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Aus der Geschichte des Stalag Luft I Barth - Förderverein ...

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„Wir wachten eines Morgens auf, und die Wachen waren verschwunden.“<br />

1 <strong>Aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I <strong>Barth</strong><br />

Helga Radau. <strong>Barth</strong> I Martin Albrecht, Berlin in: Zeitgeschichte regional, Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 1/04<br />

I<br />

n <strong>der</strong> <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs gingen<br />

deutsche Städte reihenweise in Flammen auf. Große und<br />

kleine erlitten schwere Schläge von anglo-amerikanischen<br />

<strong>Luft</strong>armeen. Das kleine pommersche <strong>Barth</strong>, 30 km westlich von<br />

Stralsund gelegen, war ein wichtiger Rüstungsstandort im Norden<br />

Deutschlands. Munition und Kampfstoffe, Metallteile für<br />

die Heeres- und die <strong>Luft</strong>waffenrüstung, eine große Flakkaserne<br />

und ein auffälliger Flugplatz - die Stadt am Bodden war ein lohnen<strong>des</strong>,<br />

erreichbares und zudem fast fehlerfrei auffindbares Ziel.<br />

Die Walter-Bachmann-Flugzeugwerke Ribnitz eröffneten hier<br />

im Jahre 1938 eine Filiale und stellten ebenso wie die alteingesessene<br />

Pommersche Eisengießerei Baugruppen und Waffenteile<br />

für die <strong>Aus</strong>rüstung <strong>der</strong> Wehrmacht her. Im <strong>Barth</strong>er Stadtwald<br />

entstand von 1939 bis 1940 ein weitläufiges Munitionswerk. Als<br />

"Pommersche Industriewerke G.m.b.H. (PIW)" war es ein<br />

reichseigenes Werk, das bis Kriegsende ca. 3.600 Beschäftigte<br />

zählte, die Mehrzahl von ihnen ZwangsarbeiterInnen aus okkupierten<br />

europäischen Län<strong>der</strong>n wie Polen, <strong>der</strong> Sowjetunion, Belgien<br />

und Frankreich. Unter ihnen befanden sich auch Hun<strong>der</strong>te<br />

sowjetische Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte.<br />

Zwischen 1935 und 1943 entwickelte sich <strong>Barth</strong> zu einer Garnisonsstadt<br />

<strong>der</strong> <strong>Luft</strong>waffe Görings, ausgestattet mit einem Flugplatz<br />

und einer Flakschule. Der Fliegerhorst <strong>Barth</strong> war ein<br />

wichtiges Teilstück <strong>der</strong> Infrastruktur beim Aufbau <strong>der</strong> deutschen<br />

<strong>Luft</strong>waffe in den 30er Jahren. In <strong>der</strong> zweiten Kriegshälfte diente<br />

er neben seiner Nutzung als Flugplatz für Neuformierungen und<br />

Umglie<strong>der</strong>ungen von Kampfverbänden insbeson<strong>der</strong>e als Produktionsstandort<br />

für die <strong>Luft</strong>rüstung und die <strong>Aus</strong>beutung Tausen<strong>der</strong><br />

SklavenarbeiterInnen.<br />

Als im Jahre 1942 die Royal Air Force Rostock bombardierte<br />

und die Heinkel-Flugzeugwerke stark beschädigte, verlagerte<br />

<strong>der</strong> Konzern die Produktion über ganz Mecklenburg und Vorpommern.<br />

Die größte seiner Filialen entstand im Herbst 1943<br />

auf dem Fliegerhorst <strong>Barth</strong>. Acht große Hangars wurden zu Produktionsstätten<br />

von Flugzeugen und Flugzeugteilen umgerüstet.<br />

Neben dem laufenden Flugbetrieb produzierte man Komponenten<br />

<strong>des</strong> Jägers Me 109 und komplettierte zweimotorige He 111.<br />

Ab Ende 1944 glie<strong>der</strong>te Heinkel in den grauen Hallen die Produktion<br />

um und fertigte eines <strong>der</strong> letzten Flugzeugmuster <strong>der</strong><br />

Göringschen <strong>Luft</strong>waffe, den Strahljäger He 162, <strong>der</strong> in<strong>des</strong> seine<br />

technische Überlegenheit nicht mehr vom Reißbrett weg und aus<br />

den Produktionshallen heraus in die Realität überführen konnte.<br />

Diese Hochtechnologie wurde mit dem Blut und dem Leben <strong>der</strong><br />

Häftlinge bezahlt. Die Bewacher und die meisten zivilen Beschäftigten<br />

nahmen diese Umstände billigend in Kauf. Als billigste<br />

Arbeitskräfte beutete <strong>der</strong> Konzern in <strong>Barth</strong> KZ-Häftlinge<br />

aus. Unter den Frauen und Männern aus mehr als 20 Nationen<br />

befanden sich Hun<strong>der</strong>te europäischer Juden. Das jüngste ungarische<br />

Mädchen war 13 Jahre alt. Das KZ <strong>Barth</strong> war ein Außenlager<br />

<strong>des</strong> Konzentrationslagers Ravensbrück und bestand aus<br />

sechs <strong>Luft</strong>waffenkasernen auf dem Fliegerhorstgelände, die<br />

durch elektrisch geladenen Draht und Wachtürme gesichert waren.<br />

Insgesamt mussten im Zeitraum von November 1943 bis<br />

zum 30. April 1945 schätzungsweise 6.000 bis 7.000 Häftlinge<br />

in den Hangars arbeiten. Ein To<strong>des</strong>marsch sollte dann Ende<br />

April 1945 die überlebenden Häftlinge <strong>der</strong> Befreiung entziehen<br />

und sie als Zeugen liquidieren. Es wird geschätzt, dass ca. 2.000<br />

von ihnen Hunger, <strong>Aus</strong>beutung und SS-Terror nicht überlebten.<br />

Bis heute gibt es keine exakten Kenntnisse über die wirkliche<br />

Anzahl und alle Standorte <strong>der</strong> Zwangsarbeitslager in und um<br />

Seite 1 von 7 Seiten<br />

<strong>Barth</strong>. Die Einwohnerzahl <strong>der</strong> Boddenstadt mit ca. 15.000 Männern,<br />

Frauen und Kin<strong>der</strong>n im Jahre 1945 wurde bei weitem von<br />

<strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen<br />

überschritten.<br />

Das jahrelange Dröhnen <strong>der</strong> viermotorigen Bomber <strong>der</strong> 8. <strong>Luft</strong>flotte<br />

<strong>der</strong> USA und <strong>der</strong> britischen Royal Air Force bleibt alteingesessenen<br />

<strong>Barth</strong>ern unvergesslich. Tausende dieser schweren<br />

Kampfflugzeuge überflogen im Zweiten Weltkrieg die vorpommersche<br />

Kreisstadt in Richtung Berlin und Stettin, um dort<br />

ihre zerstörerische und tödliche Last abzuwerfen. Auf die Stadt<br />

am Bodden regnete es keine Bomben. In den Karten <strong>der</strong> englischen<br />

und amerikanischen Stäbe und auf den schriftlichen Anweisungen<br />

<strong>der</strong> Geschwa<strong>der</strong>kommandeure und Navigatoren waren<br />

die Koordinaten 54 Grad 20'45"N und 12 Grad 43'00"E gesperrt<br />

gedruckt. <strong>Barth</strong> blieb unversehrt. Die Englän<strong>der</strong> und<br />

Amerikaner flogen keine Angriffe auf die kleine, malerische<br />

Stadt. Erst am 12. Mai 1945, als am Bodden die Waffen schon<br />

nahezu zwei Wochen schwiegen, dröhnten über die im zartem<br />

Frühlingsgrün stehenden Wiesen die viermotorigen amerikanischen<br />

B 17, die legendären "Fliegenden Festungen". Doch die<br />

Maschinen <strong>der</strong> 8. US-<strong>Luft</strong>flotte brachten keinen Tod. Sie setzten<br />

zur Landung auf dem Flugplatz <strong>Barth</strong> <strong>der</strong> <strong>Luft</strong>waffe an. Ihre<br />

Piloten folgten den Einweisungen <strong>der</strong> Flugleitzentrale im Tower<br />

<strong>des</strong> Fliegerhorstes. Verständigungsschwierigkeiten gab es nicht.<br />

Amerikanische Offiziere saßen auf <strong>der</strong> Erde an den Funkgeräten<br />

und brachten die schweren Maschinen sicher zur Erde. Die<br />

"Operation Revival" begann.<br />

Drei Kilometer vom Fliegerhorst <strong>Barth</strong> entfernt im Norden <strong>des</strong><br />

Stadtgebietes war nach den Anfangssiegen <strong>der</strong> Wehrmacht ein<br />

Kriegsgefangenenlager entstanden. Zunächst allgemein für<br />

Mannschaften <strong>der</strong> <strong>Luft</strong>waffen gegnerischer Län<strong>der</strong> eingerichtet,<br />

erhielt es nach mehreren Umstrukturierungen die Aufgabe,<br />

westalliierte <strong>Luft</strong>waffenoffiziere aufzunehmen. Bekannt wurde<br />

es als Kriegsgefangenenlager <strong>der</strong> <strong>Luft</strong>waffe I o<strong>der</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I 2 .<br />

Der Lagerkomplex wurde in den Wiesen unmittelbar im Anschluss<br />

an das Gelände <strong>der</strong> Flak-Schule am Bodden eingerichtet.<br />

Unter den Rohren <strong>der</strong> ständig einsatzbereiten Flak am Südostrand<br />

<strong>des</strong> Lagergelän<strong>des</strong> mussten sich die Prisoner of War 3 einrichten<br />

und einer ungewissen Zukunft entgegensehen.<br />

Das war ein klarer internationaler Rechtsbruch. Die Nähe <strong>der</strong><br />

Flak-Einheit und darüber hinaus auch die <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Luft</strong>waffen-<br />

und Rüstungsobjekte stand gegen Geist und Buchstaben <strong>des</strong><br />

Genfer Abkommens. Auf <strong>der</strong> Konferenz in Genf wurde 1929 in<br />

Ergänzung <strong>der</strong> Haager Landkriegsordnung aus dem Jahre 1907<br />

ein ,,Abkommen über die Behandlung <strong>der</strong> Kriegsgefangenen"<br />

paraphiert und vom Deutschen Reich seitens <strong>des</strong> Reichspräsidenten<br />

Paul von Hindenburg 1934 in Kraft gesetzt. Im zweiten<br />

Abschnitt <strong>des</strong> Abkommens heißt es betreffs <strong>der</strong> Kriegsgefangenenlager<br />

im Artikel 9: "Kein Kriegsgefangener darf jemals in<br />

ein Gelände zurückgebracht werden, wo er dem Feuer <strong>des</strong><br />

Kampfgebietes ausgesetzt sein würde, o<strong>der</strong> dazu verwendet<br />

werden, durch seine Anwesenheit bestimmte Punkte o<strong>der</strong> Gegenden<br />

vor Beschießung zu schützen." 4


Amerikanischer Plan <strong>des</strong> Areals <strong>des</strong> Lagers <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I und <strong>der</strong> Flakschule in <strong>Barth</strong>, 1945. Alle Abbildungen:<br />

För<strong>der</strong>verein Dokumentations- und Begegnungsställe <strong>Barth</strong> e. V..<br />

In <strong>der</strong> perversen Dialektik <strong>des</strong> Krieges lag es, dass jener Bruch<br />

internationalen Rechts <strong>der</strong> Stadt <strong>Barth</strong> das Schicksal von Rostock,<br />

Halberstadt und über 100 an<strong>der</strong>er deutscher Städte mit<br />

hochentwickelter Rüstungsproduktion ersparte. Die alliierten<br />

Einsatztruppen vermieden nach Möglichkeit jeden direkten Angriff<br />

im Umfeld <strong>der</strong> Lager ihrer Boys. Selbst in normalen Berichten,<br />

die seitens westalliierter Stäbe in Umlauf gebracht wurden<br />

und wohl nie in die Hände fliegen<strong>der</strong> Einheiten kamen, fanden<br />

sich vorsorglich die genannten Koordinaten <strong>des</strong> Kriegsgefangenenlagers.<br />

Im Deutschen Reich bestanden im Zweiten Weltkrieg mehr als<br />

130 Kriegsgefangenenlager, davon mehr als 80 Stammlager für<br />

Unteroffiziere und Soldaten (<strong>Stalag</strong>), 38 Offizierslager (Oflag)<br />

sowie 14 bei <strong>der</strong> Marine (Marlag) und <strong>Luft</strong>waffe (<strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong>).<br />

Das Lager <strong>Barth</strong> lag auf einer schmalen Landzunge, die sich<br />

zwischen dem <strong>Barth</strong>er Bodden und dem Fluß <strong>Barth</strong>e befand.<br />

Nach ihrer Gefangennahme durchliefen die Flieger zunächst ein<br />

Vernehmungslager in Oberursel, wurden danach in Durchgangslager<br />

(Dulags) in Frankfurt a. M. und später Wetzlar überführt.<br />

Von dort erfolgte <strong>der</strong> Transport in Güterzügen, bei wichtigen<br />

Offizieren auch in Personenzügen, in die verschiedenen Stammlager<br />

o<strong>der</strong> Offizierslager.<br />

Die erste Gruppe von Offizieren und Unteroffizieren <strong>der</strong> Royal<br />

Air Force erreichte am 7. Juli 1940 das <strong>Barth</strong>er Lager, das aus<br />

zwei kleinen Teillagern bestand. Nach <strong>der</strong> Eröffnung von Görings<br />

Modell-Lager <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> III in Sagan/Schlesien wurden<br />

alle 800 Gefangenen <strong>des</strong> <strong>Barth</strong>er Lagers dorthin überstellt. Von<br />

Oktober 1942 bis November 1943 nahm das <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I nur<br />

Unteroffiziere auf, die dann aber im November 1943 in das<br />

Kriegsgefangenenlager <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> VI nach Heydekrug/Ostpreußen<br />

eingewiesen wurden. Dieses Lager war im Sommer 1943 als<br />

Hauptlager für kriegsgefangene Unteroffiziere eröffnet worden.<br />

Das <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I <strong>Barth</strong> besaß von Oktober 1943 bis Mai 1945<br />

den Status eines Kriegsgefangenenlagers für Offiziere <strong>der</strong> alliierten<br />

<strong>Luft</strong>streitkräfte. Die Belegungsstärke 5 schwoll im Zuge<br />

<strong>der</strong> <strong>Luft</strong>schlacht über Mitteleuropa schnell an:<br />

Seite 2 von 7 Seiten<br />

1. Oktober 1943: .... 920 Kriegsgefangene<br />

1. Februar 1944: ....1.090 Kriegsgefangene<br />

1. April 1944: ........2.508 Kriegsgefangene<br />

1. September 1944:.4.097 Kriegsgefangene<br />

1. Dezember 1944: .4.872 Kriegsgefangene<br />

1. Januar 1945: .......5.906 Kriegsgefangene.<br />

Die Lagerstärke betrug im Frühjahr 1945 durch die Zuführung<br />

<strong>des</strong> evakuierten Camps <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> VI aus Ostpreußen ca. 9.000<br />

alliierte Kriegsgefangene. Die Kapazitätsgrenzen <strong>des</strong> Komplexes<br />

in den Wiesen waren damit weit überschritten.<br />

Gegen Kriegsende bestand das Lager aus vier Teillagern (engl.<br />

compound): Westlager, Nord I, Nord II und Nord III. Die Gefangenen<br />

wohnten in den typischen einstöckigen Holzbaracken.<br />

Entsprechend den ansteigenden Abschusszahlen <strong>der</strong> deutschen<br />

<strong>Luft</strong>verteidigung musste oftmals für die Unterbringung auf Zelte<br />

zurückgegriffen werden, bis später dann weitere Baracken errichtet<br />

werden konnten. Ein doppelter, hoher Stacheldrahtzaun,<br />

in <strong>des</strong>sen Zwischenraum gerollter Stacheldraht lag, begrenzte<br />

den riesigen Lagerkomplex. In regelmäßigen Abständen erhoben<br />

sich Wachtürme mit starken Scheinwerfern, die <strong>des</strong> Nachts das<br />

gesamte Areal ableuchteten. Ein kniehoher "Warndraht" lief auf<br />

<strong>der</strong> Innenseite <strong>des</strong> ersten Zaunes entlang. Wer ihn überschritt,<br />

konnte ohne Anruf <strong>des</strong> Wachpostens erschossen werden.<br />

Die Deutsche <strong>Luft</strong>waffe hatte ca. 900 Mann als Lagerpersonal<br />

abgestellt. Während die Bewachung <strong>der</strong> Kriegsgefangenen und<br />

Besetzung <strong>der</strong> Wachtürme in den Händen <strong>der</strong> Stabskompanie<br />

lag, übernahm eine Lan<strong>des</strong>schützenkompanie die äußere Bewachung.<br />

In ihr dienten überwiegend ältere, frontuntaugliche Männer.<br />

Die Kommandanten <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I waren: 6<br />

18. März bis 14. Juni 1940: ...........Oberst von Winckler<br />

14. Juni 1940 bis 6. Mai 1941: ......Major von Oertzen<br />

6. Mai 1941 bis April 1942:...........Major Burckhardt<br />

Oktober 1942 bis Dezember 1944: Oberst Scherer<br />

Januar bis 30. April 1945:..............Oberst Warnstedt.<br />

Von den Gefangenen errichtetes Denkmal zur Erinnerung an den 50. Fluchttunnel, <strong>Barth</strong> 1943.


Die Abwehrabteilung <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I unterstand über einen<br />

längeren Zeitraum hinweg Major August von Miller zu Aichholz.<br />

Ihr oblag in erster Linie die Verhin<strong>der</strong>ung von Fluchtversuchen.<br />

Dutzende Fluchttunnel wurden im Lager gegraben.<br />

Nachteilig für den Tunnelbau als Fluchtweg wirkte sich <strong>der</strong><br />

hohe Grundwasserspiegel aus, so dass Tunnel nur in geringer<br />

Tiefe angelegt werden konnten. Nachdem die Abwehrabteilung<br />

im Sommer 1941 längs <strong>der</strong> Umzäunung Bodenmikrophone installiert<br />

hatte, verringerte sich die Chance einer erfolgreichen<br />

Tunnelflucht zusehends. Ungeachtet <strong>des</strong>sen wurden allein von<br />

Juli 1940 bis April 1942 43 Tunnel von Offizieren und zehn von<br />

Unteroffizieren angelegt; davon wurden zwei nach <strong>der</strong> Installierung<br />

<strong>der</strong> Bodenmikrophone fertiggestellt. Von vier Gefangenen,<br />

die durch diese Tunnel flohen, erreichte einer England. Natürlich<br />

gab es außerdem zahlreiche an<strong>der</strong>e Fluchtversuche. Nur<br />

zwei Englän<strong>der</strong> gelangten im Mai und Oktober 1941 über Stralsund<br />

und Saßnitz nach Schweden und von dort nach England 7 .<br />

Hubert Zemke berichtete aus seiner Erinnerung, dass insgesamt<br />

wohl mehr als 80 solche Fluchtversuche unternommen wurden,<br />

die nicht alle glimpflich für die Beteiligten abliefen 8 . So wurde<br />

im Januar 1942 <strong>der</strong> britische Sergeant John Shaw im <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong><br />

I auf <strong>der</strong> Flucht erschossen. Nach internationalen Gepflogenheiten<br />

waren große Teile <strong>der</strong> Organisation <strong>des</strong> Lageralltags<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger den Kriegsgefangenen selbst übertragen<br />

worden. Die alliierten Offiziere nutzten dies, um militärische<br />

Strukturen aufzubauen bzw. zu festigen. Wichtig war ihnen natürlich,<br />

eine starke Organisation zu schaffen, die alle Gefangenen<br />

organisierte, die Kampffähigkeit aufrechterhielt und die<br />

Stunde X vorbereitete.<br />

Die abgeschossenen Offiziere konnten eine einheitliche Kommandostruktur<br />

schaffen, die sicherstellte, dass die POW <strong>der</strong><br />

deutschen Lagerkommandantur gegenüber mit einer Stimme<br />

sprachen. Das zu erreichen war zunächst einfacher als gedacht.<br />

Die amerikanische Gruppe, die einen zunehmend größeren Anteil<br />

<strong>der</strong> Lagerinsassen stellte, und die britische, die die ältere auf<br />

dem Platze war, verabredeten, dass <strong>der</strong> jeweils höchste Dienstgrad<br />

die Position <strong>des</strong> Senior Allied Officer wahrnahm, <strong>der</strong> als<br />

Alliierter Lagerkommandant von den Deutschen akzeptiert<br />

wurde. Daneben gab es noch die jeweils für die bei den Gefangenengruppen<br />

zuständigen Senior American Officer und Senior<br />

British Officer.<br />

Mit seiner Ankunft im Lager übernahm Colonel Hubert Zemke 9<br />

zunächst die Geschäfte <strong>des</strong> Senior American Officers. Er war<br />

nicht nur eines <strong>der</strong> amerikanischen Jagdflieger-Asse, son<strong>der</strong>n<br />

hatte auf verschiedenen Kriegsschauplätzen seit 1941 internationale<br />

Erfahrungen sammeln können. So auch im Umgang mit<br />

den sowjetischen Streitkräften, ihrer Technik und <strong>der</strong> Mentalität<br />

ihrer Führung. Er schulte 1941, noch vor dem Kriegseintritt seines<br />

Lan<strong>des</strong>, sowjetische Jagdflieger in Murmansk auf amerikanische<br />

Flugzeuge um. In <strong>der</strong> 8 th Air Force befehligte Zemke zunächst<br />

die 56 th Fighter Group, die er zu einer Eliteeinheit entwickelte.<br />

Seit August 1944 kommandierte er die 479 th Fighter<br />

Group, als <strong>der</strong>en Comman<strong>der</strong> er aus seinem Jagdflugzeug P-51<br />

Mustang bei Hannover aussteigen musste.<br />

Zemke wurde bald in Abstimmung mit <strong>der</strong> britischen Lagerleitung<br />

als Senior Allied Officer eingesetzt. Vorgänger von Colonel<br />

Zemke war Lieutenant Colonel Jean Byerly, ehemaliger B-<br />

17-Group Comman<strong>der</strong>, <strong>der</strong> über Italien abgeschossen worden<br />

war. Davor hatte bis zum Januar 1944 Colonel William Hatcher,<br />

ehemaliger Comman<strong>der</strong> einer Bomber Group <strong>der</strong> 8 th Air Force,<br />

abgeschossen über Bordeaux, den Posten innegehabt. Er war<br />

nach seinen harschen Protesten gegen die harten Lebensbedingungen<br />

im Camp in ein an<strong>der</strong>es Lager verlegt worden 10 .<br />

Die Amerikaner stellten im Sinne ihrer Kommandoglie<strong>der</strong>ung in<br />

den fliegenden Verbänden die "Provisional Wing X" auf. Der<br />

Senior Officer und sein Stab ("Headquarters") saßen im Teillager<br />

Nord 1. Die Deutschen steuerten Schreibmaschinen und einen<br />

Abzugsapparat samt Papier für die Stabsarbeit bei. Sie un-<br />

Seite 3 von 7 Seiten<br />

terstützten eine Organisationsform wie diese, da sie die Lagerführung<br />

erleichterte. Die deutsche Kommandantur war natürlich<br />

an <strong>der</strong> Erhaltung <strong>der</strong> Befehlsstruktur ihrer Gefangenen interessiert.<br />

Die Gefahren für die Bewacher, die von Tausenden straff<br />

organisierten Offizieren ausgingen, auch wenn sie hinter Stacheldraht<br />

saßen, waren den deutschen Offizieren selbstverständlich<br />

klar.<br />

Wappen <strong>der</strong> Provisional Wing X. Entwurf 1944.<br />

Die "Provisional Wing X" regelte die inneren Angelegenheiten<br />

<strong>des</strong> Camps, stellte die Verbindungen mit dem Roten Kreuz und<br />

<strong>der</strong> YMCA (Young Men's Christian Association) her, sicherte<br />

die Disziplin und Erfassung aller POW und sollte die Evakuierung<br />

<strong>des</strong> Lagers organisieren, wenn die Zeit heran war. Die innere<br />

Glie<strong>der</strong>ung <strong>des</strong> Headquarters glich <strong>der</strong> in einer amerikanischen<br />

Fliegereinheit. Die Stellenbesetzung <strong>der</strong> Stabsabteilungen<br />

am Ende <strong>des</strong> Krieges sah beispielsweise so aus:<br />

Stabsabteilung A-1 (Personalangelegenheiten): Major Dillingham<br />

A-2 (Sicherheit, Aufklärung): Major McColiom<br />

A-3 (Bildung, Sport): Major Todd<br />

A-4 (Sicherstellung, d.h. Verteilung <strong>der</strong> Pakete etc.):<br />

Captain Birkner ..<br />

Ihnen standen die Compound Comman<strong>der</strong> <strong>der</strong> vier Teillager zur<br />

Seite, denen jeweils ein Senior American bzw. Senior British<br />

Officer unterstand:<br />

North 1: Lieutenant Colonel Ross Greening (US)<br />

North 2: Lieutenant Colonel Cy Wilson (US)<br />

North 3: Lieutenant Colonel Francis Gebreski (US)<br />

West Compound (für die US-POW): Colonel Einar Malstrom (US).<br />

In die Struktur <strong>der</strong> "Provisional Wing X" glie<strong>der</strong>ten sich die vier<br />

Teillager als jeweils eine "Group" und <strong>der</strong>en Baracken als jeweils<br />

eine "Squadron" ein, 11 Je<strong>der</strong> einzelne POW war somit in<br />

einer militärischen Einheit eingeglie<strong>der</strong>t und hatte seinen festen<br />

Platz in ihr.<br />

Kriegsgefangene stellten auch das medizinische Personal im Lagerhospital,<br />

arbeiteten in verschiedenen Werkstätten, wie <strong>der</strong><br />

Tischlerei und Schnei<strong>der</strong>stube, verwalteten die umfangreiche<br />

Lagerbibliothek, waren in <strong>der</strong> Schreibstube eingesetzt und berei-


teten einige Mahlzeiten selbst zu. Zusätzlich zur deutschen Verpflegung<br />

erhielten sie wöchentlich Pakete <strong>des</strong> britischen, kanadischen<br />

und amerikanischen Roten Kreuzes. Die seelsorgerische<br />

Betreuung übernahmen kriegsgefangene Priester verschiedener<br />

Konfessionen. Im Westlager gab es einen Andachtsraum, <strong>der</strong><br />

allerdings mit dem rapiden Anwachsen <strong>der</strong> Lagerstärke nicht<br />

mehr ausreichte. So fanden an wärmeren Tagen Andachten unter<br />

freiem Himmel statt.<br />

Regelmäßige Inspektionen <strong>der</strong> Schweizer Schutzmacht 12 boten<br />

den Kriegsgefangenen die Möglichkeit, Beschwerden über die<br />

deutsche Lagerleitung und Wachposten anzubringen. Die Vertreter<br />

<strong>der</strong> Schutzmacht fertigten über ihre Besuche <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong><br />

<strong>Luft</strong> I ausführliche Protokolle an. Einhellig schätzten sie die Behandlung<br />

<strong>der</strong> Kriegsgefangenen als zumeist korrekt ein, machten<br />

aber Einschränkungen bei <strong>der</strong> räumlichen Situation, die zuweilen<br />

sehr beengt war. Die zeitweilige Unterbringung in Zelten<br />

und die sanitären Bedingungen wurden oftmals beanstandet. Die<br />

Verpflegung wurde zumeist als ausreichend, aber zu monoton<br />

eingeschätzt. Eine einschneidende Verschlechterung trat dann zu<br />

Beginn <strong>des</strong> Jahres 1945 ein.<br />

Auch die YMCA sandte in regelmäßigen Abständen ihren Vertreter,<br />

den dänischen Pfarrer Christian Christiansen. Er sorgte<br />

für die kulturellen Belange. Der YMCA verdankten die Kriegsgefangenen<br />

ihre Lagerbibliothek, Sportgeräte aller Art, Musikinstrumente<br />

und vieles an<strong>der</strong>e mehr. Großer Beliebtheit erfreuten<br />

sich Theateraufführungen. Zwei Bands spielten für ihre Kameraden<br />

und die deutschen Bewacher. Weiterbildungskurse für<br />

Sprachen, Mathematik u. a., Kurse für Geflügelzucht, Versicherungswesen<br />

etc. sollten die jungen Männer auch geistig fithalten.<br />

Unter den Angehörigen <strong>der</strong> Royal Air Force waren auch Freiwillige<br />

aus verschiedenen, von den Deutschen okkupierten Län<strong>der</strong>n<br />

wie Polen, <strong>der</strong> Tschechoslowakei, Belgien, Frankreich,<br />

Norwegen, Griechenland und Jugoslawien. Der Englän<strong>der</strong> Ron<br />

Winton z.B. wohnte im Westlager in Baracke 11, Raum 9 mit<br />

acht Landsleuten, vier Franzosen, einem <strong>Aus</strong>tralier und drei Kanadiern<br />

zusammen. Er meint, dass sie alle miteinan<strong>der</strong> in Harmonie<br />

lebten bis zu dem Zeitpunkt, als die Deutschen die Essensrationen<br />

halbierten. Dann bestimmten sie Geoff Winter aus<br />

Yorkshire zum "Verteilungsoffizier" — ein undankbarer Job.<br />

Einen Eindruck von <strong>der</strong> alliierten Front gegen Nazideutschland<br />

vermittelt die Belegungsliste vom 30. Oktober 1944: 3.443<br />

Amerikaner, 750 Briten, 137 Kanadier, 26 <strong>Aus</strong>tralier, 22 Südafrikaner,<br />

20 Tschechen, 15 Neuseelän<strong>der</strong>, 9 Belgier, 8 Polen, 3<br />

Rho<strong>des</strong>ier, 3 Iren, 2 Norweger, 1 Liberianer. 13<br />

Für die schwersten und schmutzigsten Arbeiten, wie das Reinigen<br />

<strong>der</strong> Latrinen, setzten die Deutschen sowjetische Kriegsgefangene<br />

ein. In <strong>der</strong> Abwehrabteilung <strong>des</strong> Majors von Miller zu<br />

Aichholz diente Heinrich Haslob. Er war wegen seiner Dienstbeflissenheit<br />

und seines Ehrgeizes bei vielen Kriegsgefangenen<br />

verhasst. In seinem Tagebuchnotizen erwähnt er im Januar<br />

1942: ,,1.000 Russen angekommen".<br />

Ankunft sowjetischer Kriegsgefangener im <strong>Stalag</strong> <strong>Barth</strong>, Januar 1942.<br />

Seite 4 von 7 Seiten<br />

Einige von ihnen fotografierte er heimlich. Diese Aufnahmen<br />

dokumentieren den schlechten körperlichen Zustand und die unzulängliche,<br />

diskriminierende Bekleidung. An stelle von Le<strong>der</strong>schuhzeug<br />

wurden ihnen nur Holzschuhe ausgehändigt. Die<br />

sowjetischen Kriegsgefangenen hausten in einer Baracke im<br />

deutschen Vorlager. Obwohl sie, wie ihre westalliierten Verbündeten,<br />

zumeist Offiziere <strong>der</strong> <strong>Luft</strong>streitkräfte waren, wurden<br />

sie gemäß <strong>der</strong> nationalsozialistischen Rassenideologie als "bolschewistische<br />

Untermenschen" behandelt. Da die Sowjetunion<br />

nicht zu den Unterzeichnern <strong>der</strong> Genfer Konvention gehörte,<br />

genossen sie zudem keinen Schutz durch das Internationalen<br />

Rote Kreuz und an<strong>der</strong>e Hilfsorganisationen. Im Frühjahr 1944<br />

befahl <strong>der</strong> Kommandant Oberst Scherer dem Wachpersonal gar,<br />

Schäferhunde auf "die Russen" zu hetzen, da sie seiner Meinung<br />

nach "immer frecher" würden.<br />

Die alliierten Kameraden versuchten heimlich, ihnen Brot o<strong>der</strong><br />

Zigaretten zukommen zu lassen. <strong>Aus</strong> vielen ihrer Berichte klingt<br />

großes Mitleid und Wut über die unmenschliche Behandlung<br />

seitens <strong>der</strong> gemeinsamen Feinde. Beerdigungslisten <strong>der</strong> Jahre<br />

1939 bis 1945 aus <strong>der</strong> St. Marienkirche <strong>Barth</strong> nennen auch die<br />

häufigsten To<strong>des</strong>ursachen sowjetischer Kriegsgefangener: "allgemeine<br />

Schwäche", "völlige Entkräftung". und "Tuberkulose".<br />

Das Schicksal <strong>der</strong> überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen<br />

aus dem <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I nach dem Ende <strong>des</strong> Zweiten Weltkrieges<br />

ist unbekannt. In den Berichten deutscher, englischer o<strong>der</strong> amerikanischer<br />

Behörden zur Lagerstärke am Kriegsende tauchen<br />

sie niemals auf. Von 1990 bis 2000 wandte sich nicht ein einziger<br />

ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener aus jener Gruppe<br />

mit <strong>der</strong> Bitte um Bestätigung seiner Zwangsarbeit an die Stadt<br />

<strong>Barth</strong>. Vermutlich landeten viele von ihnen in Stalins Gulags, da<br />

sie als Vaterlandsverräter galten, hätten sie sich doch nicht in die<br />

Kriegsgefangenschaft begeben dürfen. Vor den meisten von ihnen<br />

lag dann nach <strong>der</strong> Befreiung die Verurteilung zu einer Haftstrafe<br />

von bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit o<strong>der</strong> gar das To<strong>des</strong>urteil.<br />

Die Baracken <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> und die <strong>Luft</strong>waffenkasernen <strong>des</strong><br />

KZ im Fliegerhorst blieben somit nicht lange leer. Sowjetische<br />

Filtrierungslager belegten die Gebäude und bildeten für Tausende<br />

von sowjetischen Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeitern<br />

das drohende Tor in die alte Heimat. Für <strong>Barth</strong> sind für<br />

den 1. August 1945 die "Repatriierungslager" mit den Kennummern<br />

164 und 209 belegt.<br />

Hier wurden neben sowjetischen Kriegsgefangenen auch männliche<br />

und weibliche Zwangsarbeiter, letztere vielfach mit Kleinkin<strong>der</strong>n,<br />

überprüft, um zu entscheiden, ob sie zurück in ihre<br />

Heimatorte o<strong>der</strong> aber in Gefangenschaft und Zwangsarbeit gehen<br />

würden.<br />

Eine an<strong>der</strong>e Gruppe Kriegsgefangener <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I, die die<br />

nationalsozialistische Rassenideologie zu spüren bekam, waren<br />

Hun<strong>der</strong>te Juden, vornehmlich aus den USA. Jüdische Kriegsgefangene<br />

mussten zwar nicht mit einem gelben Stern gekennzeichnet<br />

sein, doch sollten sie so weit wie möglich von den an<strong>der</strong>en<br />

Kriegsgefangenen getrennt werden. Einige Tage nach<br />

Weihnachten 1944 wurden die jüdischen Gefangenen zunächst<br />

in einer geson<strong>der</strong>ten Baracke <strong>des</strong> Teillagers Nord 1 konzentriert.<br />

14 Am 10. Januar 1945 trafen dort ca. 400 - 500 Juden aller<br />

Teillager zusammen. Viele fürchteten, sie würden von <strong>Barth</strong> aus<br />

zur Vernichtung in ein KZ transportiert werden, und baten ihre<br />

nichtjüdischen Kameraden um die Benachrichtung ihrer Familien,<br />

falls sie nicht mit ihnen in die Heimat zurückkehrten. Colonel<br />

Zemke als Senior Allied Officer protestierte energisch gegen<br />

das Vorgehen <strong>der</strong> deutschen Kommandantur und wies den Lagerkommandanten<br />

darauf hin, dass etwaige Beeinträchtigungen<br />

o<strong>der</strong> gar Tötungen <strong>der</strong> Gefangenen als hinreichende Gründe für<br />

Verurteilungen als Kriegsverbrechen nach dem bevorstehenden<br />

alliierten Sieg gewertet würden. 15<br />

Der Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Offiziere hinter dem <strong>Barth</strong>er Stacheldraht<br />

speiste sich nicht zuletzt aus dem Vorhandensein zweier Radios.


Die britischen Kriegsgefangenen Roy Kilminster und Leslie<br />

HurreIl besaßen jeweils ein illegales Radio und hörten jede<br />

Nacht die Nachrichten <strong>des</strong> BBC London. Die Berichte wurden<br />

mitstenografiert und am nächsten Morgen heimlich weitergeleitet.<br />

Auf diese Weise waren die Kriegsgefangenen über die Lage<br />

an den Fronten besser informiert als die Deutschen. Nach dem<br />

Beginn <strong>der</strong> Invasion in Frankreich ging auch die "Voice of America"<br />

dazu über, verschlüsselte Nachrichten und Befehle für die<br />

Kriegsgefangenen zu übermitteln.<br />

Hauptgebiet <strong>der</strong> Geheimtätigkeiten waren die gesamte Zeit über<br />

die Vorbereitung und Realisierung <strong>der</strong> Fluchten ausgewählter<br />

Gefangener. Diese Unternehmen waren in <strong>der</strong> Regel umfangreich<br />

vorbereitet und for<strong>der</strong>ten ganze Gruppen von Beteiligten.<br />

Die Englän<strong>der</strong> blieben über die Jahre hinweg die Chefs in <strong>der</strong><br />

Feindaufklärung und die Planer diverser Geheimoperationen<br />

und Untergrundaktivitäten einschließlich <strong>der</strong> Fluchtversuche.<br />

Das US-Personal wurde in die geplanten Manöver aber voll einbezogen~<br />

Zuweilen gelang es sogar, Nachrichten zu deutschen<br />

Militärbewegungen o<strong>der</strong> Rüstungsvorhaben, wie z.B. zu Versuchen<br />

mit den „Wun<strong>der</strong>waffen", über die Fronten zu bringen.<br />

Die Befehle über die "Voice of America" orientierten die<br />

westallierten Kriegsgefangenen darauf, sich den von den Nazis<br />

geplanten Evakuierungen <strong>der</strong> Lager zu verweigern. Die Gefahr<br />

für <strong>Barth</strong> wurde groß, als das <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I das Ziel eines Transportes<br />

aus dem weiter östlich gelegenen <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> VI wurde<br />

und sich somit Ende Februar die Kopfzahl <strong>der</strong> Gefangenen auf<br />

mehr als 9.000 POW erhöhte. Colonel Zemke und seine Stabsoffiziere<br />

bereiteten sich darauf vor,' eine weitere Verlegung zu<br />

verhin<strong>der</strong>n. Sie erhielten von SHAEF 16 den Befehl "Stay-put", d.<br />

h. zu bleiben, wo sie waren, und sich von <strong>der</strong> Front überrollen<br />

zu lassen. 17 Vorbereitungen wurden in <strong>der</strong> "Provisional Wing X"<br />

getroffen, um die Kampfbereitschaft <strong>der</strong> Männer herzustellen.<br />

Die als Tarnung für das Kampftraining anberaumten Sportveranstaltungen<br />

wurden intensiviert. Major TAG. Pritchard, ein<br />

britischer Commando-Officer, <strong>der</strong> in Italien als Fallschirmjäger<br />

gefangen worden war, bildete die britischen Kämpfer aus, Lieutenant<br />

Colonel Burt Mc Kencie als ehemaliger Infanterieoffizier<br />

die US-Männer. 18<br />

Eine V-2 über dem <strong>Stalag</strong>. <strong>Barth</strong> 1944. Zeichnung eines amerikanischen Kriegsgefangenen.<br />

Im Januar 1945 wurden Kommandant Oberst Scherer, Major<br />

Seite 5 von 7 Seiten<br />

Lagerturm, <strong>Barth</strong> 1945.<br />

von Miller zu Aichholz, Hauptmann von Beck-Managetta und<br />

Major Schrö<strong>der</strong> auf höheren Befehl aus <strong>Barth</strong> entfernt. Angeblich<br />

sollen sie sich den westalliierten Kriegsgefangenen gegenüber<br />

zu freundlich verhalten haben. Als neuer Kommandant<br />

wurde Oberst Warnstedt eingesetzt, <strong>der</strong> als erste Maßnahme eine<br />

neue, strengere Lagerordnung in Kraft setzte. Die Wachposten<br />

erhielten den Befehl, ohne Warnung auf Kriegsgefangene zu<br />

schießen, die sich während <strong>des</strong> Fliegeralarms außerhalb <strong>der</strong> Baracken,<br />

am offenen Fenster o<strong>der</strong> im Eingangsbereich befanden.<br />

Dieser Anordnung fiel am 18. März 1945 <strong>der</strong> amerikanische<br />

Leutnant Frank Elroy Wyman zum Opfer. Er überhörte das Signal<br />

und wurde im Barackeneingang von einem Wachturmposten<br />

nie<strong>der</strong>geschossen.<br />

Das Jahr 1945 brachte noch weitere gravierende Verschlechterungen<br />

für die ca. 9.000 Kriegsgefangenen <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I. Die<br />

Deutschen halbierten die Essens- und Kohlerationen. Zu allem<br />

Unglück stagnierte bis Ende März 1945 die Lieferung von Rot-<br />

Kreuz-Paketen. Eine Zeit <strong>des</strong> Hungerns und Frierens begann.<br />

Zuweilen war es für einen Gefangenen nicht einmal möglich,<br />

1.000 Kalorien pro Tag zu erhalten. Auf Grund rapi<strong>der</strong> Gewichtsabnahme<br />

waren die Kriegsgefangenen außerstande, sich<br />

sportlich zu betätigen. Die beliebten Lagerkatzen verschwanden<br />

spurlos und landeten in den Kochtöpfen <strong>der</strong> Amerikaner. Ihre<br />

britischen Kameraden waren entsetzt über diesen "Kannibalismus".<br />

Mit <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>lieferung Tausen<strong>der</strong> langersehnter Lebensmittelpakete<br />

kurz vor Ostern 1945 stiegen Lebensmut und Moral. Die<br />

Gefangenen wussten, dass <strong>der</strong> Krieg und ihre Gefangenschaft<br />

sich dem Ende näherten, und erwarteten ungeduldig das Erscheinen<br />

<strong>der</strong> Roten Armee.<br />

Am 29. und 30. April 1945 beriet sich Kommandant Warnstedt<br />

mehrere Male mit den verantwortlichen britischen und amerikanischen<br />

Offizieren. Warnstedt teilte ihnen mit, dass das Lager<br />

sich auf einen Verlegungsmarsch vorbereiten solle. Colonel<br />

Zemke weigerte sich, diesen Befehl auszuführen, und wies darauf<br />

hin, dass im Falle einer militärischen Aktion alle Maßnahmen<br />

und die möglichen, ja wahrscheinlichen Opfer auf beiden<br />

Seiten dem Oberst Warnstedt persönlich zugeschrieben werden


würden. Nach einer Bedenkpause verkündete <strong>der</strong> deutsche Lagerkommandant,<br />

dass für seine Seite jetzt <strong>der</strong> Krieg aus sei. Er<br />

wünschte zu erfahren, ob die "Provisional Wing X" das Lager<br />

übernehmen würde unter <strong>der</strong> Bedingung, das deutsche Personal<br />

nicht durch eine militärische Aktion am Abzug zu hin<strong>der</strong>n.<br />

Zemke sagte mit <strong>der</strong> Maßgabe zu, dass die deutsche Truppe<br />

komplett und in Marschordnung abziehe, nur Handfeuerwaffen<br />

mitnehme und keine Lagereinrichtungen zerstöre.<br />

Gegen 22 Uhr am 30. April erloschen alle Lichter, und die Deutschen<br />

zogen in Richtung Westen ab. Am 1. Mai übernahm die<br />

Militärpolizei <strong>der</strong> freien Lagerinsassen die Besetzung <strong>der</strong><br />

Wachtürme. Späher suchten Kontakt zur sowjetischen Armee.<br />

"Field Forces" hielten Hun<strong>der</strong>te Deutsche vom Lager fern, die<br />

aus Angst vor "den Russen" im <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I Schutz suchten.<br />

Die ersten Schritte in die Freiheit, <strong>Barth</strong> im Mai 1945.<br />

Am 2. Mai 1945 um 10 Uhr zog das 133. Gar<strong>der</strong>egiment (44.<br />

Gar<strong>des</strong>chützendivision, 65. Armee unter Generaloberst P.l. Batow)<br />

in <strong>Barth</strong> ein. Colonel Hubert Zemke (US Army Air Force)<br />

und Group Captain Cecil Weir (Royal Air Force) waren in <strong>der</strong><br />

Nacht zum 2. Mai bei <strong>der</strong> bedingungslosen Kapitulation <strong>der</strong><br />

Stadt <strong>Barth</strong> gegenüber einem sowjetischen Offizier zugegen.<br />

Auf ihren Exkursionen zum Fliegerhorst <strong>Barth</strong> entdeckten<br />

Kriegsgefangene <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I das KZ <strong>Barth</strong> und waren entsetzt<br />

über Hun<strong>der</strong>te halbverhungerter Menschen und Dutzende<br />

toter Häftlinge, die in den völlig verdreckten und verlausten<br />

Räumen umherlagen. Britische und amerikanische Mediziner<br />

versorgten nach Kräften die Kranken und brachten sie in das<br />

Lazarett <strong>des</strong> Fliegerhorstes und in das Hospital <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I.<br />

Nun erst wurde das arabische Sprichwort für sie Realität, das ein<br />

Kriegsgefangener an eine Barackenwand im <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I geheftet<br />

hatte: "Ich hatte keine Schuhe und murrte. Bis ich einen<br />

Mann ohne Füße traf."<br />

Die Rote Armee hatte an diesem 2. Mai das größte Offizierslager<br />

<strong>der</strong> Wehrmacht für abgeschossene Flieger westalliierter<br />

<strong>Luft</strong>waffen erreicht. Die alliierte Lagerleitung bat um Unterstützung<br />

bei <strong>der</strong> Rückkehr in die Heimat. Ein verständliches Anliegen,<br />

saßen doch viele von ihnen schon seit Jahren hinter Stacheldraht.<br />

Doch dieser Wunsch war seitens <strong>der</strong> sowjetischen<br />

Truppen nicht so einfach zu erfüllen. Die westlichen Verbündeten<br />

standen bei Schwerin und rückten nicht weiter vor. Die Rote<br />

Armee kontrollierte nach und nach das gesamte dazwischen liegende<br />

Mecklenburger Land. Das Kriegsgefangenenlager war<br />

fast 120 km von den eigenen, westalliierten Truppen entfernt.<br />

Ein Landmarsch war nicht so einfach zu bewerkstelligen. Das<br />

<strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I war eine Insel im anschwellenden roten Ozean.<br />

Somit war eine politische Lösung gefragt.<br />

Seit dem Herbst <strong>des</strong> Jahres 1944 beschäftigten sich die amerikanischen<br />

und britischen Stäbe von SHAEF intensiv mit dem<br />

Schicksal ihrer Kriegsgefangenen im Machtbereich <strong>der</strong> Nazis.<br />

Vereinbarungen mit <strong>der</strong> Sowjetunion wurden kurz nach <strong>der</strong><br />

Seite 6 von 7 Seiten<br />

Konferenz in Jalta im Februar 1945 getroffen, um die eigenen<br />

Männer so schnell wie möglich zurückzuholen. Ebenso wollte<br />

die sowjetische Seite ihre Kriegsgefangenen und insbeson<strong>der</strong>e<br />

diejenigen, die auf Seiten Deutschlands mit <strong>der</strong> Waffe gegen sie<br />

gekämpft hatten, zurückerhalten. Auch die geflüchteten Bürger<br />

<strong>der</strong> Staaten <strong>des</strong> Baltikums und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Gebiete, die erst<br />

1940 zur Sowjetunion gekommen waren, wollte sie wie<strong>der</strong> nach<br />

Osten transportiert sehen. Zunächst erhöhte die Sowjetunion den<br />

Druck auf ihre Alliierten dadurch, dass sie bekannt gab, alle<br />

westalliierten ehemaligen Gefangenen würden zunächst nach<br />

O<strong>des</strong>sa ans Schwarze Meer gebracht, um sie später in Sammeltransporten<br />

nach Westeuropa zu transportieren. 19 Stalin begann,<br />

auf Zeit zu spielen.<br />

Beim <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I <strong>Barth</strong> kam noch ein zusätzliches Moment<br />

hinzu. Schließlich ging es - militärisch gesehen - um die Rückführung<br />

von 9.000 Fliegeroffizieren mit einiger Kampferfahrung<br />

auf einem Gebiet, auf dem die Rote <strong>Luft</strong>flotte nur über wenige<br />

Erfahrungen verfügte: auf dem <strong>des</strong> strategischen <strong>Luft</strong>krieges.<br />

Mit den Offizieren, die in <strong>Barth</strong> nun immer noch hinter Stacheldraht<br />

saßen, hätten die Amerikaner problemlos eine weitere<br />

schlagkräftige <strong>Luft</strong>armee aufstellen können. Die Anzahl <strong>der</strong> einsitzenden<br />

Offiziere war weit höher als die jener Offiziere, die in<br />

den fliegenden Verbänden <strong>der</strong> mächtigen 8 th Air Force im April<br />

1945 ihre Angriffe gegen Nazideutschland geflogen hatten. 2o<br />

Die Amerikaner und Englän<strong>der</strong> begannen umzudisponieren und<br />

handelten blitzschnell. Der Befehl "Stay-put", d.h. das Überrollenlassen<br />

und das Abwarten <strong>der</strong> Gefangenen im anglo-amerikanischen<br />

Lager, wurde ab März 1945 durch den Plan "Rankin<br />

Case C" ersetzt. 21 Die POW sollten mit allen verfügbaren Mitteln<br />

versuchen, die Lager geordnet in Richtung auf ihre Truppen<br />

zu verlassen. Längere Verhandlungen mit <strong>der</strong> Roten Armee<br />

sollten vermieden und Tatsachen geschaffen werden. Entsprechende<br />

Befehle gingen verschlüsselt sowohl über Funk als auch<br />

über normale Radiosendungen an die Kriegsgefangenenlager.<br />

Nach Möglichkeit sollte die Air Force zum Transport aus weiter<br />

entfernten Camps eingesetzt werden. Die Bedingungen in <strong>Barth</strong><br />

waren dafür ausgezeichnet. Ein voll betriebsfähiger Fliegerhorst<br />

mit einer entsprechend ausgebauten Start- und Landebahn lud<br />

ein. Die amerikanischen Offiziere begannen, die Anlagen und<br />

Rollbahnen zu entminen.<br />

Die Kriegsgefangenen <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I erlebten diese präzise<br />

vorbereitete Airlift-Aktion als "Operation Revival". Ungeduldig<br />

warteten Tausende junger Männer seit dem 30. April auf ihre<br />

Evakuierung, doch die sowjetische Seite ließ sich Zeit. Tagelang<br />

fertigte sie namentliche Listen <strong>der</strong> zu Evakuierenden an. Sie<br />

sorgte für das leibliche Wohl ihrer Verbündeten und trieb Dutzende<br />

leben<strong>der</strong> Kühe und Schweine in das Lager, die dort geschlachtet<br />

wurden. Kulturveranstaltungen vereinten die Männer<br />

bei <strong>der</strong> Seiten. Ein sowjetisches Tanzensemble trat auf.<br />

Auftritt eines sowjetischen Tanzensembles vor den POW, <strong>Barth</strong> im Mai 1945.<br />

Die Führung <strong>der</strong> "Provisional Wing X" arbeitete konzentriert<br />

und effektiv, waren die kommandierenden Offiziere doch schon<br />

vor Monaten maßgeschnei<strong>der</strong>t für ihre neue Aufgabe ausgewählt<br />

worden. Die besten Offiziere waren zum rechten Zeitpunkt am<br />

richtigen Ort. Colonel Zemke kamen seine Erfahrungen mit den<br />

Handlungsweisen sowjetischer Stäbe zugute. Er wusste, dass er<br />

Entscheidungen nur mit den Offizieren <strong>der</strong> Roten Armee vor 01t<br />

treffen konnte und die sowjetische Befehlshierarchie nach<br />

"oben" nur vorsichtig in Gang setzen durfte. Group Captain


Weir überzeugte den Kommandeur <strong>der</strong> in <strong>Barth</strong> stationierten<br />

sowjetischen Truppen, ihn nach Wismar zur britischen Armee<br />

zu begleiten. Mit dem Auto fuhren sie sogar bis Hagenow, wo<br />

<strong>der</strong> bedrängte sowjetische Offizier eine Erklärung unterzeichnete,<br />

die für den 12. und 13. Mai eine "Feuerpause" zusicherte,<br />

so dass die Evakuierung mit Flugzeugen vom Fliegerhorst <strong>Barth</strong><br />

stattfinden konnte. Die höheren Stäbe <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong>, Amerikaner<br />

und <strong>der</strong> Sowjetunion wurden kurz vorher benachrichtigt.<br />

Weir kehrte nach <strong>Barth</strong> zurück. Ein Brief an den sowjetischen<br />

Divisionskommandeur Generalmajor W.A. Borisov wurde vorbereitet,<br />

in dem dieser über die bevorstehende Evakuierung informiert<br />

wurde. Dieses Schreiben sollte dem General erst übergeben<br />

werden, wenn das erste Flugzeug in <strong>Barth</strong> landete. Kurz<br />

vor 14 Uhr am 12. Mai 1945 begrüßten die Insassen <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong><br />

<strong>Luft</strong> I mit großem Jubel das bekannte Geräusch amerikanischer<br />

Flugzeuge. Die 8 th Air Force ließ es sich nicht nehmen, das <strong>Stalag</strong><br />

<strong>Luft</strong> I selbst zu evakuieren, saßen doch viele ihrer alten Bekannten<br />

dort hinter dem Stacheldraht. Brigadegeneral William<br />

Gross, <strong>der</strong> Kommandeur <strong>der</strong> 1 th Air Division <strong>der</strong> <strong>Luft</strong>flotte, entstieg<br />

<strong>der</strong> ersten einschwebenden "Fliegenden Festung" und verließ<br />

<strong>Barth</strong> erst mit <strong>der</strong> letzten Maschine zwei Tage später. Zwei<br />

weitere B-17 und eine Transportmaschine C-46 brachten starke<br />

Sendeanlagen und eine SHAEF-Stabsgruppe unter General David<br />

M. Schlatter, dem Verantwortlichen für ehemalige US-<br />

Kriegsgefangene in Eisenhowers Stab 22 .<br />

Vor dem Einstieg in eine B-17, <strong>Barth</strong> am 14.5.19455<br />

Zum Abtransport <strong>der</strong> befreiten Gefangenen wurden fast durchweg<br />

Bomber B-17 herangezogen. Einige zweimotorige C-46<br />

flogen die Verwundeten und Kranken aus. Alle Maschinen<br />

drehten nur auf dem Flugfeld, nahmen ihre Kameraden an Bord<br />

und starteten. Keiner <strong>der</strong> Motoren sollte auf dem Platz abgestellt<br />

werden, und die Maschinengewehrpositionen besetzten die<br />

Bordschützen wie zu Kriegszeiten. An drei Tagen bestiegen alle<br />

Kriegsgefangenen die in kurzen Abständen startenden Maschinen<br />

und flogen nach Hause. Auch Dutzende tschechischer und<br />

polnischer Flieger, die im Rahmen <strong>der</strong> Royal Air Force gedient<br />

hatten, erklommen die Maschinen. Sie schlossen sich nicht ihren<br />

sowjetischen Waffenbrü<strong>der</strong>n an.<br />

Die militärpolitische Situation war einzigartig: Tagelang agierten<br />

starke amerikanische <strong>Luft</strong>waffenverbände 120 km tief in <strong>der</strong><br />

im Entstehen begriffenen sowjetischen Besatzungszone<br />

Deutschlands. Stalins Soldaten standen verunsichert am Rande<br />

<strong>des</strong> Flugplatzes. Sie hatten keinerlei Richtlinien aus Moskau,<br />

und so verabschiedeten sie ihre Waffenbrü<strong>der</strong> im Kampf gegen<br />

Nazideutschland freundlich und freundschaftlich. Schießen<br />

konnten die sowjetischen Soldaten bei dem unerhört entschiedenen<br />

Vorgehen ihrer Verbündeten auch nicht. Die Maschinen<br />

starteten im 3-Minuten- Takt. Drei Transportmaschinen luden<br />

schließlich noch die über Jahre hinweg entstandenen Graphiken,<br />

Gemälde und an<strong>der</strong>en Kunstwerke <strong>der</strong> Gefangenen aus dem<br />

<strong>Barth</strong>er Camp auf. Mit diesem Material wurde noch 1945 in den<br />

USA eine gut besuchte <strong>Aus</strong>stellung organisiert. 23<br />

Als letzter POW.bestieg <strong>der</strong> Senior Allied Officer Colonel Hubert<br />

Zemke seine B-17. Er war <strong>der</strong> 8.498te Kriegsgefangene <strong>des</strong><br />

Lagers, <strong>der</strong> im Mai 1945 nach Hause flog. Die Maschine, in <strong>der</strong><br />

auch Brigadegeneral Gross und Group Captain Weir saßen,<br />

drehte am 14. Mai noch mit dem sowjetischen Generalmajor<br />

Borisov eine Ehrenrunde, setzte den Gast ab und flog nach Wes-<br />

Seite 7 von 7 Seiten<br />

ten davon.<br />

Das <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I war <strong>Geschichte</strong>. 24 Der heiße Krieg war für<br />

Tausende von Kriegsgefangenen zu Ende. Am Horizont zogen<br />

schon erste Schatten eines neuen, kalten Krieges auf.<br />

Anmerkungen<br />

1. Der ehemalige Kriegsgefangene Edwin D. Hays im Interview mit<br />

dem "Spiegel" über seine Befreiung im <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I <strong>Barth</strong>. Spiegel<br />

Spezial, 2003, H. 1, S.85<br />

2. Im Bun<strong>des</strong>archiv-Militärarchiv Freiburg, Bestand RW 6, finden<br />

sich in den Listen bis zum 1.7.1941 folgende Bezeichnungen:<br />

,,Kriegsgefangenenlager <strong>Barth</strong>/Vogelsang", "<strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> 2",<br />

"<strong>Luft</strong>stalag II", "<strong>Luft</strong> <strong>Barth</strong>", ab dem 1.2.1941 "Lager <strong>Luft</strong> 1<br />

<strong>Barth</strong>" und schließlich ab dem 1.10.1942 "<strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> 1 <strong>Barth</strong>".<br />

Ein Arbeitsvertrag im Archiv <strong>der</strong> Stadt <strong>Barth</strong> vom 6.6.1941 zur<br />

Beschäftigung von britischen Kriegsgefangenen trägt die Bezeichnung<br />

"Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager (<strong>Stalag</strong>)<br />

<strong>Barth</strong> 2 (Pommern)"<br />

3. Im Englischen/Amerikanischen abgekürzt mit POW, PoW, PXW<br />

o<strong>der</strong> PW<br />

4. So die deutsche Übersetzung <strong>des</strong> im Ursprung französischen Textes.<br />

Zit. n.: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.). Verbrechen<br />

<strong>der</strong> Wehrmacht. Dimensionen <strong>des</strong> Vernichtungskrieges<br />

1941-45, Hamburg 2002, S. 23<br />

5. Bun<strong>des</strong>archiv-Militärarchiv Freiburg, Bestand RW 6<br />

6. Freundliche Mitteilung von H. Gülzow<br />

7. Vgl. Radau, Helga, "Death-Shore" und sein todsicherer Fluchtplan<br />

aus dem Kriegsgefangenenlager <strong>Stalag</strong> <strong>Luft</strong> I <strong>Barth</strong>, in: Geschichtswerkstatt<br />

Toitenwinkel (Hg.), Kriegsgefangene und<br />

Zwangsarbeiter zwischen Warnow und <strong>Barth</strong>e ((= Schriften <strong>der</strong><br />

Geschichtswerkstatt Toitenwinkel, 5). Rostock 1998, S. 44-49<br />

8. Freeman, Roger A., Zemke's <strong>Stalag</strong>, Shrewsbury 1991, S. 35<br />

9. Ebd., S. 11<br />

10. Hubert Zemke war Amerikaner, <strong>des</strong>sen familiäre Wurzeln in<br />

Bayern und Pommern lagen. Er sprach gut Deutsch und ein wenig<br />

Russisch. 10 Ebd., S. 22<br />

11. Die Gegenstücke in <strong>der</strong> deutschen Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Luft</strong>waffe waren:<br />

Wing = Geschwa<strong>der</strong>, Group = Gruppe, Squadron = Staffel<br />

12. Archiv <strong>des</strong> För<strong>der</strong>vereins Dokumentations- und Begegnungsstätte<br />

<strong>Barth</strong> e.V., Kopien <strong>der</strong> Berichte <strong>der</strong> Schweizer Schutzmacht<br />

13. NARA National Archives Washington D.C., RG 334<br />

14. Kaufman, Mozart, Fighter Pilot, New York 1993, S. 103<br />

15. Astor, Gerald, The Mighty Eighth, New York 1998, S. 479<br />

16. SHAEF: Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force =<br />

Oberkommando <strong>der</strong> Alliierten Expeditionskräfte (in Europa):<br />

Oberkommandieren<strong>der</strong>: General Eisenhower<br />

17. NARA National Archives Washington D.C., RG 334<br />

18. Freeman (wie Anm. 8), S. 73<br />

19. NARA National Archives Washington D.C., RG 334<br />

20. Vgl. die statistischen Angaben bei: Freeman, Roger A., The<br />

Mighty Eigth. War Manuel, London 2002, S. 146·22l<br />

21. NARA National Archives Washington D.C., RG 334<br />

22. Freeman (wie Anm. 8), S. 112-114<br />

23. Ross Greening, Chartes, Not as briefed, Washington 2001, S.<br />

217·234<br />

24. Der För<strong>der</strong>verein Dokumentations- und Begegnungsstätte <strong>Barth</strong><br />

e. V. bereitet eine <strong>Aus</strong>stellung zur <strong>Geschichte</strong> <strong>Barth</strong>s zwischen<br />

1933 und 1945 vor. Neben <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> KZ-Außenlagers<br />

wird auch die <strong>des</strong> <strong>Stalag</strong> vorgestellt. Einen kurzen Überblick zur<br />

Entwicklung von <strong>Barth</strong> in diesem Zeitabschnitt gibt die Broschüre<br />

"Fußnoten. Zum Gedenk und Lernpfad KZ-Außenlager <strong>Barth</strong>"<br />

von Elke Engelmann, die über den För<strong>der</strong>verein Dokumentationsund<br />

Begegnungsstätte <strong>Barth</strong> e. V., Teergang 2, 18356 <strong>Barth</strong>, zu<br />

beziehen ist.

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