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STADTMAGAZIN Bremen Februar 2024

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BILDUNG UND KARRIERE<br />

„Beschäftigung lohnt sich immer!“<br />

Anhebung des Bürgergeldes: Die Arbeitnehmerkammer <strong>Bremen</strong> räumt auf mit Vorurteilen<br />

36<br />

Zum 1. Januar <strong>2024</strong> tritt eine Erhöhung<br />

des Bürgergeldes um durchschnittlich<br />

rund zwölf Prozent in Kraft.<br />

Mehr als fünf Millionen Empfänger:innen<br />

beziehen dann monatlich mehr Geld. Wegen<br />

der aktuellen Haushaltskrise ist nun<br />

eine Diskussion neu aufgeflammt, ob die<br />

zusätzlichen Sozialausgaben tragbar sind.<br />

Die Debatte dreht sich zudem um die Frage,<br />

ob so Arbeitsanreize geschmälert würden.<br />

Dr. Magnus Brosig von der Arbeitnehmerkammer<br />

<strong>Bremen</strong> verneint das im Interview.<br />

Denn wer einer Beschäftigung nachgehe,<br />

habe deutlich mehr im Portemonnaie.<br />

Herr Brosig, immer wieder wird darüber<br />

debattiert, ob Arbeit sich lohnt. Wie groß<br />

ist denn der Unterschied zwischen dem,<br />

was man mit dem Mindestlohn verdient<br />

und dem, was man durchs Bürgergeld<br />

bekommt?<br />

Magnus Brosig: Zunächst einmal: Wenn<br />

jetzt behauptet wird, es würden zunehmend<br />

Menschen vom Job ins Bürgergeld<br />

wechseln, stimmt das einfach nicht. Diese<br />

Zahlen sind in diesem Jahr sogar noch weiter<br />

zurückgegangen. Für solch ein Verhalten<br />

gibt es auch gar keinen Anlass, denn sozialversicherungspflichtige<br />

Beschäftigung<br />

lohnt sich immer. Man ist dadurch in den<br />

Arbeitsmarkt eingebunden, hat hoffentlich<br />

Chancen auf berufliche Entwicklung,<br />

erwirbt Rentenansprüche und hat nicht zuletzt<br />

jeden Monat weit mehr auf dem Konto<br />

als jemand, der nicht arbeitet und nur Bürgergeld<br />

bezieht.<br />

Können Sie das bitte an einem Beispiel<br />

konkret vorrechnen?<br />

Ein Single, der in der Stadt <strong>Bremen</strong> wohnt,<br />

Vollzeit arbeitet und zum Mindestlohn von<br />

12,41 Euro aktuell etwa 2.050 Euro brutto<br />

verdient, erhält etwa 1.500 Euro netto und<br />

kann in einer typischen Mietwohnung zusätzlich<br />

knapp 40 Euro Wohngeld bekommen.<br />

Insgesamt kommt er also auf etwa<br />

1.540 Euro. Nichtarbeit brächte hingegen<br />

nur etwa 1.060 Euro Bürgergeld, vom dem<br />

auch noch die Miete bestritten werden<br />

müsste. Und absehbar drohen ihm da ja<br />

noch staatliche Sanktionen.<br />

Wie sieht das bei Familien aus?<br />

Wenn ein Ehepartner als Alleinverdienender<br />

den gleichen Lohn für eine Familie mit<br />

zwei kleinen Kindern erzielt – netto sind<br />

das dann etwa 1.640 Euro –, kommt er mit<br />

Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld<br />

auf ungefähr 3.350 Euro Nettoeinkommen<br />

pro Monat. Das sind rund 730 Euro mehr<br />

als das, was diese Familie ohne Arbeit an<br />

Bürgergeld inklusive Unterkunftskosten<br />

wie Wohnung und Heizung erhalten würde.<br />

Natürlich muss man all die Leistungen<br />

dann auch beantragen, aber sie stehen<br />

einem ja zu. Und auch das Bürgergeld<br />

kommt keineswegs automatisch.<br />

Sind die Sozialleistungen zu hoch oder<br />

die Mindestlöhne zu niedrig?<br />

Die Sozialleistungen in der Grundsicherung<br />

– etwa das Bürgergeld – sind keineswegs<br />

zu hoch. Um den Betroffenen wirklich<br />

eine angemessene Teilhabe zu ermöglichen,<br />

müssten sie bei fairer Berechnung sogar<br />

merklich erhöht werden, wie es beispielsweise<br />

der Paritätische Wohlfahrtsverband<br />

regelmäßig vorrechnet. In jedem Fall zu<br />

niedrig ist aber auch der gesetzliche Mindestlohn,<br />

und das fast schon traditionell.<br />

Die Anhebung auf zwölf Euro pro Stunde<br />

war eine überfällige Ausnahme, wird aber<br />

durch die geringen Erhöhungen um insgesamt<br />

82 Cent bis 2025 wieder konterkariert.<br />

Um das von der EU vorgegebene Ziel<br />

von 60 Prozent des mittleren Einkommens<br />

zu erreichen, müsste der Mindestlohn jetzt<br />

schon bei etwa 13,50 Euro liegen, im nächsten<br />

Jahr noch einmal 75 Cent höher. Und<br />

natürlich gilt: Ein Mindestlohn ist immer<br />

nur die untere Schwelle des gerade noch<br />

Erträglichen, kein Gütesiegel. Für wirklich<br />

gute Löhne müssen wir dringend die<br />

Tarifbindung stärken, die im Land <strong>Bremen</strong><br />

zwar etwas über dem bundesweiten Durchschnitt<br />

liegt, mit 56 Prozent aber auch hier<br />

viel zu niedrig ist.<br />

Warum kursieren so viele unterschiedliche<br />

Zahlen in der Debatte um den Lohnabstand?<br />

Das System von Abgaben und Sozialleistungen<br />

ist sehr kompliziert, und durch<br />

die unterschiedlichen Wohnkosten in den<br />

Kommunen bekommt man für Modellrechnungen<br />

von Ort zu Ort verschiedene Ergebnisse.<br />

Diese Berechnungen hängen dann<br />

natürlich auch davon ab, was man genau<br />

zugrunde legt, welche Wochenarbeitszeit,<br />

welche Familienkonstellation, welche Wohnungsgröße<br />

und so weiter. Und weil sich<br />

die meisten Werte im Sozialrecht regelmäßig<br />

ändern, ist das, was heute noch stimmt,<br />

spätestens im kommenden Jahr schon wieder<br />

veraltet. Außerdem ist es wichtig, dass<br />

wirklich alle Posten, zum Beispiel auch der<br />

Kinderzuschlag, berücksichtigt werden,<br />

weil man sonst Äpfel mit Birnen vergleicht.<br />

Dr. Magnus Brosig, Referent für Sozialversicherungs-<br />

und Steuerpolitik. Foto: Stefan Schmidbauer<br />

Was gar nicht geht, aber teilweise trotzdem<br />

gemacht wird, ist ein Vergleich des vollen<br />

Bürgergeldes für eine Familie mit dem bloßen<br />

Nettolohn eines Alleinverdieners. Mit<br />

solch schiefen Rechnungen kommt man<br />

dann schnell zum Fehlschluss, dass sich<br />

Arbeit nicht lohnt, obwohl das mit der Realität<br />

nichts zu tun hat.<br />

Was muss sich aus Sicht der Arbeitnehmerkammer<br />

konkret ändern?<br />

Damit die Debatte vom Kopf auf die Füße<br />

gestellt wird, brauchen wir zunächst angemessenere<br />

Löhne. Dann müssen wir<br />

sicherstellen, dass die Sozialleistungen<br />

nicht weiter viel zu niedrig sind. Das gilt<br />

nicht nur für die Regelsätze für Erwachsene,<br />

sondern auch für die geplante Kindergrundsicherung,<br />

die nach derzeitigem<br />

Stand deutlich niedriger ausfallen wird als<br />

notwendig. Aber: Maßnahmen wie eine<br />

Kindergrundsicherung können dazu dienen,<br />

das Gesamtsystem zu verschlanken. Es<br />

gibt aktuell einfach ein ziemliches Nebenher<br />

von Leistungen, das kaum noch jemand<br />

versteht. Ansprüche werden deshalb oft<br />

gar nicht geltend gemacht, und selbst dann<br />

kann es je nach Konstellation absurderweise<br />

sogar dazu kommen, dass sich ein etwas<br />

höherer Lohn netto gar nicht wirklich bemerkbar<br />

macht. Gegenüber der Nichtarbeit<br />

lohnt sich Beschäftigung sehr, aber bei<br />

Mehrarbeit ist das nicht immer ganz so klar.<br />

Das muss der Gesetzgeber angehen. (SM)

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