Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
BILDUNG UND KARRIERE<br />
„Beschäftigung lohnt sich immer!“<br />
Anhebung des Bürgergeldes: Die Arbeitnehmerkammer <strong>Bremen</strong> räumt auf mit Vorurteilen<br />
36<br />
Zum 1. Januar <strong>2024</strong> tritt eine Erhöhung<br />
des Bürgergeldes um durchschnittlich<br />
rund zwölf Prozent in Kraft.<br />
Mehr als fünf Millionen Empfänger:innen<br />
beziehen dann monatlich mehr Geld. Wegen<br />
der aktuellen Haushaltskrise ist nun<br />
eine Diskussion neu aufgeflammt, ob die<br />
zusätzlichen Sozialausgaben tragbar sind.<br />
Die Debatte dreht sich zudem um die Frage,<br />
ob so Arbeitsanreize geschmälert würden.<br />
Dr. Magnus Brosig von der Arbeitnehmerkammer<br />
<strong>Bremen</strong> verneint das im Interview.<br />
Denn wer einer Beschäftigung nachgehe,<br />
habe deutlich mehr im Portemonnaie.<br />
Herr Brosig, immer wieder wird darüber<br />
debattiert, ob Arbeit sich lohnt. Wie groß<br />
ist denn der Unterschied zwischen dem,<br />
was man mit dem Mindestlohn verdient<br />
und dem, was man durchs Bürgergeld<br />
bekommt?<br />
Magnus Brosig: Zunächst einmal: Wenn<br />
jetzt behauptet wird, es würden zunehmend<br />
Menschen vom Job ins Bürgergeld<br />
wechseln, stimmt das einfach nicht. Diese<br />
Zahlen sind in diesem Jahr sogar noch weiter<br />
zurückgegangen. Für solch ein Verhalten<br />
gibt es auch gar keinen Anlass, denn sozialversicherungspflichtige<br />
Beschäftigung<br />
lohnt sich immer. Man ist dadurch in den<br />
Arbeitsmarkt eingebunden, hat hoffentlich<br />
Chancen auf berufliche Entwicklung,<br />
erwirbt Rentenansprüche und hat nicht zuletzt<br />
jeden Monat weit mehr auf dem Konto<br />
als jemand, der nicht arbeitet und nur Bürgergeld<br />
bezieht.<br />
Können Sie das bitte an einem Beispiel<br />
konkret vorrechnen?<br />
Ein Single, der in der Stadt <strong>Bremen</strong> wohnt,<br />
Vollzeit arbeitet und zum Mindestlohn von<br />
12,41 Euro aktuell etwa 2.050 Euro brutto<br />
verdient, erhält etwa 1.500 Euro netto und<br />
kann in einer typischen Mietwohnung zusätzlich<br />
knapp 40 Euro Wohngeld bekommen.<br />
Insgesamt kommt er also auf etwa<br />
1.540 Euro. Nichtarbeit brächte hingegen<br />
nur etwa 1.060 Euro Bürgergeld, vom dem<br />
auch noch die Miete bestritten werden<br />
müsste. Und absehbar drohen ihm da ja<br />
noch staatliche Sanktionen.<br />
Wie sieht das bei Familien aus?<br />
Wenn ein Ehepartner als Alleinverdienender<br />
den gleichen Lohn für eine Familie mit<br />
zwei kleinen Kindern erzielt – netto sind<br />
das dann etwa 1.640 Euro –, kommt er mit<br />
Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld<br />
auf ungefähr 3.350 Euro Nettoeinkommen<br />
pro Monat. Das sind rund 730 Euro mehr<br />
als das, was diese Familie ohne Arbeit an<br />
Bürgergeld inklusive Unterkunftskosten<br />
wie Wohnung und Heizung erhalten würde.<br />
Natürlich muss man all die Leistungen<br />
dann auch beantragen, aber sie stehen<br />
einem ja zu. Und auch das Bürgergeld<br />
kommt keineswegs automatisch.<br />
Sind die Sozialleistungen zu hoch oder<br />
die Mindestlöhne zu niedrig?<br />
Die Sozialleistungen in der Grundsicherung<br />
– etwa das Bürgergeld – sind keineswegs<br />
zu hoch. Um den Betroffenen wirklich<br />
eine angemessene Teilhabe zu ermöglichen,<br />
müssten sie bei fairer Berechnung sogar<br />
merklich erhöht werden, wie es beispielsweise<br />
der Paritätische Wohlfahrtsverband<br />
regelmäßig vorrechnet. In jedem Fall zu<br />
niedrig ist aber auch der gesetzliche Mindestlohn,<br />
und das fast schon traditionell.<br />
Die Anhebung auf zwölf Euro pro Stunde<br />
war eine überfällige Ausnahme, wird aber<br />
durch die geringen Erhöhungen um insgesamt<br />
82 Cent bis 2025 wieder konterkariert.<br />
Um das von der EU vorgegebene Ziel<br />
von 60 Prozent des mittleren Einkommens<br />
zu erreichen, müsste der Mindestlohn jetzt<br />
schon bei etwa 13,50 Euro liegen, im nächsten<br />
Jahr noch einmal 75 Cent höher. Und<br />
natürlich gilt: Ein Mindestlohn ist immer<br />
nur die untere Schwelle des gerade noch<br />
Erträglichen, kein Gütesiegel. Für wirklich<br />
gute Löhne müssen wir dringend die<br />
Tarifbindung stärken, die im Land <strong>Bremen</strong><br />
zwar etwas über dem bundesweiten Durchschnitt<br />
liegt, mit 56 Prozent aber auch hier<br />
viel zu niedrig ist.<br />
Warum kursieren so viele unterschiedliche<br />
Zahlen in der Debatte um den Lohnabstand?<br />
Das System von Abgaben und Sozialleistungen<br />
ist sehr kompliziert, und durch<br />
die unterschiedlichen Wohnkosten in den<br />
Kommunen bekommt man für Modellrechnungen<br />
von Ort zu Ort verschiedene Ergebnisse.<br />
Diese Berechnungen hängen dann<br />
natürlich auch davon ab, was man genau<br />
zugrunde legt, welche Wochenarbeitszeit,<br />
welche Familienkonstellation, welche Wohnungsgröße<br />
und so weiter. Und weil sich<br />
die meisten Werte im Sozialrecht regelmäßig<br />
ändern, ist das, was heute noch stimmt,<br />
spätestens im kommenden Jahr schon wieder<br />
veraltet. Außerdem ist es wichtig, dass<br />
wirklich alle Posten, zum Beispiel auch der<br />
Kinderzuschlag, berücksichtigt werden,<br />
weil man sonst Äpfel mit Birnen vergleicht.<br />
Dr. Magnus Brosig, Referent für Sozialversicherungs-<br />
und Steuerpolitik. Foto: Stefan Schmidbauer<br />
Was gar nicht geht, aber teilweise trotzdem<br />
gemacht wird, ist ein Vergleich des vollen<br />
Bürgergeldes für eine Familie mit dem bloßen<br />
Nettolohn eines Alleinverdieners. Mit<br />
solch schiefen Rechnungen kommt man<br />
dann schnell zum Fehlschluss, dass sich<br />
Arbeit nicht lohnt, obwohl das mit der Realität<br />
nichts zu tun hat.<br />
Was muss sich aus Sicht der Arbeitnehmerkammer<br />
konkret ändern?<br />
Damit die Debatte vom Kopf auf die Füße<br />
gestellt wird, brauchen wir zunächst angemessenere<br />
Löhne. Dann müssen wir<br />
sicherstellen, dass die Sozialleistungen<br />
nicht weiter viel zu niedrig sind. Das gilt<br />
nicht nur für die Regelsätze für Erwachsene,<br />
sondern auch für die geplante Kindergrundsicherung,<br />
die nach derzeitigem<br />
Stand deutlich niedriger ausfallen wird als<br />
notwendig. Aber: Maßnahmen wie eine<br />
Kindergrundsicherung können dazu dienen,<br />
das Gesamtsystem zu verschlanken. Es<br />
gibt aktuell einfach ein ziemliches Nebenher<br />
von Leistungen, das kaum noch jemand<br />
versteht. Ansprüche werden deshalb oft<br />
gar nicht geltend gemacht, und selbst dann<br />
kann es je nach Konstellation absurderweise<br />
sogar dazu kommen, dass sich ein etwas<br />
höherer Lohn netto gar nicht wirklich bemerkbar<br />
macht. Gegenüber der Nichtarbeit<br />
lohnt sich Beschäftigung sehr, aber bei<br />
Mehrarbeit ist das nicht immer ganz so klar.<br />
Das muss der Gesetzgeber angehen. (SM)