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Leseprobe: Nächstes Jahr in Australien

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André Bollag<br />

<strong>Nächstes</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>Australien</strong><br />

roman


Für me<strong>in</strong>e kürzlich verstorbenen Eltern Amy<br />

und Thea Bollag-Schächter, die mich mit<br />

ihrer weltoffenen und fürsorglichen<br />

Art geformt und zum Guten geprägt haben.


André Bollag<br />

<strong>Nächstes</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>Australien</strong><br />

roman


Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2023 , Zürich<br />

Projektleitung: Alfred Rüdisühli<br />

Korrektorat: Daniel Lüthi<br />

Gestaltung: Siri Dettwiler<br />

ISBN 978-3-7245-2670-4<br />

www.jmagproductions.com/books


Inhalt<br />

PROLOG10<br />

KAPITEL 1 16<br />

Eduard Silberste<strong>in</strong><br />

KAPITEL 2 22<br />

Jan Bernste<strong>in</strong><br />

KAPITEL 3 27<br />

Arthur Mandelbaum<br />

KAPITEL 4 34<br />

Arthur Mandelbaum und<br />

Anne-Marie <strong>in</strong> Paris<br />

KAPITEL 5 37<br />

Dar<strong>in</strong>a<br />

KAPITEL 6 42<br />

Jan Bernste<strong>in</strong> und Jaara<br />

KAPITEL 7 48<br />

Rekrutierung Eduard Silberste<strong>in</strong><br />

KAPITEL 8 54<br />

Dr. Silberste<strong>in</strong>s Karriere<br />

beg<strong>in</strong>nt<br />

KAPITEL 9 67<br />

Arthur Mandelbaum rekrutiert<br />

Jan Bernste<strong>in</strong>


KAPITEL 10 71<br />

Arthur Mandelbaum trifft Jan Bernste<strong>in</strong><br />

KAPITEL 11 76<br />

Anne-Marie mischt sich e<strong>in</strong><br />

KAPITEL 12 86<br />

Eduard und Anne-Marie,<br />

der Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Beziehung<br />

KAPITEL 13 92<br />

Jan Bernste<strong>in</strong> und der Anschlag<br />

KAPITEL 14 99<br />

Jan, Eduard, Arthur und Natascha<br />

KAPITEL 15 106<br />

Jan Silberste<strong>in</strong>.<br />

Kontakt mit dem Zentralrat<br />

KAPITEL 16 112<br />

Arthur Mandelbaum.<br />

Es geht langsam los<br />

KAPITEL 17 118<br />

Judith Halberstamm –<br />

Anne-Marie Bauer<br />

KAPITEL 18 121<br />

Wechsel des Präsidiums<br />

im Zentralrat<br />

KAPITEL 19 137<br />

Natascha und ich <strong>in</strong> New York


KAPITEL 20 148<br />

Entlarvung <strong>in</strong> New York<br />

KAPITEL 21 155<br />

Der Spion, der aus der Kälte kam<br />

KAPITEL 22 164<br />

Fast aufs falsche Pferd gesetzt<br />

KAPITEL 23 168<br />

Auswechslung von Arthurs Chauffeur<br />

KAPITEL 24 178<br />

Übertritt von Anne-Marie<br />

KAPITEL 25 185<br />

Lettland<br />

KAPITEL 26 190<br />

Oleg<br />

KAPITEL 27 198<br />

Wiederbegegnung mit Rona<br />

KAPITEL 28 206<br />

Besuch <strong>in</strong> Israel<br />

KAPITEL 29 218<br />

Sehnsüchte<br />

KAPITEL 30 229<br />

Abschied von<br />

Arthur Mandelbaum


KAPITEL 31 239<br />

Benno Lensky<br />

KAPITEL 32 247<br />

Haferkamp<br />

KAPITEL 33 254<br />

Leben wie e<strong>in</strong> Adliger <strong>in</strong> Frankreich<br />

KAPITEL 34 257<br />

Konferenz <strong>in</strong> Paris<br />

KAPITEL 35 270<br />

Abschied aus Paris<br />

KAPITEL 36 277<br />

Haferkamps Vergangenheit<br />

KAPITEL 37 282<br />

Meet<strong>in</strong>g <strong>in</strong> New York<br />

KAPITEL 38 290<br />

Abflug nach Sydney<br />

KAPITEL 39 306<br />

Das Treffen mit dem<br />

australischen Premier<br />

KAPITEL 40 320<br />

Mary und ich<br />

KAPITEL 41 329<br />

Jonathan Mazati<br />

KAPITEL 42 339<br />

Die Erpressung


KAPITEL 43 346<br />

Kompromisse<br />

KAPITEL 44 355<br />

Dr. Lothan<br />

KAPITEL 45 364<br />

Psychotherapie<br />

KAPITEL 46 377<br />

Supervision<br />

KAPITEL 47 386<br />

Treffen mit dem Innenm<strong>in</strong>ister<br />

KAPITEL 48 395<br />

Es wird konkret<br />

KAPITEL 49 407<br />

Buenos Aires<br />

KAPITEL 50 418<br />

Rona und ich<br />

KAPITEL 51 426<br />

Konferenz mit Brasilien<br />

KAPITEL 52 433<br />

Jetzt gehts los<br />

GLOSSAR438<br />

BIOGRAFIE439


Prolog<br />

Gestern Abend feierte ich, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Kreis,<br />

me<strong>in</strong>en achtzigsten Geburtstag. Seit fünf <strong>Jahr</strong>en<br />

lebe ich nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Land, für me<strong>in</strong>e Be-<br />

griffe sogar am anderen Ende der Welt. Nie hätte<br />

ich geglaubt, dass ich, als e<strong>in</strong>gefleischter Europä-<br />

er, den Mut hätte, mich auf sowas e<strong>in</strong>zulassen.<br />

Anfänglich dachte ich e<strong>in</strong>fach, dass ich nur mei-<br />

nem verstorbenen Freund Arthur Mandelbaum<br />

helfen werde, se<strong>in</strong>en Lebenstraum <strong>in</strong> die Realität<br />

umzusetzen. Dass ich dann selber mit auf diesen<br />

Zug spr<strong>in</strong>gen würde, hätte ich nicht für möglich<br />

gehalten.<br />

Jeder Mensch, der irgendwann e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> ge-<br />

wisses Alter erreicht, zieht Bilanz. Die e<strong>in</strong>en tun<br />

das öfters, die andern seltener. Als mich gestern<br />

me<strong>in</strong>e Gäste fragten, was ich mir zu me<strong>in</strong>em Ge-<br />

burtstag wünsche, fiel mir eigentlich nur e<strong>in</strong> wei-<br />

teres gesundes Leben e<strong>in</strong>. Ferner teilte ich mei-<br />

nen Gästen mit, dass ich am ersten Tag nach<br />

me<strong>in</strong>em achtzigsten Geburtstag anfangen würde,<br />

me<strong>in</strong> aufregendes Leben niederzuschreiben. Ich<br />

fühle mich wie Moses, dabei war Arthur Mandel-<br />

baum der eigentliche Moses. In der jüdischen Bi-<br />

bel durfte Moses schlussendlich nicht <strong>in</strong>s Heilige<br />

Land e<strong>in</strong>treten und verstarb kurz vorher. Ich<br />

selbst h<strong>in</strong>gegen habe es geschafft. Ich besitze e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>es Haus und bewohne es mit me<strong>in</strong>er Rona,<br />

10


die «alle anderen Frauen» überlebt hat. Da das<br />

Wetter <strong>in</strong> <strong>Australien</strong> sehr milde ist, kann ich mich<br />

acht Monate lang im <strong>Jahr</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em geliebten<br />

kle<strong>in</strong>en Garten aufhalten und möchte dort auch<br />

mehrheitlich me<strong>in</strong> Erlebtes aufschreiben. Ge-<br />

sundheitlich b<strong>in</strong> ich mehr oder weniger fit, wenn<br />

auch altersbed<strong>in</strong>gt me<strong>in</strong> Begehren nach dem<br />

weiblichen Geschlecht kle<strong>in</strong>er geworden ist. Dort<br />

und da mache ich kle<strong>in</strong>e Ausnahmen, die mir<br />

Rona grosszügigerweise bewilligt. Rona, mittler-<br />

weile <strong>in</strong> ihren Sechzigern, lehrt K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Schule Hebräisch und jüdische Kultur. Sie arbeitet<br />

unentgeltlich, da wir über ausreichend E<strong>in</strong>kom-<br />

men verfügen. Mittlerweile leben drei Millionen<br />

Menschen <strong>in</strong> New Island, so nennen wir unser<br />

neues Land bisher. Wir haben e<strong>in</strong>e wunderbare<br />

Infrastruktur errichtet, obwohl sich der ganz gros-<br />

se Erfolg, wie wir ihn uns vorgestellt hatten, bis<br />

jetzt noch nicht e<strong>in</strong>gestellt hat.<br />

Me<strong>in</strong> lieber Freund Eduard Silberste<strong>in</strong> ist mit sei-<br />

ner Frau Anne-Marie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> hängen geblieben<br />

und praktiziert dort immer noch als Chefarzt.<br />

Zwei Mal hat Eduard uns besucht und war sehr<br />

glücklich über das Erreichte, konnte sich aber<br />

nicht dazu entschliessen, auch hierherzuziehen.<br />

Wir s<strong>in</strong>d immer noch Teil von <strong>Australien</strong>, haben<br />

aber e<strong>in</strong>en Kolonievertrag abgeschlossen, so dass<br />

New Island für <strong>Australien</strong> so etwas ist, wie das<br />

ehemalige Hong Kong für die Ch<strong>in</strong>esen war. Be-<br />

11


friedigend ist das Ganze noch nicht, aber immer-<br />

h<strong>in</strong> nutzen die Australier auch schon e<strong>in</strong>iges<br />

Know-how von uns. Die Beziehungen s<strong>in</strong>d mehr<br />

oder weniger herzlich, und auch wenn mir klar ist,<br />

dass ich die totale Unabhängigkeit unseres Staa-<br />

tes nicht mehr erleben werde, b<strong>in</strong> ich guten Mutes,<br />

dass wir sie e<strong>in</strong>es Tages erreichen werden. Da wir<br />

also noch e<strong>in</strong>e Kolonie s<strong>in</strong>d, haben wir ke<strong>in</strong>en<br />

eigenen Präsidenten, sondern e<strong>in</strong>en Landesgou-<br />

verneur. Dov Ölbaum, geboren <strong>in</strong> Melbourne, be-<br />

schloss ziemlich am Anfang, sich uns anzu-<br />

schliessen, und zog von se<strong>in</strong>er Heimatstadt nach<br />

New Island, und weil er sowieso e<strong>in</strong> Lokalmata-<br />

dor ist, wurde er unser Gouverneur. Ursprünglich<br />

war er Kantor <strong>in</strong> der Hauptsynagoge <strong>in</strong> Melbourne,<br />

nebenbei aber hatte er sich immer politisch enga-<br />

giert. Ausserdem verfügte er über ausgezeichnete<br />

Beziehungen, was die ganze politische Situation<br />

vere<strong>in</strong>fachte.<br />

Erstaunlicherweise besteht die Hälfte unserer<br />

Bevölkerung, nämlich e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Millionen E<strong>in</strong>-<br />

wohner, aus Israelis. Dieser Umstand entspricht<br />

absolut nicht me<strong>in</strong>en ursprünglichen Vorstellun-<br />

gen. Wir haben es geschafft, viele <strong>in</strong>teressante<br />

Wissenschaftler und sonstige wichtige Fachleute<br />

für uns zu gew<strong>in</strong>nen, es gibt aber auch e<strong>in</strong>ige<br />

Menschen, die unser Land als Sprungbrett nut-<br />

zen und sich hier nur für zwei oder drei <strong>Jahr</strong>e auf-<br />

halten.<br />

12


Auch me<strong>in</strong>e ehemalige Geliebte Natascha ist<br />

mitgekommen und ist jetzt die Stellvertreter<strong>in</strong> von<br />

Dov Ölbaum. Sie ist verheiratet mit dem aus Paris<br />

e<strong>in</strong>gewanderten Robert Dupond, der unserem<br />

Land die grössten Dienste als Epidemiologe und<br />

Virologe erwies. Natürlich habe ich auch neue<br />

Freunde kennengelernt, bedaure aber doch, dass<br />

nicht noch mehr Leute aus Europa zu uns gestos-<br />

sen s<strong>in</strong>d. Wenn es weitere Wellen des Antisemitis-<br />

mus <strong>in</strong> Europa und Amerika geben sollte, dann<br />

wird, so denke ich, unsere E<strong>in</strong>wohnerzahl <strong>in</strong> die<br />

Höhe schnellen, deshalb will ich, trotz me<strong>in</strong>es Al-<br />

ters, die Verhandlungen mit der UNO über unsere<br />

Unabhängigkeit vorantreiben. Wenn wir erst e<strong>in</strong><br />

komplett eigenständiges Land s<strong>in</strong>d, werden wir<br />

noch attraktiver se<strong>in</strong>, denn wir s<strong>in</strong>d genug weit<br />

weg vom Festland und haben ausreichend Platz,<br />

um auch zehn Millionen Menschen zu beherber-<br />

gen. Wir haben zwar noch ke<strong>in</strong>e eigene Fluggesell-<br />

schaft und s<strong>in</strong>d auf die Quantas angewiesen, aber<br />

auch darum werden wir uns zu gegebener Zeit<br />

kümmern und e<strong>in</strong> paar Flugzeuge kaufen, um e<strong>in</strong>e<br />

eigene Airl<strong>in</strong>e aufzubauen.<br />

Die Situation <strong>in</strong> Deutschland ist für die jüdi-<br />

schen Mitbürger nicht katastrophal, aber e<strong>in</strong> biss-<br />

chen Vorkriegsweimar ist schon zu spüren. Me<strong>in</strong><br />

Plan ist es, unbed<strong>in</strong>gt noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e zwei-<br />

te Heimat zu fliegen, um gewisse Sehnsüchte zu<br />

befriedigen. Auch möchte ich Jaara wieder e<strong>in</strong>-<br />

13


mal treffen, die <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> glücklich mit e<strong>in</strong>em<br />

Schweden verheiratet ist. Unser Kontakt war nie<br />

abgebrochen, und wir führen e<strong>in</strong>e sehr niveau-<br />

volle, angenehme Mailbeziehung. Der Entschluss,<br />

alle me<strong>in</strong>e Erlebnisse aufzuschreiben, gibt mei-<br />

nem Optimismus gehörigen Auftrieb. Seit mir<br />

damals Arthur Mandelbaum die jährliche Zah-<br />

lung von e<strong>in</strong>er Million zusagte, habe ich nie wie-<br />

der e<strong>in</strong>e Zeile geschrieben. Dieser Fakt betrübte<br />

mich sehr, doch ich war e<strong>in</strong>fach zu stark beschäf-<br />

tigt und hatte ke<strong>in</strong>e Kraft mehr, um noch irgend-<br />

etwas auf Papier zu br<strong>in</strong>gen. Jetzt aber b<strong>in</strong> ich<br />

hoch motiviert und nicht mehr so <strong>in</strong>s tägliche Ge-<br />

schäft e<strong>in</strong>gebunden und möchte e<strong>in</strong>fach anderen<br />

vermitteln, was ich <strong>in</strong> den letzten <strong>Jahr</strong>en erlebt<br />

habe.<br />

Tief <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Gedanken versunken und über<br />

Schreibkonzepte nachdenkend, spüre ich e<strong>in</strong>e<br />

Hand auf me<strong>in</strong>er Schulter. Es ist Rona, die gerade<br />

von der Schule zurückgekehrt ist. Sie setzt sich<br />

auf me<strong>in</strong>en Schoss, streichelt me<strong>in</strong> bärtiges Ge-<br />

sicht und fragt mich, was ihr Hem<strong>in</strong>gway sich<br />

heute ausgedacht hat. Ich frage sie: «Wieso sagst<br />

du jetzt Hem<strong>in</strong>gway, kannst du schon me<strong>in</strong>e Ge-<br />

danken lesen?»<br />

«Ich wäre e<strong>in</strong>e schlechte Ehefrau, wenn ich dir<br />

nicht ansehen würde, dass du heute bereits e<strong>in</strong><br />

Konzept zu de<strong>in</strong>em neuen Buch vorbereitet hast.»<br />

14


Die Art, wie sie das zu mir sagt, macht mich<br />

glücklich. Ich wusste immer, dass ich die <strong>in</strong>nere<br />

und äussere Schönheit bei Rona liebte. Wenn sie<br />

spricht, ist es nicht nur ihr Mund, sondern auch<br />

ihre Augen, die das Gesagte ausdrücken. Damit<br />

bestätigt sie mir fast täglich, dass ich mit der rich-<br />

tigen Frau zusammen b<strong>in</strong>. Jetzt kommt der lange<br />

Weg des Schreibens, den ich parallel zu me<strong>in</strong>en<br />

Verhandlungen mit der UNO unter e<strong>in</strong>en Hut br<strong>in</strong>-<br />

gen will.<br />

15


K A P I T E L 1<br />

Eduard Silberste<strong>in</strong><br />

September 2017, acht Uhr morgens. Eduard Silber-<br />

ste<strong>in</strong> nahm an der morgendlichen Ärztevisite im<br />

Hospital St. Elizabeth und St. Barbara teil. Se<strong>in</strong>e<br />

Kollegen klebten am Mund ihres Chefs, Professor<br />

Dr. Manuel Bammert. Die jungen Ärzte wirkten,<br />

als lauschten sie e<strong>in</strong>er Vorlesung ihres Chefarztes.<br />

Bammert war e<strong>in</strong> sechzigjähriger Mann, der se<strong>in</strong><br />

ganzes Leben der Mediz<strong>in</strong> <strong>in</strong> Spitälern widmete.<br />

E<strong>in</strong> Idealist, dem der Eid des Hippokrates morali-<br />

scher und rechtlicher Grundcodex ist. Aus Geld<br />

machte sich der ehemalige DDR-Bürger nie etwas.<br />

Die angehenden Ärzte, die unter ihm <strong>in</strong> Halle ar-<br />

beiteten, waren fasz<strong>in</strong>iert von se<strong>in</strong>er Ethik. Ob-<br />

wohl er von se<strong>in</strong>er Herkunft her völlig säkular war,<br />

hatte er das Wort «Gott» bei se<strong>in</strong>er Arbeit immer<br />

wieder <strong>in</strong> den Mund genommen. «Wer nicht an<br />

Wunder glaubt, ist ke<strong>in</strong> Realist», zitierte er häufig<br />

Israels ersten M<strong>in</strong>isterpräsidenten David Ben Gu-<br />

rion. Immer wieder betonte er, dass man neben der<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Wissenschaft auch noch andere<br />

Hilfe brauchte, um Patienten am Leben zu erhalten.<br />

An diesem Morgen debattierten sie über e<strong>in</strong>en<br />

fünfzigjährigen Mann, der e<strong>in</strong>en Herz<strong>in</strong>farkt er-<br />

litten hatte und trotz se<strong>in</strong>es Bypasses nicht rich-<br />

tig gesund wurde. Als die Visite gegen halb elf<br />

beendet war, g<strong>in</strong>g Eduard Silberste<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>em<br />

16


Kollegen für e<strong>in</strong>en Kaffee <strong>in</strong> die Kant<strong>in</strong>e. Der Kol-<br />

lege wollte von Eduard etwas mehr über dessen<br />

Religion wissen. Er sei doch Jude und arbeite hier<br />

<strong>in</strong> Ostdeutschland – wie das für ihn sei, fragte er.<br />

Eduard erklärte ihm, dass er e<strong>in</strong> völlig assimilier-<br />

ter Jude war und mit se<strong>in</strong>er Herkunft, ausser viel-<br />

leicht mit der Geschichte, nichts am Hut hatte.<br />

Se<strong>in</strong>e Eltern seien mehrere <strong>Jahr</strong>e nach Kriegsende<br />

zwar <strong>in</strong> Israel auf die Welt gekommen, aber offen-<br />

sichtlich hätten sie ihn und se<strong>in</strong>e Schwester be-<br />

wusst säkular erzogen. Vergangenheitsbewälti-<br />

gung sche<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Angelegenheit zu<br />

se<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong>e Religion sei momentan se<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>.<br />

Damit war die Religionsunterhaltung beendet.<br />

Eduard war bei se<strong>in</strong>en Kollegen und se<strong>in</strong>em Chef<br />

sehr beliebt, weil er trotz se<strong>in</strong>es stattlichen Aus-<br />

sehens e<strong>in</strong>e sehr bescheidene Ersche<strong>in</strong>ung an<br />

den Tag legte. Er war immer pünktlich und hatte<br />

zur Freude se<strong>in</strong>es Chefs kreative Ideen und Vor-<br />

schläge.<br />

Gegen fünf Uhr abends fand e<strong>in</strong> langer Tag<br />

se<strong>in</strong> Ende und Eduard lief <strong>in</strong> Richtung Kranken-<br />

hausausgang. Draussen wartete se<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong><br />

Hanna, die ihm schon von Weitem zuw<strong>in</strong>kte, ihn<br />

küsste und dann Hand <strong>in</strong> Hand mit ihm <strong>in</strong> Rich-<br />

tung e<strong>in</strong>es italienischen Restaurants g<strong>in</strong>g. Es war<br />

schon fast Tradition, dass sich die beiden jeden<br />

Donnerstag das Essen im «Da Capo» leisteten.<br />

Hanna, fünfundzwanzig <strong>Jahr</strong>e alt, arbeitete als<br />

17


Bibliothekar<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Stadtbibliothek, somit war<br />

das Budget des Paares noch begrenzt.<br />

Um halb sechs schlürften beide noch an ihrem<br />

Tomatensaft, als auf e<strong>in</strong>mal zwei junge, sichtlich<br />

angetrunkene Männer <strong>in</strong>s Lokal kamen und e<strong>in</strong><br />

Bier bestellten. Die beiden Herren, deren rasierte<br />

Schädel ke<strong>in</strong>en Zweifel an ihrer politischen Über-<br />

zeugung liessen, warfen e<strong>in</strong>en Blick auf das junge<br />

Paar und f<strong>in</strong>gen sofort an, Hanna schwach anzu-<br />

reden. Warum sie denn e<strong>in</strong>en solchen Freund hät-<br />

te, statt sich mit ihnen e<strong>in</strong>zulassen, fragten sie.<br />

Hanna drehte sich von den beiden ab und flüsterte<br />

Eduard etwas <strong>in</strong>s Ohr. Plötzlich schlug e<strong>in</strong>er der<br />

beiden mit der Faust auf den Tresen und schrie:<br />

«Hier wird nicht geflüstert!» Eigentlich hätte man<br />

annehmen können, dass spätestens jetzt der Wirt<br />

e<strong>in</strong>greifen würde, was aber nicht geschah – er hat-<br />

te sich verdrückt.<br />

Kurz bevor die Stimmung komplett explodierte,<br />

griff sich plötzlich e<strong>in</strong>er der beiden Sk<strong>in</strong>heads mit<br />

der Hand fest ans Herz und rang schmerzverzerrt<br />

nach Luft. Se<strong>in</strong> Begleiter schrie wild umher: «E<strong>in</strong><br />

Arzt, e<strong>in</strong> Arzt!» Eduard g<strong>in</strong>g sofort auf den zusam-<br />

menbrechenden Mann zu, woraufh<strong>in</strong> der Begleiter<br />

ihn zurückhalten wollte und brüllte: «Was willst<br />

du denn?»<br />

«Ich b<strong>in</strong> Arzt, du Knallkopf! Willst du, dass ich<br />

de<strong>in</strong>em Freund helfe, oder nicht?», erwiderte Edu-<br />

ard genervt. Mittlerweile kam der Wirt wieder<br />

18


zum Vorsche<strong>in</strong> und beobachtete den Vorfall. Er<br />

griff zum Telefon und rief die Polizei. Inzwischen<br />

tastete Eduard se<strong>in</strong>en neuen Patienten ab und<br />

stellte fest, dass dieser, eigentlich noch e<strong>in</strong> junger<br />

Mann, e<strong>in</strong>en Herz<strong>in</strong>farkt erlitten hatte. Er griff <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>e Tasche, holte e<strong>in</strong>e Schachtel heraus und<br />

steckte dem Sk<strong>in</strong>head e<strong>in</strong>e Tablette <strong>in</strong> den Mund.<br />

Zwei M<strong>in</strong>uten später traf die Polizei e<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>en<br />

Krankenwagen anforderte. Eduard wartete neben<br />

se<strong>in</strong>em Patienten, bis der Notarzt an Ort und Stel-<br />

le war. Er teilte se<strong>in</strong>en Berufskollegen mit, was<br />

vorgefallen war und wie se<strong>in</strong>e Diagnose lautete.<br />

Am nächsten Morgen versammelten Chefarzt<br />

Bammert und se<strong>in</strong>e Mannschaft sich zur Visite am<br />

Bett des Sk<strong>in</strong>heads. Als Silberste<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Kontra-<br />

henten vom letzten Abend wiedererkannte, flüs-<br />

terte er se<strong>in</strong>em Chef etwas <strong>in</strong>s Ohr.<br />

«Na, wie gehts uns denn heute, Herr Rade-<br />

mann?», fragte Dr. Bammert. «S<strong>in</strong>d Sie sich im Kla-<br />

ren, dass Sie ohne me<strong>in</strong>en Kollegen hier neben mir<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich nicht mehr am Leben wären?» Der<br />

sehr verdutzte Patient glaubte se<strong>in</strong>en Augen nicht<br />

zu trauen, als ihm klar wurde, wer ihm da gegen-<br />

überstand. Pe<strong>in</strong>lichkeit war ke<strong>in</strong> Ausdruck für das,<br />

was er <strong>in</strong> diesem Moment fühlte. Rademann, aus<br />

bescheidenen Verhältnissen stammend, war nicht<br />

gerade e<strong>in</strong> <strong>in</strong>telligenter Mensch. Während se<strong>in</strong>er<br />

Schre<strong>in</strong>erlehre <strong>in</strong> Chemnitz war er durch die Neo-<br />

19


Nazi-Szene politisiert worden. Die Hitlerphiloso-<br />

phie des re<strong>in</strong>rassigen Ariers war ihm so lange e<strong>in</strong>-<br />

getrichtert worden, bis er daran glaubte. Jetzt lag<br />

er also im Bett und se<strong>in</strong> Retter hätte eigentlich<br />

se<strong>in</strong> Opfer se<strong>in</strong> sollen.<br />

Silberste<strong>in</strong> sagte zu se<strong>in</strong>em Patienten, dass er<br />

<strong>in</strong> den nächsten Tagen absolute Bettruhe e<strong>in</strong>hal-<br />

ten müsse. Das ganze Team marschierte aus dem<br />

Krankenzimmer und begab sich <strong>in</strong> das Chefzim-<br />

mer von Dr. Bammert. Als alle Ärzte am Tisch sas-<br />

sen, eröffnete der Chefarzt die Sitzung. Die Assis-<br />

tenzärzte und -ärzt<strong>in</strong>nen trauten ihren Ohren<br />

kaum, als Silberste<strong>in</strong> die Geschehnisse des ver-<br />

gangenen Abends schilderte. Marie Lou Fonta<strong>in</strong>e,<br />

Assistenzärzt<strong>in</strong> aus Paris, me<strong>in</strong>te zu Eduard: «Ich<br />

f<strong>in</strong>de, du bist bei der Visite total cool geblieben.»<br />

Worauf Silberste<strong>in</strong> erwiderte: «Das ist doch<br />

selbstverständlich. Immerh<strong>in</strong> habe ich, und auch<br />

alle anderen hier, diesen Beruf gewählt, um allen<br />

Menschen zu helfen, selbst unseren Fe<strong>in</strong>den.» An-<br />

zeige wolle er im Moment noch nicht erstatten,<br />

um die Genesung des Patienten nicht zu gefähr-<br />

den. Das könne er schliesslich später immer noch<br />

nachholen.<br />

Genau über dieses Thema entbrannte am<br />

Abend e<strong>in</strong> Streit zwischen Eduard und Hanna, die<br />

nicht verstehen wollte, warum ihr Freund sich<br />

weigerte, zur Polizei zu gehen. Die mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Gründe wischte sie mit e<strong>in</strong>er abfälligen Geste<br />

20


eiseite und kündigte an, dass sie die Anzeige am<br />

nächsten Tag selbst <strong>in</strong> die Hand nehmen würde.<br />

Es störte Eduard enorm, dass Hanna nicht auf sei-<br />

ne humanen Bedenken e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g. Dies war der An-<br />

fang vom Ende ihrer Beziehung.<br />

21


Arthur Mandelbaum, erfolgreicher Berl<strong>in</strong>er Zeitungsverleger,<br />

stellt fest, dass es immer weniger Orte gibt, an denen<br />

Juden gut und sicher leben können. In Israel erreichen die<br />

Konflikte mit den arabischen Nachbarn e<strong>in</strong>en neuen Höhepunkt,<br />

während die <strong>in</strong>nenpolitische Lage zunehmend ungemütlich<br />

wird. In Europa nimmt der Antisemitismus weiter<br />

zu, und auch die USA bieten nicht mehr die Sicherheit, auf<br />

die man sich jahrzehntelang verlassen konnte. Was tun?<br />

Mandelbaum schmiedet mit e<strong>in</strong> paar Vertrauten e<strong>in</strong>en<br />

genialen, zunächst streng geheimen Plan: Er möchte e<strong>in</strong><br />

zweites Gelobtes Land gründen, und zwar <strong>in</strong> <strong>Australien</strong>.<br />

Um dieses Vorhaben umzusetzen, stellt er Jan Bernste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong>en ehemaligen jüdischen Geme<strong>in</strong>depräsidenten, dessen<br />

Aufgabe es nun ist, für Mandelbaums Idee zu werben. Doch<br />

wie soll das gel<strong>in</strong>gen? Mit Charme und Beharrungsvermögen<br />

überzeugt Bernste<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Amtskollegen <strong>in</strong> Europa,<br />

Nord- und Südamerika und nicht zuletzt auch <strong>in</strong> <strong>Australien</strong><br />

– unterstützt wird er dabei von unzähligen Begleitern,<br />

vor allem aber Begleiter<strong>in</strong>nen, die sich se<strong>in</strong>er unwiderstehlichen<br />

Anziehungskraft kaum entziehen können.<br />

«<strong>Nächstes</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>in</strong> <strong>Australien</strong>» ist e<strong>in</strong>e Satire, die auf visionäre<br />

Weise beschreibt, wie man den unwahrsche<strong>in</strong>lichsten<br />

Plan <strong>in</strong> die Tat umsetzen kann – wenn man nur fest genug<br />

daran glaubt!<br />

ISBN 978-3-7245-2670-4<br />

www.jmagproductions.com/books

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