312 Die Detroit-Industry-Fresken von Diego Rivera Zur Startseite ...
312 Die Detroit-Industry-Fresken von Diego Rivera Zur Startseite ...
312 Die Detroit-Industry-Fresken von Diego Rivera Zur Startseite ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Kapital und Arbeit im Krisenzyklus: Amerikanische Realismen<br />
1204/<strong>Rivera</strong>, D.M.: Sklaverei in<br />
der Zuckermühle. Fresko im Cortés-Palast,<br />
Cuernavaca, 1929/30<br />
<strong>312</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Detroit</strong>-<strong>Industry</strong>-<strong>Fresken</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Die</strong>go <strong>Rivera</strong><br />
<strong>Die</strong> bis zu zwanzig Meter breiten <strong>Fresken</strong> des<br />
Mexikaners <strong>Die</strong>go <strong>Rivera</strong> im Gartenhof des<br />
<strong>Detroit</strong> Institute of Arts formulieren in ihren<br />
Hauptteilen die Ford-Saga. <strong>Die</strong> widersprüchliche<br />
Kombination eines urkommunistischen<br />
Künstlers mit dem geradezu prototypischen<br />
Kapitalisten Ford führt zu einem ebenso widerspruchsvollen<br />
Monument industriekapitalistischer<br />
Produktion, das divergierende Lesarten<br />
anbietet. Lässt es sich aus der Perspektive<br />
des Unternehmertums als eine Feier des nationalen<br />
Arbeitsproduktivismus vorzeigen, so<br />
aus der Perspektive Marxscher Theorie als Veranschaulichung<br />
des Topos Maschinerie und<br />
Große Industrie anhand des Musters der kapitalistischen<br />
Unternehmung, der Ford Motor<br />
Company. <strong>Die</strong>s liegt daran, dass <strong>Rivera</strong> sich,<br />
sonst als Maler des mexikanischen Klassenkampfes<br />
schärfster Kritik <strong>von</strong> Herrschaft und<br />
Ausbeutung fähig (vgl. Abb. 1204), einer explizit<br />
kritischen Behandlung seines Themas<br />
enthält. <strong>Die</strong> Automobilproduktion steht im<br />
Zentrum des insgesamt aus 27 bemalten Teilflächen<br />
der Wände des Innenhofes bestehenden<br />
Epos über die Industrie in <strong>Detroit</strong>. Aus<br />
der durch Wissenschaft vermittelten Organisierung<br />
<strong>von</strong> Naturschätzen, Naturkräften und<br />
menschlichem Arbeitsvermögen entsteht die<br />
moderne Industrie vor allem in ihrer Produktivität,<br />
aber – eher an den Rand gedrängt<br />
– auch in ihrer Destruktivität. Durchzogen<br />
ist der gesamte Zyklus mit einem physiokratischen<br />
Motiv organizistischer Tönung, die<br />
insbesondere durch die Gestaltung der Ostwand<br />
verstärkt wird. Beauftragt <strong>von</strong> Dr. W.R.<br />
Valentiner, Direktor des <strong>Detroit</strong> Institute of<br />
Arts, und finanziert <strong>von</strong> Edsel Ford entstehen<br />
die Wandbilder nach Hunderten <strong>von</strong> fotografischen<br />
Aufnahmen bei Ford innerhalb <strong>von</strong><br />
nur 10 Monaten. Im März 1933 fand die Einweihung<br />
statt und mit ihr begann eine heftige,<br />
kontroverse Diskussion. Im Unterschied<br />
zu dem schließlich zerstörten Werk für das Rockefeller<br />
Center, das dem Auftraggeber wegen<br />
seiner kommunistischen Utopie und vor allem<br />
eines Lenin-Bildnisses unakzeptabel erschien,<br />
ist dieses Gesamtwerk erhalten geblieben. In<br />
Stil und grundlegender Thematik passt <strong>Rivera</strong><br />
sich der im Renaissancestil gestalteten Institutsarchitektur<br />
an. <strong>Die</strong> Eigenständigkeit des<br />
Weltlichen, das gleichwohl aber metaphysisch<br />
gerahmt ist, wird genauso betont wie Humanismus<br />
und moderne Wissenschaft. <strong>Die</strong> Freskomalerei<br />
setzt dieses nicht nur um, sondern<br />
verkörpert durch ihre monumentale Sichtbarkeit<br />
eine Belehrungs- und Reflexionsform, einen<br />
Spiegel (ein »speculum«, wie viele Schriften<br />
der Renaissance hießen) der gesellschaftlichen<br />
Betätigung. Emphatisch führt <strong>Rivera</strong> u.a. zu<br />
seinem Werk aus:<br />
In den letzten Jahren hat sich in den Vereinigten<br />
Staaten eine Kultur entwickelt, die der<br />
Ausdruck einer auf Wissenschaft und Industrie<br />
gegründeten Zivilisation ist, deren Wurzeln<br />
in der produktiven Klasse der Arbeiter,<br />
sowohl der handwerklichen wie der intellektuellen,<br />
verankert sind. In dieser Klasse verschmolzen<br />
die Völker der nördlichen und südlichen<br />
Hälften dieses Kontinents mit denen aus<br />
allen Teilen der Welt. <strong>Die</strong>se Neue Welt, <strong>von</strong><br />
der die menschliche Rasse im Namen einer allgemeinen<br />
Menschlichkeit Besitz ergriffen hat,<br />
entwickelt ihre eigenen kulturellen Ideale, um<br />
die blassen und verwässerten Imitationen der<br />
Kunst der Alten Welt zu ersetzen. (zit. nach<br />
Neue Gesellschaft für bildende Kunst 1981, S.<br />
387)<br />
Hier verbindet sich also nationaler Produktivismus<br />
mit dem Versuch, dieser neuen ökonomischen<br />
Macht der Nation auch ein kulturelles<br />
Selbstbewusstsein zu verschaffen in<br />
Absetzung <strong>von</strong> der Alten Welt Europas. So<br />
verkörpern auch diese Werke den hegemonialen<br />
Anspruch der Vereinigten Staaten <strong>von</strong><br />
Amerika. Mit einer Verspätung <strong>von</strong> einer Generation<br />
gegenüber Europa schaffen sich die<br />
USA nun auch ihre Apotheose der Industrie.<br />
<strong>Rivera</strong>s Ford-<strong>Fresken</strong> – an die große Tradition<br />
des mexikanischen Wandbildes formal,<br />
aber nicht inhaltlich anschließend – repräsentieren<br />
zudem die zentrale Ideologie des fordistischen<br />
Klassenpromisses, die Integration<br />
des Arbeiters durch industriellen Wohlstand<br />
und bewusstseinsmäßige Einbindung in die<br />
Industriegesellschaft, die dann nicht länger als<br />
»Kapitalismus« beschrieben werden darf. Inwieweit<br />
der Künstler diese Reflexionsebene<br />
der Kritik erreichen wollte, entzieht sich der<br />
Kenntnis des Verfassers. <strong>Die</strong> beiden hier reproduzierten<br />
Bilder (s. die folgenden Doppelseiten)<br />
sollen anhand der beiden Schemazeich-
nungen (rechts) kurz beschrieben werden. Im<br />
Zentrum des Kopfes der <strong>Fresken</strong> sind die humanen<br />
und naturalen Grundlagen der Produktion<br />
symbolisiert: die vier Hautfarben der<br />
amerikanischen Bevölkerung: rot und schwarz<br />
auf der Nordwand (I) sowie weiß und gelb<br />
auf der Südwand (VII). Ihnen sind jeweils die<br />
basalen Schätze des Bodens zugeordnet: Eisen<br />
und Kohle, Kalkstein und Sand. <strong>Die</strong> großen<br />
Hände verweisen auf das menschliche Arbeitsvermögen,<br />
das die Basis allen Reichtums ist.<br />
Darunter stellt der Künstler die dazugehörigen<br />
geologischen Formationen (II bzw. XI)<br />
dar. Links oben im Nordfresko (III) werden<br />
chemische Bomben produziert, rechts oben<br />
(IV) wird ein Kind mit einem Serum geimpft,<br />
das <strong>von</strong> Tieren stammt. <strong>Die</strong> kleineren Bilder<br />
auf der Ebene darunter zeigen die Folgen dieser<br />
destruktiven bzw. konstruktiven Arbeit:<br />
links (V) durch chemische Kampfstoffe zerstörte<br />
Zellen, rechts (VI) ein gesunder Embryo.<br />
Das Zentralbild zeigt die Prozesse der<br />
Produktion des Ford V8-Motors und des Getriebes<br />
in Fließ- und Förderbandorganisation.<br />
In einer Kollage einer Reihe <strong>von</strong> Fenstern wird<br />
der verschlungene, gleichwohl aber kontinuierliche<br />
Produktionsprozess in Ausschnitten<br />
dargestellt bis hin zur Großdarstellung <strong>von</strong><br />
Montagearbeit im Vordergrund. In der Mitte<br />
oben (A) die Stahlproduktion mittels Hochofen;<br />
die Bereiche B - G, auf der Reproduktion<br />
kaum zu erkennen, zeigen die Herstellung<br />
und Vorbereitung der Gussformen und<br />
ihr Anhängen an das Förderband. Im Bereich<br />
H wird der flüssige Stahl in die Formen gegossen,<br />
bei J überschüssiger Stahl entfernt.<br />
Der gesamte vordere Bereich ist der Feinarbeit<br />
am Motorblock gewidmet, dabei porträtiert<br />
<strong>Rivera</strong> konkrete Personen (8, alle<br />
nachgezeichneten Figuren); rechts (L) werden<br />
Getriebegehäuse gefertigt. Im Zentrum (M)<br />
des Gemäldes schließlich, gerahmt <strong>von</strong> zwei<br />
Reihen riesiger Spindeln, erfolgt die Endmontage<br />
des Motors. <strong>Die</strong> Bildkästen unten (1 - 6)<br />
zeigen <strong>von</strong> links nach rechts die Ankunft der<br />
Arbeiter, Gieß- und Walzvorgänge sowie ganz<br />
rechts eine Pausenszene. <strong>Rivera</strong> selbst hat sich<br />
links, ziemlich versteckt (9), verewigt. Auf<br />
der Südwand stellt <strong>Rivera</strong> links oben (VIII)<br />
die Pharmazie, rechts (IX) die chemische Industrie<br />
dar, darunter jeweils eine chirurgische<br />
III I<br />
V<br />
9<br />
B<br />
C<br />
F<br />
Operation (X) bzw. kristallisierten Schwefel<br />
und Pottasche (XII). Das Hauptbild zeigt,<br />
wieder in Fenstertechnik, die Produktion <strong>von</strong><br />
Fahrgestellen und Karosserien. Dominant sind<br />
die großen Stanzen (A, B); im Bereich C werden<br />
die Blechteile geglättet und geschliffen;<br />
das Zusammenschweißen <strong>von</strong> Teilen erfolgt<br />
oben in der Mitte (D); links oben in der Ecke<br />
ist die Lackierstation; ganz im Zentrum (F)<br />
erfolgt die Endmontage am Band, ein rotes<br />
Fahrzeug verlässt, kaum zu sehen, fertig die<br />
Fabrik. Darüber hinaus werden diverse Detailarbeiten<br />
gezeigt, wie z.B. oben links (G)<br />
das Testen <strong>von</strong> Zündsystemen. <strong>Die</strong> untere<br />
Kastenreihe rundet die Gesamtdarstellung ab:<br />
als ein Nebenprodukt entstehen Düngemittel<br />
(1), Herstellung <strong>von</strong> Maschinenteilen zur Reparatur<br />
(2), Henry Ford als Lehrer (3), Glasscheibenfertigung<br />
(4, 5), Gang <strong>von</strong> Arbeitern<br />
zu den Parkplätzen. Rechts unten über dem<br />
letzten Kasten sind Edsel B. Ford, Präsident<br />
der Kunst-Kommission und Dr. W.R. Valentiner,<br />
Direktor des <strong>Detroit</strong> Institute of Arts dargestellt,<br />
die Stifter dieses Werkes. Insgesamt<br />
eine große Saga moderner Produktion.<br />
*Grafiken unter Verwendung <strong>von</strong> Skizzen des <strong>Detroit</strong> Institute of Arts<br />
E<br />
D<br />
M<br />
II<br />
A<br />
G<br />
8<br />
1 2 3 4 5 6<br />
K<br />
H<br />
Legende des Nordfreskos*<br />
Legende des Südfreskos*<br />
VIII VII<br />
IX<br />
X XI XII<br />
E<br />
C<br />
Epischer Realismus: <strong>Die</strong> <strong>Detroit</strong>-<strong>Industry</strong>-<strong>Fresken</strong> <strong>von</strong> <strong>Die</strong>go <strong>Rivera</strong><br />
A<br />
F<br />
D<br />
1 2 3<br />
4 5 6<br />
B<br />
J<br />
L<br />
G<br />
IV<br />
VI<br />
313
Kapital und Arbeit im Krisenzyklus: Amerikanische Realismen<br />
314<br />
1205/<strong>Rivera</strong>, D.M.: <strong>Detroit</strong> <strong>Industry</strong> (Nordwand), 1933
Epischer Realismus: <strong>Die</strong> <strong>Detroit</strong>-<strong>Industry</strong>-<strong>Fresken</strong> <strong>von</strong> <strong>Die</strong>go <strong>Rivera</strong><br />
315
Kapital und Arbeit im Krisenzyklus: Amerikanische Realismen<br />
316<br />
1206/<strong>Rivera</strong>, D.M.: <strong>Detroit</strong> <strong>Industry</strong> (Südwand), 1932/33
Epischer Realismus: <strong>Die</strong> <strong>Detroit</strong>-<strong>Industry</strong>-<strong>Fresken</strong> <strong>von</strong> <strong>Die</strong>go <strong>Rivera</strong><br />
317