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Douna <strong>Loup</strong><br />
Verwildern<br />
Roman<br />
Aus dem Französischen von Steven Wyss<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
1 — Seen 7<br />
2 — Waldkörper 27<br />
3 — Locla-yom 49<br />
4 — Polstraße 95<br />
5 — Brüllen 121<br />
6 — Die Blaue 125<br />
7 — Flüstern 138<br />
8 — Wilde Wege 139<br />
Kleine Anleitung zum<br />
Verwildern 145
danke<br />
an den und die, die mich zur Welt brachten<br />
meinen Eltern<br />
an diejenigen, die mir helfen, neu geboren zu werden<br />
jeden Tag<br />
1 — Seen<br />
Niemand wird sich mehr an unsere Wunden erinnern,<br />
an unsere Augen im Dunkeln, an unsere Tränen.<br />
Nichts bleibt. Alles vergeht. Glaub bloß nicht, dass<br />
auch nur die geringste Spur bleibt. Nichts als Asche<br />
und Sand. Stille. Die Erinnerung ist ein Tanz, und<br />
der Tanz windet sich und verliert sich dann, wie man<br />
sich ganz natürlich im Wasser der Seen verliert.<br />
Wenn der Abend kam, trank ich das Wasser der Seen, denn<br />
meine Mutter kam nicht heim, meine Mutter war bis in<br />
die Nacht fort, und so legte ich mich am Ufer ins Gras und<br />
leckte Wasser von der Seeoberfläche wie eine Hündin. Ich<br />
liebte es, in die tiefe Masse des Sees zu schauen und die<br />
Fische zu sehen. Stundenlang tauchte ich meine Finger ins<br />
Wasser und träumte in die Leere hinein, rannte frei durch<br />
die blaue Abendluft und ließ die Sterne auftauchen wie<br />
Trugbilder in meinem Traum eines zurückgebliebenen<br />
Mädchens. Zurückgeblieben, weil ich einfach blieb, ich<br />
wartete, es war schon spät und plötzlich fuhr mir die Kälte<br />
in die Kleider. Aber ich wollte nicht allein ins Haus zurück,<br />
also blieb ich viel zu lange und wartete auf meine Mutter.<br />
Auch der See wurde zu einem zurückgebliebenen See mit<br />
seinem Durcheinander aus Sand und Kieseln am Ufer. Er<br />
ging nicht weg. Er blieb einfach da, glatt, ruhig, und nichts<br />
rührte sich an seiner Oberfläche, außer zur Zeit der weißen<br />
7
Kaulquappen, die sich aneinander rieben und an den Steinen<br />
klebten, da schillerte der See, warf Falten, wenn sie<br />
sich bewegten, und es gefiel mir, wie sie als weiße Flecken<br />
das flache Wasser durchlöcherten.<br />
Warum bist du hier am schleimigen Wasser geblieben,<br />
fragte meine Mutter, als sie zurückkam.<br />
Weil ich es liebe, antwortete ich schweigend, weil dieses<br />
Wasser nicht schleimig ist, es ist sauber und frisch, und ich<br />
trinke es. Ich sagte nichts und wir gingen heim. Wir schliefen<br />
ein. Wir träumten still.<br />
Nach dem Aufwachen las ich in den Falten meines Bettlakens<br />
die Zukunft des anbrechenden Tages. Das war<br />
wichtig, ich hatte mir das schon früh angewöhnt. Ich setzte<br />
mich auf und schaute reglos, wie das Laken um mich<br />
herum angeordnet war und Falten warf. Seine Schichten<br />
Schatten Wölbungen Vertiefungen, all das sagte mir etwas<br />
über den nächsten Tag, und unter den gegebenen Umständen<br />
war es wichtig, schon eine ungefähre Vorstellung<br />
vom Lauf des Lebens zu haben.<br />
An jenem Tag hatte ich mein Laken lange angeschaut,<br />
es angeschaut und angeschaut und nichts verstanden. Da<br />
war so ein wildes Durcheinander gewesen und das Laken<br />
hatte eine andere Sprache gesprochen als gewöhnlich, also<br />
dachte ich, mal sehen.<br />
Und dann sah ich es.<br />
Am Abend kam meine Mutter wie immer spät nach<br />
Hause.<br />
Sich hinsetzen<br />
nichts direkt ansprechen<br />
mich mit den Schatten in meinem Innern unterhalten.<br />
Sich nicht bewegen.<br />
Und dann, wenn sie in die Küche geht, mich auf die<br />
Karotten stürzen und sie in Halbmonde schneiden, ohne<br />
meine Mutter dabei anzusehen, bis sie anfängt zu weinen,<br />
und sie dann in die Arme nehmen, lange mit ihr weinen,<br />
obwohl wir keine Zwiebeln schneiden, obwohl sie kalt ist<br />
und ich brennend heiß, obwohl wir nicht miteinander<br />
sprechen können.<br />
Das Wasser unserer Tränen durchnässt mein gelbes<br />
T-Shirt, ich höre als Erste auf und bleibe da und ich drücke<br />
sie an mich und wir ertrinken und sie entfernt sich und<br />
plötzlich sagt sie: Jetzt ist Schluss.<br />
Wir machen Schluss mit allem.<br />
Wir machen Schluss damit und beginnen mit nichts<br />
von vorne.<br />
Mit leeren Händen, aber es wird etwas Neues und es<br />
wird etwas für uns.<br />
Wir machen Schluss, egal, wenn wir dabei nicht gefallen.<br />
Ja, wir machen Schluss damit, uns zum bloßen Vergnügen<br />
irgendwelcher miesen Typen wehzutun, und wir bestimmen<br />
über unser Leben.<br />
Das wird unser Leben. Unseres, hörst du?<br />
Verstehst du?<br />
Niemand wird sich mehr an meine Worte erinnern.<br />
Alles verschwindet. Also rufe ich es mir, während<br />
alles brennt, noch einmal in Erinnerung, murmle<br />
erneut die Geschichte. Niemand wird sich mehr an<br />
unsere Wunden in der Dunkelheit erinnern.<br />
8 9
Aber ich erinnere mich. An den Tag, als meine Mutter<br />
weitersprach.<br />
Und sagte: Hörst du, lass nie wieder jemanden für dich<br />
entscheiden oder dir einreden, dass du keine Wahl hast …<br />
Auch wenn es Leute sind, die dich zu lieben scheinen, lauf<br />
weg!<br />
Schrei ihnen mit deiner lebendigen Stimme ins Gesicht<br />
und lauf weg.<br />
Gehen wir, meine Tochter, gehen wir, essen wir noch<br />
die Karotten, die du geschnitten hast, und dann brechen<br />
wir auf. Schauen wir nicht zurück auf das, was wir hinter<br />
uns lassen, ziehen wir ohne Angst weiter, mit freiem Herzen,<br />
leicht wie die Luft.<br />
Gehen wir offenen und leeren Herzens vorwärts, ganz<br />
leicht.<br />
Lassen wir es hinter uns, unser Haus und seine Kälte,<br />
und die ganze Vergangenheit. Gehen wir durch die Reben<br />
und pflücken dort Trauben. Lass uns unter den Apfelbäumen<br />
herumrennen und wilde Brombeeren essen und uns<br />
als Anhalterinnen in die Nähe der Autobahn stellen. Und<br />
dann lassen wir ohne Angst die Kilometer an uns vorbeiziehen<br />
und sich vor uns erstrecken. Ja, ganz ohne Angst!<br />
Immer weiter! Ohne Angst! Gehen wir bis an die Grenzen<br />
dieses Landes und darüber hinaus, wenn es sein muss,<br />
oder lass uns anhalten, sobald es uns gefällt, sobald die<br />
Luft wie die Sonne ist, sobald sie überläuft vom Glück,<br />
das uns fehlt. Suchen wir es überall, unter den Steinen und<br />
in den Blicken der Menschen, denen wir begegnen. Öffnen<br />
wir unsere Arme für alle, die Hilfe brauchen, aber ohne<br />
uns für irgendetwas erniedrigen zu lassen, sodass unsere<br />
Freude an der Arbeit, am Geben sich im Blick der anderen<br />
vermehrt, damit sie im Teilen größer wird und uns frei<br />
sein lässt.<br />
Meine Tochter, ziehen wir weiter wie die Zugvögel, die<br />
endlich den Ruf des Frühlings gehört haben und sich in<br />
stummer Zuversicht aufmachen, mit einem sicheren Instinkt<br />
hin zu diesem Anderswo ziehen, das sie erwartet<br />
und das sie schon in ihrem Bauch spüren.<br />
Das, was gleichzeitig ihre Quelle und ihr Ziel ist. Denn<br />
im Grunde wissen wir es nur zu gut, wir gehen zurück zu<br />
unseren wilden Wurzeln. Unsere Bäuche werden ihre<br />
Freude wiederfinden. Unsere Körper die Freiheit des Unterwegsseins.<br />
Nun lass uns gehen, vor uns erstreckt sich der Weg, und<br />
wir zittern vor Angst, weil wir alles zurücklassen, alles,<br />
und wir sind leer.<br />
Aber mein Gott, wie schön ist es, leer unterwegs zu sein,<br />
mit so viel Luft unter den Rippen und frei von Gedanken,<br />
und wenn wir Durst haben, dann beugen wir uns über die<br />
Flüsse und lecken das Wasser, wie du es mit deiner Zunge<br />
tust, und mit einem vom klaren Wasser benetzten Gesicht<br />
heben wir wieder den Kopf, mit Augen, die noch sanfter<br />
sind, und wir gehen weiter, immer weiter.<br />
Die Weizenfelder werden sich vor uns öffnen, die Dornen<br />
werden unsere Füße streicheln, und wir werden den<br />
erdnah versteckten Schlangen zuhören, wenn wir uns erschöpft<br />
unter dem grünen Baumgewölbe schlafen legen.<br />
Ich weiß nicht mehr, was ich sage, Kind, ich fantasiere.<br />
Das alles kommt aus meinem Mund wie ein Lied und ich<br />
habe Angst, dass ich nichts von dem umsetze, was ich da<br />
ankündige. Aber es ist so berauschend, es nur schon auszusprechen,<br />
und du siehst, wie die Tränen mich befreit<br />
10 11
haben, also fühle ich mich zu allem fähig, ich streife mein<br />
zu enges Kleid ab und ziehe etwas Bequemes an. Komm<br />
mit, zieh dich um, trag, was dir gefällt, komm, lass uns<br />
raus in den Hof gehen, lass uns nicht warten, bis ich verstumme,<br />
bis die Flut der Träume aus meinem Mund abreißt<br />
und nicht wiederkehrt, lass uns nicht warten, lass sie<br />
uns sofort verwirklichen.<br />
Komm, wir folgen dem Weg, und für einmal führt er<br />
mich nicht zur Maloche, sondern zu mir selbst. Zu dem,<br />
was wild ist und lacht in mir, das immer dageblieben ist<br />
während all der Jahre, das immer am Ufer eines Sees Wasser<br />
schlürfend auf mich gewartet hat, komm, mein Kind<br />
des Glücks, du brauchst vor nichts mehr Angst zu haben,<br />
nicht vor den Menschen, nicht vor den Tieren, lass uns<br />
weiterziehen.<br />
Niemand wird sich mehr an die Geschichte<br />
erinnern, die ich euch erzähle. Niemand, denn die<br />
Erinnerung ist eine erloschene Laterne auf der<br />
Suche nach sich selbst.<br />
sah ihre Spiegelung im Wasser. Ich sprach mit ihr. Ich<br />
schimpfte mit ihr, weil sie ihren Kleeblattteller nicht aufaß.<br />
Und dann rannten wir hinter den Hunden her und schliefen<br />
erschöpft neben ihnen in Nestern aus Laub. Der schwarze<br />
Hund war mein liebster. Er war sanft und kräftig, manchmal<br />
leckte er mein Gesicht meine Hände meine Schenkel.<br />
Eines Tages war ich nackt in den Blättern und da leckte er<br />
mich zwischen den Beinen und ich war so entzückt, dass<br />
mein ganzer Körper bebte. Ich hatte nicht gewusst, dass er<br />
das konnte, diese Zungenzauberei, denn ich hatte gerade<br />
ins Gras gepinkelt, da kam seine Zunge und leckte mich.<br />
Aber danach hatte ich Angst vor diesem heftigen Vergnügen.<br />
Mir wurde klar, dass man darüber nicht sprechen<br />
konnte, und wenn man darüber nicht sprechen konnte, war<br />
es besser, Angst davor zu haben und sich zu schämen.<br />
Also schämte ich mich.<br />
Aber trotzdem suchte ich diese Berührung.<br />
Also badete ich nackt im Fluss und niemand konnte<br />
etwas daran aussetzen, dass ich mich vom sprudelnden<br />
Wasser lecken ließ. Und ich saß dort, wo die heißen Steine<br />
eine Mulde bildeten, und alles erzählte mir vom Glück.<br />
Als ich klein war, spielte ich oft bei den Steinen. Ich warf<br />
sie ins Wasser. Ich grub im schwarzen und gelben Schlamm<br />
und malte damit auf die flachen Felsen. Ich folgte den<br />
Hunden in den Eichenwald. Als ich klein war, sang ich mit<br />
den Kühen. Ich grub in der Erde. Nahe am See gab es eine<br />
Stelle, an der Blüten herabfielen und ich in einem alten<br />
Topf Zaubertränke braute.<br />
Als ich klein war, schuf ich mir eine Doppelgängerin. Ich<br />
Niemand wird sich mehr an meinen Namen<br />
erinnern, an meine Wunden und an meinen<br />
Hintern. Niemand.<br />
Meine Mutter und ich waren in den Weizen des Landes<br />
geflüchtet. Wir durchquerten Weizenfeld um Weizenfeld<br />
und wir spuckten auf diese harte, zerfurchte, Pestizide<br />
12 13
ausdünstende Erde. Und wir sangen, oder nein, wir brüllten<br />
«Freier Weizen, weh, Wind, weh!». Und der Weizen<br />
legte sich unter unseren Schritten hin und von Tag zu<br />
Tag sahen wir die Wälder in der Ferne größer werden und<br />
näherkommen und wir konnten es kaum erwarten, in diesen<br />
Wäldern einzutreffen, wir konnten es kaum erwarten,<br />
die Weizenfelder dieser Gegend zu verlassen und wieder<br />
zu verwildern.<br />
Aber niemand erinnert sich mehr an das Land vor den<br />
großen Bränden. An dieses Land, durchzogen von quadratischen<br />
Feldern, die die Landschaft dominierten und<br />
die Igel nicht mehr leben ließen, und die Feldhasen, die<br />
Marienkäfer, die Libellen, und alle aufzuzählen, würde zu<br />
lange dauern. Zur Zeit, als wir durch die Weizenfelder zogen,<br />
wurde das Land noch regiert und die Bauern konnten<br />
nicht anders, als es bis zum Horizont zu bewirtschaften.<br />
Wir wollten aus diesem gelben Horizont ausbrechen und<br />
wieder verwildern. Wie in unserem Tal vor den Abholzungen<br />
und der Dürre.<br />
Ich bin klein geboren und ich bleibe es. Meine Mutter<br />
erzählte immer, dass ich aus Solidarität aufgehört hatte zu<br />
wachsen, an meinem elften Geburtstag, als drei Holzfäller<br />
gekommen waren, um den Eichenwald zu zersägen, der<br />
mein Paradies, mein Dschungel gewesen war, hatte ich aufgehört<br />
zu wachsen, meine Säfte gestoppt, meine Wut in<br />
mir vergraben und meine Hände fest zusammengepresst.<br />
Und jetzt befreie ich meine Hände mit dieser sickernden<br />
Tinte, die wie eine Blutung fließt, weil ich weiß, dass<br />
niemand, niemand sich erinnern wird.<br />
Man muss die Wirklichkeit festhalten, damit sie existiert.<br />
Man muss die Sterne anbeten und Zaubersprüche murmeln,<br />
um die Nacht zu erhellen, die sich in unserer Erinnerung<br />
ausbreitet. Man muss noch einmal wild und giftig<br />
werden, denn der Horizont breitet sich aus und ich will<br />
bis zur Grenze gehört werden. Nicht zwingend verstanden,<br />
aber zumindest gehört.<br />
Schweig, sagt der große Bär, schweig, sagt das<br />
Sternbild des Wolfes, sagen die Sterne der Kassiopeia<br />
und des Walfisches, schweig und sieh uns an,<br />
statt dich zu beklagen.<br />
Und ich weiß nicht mehr, wie man sie ansieht.<br />
Ich verliere mich. Die Schönheit verschlingt mein Gesicht,<br />
so wie man im August ertrinkt im Licht. Aber es gibt<br />
keine Monate keine Jahreszeiten keine Wechsel mehr, in<br />
meinem Körper ist nur noch ein lauter, gebrochener<br />
Schrei und meine Ohren erwarten das Echo, die Stimme<br />
von irgendwem, von irgendwo.<br />
Also steige ich aus der Höhle und setze mich an den<br />
Rand der Klippe und nur die Sterne sind noch da und ich<br />
verstehe endlich, dass es richtig ist, ihnen zuzuhören,<br />
mein Herz in diesem sternenbehangenen Bauch schlagen<br />
zu lassen. Zu akzeptieren, verloren zu sein, nichts zu wissen,<br />
gar nichts. In etwas Neues eintreten zu müssen und<br />
in einen traumlosen Schlaf zu sinken, vielleicht.<br />
Nun, noch schlafe ich nicht.<br />
Und ich höre nicht auf, mich zu erinnern.<br />
Denn niemand wird sich mehr an meine Babywimpern<br />
14 15
erinnern, niemand wird das Haus wieder erblicken, in dem<br />
ich aufgewachsen bin.<br />
Das Haus war klein und schief, vollgestopft mit Sachen<br />
und ziemlich finster. Aber es war warm, im Winter wie im<br />
Sommer, und man sah durch die Fenster den See auf der<br />
einen und die Dornenbüsche und Brennnesseln auf der<br />
anderen Seite.<br />
Ich weiß nicht, was man über diese Nacht sagen soll.<br />
Ich bin allein und ich schaue mich um. Aber ich erinnere<br />
mich und das lässt alles wachsen, was mich umgibt. Ich<br />
höre, wie sich die großen Bäume biegen in der Luft, ich<br />
bin doch nicht allein, ich bin umgeben von Leben.<br />
Als ich klein war, hasste ich meine Mutter für ihre Schönheit<br />
und ihre Abwesenheit. Ich mochte es, mich an ihren<br />
Hals zu schmiegen, aber ich konnte mich nie an ihren Hals<br />
schmiegen, und ich sagte mir, dass sie die Zeit, die sie mir<br />
nicht an ihrem Hals gab, anderen zugestand, denn es war<br />
unmöglich, einen so sanften Hals zu haben, an den sich<br />
niemand, wirklich niemand schmiegte.<br />
Niemand wird sich mehr an ihren Hals erinnern.<br />
Wer sieht sich mit mir die Sterne an?<br />
Abgesehen von den Tieren den Fischen im Fluss den<br />
fliegenden Insekten. Wer? Ich warte auf einen Schrei in<br />
der Nacht, der nicht kommt. Also rufe ich wie eine Eule<br />
und ritze mit einem alten Nagel Kreise in die Felsen.<br />
Ich erinnere mich an die Scheune hinter dem Nachbarhaus,<br />
die leere Scheune.<br />
Auch dort fand ich solche Nägel und bewahrte sie sorgsam<br />
in einer Dose auf, zusammen mit meinen ausgefallenen<br />
Zähnen.<br />
Hier habe ich nichts mehr.<br />
Allein mit meiner Erinnerung. Die verschwindet.<br />
Meine Füße baumeln ins Leere. Ich summe.<br />
Meine Mutter summte, wenn sie nicht arbeitete und<br />
lange Tage zu Hause verbrachte. Sie summte in der Küche.<br />
Ich hörte ihr zu und saß am Fenster, damit ich die Reiher<br />
beobachten konnte. Die Reiher schienen im Rhythmus<br />
ihres Lieds mit den Flügeln zu schlagen. Der Kuchenduft<br />
aus dem Ofen und das seltene Lächeln meiner Mutter. Sie<br />
summte in der Küche, und ich beobachtete den See und<br />
die flügelschlagenden Reiher. Und dann, wenn ich es nicht<br />
mehr aushielt, wenn es da draußen zu sehr nach mir rief<br />
und das Singen meiner Mutter meinen Körper wegdrängte,<br />
stürmte ich wie eine Furie hinaus, rannte auf das Wasser<br />
zu, rollte meinen Körper am Seeufer hin und her und<br />
schaute hinauf zum Himmel.<br />
Ich weiß nicht mehr, wie ich diese so einsame Kindheit<br />
durchlebt habe. Am Ufer des runden Sees. Steine ins Wasser<br />
werfend und mich ertränkend in der Erinnerung an den<br />
Hals meiner Mutter. Bei den Nachbarn war nie jemand zu<br />
Hause. Und das Dorf war weit weg. Ich redete mit den<br />
Karpfen. Ich erinnere mich an alles. An die Füße im Sand,<br />
an mein Weinen manchmal in der Nacht. Ich wusste nicht,<br />
warum ich weinte, aber es musste fließen und ich fühlte<br />
mich sanft nach der Flut. Im Inneren gereinigt, und<br />
ich schlief gut. All das, diese Kindheit allein im Haus, veränderte<br />
sich mit dem Tag, an dem ich das Foto sah. Alles<br />
wurde schlimmer. Und auch besser. Aber erst schlimmer.<br />
16 17
Das Foto war in einer Blechdose.<br />
Ich hatte sie geöffnet, denn ich liebte es über alles, Dosen<br />
zu öffnen, meine Mutter hätte es wissen und sie verstecken<br />
müssen. Aber vielleicht wusste sie es und hatte die Dose<br />
an jenem Tag absichtlich auf dem Nachttisch stehen lassen.<br />
Während sie weg war. Vielleicht?<br />
Das Foto in der Blechdose zeigte meine Mutter, jung<br />
und strahlend mit mir als Baby auf dem Arm, und daneben<br />
einen kleinen Jungen, der sich über mich beugte.<br />
Ich verstand nicht sofort, was dieses Foto zu bedeuten<br />
hatte.<br />
Ich betrachtete es lange, sehr lange, bestimmt den<br />
ganzen Nachmittag. Für einmal ging ich nicht nach draußen,<br />
sondern tauchte mit beiden Augen tief in das Foto<br />
ein, es war, als würde es sich ab und an bewegen, als brächte<br />
ich es zum Sprechen. Der Junge war wohl etwa drei<br />
Jahre alt, ich hörte das Lachen meiner Mutter und das<br />
meines Vaters, der gerade das Foto schoss, und ich versuchte<br />
die ganze Zeit, nicht daran zu denken, was meine<br />
Mutter mir erzählt hatte; dass ich allein zur Welt gekommen<br />
war, dass mein Vater vor meiner Geburt weggegangen<br />
war.<br />
Und dann kam meine Mutter. Und sie sah mich mit<br />
dem Foto. Und sie setzte sich hin.<br />
Sie war müde, sie sagte oh nein, heute ist nicht der Tag,<br />
um darüber zu sprechen. Nein …<br />
Also legte ich das Foto wieder in die Blechdose.<br />
Aber es war passiert. Die Bresche. Sie war geschlagen.<br />
Man musste hineintauchen.<br />
Niemand wird sich mehr an meine Erinnerungen<br />
erinnern.<br />
Am nächsten Morgen stieg ich hoch in die Bäume. Den<br />
ganzen Tag lang. Ich fühlte ihre Stämme, ihre Säfte unter<br />
meinen Fingern und ich sagte mir da irgendwo ist ein Bruder<br />
und ich leckte die saure Kirschbaumborke und ich<br />
kaute Eichenblätter und ich trank aus Astlöchern. Und ich<br />
sagte mir da ist ein Bruder irgendwo. Und ich spürte das<br />
Lachen meines Bruders im Nacken und ich sah seine Haare<br />
in den Lianen. Und ich sagte es mir immer wieder da ist<br />
ein Bruder irgendwo und dieses Wort Bruder stieg in meinem<br />
Brustkorb auf und ich konnte mich nicht dagegen<br />
wehren. Ich war glücklich darüber, stolz darauf. Ich war<br />
nicht mehr wütend auf meine Mutter, verehrte sie stattdessen<br />
dafür, dass sie mir diesen Bruder geschenkt hatte,<br />
denn an jenem Tag in den Haselnusssträuchern verstand<br />
ich, dass ich nicht die Einzige war, die aus ihrem Bauch<br />
gekommen war, dass ich nicht allein war.<br />
Darum schrie ich dieses neue Wort Bruder hinaus in die<br />
Baumkronen, ich schrie es, und wenn ich zu hungrig war,<br />
stieg ich hinunter, um Wurzeln zu essen, ich wühlte in der<br />
Erde und sagte mir, ich muss jetzt lesen und schreiben<br />
lernen, so kann ich dieses Wort Bruder in die lose Erde der<br />
Felder und in den Sand am See schreiben, es auf die Stämme<br />
und auf meine Handflächen schreiben, überall dieses<br />
Wort hinschreiben, das meinen Hang neu ausrichtet. Und<br />
dann stieg ich wieder hinauf in die Eichenwipfel und wenn<br />
ich mich nicht bewegte, rannten die Eichhörnchen um<br />
mich herum und ich blinzelte, während ich in den von<br />
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