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Balsiger_UhrmacherDesZaren_Leseprobe

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Roger Nicholas <strong>Balsiger</strong><br />

Der<br />

Uhrmacher<br />

des Zaren<br />

Der Lebensroman des Industriepioniers<br />

Heinrich Moser und seiner Kinder Henri<br />

und Mentona<br />

Limmat Verlag<br />

Zürich


Für meine Eltern Edouard und Eva<br />

und meine Frau Sylvia<br />

Das Ticken der Uhr gleicht dem Pulsschlag des Lebens:<br />

Es ist Rhythmus der Bewegung, Nerv des Seins –<br />

gleichmäßig duldsames, immerfortes Schlagen,<br />

unabhängig von Zeit und Raum.<br />

Ruheloses, endlos scheinendes, endliches Ticken …


Buch 1 — Heinrich<br />

9 St. Petersburg, im Januar 1828 — 15 Schaffhausen,<br />

im Dezember 1805 — 29 Schaffhausen, im Dezember 1813<br />

39 Schaffhausen, im selben Monat — 55 Schaffhausen,<br />

im Januar 1814 — 75 Schaffhausen, im Sommer 1820<br />

87 Schaffhausen, im Frühjahr 1824<br />

109 Nach St. Petersburg, Herbst 1827 — 115 St. Petersburg,<br />

Winter 1828 — 130 St. Petersburg, im Sommer 1828<br />

134 St. Petersburg, Februar 1829 — 145 St. Petersburg,<br />

Frühjahr 1829 — 155 St. Petersburg, Herbst 1841<br />

169 Schaffhausen, Ende 1849 — 182 Winterthur,<br />

Sommer 1848 — 184 Schaffhausen, Winter 1850/51<br />

193 Winterthur, Herbst 1855 — 200 Neuhausen am<br />

Rheinfall, Frühling 1857 — 205 Schloss Charlottenfels,<br />

Sommer 1859 — 217 Schaffhausen, Frühjahr<br />

1861 — 222 Lausanne, Frühjahr 1862<br />

Buch 2 — Henri<br />

231 Colombier und Neapel, Anfang 1863<br />

235 Schaffhausen, Winter 1863 bis Frühling 1866 — 247 Le<br />

Locle, Frühsommer 1866 — 258 Le Locle, Herbst<br />

1867 — 268 Moskau, Herbst 1868 — 274 Taschkent,<br />

Herbst 1869 — 285 Lausanne, Frühjahr 1870 — 303 Bern,<br />

Januar 1873 — 314 Menton, Februar 1873 — 333 Schloss<br />

Charlottenfels, Sommer 1876 — 343 Schloss Wart,<br />

Frühjahr 1877 — 348 1883, noch einmal Zentralasien<br />

Buch 3 — Mentona<br />

377 Badenweiler, Frühjahr 1883 — 388 Schloss<br />

Charlottenfels, Herbst 1885 — 396 Schloss Au,<br />

März 1887 — 401 Stuttgart, Frühjahr 1888 — 408 Schloss<br />

Au, September 1888 — 439 Paris, Frühjahr 1893<br />

445 Schloss Au, Herbst 1896 — 454 Paris, Juli 1903


463 Zürich, Frühjahr 1903 — 472 Charlottenfels, Mai 1909<br />

479 Zürich, Mai 1911 — 489 Berlin, Herbst 1914<br />

496 Charlottenfels, Januar 1914 — 513 Schloss Au,<br />

August 1916 — 514 Zürich, Frühjahr 1916 — 522 Zürich,<br />

Herbst 1918 — 526 Montreux, Oktober 1918<br />

530 Zürich, Sommer 1921 — 534 Schloss Charlottenfels,<br />

Herbst 1921 — 541 Zürich, Frühjahr 1921 — 547 Kilchberg,<br />

November 1922 — 552 Kilchberg, März 1925<br />

557 Was danach geschah — 563 Zu diesem Buch<br />

570 Stammbaum der Familie Moser — 571 Die wichtigsten<br />

Quellen — 573 Der Autor und Dank


Buch 1 — Heinrich


St. Petersburg, im Januar 1828<br />

Baron Demidow, der Kammerdiener des Zaren, war übelster<br />

Laune. Schon seit Tagen hing im Winterpalais zu St. Petersburg<br />

der Haussegen schief. Grund dafür waren einmal mehr<br />

die immer heftigeren Stimmungsschwan kun gen seines Gebieters,<br />

des Zaren. Als langjähriger Diener seines Herrn kannte<br />

Demidow wohl jede erdenkliche Laune Nikolaus’ I. Insbesondere<br />

die letzten Monate waren schwierig gewesen: Im<br />

August letzten Jahres hatten die Perser die Oberhand über<br />

die russischen Truppen gewonnen und ihnen bei Oschakan<br />

schwer zugesetzt. Das war die Ursache der beachtlichen<br />

Tobsuchtsanfälle des Zaren – die Augen vor Wut gerötet, die<br />

Wangen ebenso –, die er meist im St.­Georgen­Saal an seinem<br />

ihm treu ergebenen Diener ausließ (und zwar nicht nur, weil<br />

dieser den niedrigsten Hofrang innehatte). Mit Donnerstimme<br />

wünschte er seinen General Krasovsky zum Teufel, während<br />

sein an den Enden halbrund gezwirbelter Oberlippenbart<br />

zitternd jede Mundbewegung mittat. In der Mitte seiner<br />

hohen Stirn trat zugleich die Hauptader bedrohlich hervor,<br />

als würde sie sich anschicken, zu zerplatzen. Sein ansonsten<br />

sorgfältig gekämmtes und linksseitig gescheiteltes Haar geriet<br />

während seines Gemütsausbruchs regelmäßig in große<br />

Unordnung, und seine Ohren liefen dunkelrot an. All diese<br />

Erscheinungsmerkmale waren für Demidow ein gewohntes<br />

Bild, und es gab nur ein einziges probates Mittel, um den<br />

Kaiser zu beruhigen: mit der bei Hof gewohnten Haltung<br />

vollständig unbeweglich stehen zu bleiben, vor allem jedoch<br />

keinerlei Laute von sich zu geben, die den Kaiser allenfalls<br />

dazu bewegen könnten, erneut und noch lauter und unbeherrschter<br />

alles Irdische auf dieser Erde zu verdammen und<br />

9


in die Hölle zu wünschen. Da war jedes Wort des Untergebenen<br />

zu viel, und sei es als Beschwichtigung gedacht. Dabei<br />

litt ja Demidow ebenso stark mit seinem Gebieter, wenn sich<br />

kriegerische Erfolge nicht so einstellen wollten, wie sie eingeplant<br />

gewesen waren, denn die Erwartungen der Aristokratie<br />

an die kaiserliche Heeresführung waren hoch.<br />

Doch nun – endlich! – hatte sich das Blatt gewendet, kaum<br />

war das neue Jahr 1828 angebrochen! Die russischen Truppen<br />

waren einige Wochen zuvor bis Täbris gekommen und<br />

dann weiter bis zum Urmia­See vorgedrungen. Schon begann<br />

der Einfluss der Perser auf Jerewan und weitere Khanate zu<br />

schwinden. Und endlich kam vorgestern Bericht von der<br />

Heeresleitung, dass der Feind endgültig besiegt sei und die<br />

Gebiete für das Zarenreich gesichert. Könnte es sein, sinnierte<br />

Demidow, dass sich der Kaiser bereits Gedanken über die<br />

Bedingungen machte, die nun den Persern diktiert werden<br />

konnten, da deren Niederlage nunmehr feststand? Überlegte<br />

sich der Zar vielleicht, wie viele Silberrubel der Schah von<br />

Persien in die Schatztruhe des russischen Reiches einzulegen<br />

hätte? Denn auch noch am heutigen Nachmittag durchmaß<br />

er mit schweren Schritten den St.­Georgen­Saal, und die<br />

dunklen Ränder unter seinen Augen, die er stumpf zu Boden<br />

richtete, verrieten, dass er wohl bereits während Wochen<br />

unter Schlafmangel gelitten haben musste. Warum nur hatte<br />

sich die Gemütsverfassung des Zaren nicht gebessert? Seit<br />

Jahren kannte Demidow seinen Gebieter mit all seinen Attitüden<br />

und Marotten und konnte sich doch keinen Reim<br />

darauf machen, weshalb Nikolaus I. so missmutig gestimmt<br />

war und sich durch den Tag schleppte, als führte ihn der<br />

Abend zum Schafott!<br />

Und dann geschah es doch: Wie Demidow so unbehaglich<br />

10


dastand und sinnierte, entwich ihm unmerklich ein Seufzer,<br />

so leise, dass man hätte glauben können, er bliebe ungehört.<br />

Der Zar jedoch reagierte prompt:<br />

«Und was haben Sie zu vermelden!», herrschte er Demidow<br />

an. Es klang mehr wie ein Befehl denn wie eine Frage.<br />

«Ich frage mich lediglich, wie ich Ihnen den Tag ange nehmer<br />

gestalten kann», antwortete der Kammerherr in unterwürfigem<br />

Ton.<br />

«Schicken Sie nach Orlow, ich will ihn sehen, sofort!»<br />

Es musste sich schon um eine staatstragende Angelegenheit<br />

handeln, wenn der Zar Alexei Fjodorowitsch Orlow rufen<br />

ließ, dachte sich Demidow, denn dieser war mit den taktischen<br />

Vorbereitungen für die alles entscheidende Schlacht<br />

gegen die Krieger des Osmanischen Reiches beschäftigt; es<br />

galt schließlich, die große Übermacht der türkischen Streitkräfte<br />

mit List und Klugheit zu bekämpfen, wollte man nach<br />

Konstantinopel vordringen. Graf Orlow hatte jedoch nicht<br />

nur den Ruf eines exzellenten Militärstrategen, sondern war<br />

vielmehr ein persönlicher Berater des Zaren, einer der wenigen,<br />

auf die sich dieser ohne Vorbehalt stützen konnte –<br />

auch in Angelegenheiten, die großes Fingerspitzengefühl<br />

erforderten. Nicht umsonst unternahm der Zar keine einzi ge<br />

Reise von Bedeutung, ohne Orlow an seiner Seite zu haben,<br />

und aus diesen vielen gemeinsamen Expeditionen hatte sich<br />

auf natürliche Weise eine Vertrautheit entwickelt, die beide<br />

schätzten und die dem Wohle des russischen Reiches diente,<br />

denn Neider, Unruhestifter, Heuchler, selbst Spione gab es<br />

bei Hof in Petersburg zuhauf.<br />

Graf Orlow wusste, dass ein Ruf des Zaren keinen Aufschub<br />

duldete. Kaum hatte man ihn in seinem Hauptquartier<br />

11


enachrichtigt, dass er im St.­Georgen­Saal erwartet würde,<br />

hieß er seinen persönlichen Adjutanten, für die kurze Fahrt<br />

anzuspannen. Wenig später bog der Schlitten, von den schnellsten<br />

Pferden gezogen, in den Schlossinnenhof ein. Die Wachen,<br />

die den Befehl hatten, Orlow unverzüglich einzulassen, salutier<br />

ten und ließen ihn passieren. Orlow hetzte über die Gesandtentreppe<br />

hinauf direkt zu den Prunkräumen des ersten<br />

Obergeschosses. Eine weitere Wache stand vor dem bereits<br />

geöffneten Barockflügel, von dem man in den Großen Thronsaal,<br />

den St.­Georgen­Saal, gelangte. Graf Orlow eilte über den<br />

erlesenen, aus verschiedenen Hölzern bestehenden Parkettboden,<br />

vorbei an den links und rechts angebrachten Wandapplikationen<br />

und Zwillingssäulen aus Carrara­Marmor, deren<br />

hauptsächliche Aufgabe es war, die mit vergol detem Stuck verzierte<br />

Decke abzustützen. Zusätzlich schien es, als stünden sie<br />

für den jeweiligen Besucher Spalier, sei es, um ihn zu beeindrucken<br />

oder ihm ein Gefühl von Wichtigkeit zu vermitteln<br />

oder aber, je nach Lage der Dinge, eines von Demut. Denn die<br />

Absicht der Zaren war es seit dem Bau des Winterpalastes vor<br />

über hundert Jahren, dem Besucher am Beispiel dieses Prunkbaus<br />

die Größe des russischen Reiches zu vermitteln und<br />

damit dessen Macht Dritten gegenüber zu manifestieren.<br />

Der Zar erwartete Orlow stehend. Er hatte sich noch immer<br />

nicht beruhigt und kam ohne Umschweife zur Sache.<br />

«Das mechanische Kunstwerk!», stieß er hervor.<br />

«Sie meinen das Uhrwerk, Sire, was ist damit?»<br />

«Es funktioniert noch immer nicht!» Der Zar brüllte es<br />

in den Saal hinein.<br />

«Aber der Kammerdiener hat doch einen anderen Uhrmacher<br />

beauftragt, das Uhrwerk hier zu reparieren», brachte<br />

Orlow hilflos hervor.<br />

12


«Und dies ja nicht zum ersten Male! Da haben sich nun<br />

bereits fünf sogenannte Experten daran versucht!» Nikolaus<br />

I. war nicht zu beruhigen. Letztes Jahr hatte Zarin Charlotte<br />

ihrem Gemahl eine Türmchenuhr zum zehnten Jahrestag<br />

ihrer Vermählung geschenkt. Diese Uhr begleitete ihn<br />

seither auf all seinen Reisen, ob auf Staatsvisiten oder bei<br />

den Inspektionen der Truppen im Feld, und sie wurde schnell<br />

zu seinem Talisman. Sie war etwas über zweihundert Jahre<br />

alt, bronzevergoldet und silbergetrieben. Er liebte diesen ausladenden<br />

Sockel, dessen Füße mit Delphinen verziert waren,<br />

und die vier Säulen mit Renaissancedekor, die sich stolz in<br />

die Höhe reckten, dazwischen die Darstellungen von Glaube,<br />

Hoffnung, Liebe. Auf der Glocke, die von vier durchbro chenen<br />

Giebeln verdeckt war, stand die Figur eines Engels aus<br />

Silber, der die Posaune blies. Und wie edel war der Ziffernring<br />

mit seinen römischen Ziffern und Tastknöpfen. Im Zentrum<br />

fand sich eine große Weckerstellscheibe, während die<br />

Spindelhemmung mit einem Pendel ausgestattet war. Die<br />

vollen Stunden wurden mit dem Schlossscheibenschlagwerk<br />

geschlagen. Nikolaus liebte fast jede Art von mechanischen<br />

Werken, aber diese Uhr war ihm besonders ans Herz gewachsen.<br />

Sie zeugte von der Verehrung, die er seitens seiner Gemahlin<br />

erfuhr, und erinnerte ihn durch die Darstellung der<br />

drei theologischen Tugenden gleichzeitig an die Vergänglichkeit<br />

des irdischen Lebens. Zudem mahnte sie ihn zu christlicher<br />

Lebensführung, in welcher Lage und wo immer er sich<br />

auch befand. Und, vor allem: Das Geschenk seiner Gattin<br />

war auch als Ansporn für militärischen Erfolg bei den Feldzügen<br />

gegen Persien und die Türkei gedacht. – Und nun dies:<br />

eine nicht funktionierende Uhr als Talisman!<br />

Aber der Zar war sich auch bewusst, dass die technische<br />

13


Entwicklung im Zarenreich mit jener der westeuropäischen<br />

Staaten nicht Schritt gehalten hatte. Dort war die industrielle<br />

Revolution schon in vollem Gange, wogegen sich Russland<br />

noch allzu einseitig auf Baumwollverarbeitung konzentrierte<br />

und dabei auch noch tierische oder bestenfalls hydraulische<br />

Antriebskräfte einsetzte. In der Hüttenindustrie wurden<br />

allerdings bereits Maschinen mit Wasserkraft betrieben.<br />

Eine industrielle Entwicklung begann sich also abzuzeichnen,<br />

aber nur sehr zögerlich, und es fehlte nach wie vor an Staatskapital<br />

wie auch an ausländischen Investoren. Wenn nur die<br />

Verkehrswege besser erschlossen wären! So blieb der Warenaustausch<br />

gering, die Transportkosten hingegen waren unverhältnismäßig<br />

hoch. Und dann die Uhrenindustrie selbst:<br />

Mit ihr lag es im Argen! Katharina war es zwar vor über<br />

fünfzig Jahren gelungen, die Uhrenherstellung in Russland<br />

einzuführen, jedoch gab es keine großen Erfolge zu vermelden;<br />

und ein echter Handel mit Uhren konnte schon deshalb<br />

nicht stattfinden, weil sich nur der Adel daran beteiligte.<br />

Graf Orlow wusste also genau, welches der Grund für die<br />

Verzweiflung des Zaren war. Schnelle Lösungen zur Behebung<br />

des Problems gab es nicht und gute Uhrmacher im Kaiserreich<br />

wenige. Und: Fünf speziell ausgebildete Fachleute hatten<br />

sich bereits an dem Uhrwerk versucht!<br />

«Kennen Sie noch einen anderen Uhrmacher, der sich dieser<br />

Uhr annehmen könnte?», rief der Zar in den großen Saal<br />

hinein. Er schnappte nach Luft und war der Ohnmacht nahe,<br />

so sehr hatte er sich verausgabt.<br />

«Da ist kürzlich einer aus der Schweiz angekommen!»<br />

«Ach ja?! Schaffen Sie ihn her! Sein Name?»<br />

«Moser, Sire!»<br />

14


Schaffhausen, im Dezember 1805<br />

Fast dreiundzwanzig Jahre davor, am 12. Dezember 1805,<br />

begann Erhard Mosers Arbeitstag in seiner Uhrmacherwerkstatt<br />

in Schaffausen wie sonst auch. Erhard war bereits seit<br />

sechs Jahren Stadtuhrmacher, ein Amt, das ihm nach dem<br />

Hinschied seines Vorgängers zugesprochen worden war. Der<br />

vorherige Amtsträger war sein eigener Vater Johannes gewesen.<br />

Er hatte ihn das Handwerk von Grund auf gelehrt,<br />

und im Laufe der Jahre war aus Erhard ein geschickter und<br />

ideenreicher Geschäftsmann geworden.<br />

Obwohl er stolz darauf war, ein arbeitsamer und tatkräftiger<br />

Mann zu sein, so hatte er doch vor rund einer halben<br />

Stunde, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, die Arbeitsbank<br />

verlassen und war die enge Holztreppe nach oben gestiegen.<br />

Von einer starken Unruhe ergriffen, hatte er sich<br />

außerstande gefühlt, seine Reparaturarbeit an einer Goldsavonette,<br />

die aufgrund ihrer filigranen Bauweise ein hohes<br />

Maß an Konzentration erforderte, weiterzuführen.<br />

«Was soll es», knurrte er halblaut vor sich hin, «es ist ein<br />

wichtiger Tag heute.»<br />

Wie er sich durch die kleine Eichentüre in die Stube einließ,<br />

schlug ihm ein muffger Geruch entgegen. Üblicherweise<br />

hätte er ohne viel Zögern sämtliche Fenster aufgerissen,<br />

zumal heute ein trockener Nordwind die Regenwolken der<br />

letzten Tage vertrieben hatte und eine bleiche Wintersonne<br />

am klaren, weißlich blauen Himmel aufgezogen war. Noch<br />

vor sechs Tagen hatte er sich seiner Stiefel bedienen müssen,<br />

um im überschwemmten Keller nach seiner Sankt­Nikolaus­<br />

Ausrüstung zu suchen; alljährlich brachte er seinen Kindern<br />

das Fürchten bei und glaubte, neben Nüssen und Zuckergebäck<br />

auch Ruten verteilen zu müssen. Dieses Jahr hatten<br />

15


ihn seine zwei ältesten Töchter Maria und Anna verdrießlich<br />

gestimmt, nur hatte er sich im Nachhinein eingestehen müssen,<br />

dass er diesmal allzu strenge Maßstäbe angelegt hatte.<br />

Nein, heute hatten die Fenster fest geschlossen zu bleiben.<br />

Der Ofen hatte stets zu brennen und musste mit genügend<br />

Holz versorgt bleiben. Erhard begann, im Zimmer auf und<br />

ab zu gehen, und schob trotz der dumpfen und für ihn ungewohnten<br />

Wärme beide Hände in die Hosentaschen. Obwohl<br />

er versuchte, so sachte wie möglich aufzutreten, zeigte der<br />

Eichenboden wenig Verständnis, er gab, als wäre es ein gewöhnlicher<br />

Tag, seine üblichen knarrenden lauten Geräusche<br />

von sich. Ein weiteres unüberwindbares Hindernis fand<br />

Erhard in seiner nunmehr bereits seit Jahren bestehenden<br />

Gewohnheit, Gedanken halblaut vor sich hin zu sprechen,<br />

wie er auch nie umhinkonnte, in seiner Werkstatt mit seinen<br />

Uhren zu reden, als wären sie seine eigenen Kinder. Unerschütterlich<br />

hielt er an dem Glauben fest, dass die unter seiner<br />

geschickten Hand neu entstehenden Geschöpfe zu präziseren<br />

und langlebigeren Uhrwerken bestimmt seien, wenn<br />

er ihnen nur ständig gut zurede und sie auf ihr neues Dasein<br />

mit aller Liebe vorbereite.<br />

Er hatte eben seine Gedanken von vorhin wieder aufgenommen,<br />

als er mitten in einem Satz von der geschäftigen<br />

Hebamme Martha gestört wurde, die mit einer randvoll gefüllten,<br />

dampfenden Wasserschüssel zur Türe hereinkam.<br />

«Ich hab jetzt keine Zeit, mit Ihnen zu plaudern», schnaufte<br />

sie, sein Selbstgespräch missverstehend. Trotzdem hielt sie<br />

einen Moment inne, stellte die Schüssel auf den Boden, strich<br />

mit ihren dicken Fingern die Haarsträhnen aus ihrem Gesicht<br />

und wischte sich dann mit ihrem breiten Hand rücken den<br />

Schweiß von der Stirn. Ihr Ausdruck wurde etwas milder,<br />

16


als sie fortfuhr: «Aber das verspreche ich Ihnen, Meister, dies<br />

ist meine dreihundertfünfzigste Geburt, und es wird ein<br />

Prachtkind werden.»<br />

«Arme Martha», flüsterte Erhard vor sich hin, als die Hebamme<br />

im anschließenden Schlafzimmer verschwunden und<br />

die Tür ins Schloss gefallen war, «dreihundertfünfzig Kinder<br />

in die Welt geholt und nie je eines im eigenen Bauch gehabt!»<br />

Da Geburten und das ganze Drum und Dran in seinen<br />

Augen Weibersache waren, überließ Erhard den Frauen bei<br />

solchen Ereignissen stets bedingungslos das Feld. Und doch<br />

entdeckte er immer wieder aufs Neue, dass ihn bei jeder bevorstehenden<br />

Niederkunft seiner Frau – und es waren bislang<br />

immerhin acht gewesen – große Unruhe erfasste.<br />

«Geburt und Tod liegen so nahe beisammen», murmelte<br />

er, «und der liebe Gott muss es immer wieder von Neuem gut<br />

mit einem meinen.»<br />

Erhard war eben doch immer ein einfacher Mann geblieben,<br />

einer, dem sein Handwerk am nächsten lag und der sich<br />

hereinbrechenden Stürmen und Bedrohungen gegenüber<br />

recht hilflos fühlte. Er versuchte zwar stets, dies vor seiner<br />

guten Anna zu verbergen, musste sich jedoch zugleich eingestehen,<br />

dass sie ihn meist durchschaute, ohne dass sie je offen<br />

mit ihm darüber sprechen würde. Es war genau dieses rätselhaft<br />

Intuitive, was er an Frauen liebte, aber auch dann und<br />

wann verdammte, weil sie dadurch weniger fassbar waren<br />

als die Männer – eine Art von Überlegenheit, die sie mitunter<br />

sehr geschickt einzusetzen wussten.<br />

Seit nunmehr fünfzehn Jahren teilten sie Freud und Leid<br />

und waren es ganz zufrieden miteinander. Und auch wenn<br />

es Erhard war, der sich stets Sorgen um seine große Familie<br />

machte, Anna blieb Herz und Zentrum des ganzen Treibens.<br />

17


Das gab ihm Kraft und war die eigentliche Grundlage für<br />

die Verrichtung seines Tagwerks. Stark war sie, die Anna,<br />

verwurzelt in ihrem Glauben und eins mit ihren Nächsten<br />

und mit ihrer Stadt.<br />

Erhard erinnerte sich an den Tag seiner Hochzeit: wie die<br />

Neunzehnjährige ihm damals am Arm ihres Vaters entgegengekommen<br />

war. Es war ein heißer Sommertag, und ihr Brautkleid<br />

kam aus einer französischen Manufaktur, der Stoff so<br />

viel leichter als die schweren italienischen Stoffe, die damals<br />

besonders in Mode waren. Es ist schon so lange her, dass ich<br />

mich nicht einmal mehr entsinnen kann, ob ihr Vater das<br />

Seidenkleid aus Lyon oder aus Tours kommen ließ, dachte<br />

Erhard. Aber er hatte weder die bunt broschierten Blumenbouquets<br />

auf der weißen Taftseide vergessen noch die Form<br />

der Ärmel, den Halsausschnitt und das Oberteil mit den verzierten<br />

Bändern aus weißer Seidengaze, dazu ein kleines<br />

Täschchen. Bildschön hatte Anna ausgesehen, und wie stolz<br />

war er gewesen, der Auserwählte zu sein. Erhard erinnerte<br />

sich, wie die junge Anna ihren Willen gegen die Mutter<br />

durchgesetzt hatte, die sie nötigen wollte, seitliche Hüftpolster<br />

an ihrem Hochzeitskleid anbringen zu lassen: «Das macht<br />

dick und ist veraltet», hatte die Braut erklärt und die Bekleidungsfrage<br />

in ihrem Sinn entschieden.<br />

Und er erinnerte sich auch an die erste Vereinbarung, die<br />

sie getroffen, kurz nachdem sie die Hochzeitsgesellschaft<br />

verlassen hatten: dass sie sich eine große Familie wünschten<br />

und die Frau die Mädchennamen, er die Namen der Knaben<br />

bestimmen sollte. Die Reihe war, sollte es so etwas wie Gerechtigkeit<br />

geben, nun wieder an ihm, denn Anna durfte<br />

bereits fünf Namen bestimmen.<br />

Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich beim Gedanken<br />

18


an Anna Maria, seine vierte Tochter, die so kurz nach der<br />

Geburt gestorben war. Es war Anna gewesen, die als Mutter<br />

größte Fassung bewahrt und am wenigsten Worte verloren<br />

hatte, nachdem der winzige Holzsarg im Gottesacker in die<br />

kleine Grube hinuntergelassen worden war. Erhard dagegen<br />

hatte unter Schwermut gelitten, und viele Wochen lang<br />

konnte er seine Arbeit nur mehr mechanisch verrichten. Im<br />

Jahr darauf kam wieder ein Mädchen zur Welt, und sie nannten<br />

es nach der verstorbenen Schwester.<br />

Die Jahre waren an Anna nicht spurlos vorübergegangen:<br />

Das einst hagere Mädchen zeigte stattliche Rundungen und<br />

hatte auch einige Sorgenfalten. Ihr gütiger Ausdruck aber war<br />

geblieben und die gleichmütige Ausstrahlung ebenso. Und<br />

wenn Erhard sich selbst im Spiegel besah, so musste er sich<br />

eingestehen, dass er mit seinen fünfundvierzig Jahren einen<br />

kleinen Schmerbauch mit sich herumtrug, der nicht nur vom<br />

vielen Sitzen bei der Arbeit stammte.<br />

Erhards Gedankenstrom wurde durch den kräftigen Schrei<br />

des Neugeborenen jäh unterbrochen. Nun hielt ihn nichts,<br />

aber auch gar nichts mehr in seiner Stube! Er rannte ins Geburtszimmer<br />

und prallte mit der dicken Martha zusammen,<br />

die sich eben angeschickt hatte, dem Herrn die Niederkunft<br />

bekannt zu geben. Ihr Gesichtsausdruck, eben noch feierlich<br />

und ernst, zeigte nun Unmut, begleitet von einem lauten<br />

Redeschwall an die Adresse des Eindringlings. Doch er achtete<br />

sie nicht! Denn alles, was er nun sah, war ein in Tücher<br />

gewickeltes, verrunzeltes Gesicht mit Haaren überall und<br />

krebsroten Wangen und zerknitterten Ohren.<br />

«Ein Bub ist es, und ein kräftiger dazu», flüsterte Anna,<br />

die sich kurz aufgerichtet hatte und dann ihren Kopf wieder<br />

in die Kissen zurücksinken ließ.<br />

19


«Ich werde ihn Heinrich nennen», sagte Erhard benommen,<br />

und seine schimmernden Augen strahlten.<br />

Erhard stapfte das Treppenhaus, dessen Stiegen bedrohlich<br />

krächzende Töne von sich gaben, wieder hinunter. Mund<br />

und Kehle waren trocken und seine Lippen brannten. Es gab<br />

für ihn nichts, überhaupt nichts, was er jetzt Nützliches für<br />

seine Familie verrichten konnte: Trotz seines Hochgefühls<br />

fühlte er sich ohnmächtig in seinem Nichtstun, und es war<br />

ihm, als wäre er von der Familie und deren täglichem Treiben<br />

ausgeschlossen. Nun würde Martha, die auch als Magd<br />

arbeitete, manche Tage das Zepter führen und die Kinder<br />

anweisen, denn Anna hatte genug damit zu tun, das Neugeborene<br />

zu stillen und selbst wieder zu Kräften zu kommen.<br />

Jedenfalls war sein gewohnter Tagesablauf durchbrochen<br />

und an ein Weiterarbeiten nicht zu denken. Erhard hielt unvermittelt<br />

inne und setzte sich schwerfällig auf die unterste<br />

Treppenstufe. Seine rechte Hand griff nach dem metallenen<br />

Knauf am Ende des Geländers. Nach Feiern war ihm noch<br />

nicht zumute, er spürte die zusätzliche Verantwortung, die<br />

jede weitere Geburt bedeutete. Wie er so dasaß, ließ er seinen<br />

Gedanken freien Lauf: Die Zeiten waren alles andere als beschaulich,<br />

gerade die letzten Monate ließen nicht auf eine<br />

ruhige Zukunft schließen, nicht für seine Vaterstadt Schaffhausen,<br />

nicht für die Schweiz und nicht für Europa!<br />

Sechs Jahre waren seit der Machtergreifung Napoleons<br />

vergangen, und vor knapp einem Jahr hatte sich dieser selbst<br />

zum Kaiser gekrönt. Wie sehr haben doch die Revolution<br />

und Napoleon das Leben in unserem Lande verändert, dachte<br />

Erhard. Kaum war der Sturm auf die Bastille vorüber, da<br />

mussten bereits Volksaufstände im Wallis, im Waadtland<br />

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