G<strong>es</strong>taltung<br />
<strong>sich</strong>erlich noch eine viel größere und vielleicht auch eine<br />
jüngere Zielgruppe an.<br />
Der Grundgedanke, aus genauer Beobachtung der G<strong>es</strong>chichte,<br />
insb<strong>es</strong>ondere der Entwicklung oder auch dem<br />
Scheitern von Demokratien Ende d<strong>es</strong> 19. bis Anfang d<strong>es</strong> 21.<br />
Jahrhunderts, Lehren für heutige Demokratien ab<strong>zu</strong>leiten,<br />
hat ein farbig<strong>es</strong>, aber nicht bunt<strong>es</strong> Kleid bekommen.<br />
Nora Krug arbeitet mit Skizzen, Fotos, Schrift, Collagen,<br />
gefundenen Grafiken und Fotos vom Flohmarkt. Auf farbigen<br />
Hintergründen komponiert sie jede Seite (gelegentlich<br />
auch Doppelseiten) <strong>zu</strong> einem eigenständigen Bild.<br />
Ihre Arbeitsweise wird schon mal als assoziativ und intuitiv<br />
bezeichnet. In ihren Collagen wird skizziert, radiert und<br />
wieder verworfen, bis <strong>sich</strong> die fertige Seite wie bei einer<br />
Skulptur herausschält. Die Spuren d<strong>es</strong> Proz<strong>es</strong>s<strong>es</strong> werden<br />
dabei nicht komplett entfernt, so wie die Spuren der G<strong>es</strong>chichte,<br />
die nicht vertuscht werden sollten. Sie versucht<br />
damit für den Betrachter, die Betrachterin, einen persönlichen<br />
Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Vergangenheit <strong>zu</strong> schaffen und hat dabei<br />
vor allen Dingen auch die Mitläufer*innen im Blick, die wir<br />
zwischen Widerstandskämpfer*innen, Opfern und Übeltäter*innen<br />
oft aus Selbigem verlieren.<br />
Die Aussagen d<strong>es</strong> Text<strong>es</strong>, die immer wieder auf Begebenheiten<br />
verweisen, die den Problemen unserer heutigen Demokratien<br />
ähneln, bekommen durch ihre G<strong>es</strong>taltung eine<br />
noch größere Direktheit und Dringlichkeit.<br />
Mit Personen und Situationen, die sie zeichnet, Sätzen,<br />
die sie in die Collagen klebt, Lebensläufen, die sie als Comic<br />
erzählt oder auch dem Text, den sie in unterschiedlichen<br />
Farben setzt, schafft sie Akzente, gibt dem in 20 Kapiteln<br />
unterteilten Text einen weiteren Rhythmus. Beim L<strong>es</strong>en<br />
schafft sie so Räume, um die Informationen sacken <strong>zu</strong> lassen,<br />
spricht über die Bilder noch eine unmittelbarere Ebene<br />
an als der Text. So unterschiedlich die eing<strong>es</strong>etzten Mittel<br />
sind – Rahmen, Fotos<br />
im Anschnitt, geklebt<strong>es</strong><br />
Papier, Fotos mit<br />
Rahmen – ihr ist das<br />
ÜBER TYRANNEI<br />
Zwanzig Lektionen<br />
für den Widerstand<br />
Thimothy Snyder<br />
Illustriert von Nora Krug<br />
Verlag C. H. Beck, 2021<br />
128 Seiten, 20,– Euro<br />
Kunststück geglückt,<br />
daraus ein durchgängig<br />
g<strong>es</strong>taltet<strong>es</strong> Buch<br />
<strong>zu</strong> machen.
Abbildungen aus dem b<strong>es</strong>prochenen Bildband, © Verlag C. H. Beck<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
43
MISEREOR IN AKTION<br />
Endlich wieder<br />
gemeinsam singen – und<br />
mit der <strong>Misereor</strong>-Aktion<br />
„Starke Töne“ Gut<strong>es</strong> tun<br />
Foto: Kathrin Harms/<strong>Misereor</strong>, Illustrationen: Kat Menschik<br />
Foto: Florian Kopp/<strong>Misereor</strong><br />
G<strong>es</strong>unde Nahrung,<br />
bereit <strong>zu</strong>r Aussaat. Robuste<br />
Sorten bringen auch im<br />
Ökolandbau gute Ernte.<br />
Für g<strong>es</strong>unde Vielfalt auf Feldern und Tellern<br />
Im brasilianischen Mato Grosso leidet die Bevölkerung seit<br />
vielen Jahren darunter, dass in der Landwirtschaft giftige<br />
Agrarchemikalien <strong>zu</strong>m Einsatz kommen. Insb<strong>es</strong>ondere die<br />
P<strong>es</strong>tizide machen die Menschen krank und b<strong>es</strong>chädigen<br />
ihren ganzen Lebensraum. Für ein entsprechend<strong>es</strong> Umlenken<br />
der Landwirtschaft setzt <strong>sich</strong> die Fachstelle für Landfragen<br />
„Comisão Pastoral da Terra“ in Mato Grosso unermüdlich<br />
ein. <strong>Misereor</strong> unterstützt sie dabei. Im vergangenen<br />
Jahr haben Mitglieder der CPT Mato Grosso zwei ganze Wochen<br />
vor dem bund<strong>es</strong>staatlichen Institut für die Agrarreform<br />
gecampt. Damit haben sie darauf aufmerksam gemacht,<br />
dass die Frage der Landtitel noch immer nicht gerecht geklärt<br />
ist – und dass eine nachhaltige, agrarökologische Nut<strong>zu</strong>ng<br />
der Flächen Menschen und Natur schützt. Dabei hatten<br />
sie eine bunte Vielfalt von Mais- und Bohnensorten im<br />
Gepäck, die auch ohne giftige P<strong>es</strong>tizide gut gedeihen.<br />
Danke, dass Sie unsere Partner dabei unterstützen!<br />
misereor.de/brasilien-amazonas<br />
Da ist Musik drin!<br />
Starke Töne für <strong>Misereor</strong>-Projekte<br />
Ob im kleinen Freund<strong>es</strong>- oder Familienkreis, mit dem<br />
Verein oder gleich mit der ganzen Gemeinde: mit unserer<br />
<strong>Misereor</strong>-Spendenaktion „Starke Töne“ g<strong>es</strong>talten<br />
Sie ein Benefizkonzert, an dem Ihre Gäste mit viel<br />
Spaß teilhaben können. Da<strong>zu</strong> brauchen Sie musikalische<br />
Unterstüt<strong>zu</strong>ng, <strong>zu</strong>m Beispiel von der Musikschule,<br />
dem Kirchenchor oder einer Nachwuchsband vor<br />
Ort. Gemeinsam stellen Sie ein Programm aus bekannten<br />
Liedern <strong>zu</strong>sammen. Die Texte machen Sie<br />
per Leinwand oder Liedheft allen <strong>zu</strong>gänglich. Dann<br />
laden Sie <strong>zu</strong>m Mitsingen ein und lassen anschließend<br />
die Spendendose für ein <strong>Misereor</strong>-Projekt Ihrer Wahl<br />
herumgehen.<br />
Weitere Infos, praktische Tipps<br />
rund um unsere musikalische<br />
<strong>Misereor</strong>-Aktion und Material<br />
<strong>zu</strong>m Download unter<br />
misereor.de/starke-toene<br />
44<br />
EINS<strong>2023</strong>
Frauen b<strong>es</strong>itzen weniger<br />
landwirtschaftliche Produktionsfläche<br />
als Männer:<br />
Weltweit liegt ihr Anteil<br />
bei nur 12,8 Prozent.<br />
Foto: Karuna Battambang<br />
Damit Kinder in liebevoller<br />
Gemeinschaft aufblühen<br />
Tola ist sechs und freut <strong>sich</strong>: Endlich kann sie <strong>sich</strong> selbst die<br />
Zähne putzen! Dabei waren die Aus<strong>sich</strong>ten bei ihrer Geburt<br />
düster. Wegen einer Behinderung haben Tolas Eltern sie im<br />
Haus behalten. Sie bekam keine Förderung oder Bildung,<br />
sie konnte keine Freundschaften schließen. So geht <strong>es</strong> in<br />
Kambodscha vielen Kindern mit Behinderungen. Aber für<br />
Tola hat <strong>sich</strong> das Blatt gewendet: Die <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation<br />
Karuna Battambang fördert Kinder mit Behinderung<br />
ganz individuell, <strong>zu</strong>m Beispiel mit Physio- und<br />
Sprachtherapie. Dabei bindet sie immer auch ihre Familien<br />
und das Umfeld mit ein. Damit <strong>sich</strong> auch auf g<strong>es</strong>ellschaftlicher<br />
Ebene etwas bewegt, sensibilisiert das Team von Karuna<br />
Battambang die Verantwortlichen in den Dörfern und informiert<br />
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.<br />
So hilft eine Spende für di<strong>es</strong><strong>es</strong> Projekt Kindern und Jugendlichen<br />
in Kambodscha, ihren Platz in der Gemeinschaft <strong>zu</strong><br />
finden. Und ein Stück unabhängig <strong>zu</strong> werden – <strong>zu</strong>m Beispiel<br />
beim Zähneputzen.<br />
Ihre Spende holt Kinder mit Behinderung<br />
in die Mitte der G<strong>es</strong>ellschaft!<br />
Hier erfahren Sie mehr<br />
und können direkt spenden.<br />
Karuna Battambang<br />
hat <strong>es</strong> ermöglicht: Dank<br />
liebevoller Förderung wird<br />
Tola immer selbstständiger<br />
Foto: Klaus Mellenthin/<strong>Misereor</strong><br />
Mit Menschen. Die Siebte:<br />
G<strong>es</strong>icht zeigen für <strong>Misereor</strong><br />
Im Dezember 2020 sind sie <strong>zu</strong>m ersten Mal in ganz<br />
Deutschland aufgetaucht, die ausdrucksstarken Plakate<br />
und Anzeigen der „Mit Menschen.“-Kampagne für <strong>Misereor</strong>.<br />
Inzwischen geben sieben Frauen und Männer der<br />
<strong>Misereor</strong>-Arbeit in Afrika, Asien und Lateinamerika,<br />
aber auch hier in Deutschland, ein G<strong>es</strong>icht. Auch auf<br />
der Rückseite di<strong>es</strong><strong>es</strong> Hefts: die engagierte Lehrerin Ann-<br />
Kathrin Borchert. Sie vermittelt in ihrem Unterricht an<br />
der Liebfrauenschule in Köln mit viel Leidenschaft ein<br />
Bewusstsein für die Ungleichheiten auf der Welt.<br />
Während ihr<strong>es</strong> Studiums hat sie mit <strong>Misereor</strong> Projekte<br />
in Kenia b<strong>es</strong>ucht; eine Reise, die sie bis heute prägt. Die<br />
lebendigen Eindrücke gibt sie heute an ihre Schülerinnen<br />
und Schüler weiter, legt so Grundsteine für einen<br />
wachen Blick und solidarisch<strong>es</strong> Handeln.<br />
Ann-Kathrin Borchert<br />
teilt ihre persönlichen<br />
Erfahrungen aus <strong>Misereor</strong>-<br />
Projekten im Unterricht<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
45
KOLUMNE<br />
Im Iran glauben Menschen mit all ihrer Kraft an die Veränderung <strong>zu</strong>m B<strong>es</strong>seren.<br />
Gehen auf die Straße und riskieren viel. Autorin Anne Lemhöfer bewundert ihren Mut.<br />
Kämpft aber noch mit dem Aufstehen.<br />
Illustration von Kat Menschik<br />
Mein Mann und ich sitzen nach<br />
einem turbulenten Tag mit<br />
drei Kindern und zwei Jobs<br />
vor dem Fernseher, mal wieder schaffen<br />
wir <strong>es</strong> erst <strong>zu</strong> den Tag<strong>es</strong>themen am<br />
späteren Abend, wir seufzen, weil <strong>sich</strong><br />
unser Leben so anstrengend anfühlt.<br />
Irgendjemand müsste mal die Wäsche<br />
machen, außerdem schreibt das große<br />
Kind nächste Woche zwei Klassenarbeiten.<br />
Dann sind da plötzlich, längst<br />
nicht <strong>zu</strong>m ersten Mal, wieder di<strong>es</strong>e<br />
Frauen und Männer in Teheran, mitten<br />
in unserem unaufgeräumten Wohnzimmer,<br />
junge und alte, manche noch<br />
fast Kinder. Sie demonstrieren um ihr<br />
Leben, <strong>es</strong> geht um all<strong>es</strong>. Seit im September<br />
die 22 Jahre alte iranische Kurdin<br />
Mahsa Amini von der iranischen<br />
Sittenpolizei f<strong>es</strong>tgenommen wurde, weil<br />
sie kein Kopftuch trug, und später im<br />
Gefängnis starb, verfolgen wir die Prot<strong>es</strong>te,<br />
entsetzt und berührt.<br />
Vom Sofa aus, während ich in einer<br />
WhatsApp-Gruppe munter Vorschläge<br />
für das Geburtstagsg<strong>es</strong>chenk einer Kollegin<br />
poste und mein Mann am Tablet<br />
über die Bundeligatabelle scrollt.<br />
Heute hält er auf einmal inne und<br />
schaut mich an. „Wenn das jetzt bei<br />
uns wäre, meinst du, wir wären da<br />
dabei?“ Ich schlucke kurz. „Natürlich!<br />
Ja, oder? Was sonst?“ Ich denke an unsere<br />
Kinder, die friedlich in ihren Betten<br />
schlafen, und denen, Stand jetzt,<br />
weder Bomben noch Hunger noch Folter<br />
drohen. „Wir könnten dabei sterben.<br />
Würd<strong>es</strong>t du das wirklich riskieren?“,<br />
fragt er. Würden wir das riskieren?<br />
Auf einmal spüre ich den Luxus, solche<br />
Gedanken nach ganz weit hinten<br />
im Hirn schieben <strong>zu</strong> können, fast körperlich.<br />
Wir könnten einfach die Nachrichten<br />
ausschalten und unsere Netflix-Serie<br />
weiterschauen. Es wäre so<br />
einfach. Wirklich?<br />
Mehr als 500 Menschen im Iran<br />
sind seit Beginn der systemkritischen<br />
Kundgebungen vor fünf Monaten getötet<br />
worden. Auch sie hatten Kinder, Eltern,<br />
Freundinnen und Freunde, sie hatten<br />
Hoffnungen, waren verliebt oder<br />
mussten ältere Verwandte pflegen, und<br />
vermutlich hätten sie im Grunde auch<br />
alle lieber Fernsehen g<strong>es</strong>chaut. Und<br />
trotzdem sind sie auf die Straße gegangen,<br />
weil sie genug von Gewalt, Diktatur<br />
und Staatswillkür hatten und endlich<br />
das wollten, was wir, wie <strong>es</strong><br />
manchmal scheint, als völlig selbstverständlich<br />
hinnehmen: Menschenrechte,<br />
Frieden und Demokratie.<br />
Wie sind wir eigentlich dahin gekommen,<br />
auf di<strong>es</strong>e Couch, auf der wir<br />
lahme „Was würden wir tun?“-G<strong>es</strong>präche<br />
führen ̶ statt wirklich etwas<br />
<strong>zu</strong> tun? An Missständen b<strong>es</strong>teht schließlich<br />
kein Mangel. Doch was soll das<br />
Eingreifen von uns einzelnen Menschen<br />
in die Zumutungen einer globalisierten<br />
Welt schon bringen? Unsere<br />
persönlichen Fähigkeiten im Weltretten<br />
sind äußerst begrenzt. Wir können<br />
weder Operationen an offenliegenden<br />
Organen durchführen noch Brunnen<br />
46<br />
EINS<strong>2023</strong>
graben oder zerbombte Häuser reparieren.<br />
Und Zeit im Überfluss haben wir<br />
auch nicht. Nein? Weil die Wäsche<br />
wartet? Weil wir wegen fehlender<br />
Work-Family-Life-Balance jetzt erst mal<br />
ein Achtsamkeitsseminar belegen müssen?<br />
Stimmt, achtsam <strong>zu</strong> sein, wäre ein<br />
guter Ansatz, nämlich Achtsamkeit <strong>zu</strong><br />
zeigen für unsere Demokratie, die ganz<br />
und gar nicht selbstverständlich ist,<br />
wenn wir uns nicht um sie kümmern.<br />
Es gibt tatsächlich genug Dinge, die<br />
wir tun können, online und vor allem<br />
offline: Zuhören, den Austausch suchen<br />
und Stellung beziehen, <strong>zu</strong>m Beispiel.<br />
Wir können uns einmischen,<br />
wenn bei G<strong>es</strong>prächen am Küchentisch,<br />
beim Familienf<strong>es</strong>t oder in der Kantine<br />
rassistische oder antisemitische R<strong>es</strong>sentiments<br />
geäußert werden. Wir können<br />
einhaken, wenn Populisten Stimmung<br />
machen und differenzieren,<br />
wenn wieder einmal all<strong>es</strong> durcheinandergeworfen<br />
wird. Oder Fakten auftischen,<br />
wenn all<strong>zu</strong> einfache Erklärungen<br />
und Wahrheiten verkündet werden.<br />
Jede und jeder Einzelne ist wichtig<br />
für den öffentlichen Diskurs.<br />
Fridays for Future und Black Liv<strong>es</strong><br />
Matter haben gezeigt, wie viel Aufmerksamkeit<br />
<strong>es</strong> auch im W<strong>es</strong>ten erregt,<br />
wenn Menschen auf die Straße<br />
gehen und gemeinsam Forderungen<br />
stellen. Unser Demonstrationsrecht <strong>zu</strong><br />
nutzen, ist einer der wichtigsten Bausteine<br />
unserer Demokratie. Wir müssen<br />
uns als G<strong>es</strong>ellschaft darüber austauschen,<br />
wie wir leben wollen. Egal,<br />
ob mit der Nachbarin oder einem<br />
Wildfremden. Aber dabei darf <strong>es</strong> nicht<br />
bleiben. Schließlich hat uns nur der<br />
geografische Zufall qua Geburt nach<br />
Deutschland verschlagen und nicht in<br />
den Iran oder nach Afghanistan oder<br />
in die Ukraine. Da könnten wir schon<br />
versuchen, ein bisschen Gerechtigkeit<br />
her<strong>zu</strong>stellen, indem wir etwas von unseren<br />
Privilegien abgeben: Geld, sofern<br />
wir darüber verfügen, Zeit und Aufmerksamkeit<br />
für Geflüchtete, für die<br />
Seenotrettung, für Menschenrechte,<br />
fürs Klima. Was würden wir tun, was<br />
hätten wir getan? Auch wenn eine Antwort<br />
vielleicht auch gar nicht möglich<br />
ist: Die B<strong>es</strong>chäftigung mit der Frage,<br />
ob man im Iran, in China, in Russland<br />
oder in Deutschland während der Nazizeit<br />
mutig, vor<strong>sich</strong>tig oder feige (gew<strong>es</strong>en)<br />
wäre, ist wichtig. Denn <strong>es</strong> erinnert<br />
daran, dass Demonstrieren bei<br />
uns heute möglich ist, ohne sein<br />
Leben <strong>zu</strong> riskieren. Es ist ein gut<strong>es</strong> Gefühl,<br />
das wir schützen sollten.<br />
Kat Menschik arbeitet bereits<br />
seit 1999 als freiberufliche<br />
Illustratorin in Berlin.<br />
Die studierte Kommunikationsd<strong>es</strong>ignerin<br />
zeichnet<br />
für Zeitungen, <strong>Magazin</strong>e<br />
und Buchverlage, unter<br />
anderem für die Frankfurter<br />
Allgemeine Sonntagszeitung. Seit 2016 veröffentlicht<br />
Kat Menschik mit „Klassiker der Weltliteratur“<br />
ihre eigene Buchreihe im Berliner Galiani-Verlag.<br />
Kat Menschik illustrierte Bücher von<br />
Enn Vetemaa und Haruki Murakami.<br />
EINS<strong>2023</strong><br />
47
RÄTSEL<br />
Zu gewinnen<br />
gibt <strong>es</strong><br />
1. Preis:<br />
Edelstahl Espr<strong>es</strong>sokocher<br />
Für vier oder sechs Tassen (200 –<br />
300 ml), induktionsgeeignet und<br />
aus hochwertigem Edelstahl, ein<br />
robuster Begleiter im Alltag. Für<br />
eine r<strong>es</strong>sourcenschonende Kaffee<strong>zu</strong>bereitung,<br />
plastikfrei und eine<br />
nachhaltige Alternative <strong>zu</strong> Kapselkaffee<br />
und Padmaschinen. Eco-<br />
Royal produziert den hochwertigen<br />
Espr<strong>es</strong>sokocher ausschließlich <strong>zu</strong><br />
fairen Konditionen.<br />
„Die Technologieplattformen haben<br />
Regeln eingeführt, die digitalen<br />
Populisten und autoritären Herrschern<br />
das Äquivalent einer Atombombe in<br />
die Hand geben, mit dem sie die<br />
G<strong>es</strong>ellschaften und Demokratien<br />
überall auf der Welt auf den Kopf<br />
stellen können.“<br />
Di<strong>es</strong><strong>es</strong> Zitat* stammt von<br />
2. Preis:<br />
Bildband „Über Tyrannei“<br />
Der US-amerikanische Historiker<br />
Timothy Snyder erteilt in seinem<br />
Buch 20 Lektionen für den Widerstand. Illustriert<br />
hat <strong>es</strong> die Deutsch-Amerikanerin Nora Krug, deren<br />
Arbeiten unter anderem in der „New York Tim<strong>es</strong>“,<br />
dem „Guardian“ und „Le Monde“ erschienen sind.<br />
3. Preis:<br />
Buch „Menschenpflichten“<br />
Gehört <strong>es</strong> nicht <strong>zu</strong>r Entwicklung b<strong>es</strong>tehender Demokratien,<br />
auch Menschenpflichten ein<strong>zu</strong>klagen? Bereits<br />
im Jahr 1997 stellte man di<strong>es</strong>en Entwurf den<br />
Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit <strong>zu</strong>r<br />
Diskussion vor. Mit Illustrationen d<strong>es</strong> Künstlers Mehrdad<br />
Zaeri. Ein Appell für eine solidarische G<strong>es</strong>ellschaft!<br />
a<br />
b<br />
c<br />
Inés Rodríguez<br />
Lokalreporterin<br />
aus Bolivien<br />
Lilli Muller<br />
deutsche Künstlerin<br />
aus den USA<br />
Maria R<strong>es</strong>sa<br />
Friedensnobelpreisträgerin<br />
aus den Philippinen<br />
*Sie finden <strong>es</strong><br />
in di<strong>es</strong>er Ausgabe.<br />
Einsend<strong>es</strong>chluss ist der 15. Juli <strong>2023</strong><br />
Der Rechtsweg ist ausg<strong>es</strong>chlossen. Wir speichern Ihre<br />
Daten nur <strong>zu</strong>r Durchführung der Verlosung. Wenn<br />
Sie weitere Informationen <strong>zu</strong> <strong>Misereor</strong> erhalten wollen,<br />
vermerken Sie das unter dem Lösungswort „Ja“.<br />
Sie können die Einwilligung jederzeit widerrufen.<br />
Senden Sie die Lösung an:<br />
<strong>frings</strong>@misereor.de<br />
oder<br />
Bischöflich<strong>es</strong> Hilfswerk <strong>Misereor</strong><br />
Redaktion <strong>Magazin</strong> „<strong>frings</strong>“<br />
Mozartstraße 9, 52064 Aachen<br />
Fotos: Avocadostore, Verlag C. H. Beck, Edition Büchergilde<br />
48<br />
EINS<strong>2023</strong>
<strong>Misereor</strong> ist das katholische Werk für Entwicklungs<strong>zu</strong>sammenarbeit<br />
an der Seite von Menschen in Afrika und<br />
im Nahen Osten, in Asien und Ozeanien, Lateinamerika<br />
und in der Karibik.<br />
Es leistet seit über 60 Jahren Hilfe <strong>zu</strong>r Selbsthilfe durch<br />
gemeinsame Projekte mit einheimischen Partnerorganisationen<br />
und setzt <strong>sich</strong> mit den Menschen in Deutschland<br />
für weltweite Gerechtigkeit, Solidarität und die Bewahrung<br />
der Schöpfung ein.<br />
<strong>Misereor</strong> b<strong>es</strong>itzt mit 6 Prozent an Kosten für Verwaltung,<br />
Werbung und Öffentlichkeitsarbeit das Spendensiegel<br />
d<strong>es</strong> Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI).<br />
Spendenkonto<br />
DE75 3706 0193 0000 1010 10<br />
<strong>Das</strong> Umweltmanagement<br />
von <strong>Misereor</strong> ist nach EMAS<br />
geprüft und zertifiziert.<br />
Abo für mich!<br />
Sie möchten keine Ausgabe<br />
von <strong>frings</strong> verpassen?<br />
Über magazin@misereor.de<br />
können Sie unter dem Stichwort<br />
„Abo“ ein kostenlos<strong>es</strong> Abonnement<br />
b<strong>es</strong>tellen (und jederzeit wieder<br />
kündigen).<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber: Bischöflich<strong>es</strong> Hilfswerk <strong>Misereor</strong> e. V.; Redaktion:<br />
Beate Schneiderwind (verantw.), Michael Mondry und Birgit-Sara<br />
Fabianek (redaktionelle Koordination), Dr. Kerstin Burmeister, Lena<br />
Monshausen, Ina Thomas; Grafische G<strong>es</strong>taltung: Anja Hammers;<br />
Repro: Roland Küpper, type & image, Aachen; Druck: Evers Druck<br />
GmbH – ein Unternehmen der Eversfrank Gruppe, Ernst-Günter-<br />
Albers-Str. 13, D-25704 Meldorf; Gedruckt auf Papier aus ökonomisch,<br />
ökologisch und sozial nachhaltiger Waldbewirtschaftung;<br />
Herstellung und Vertrieb: MVG Medienproduktion und Vertriebsg<strong>es</strong>ellschaft,<br />
Aachen.<br />
Zuschriften an<br />
<strong>Misereor</strong>, Mozartstraße 9, 52064 Aachen,<br />
magazin@misereor.de
Mit Ignoranz<br />
oder mit Menschen?<br />
Mit Menschen.<br />
Foto: Klaus Mellenthin/<strong>Misereor</strong><br />
Gemeinsam mit Ihnen schafft <strong>Misereor</strong> Bewusstsein<br />
durch Bildung in Deutschland und weltweit.<br />
Mehr erfahren: misereor.de/mitmenschen