Gesunde Beschäftigte Gesunde Betriebe Gesunde ... - DNBGF
Gesunde Beschäftigte Gesunde Betriebe Gesunde ... - DNBGF
Gesunde Beschäftigte Gesunde Betriebe Gesunde ... - DNBGF
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>DNBGF</strong> Konferenz 2010<br />
<strong>Gesunde</strong> <strong>Beschäftigte</strong><br />
<strong>Gesunde</strong> <strong>Betriebe</strong><br />
<strong>Gesunde</strong> Gesellschaft<br />
Impulsdialog<br />
„<strong>Gesunde</strong> <strong>Beschäftigte</strong>,<br />
gesunde <strong>Betriebe</strong>, gesunde<br />
Gesellschaft – wo stehen<br />
wir heute?“<br />
Dr. Eleftheria Lehmann<br />
„Arbeitsmärkte in krisenhaften<br />
Zeiten – Chancen<br />
und Risiken für gesunde<br />
Arbeit?“<br />
Sarah Mümken<br />
Workshops<br />
Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit<br />
Betrieblicher Gesundheitsförderung<br />
Entgrenzte Arbeit, psychische<br />
Gesundheit und nachhaltige<br />
Präventionspolitik<br />
Betriebliches Gesundheitsmanagement<br />
in Großunternehmen<br />
Restrukturierungsprozesse in<br />
öffentlichen Verwaltungen<br />
und Betriebliches Gesundheitsmanagement<br />
Mehr Gesundheit wagen:<br />
Betriebliche Gesundheitsförderung<br />
in Einrichtungen des<br />
Gesundheitswesens<br />
Deutsches Netzwerk<br />
für Betriebliche<br />
Gesundheitsförderung<br />
Älter werden im Betrieb – Ein<br />
Beispiel guter Praxis<br />
Beschäftigungsfähigkeit von<br />
(Langzeit-) Arbeitslosen.<br />
Ergebnisse einer internationalen<br />
Studie<br />
Arbeiten wie verrückt: Psychische<br />
Gesundheit in KMU<br />
Nachhaltige Verankerung von<br />
BGM-Aktivitäten am Beispiel<br />
der Stadt München<br />
psyGA – Psychische Gesundheit<br />
in der Arbeitswelt<br />
fördern – eine Initiative von<br />
<strong>DNBGF</strong> und anderen im Rahmen<br />
der Initiative Neue Qualität<br />
der Arbeit INQA<br />
Organisationen im<br />
demographischen Wandel<br />
Gesundheitsorientierung<br />
in der Grundsicherung<br />
Gute gesunde Lehrkräfte –<br />
Lehrergesundheit in der guten<br />
gesunden Schule<br />
PRAGDIS – Gesundheitsförderung<br />
für <strong>Beschäftigte</strong><br />
mit diskontinuierlichen<br />
Erwerbsverläufen<br />
Plenum<br />
„Die ,Dritte Kultur’ im<br />
Management: HR-Konzepte<br />
für die Zukunft“<br />
Prof. Holger Rust<br />
1<br />
Das Deutsche Netzwerk für Betriebliche<br />
Gesundheitsförderung (<strong>DNBGF</strong>) ist Teil der Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA)
„<strong>Gesunde</strong> <strong>Beschäftigte</strong>, gesunde <strong>Betriebe</strong>,<br />
gesunde Gesellschaft – wo stehen wir heute?“<br />
Auf die Frage nach Erfolgen und Schwächen der betrieblichen<br />
Gesundheitsförderung gibt es je nach persönlicher Perspektive<br />
sehr unterschiedliche Antworten: Gesundheitsförderer, die<br />
grade ein erfolgreiches Projekt betreuen, werden eine positive<br />
Entwicklung sehen, Strategen, die das theoretisch Machbare<br />
im Blick haben, klagen womöglich über die Mühen des „dicke<br />
Bretter Bohrens“ und mangelnde Verbreitung. Vor diesem<br />
Hintergrund war der Einleitungsvortrag von Dr. Eleftheria<br />
Lehmann, Präsidentin des Landesinstituts für Gesundheit und<br />
Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen (LIGA) eine wertvolle,<br />
weil sachliche Bestandsaufnahme zur Frage „Wo stehen wir<br />
heute?“<br />
Positive Botschaft Ihres Fazits: An Nutzen und Erfolg von BGF<br />
und BGM gibt es keine Zweifel. Schon mit dem bisherigen „alten<br />
Wissen“ kann man erfolgreich arbeiten, wenn es gelingt „robuste<br />
Werkzeuge“ für den Praxiseinsatz verfügbar zu machen. Denn<br />
auch am Bedarf an BGF gibt es keinen Zweifel.<br />
Nachgewiesen ist, so Dr. Lehmann eingangs Ihres Vortrags, dass<br />
sich der Zustand von Gesellschaften wie von Organisationen<br />
am Gesundheitszustand ablesen, Gesundheit die Wechselbeziehungen<br />
zwischen Individuen, <strong>Betriebe</strong>n und Gesellschaft sichtbar<br />
macht. Auf Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen und für<br />
NRW vorliegenden Daten aus Gesundheitsberichten und Befragungen<br />
ergibt sich ein zwiespältiges Bild, wie es um die Gesellschaft<br />
bestellt ist.<br />
Einerseits ist die gesunde Lebenserwartung der Menschen im letzten<br />
Jahrzehnt deutlich angestiegen, andererseits gibt es objektiv<br />
wie subjektiv deutliche gesundheitliche Ungleichheiten zwischen<br />
verschiedenen Schichten. Je älter die Menschen und je niedriger<br />
ihre Schicht, desto schlechter ist ihr Gesundheitszustand. Das trifft<br />
auch auf die Gruppe der Arbeitnehmer zu: Je länger <strong>Beschäftigte</strong><br />
im Berufsleben stehen, desto seltener glauben Sie, bis zum Rentenalter<br />
weiter arbeiten zu können – und je höher die berufliche<br />
Zusammenfassung des Vortrags von Dr. Eleftheria Lehmann,<br />
Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit des Landes NRW<br />
2<br />
Position, desto höher wird die gesundheitsabhängige persönliche<br />
Arbeitsfähigkeit eingeschätzt.<br />
Auch auf die Frage, wie und wodurch Arbeitnehmer bei ihrer<br />
Arbeitsausübung belastet sind, gibt es kein einheitliches Bild. Das<br />
Belastungsgeschehen, so Dr. Lehmann, hat sich in den letzten<br />
Jahren „auf hohem Niveau stabilisiert“, aber vor allem die psychosozialen<br />
Belastungen haben in den letzten Jahren – nicht zuletzt<br />
wegen der zunehmenden Arbeitsmenge und dem größeren Zeitdruck<br />
– stetig zugenommen. Das hat Folgen: Während die absolute<br />
Zahl der Frühverrentungen abgenommen hat, ist die Anteil der<br />
durch psychische Erkrankungen verursachten Frühverrentungen<br />
im Zeitraum 2000 bis 2008 von 23 auf 38 Prozent gewachsen.<br />
Fragt man die <strong>Beschäftigte</strong>n, helfen die <strong>Betriebe</strong> bislang unzureichend<br />
beim Umgang mit Belastungen. So werden die – oft verordneten<br />
– technischen Schutzmaßnahmen zwar überwiegend als<br />
„eher gut“ beurteilt, aber nur 36 Prozent der <strong>Beschäftigte</strong>n geben<br />
ihrem Betrieb diese Note, wenn es um das Engagement in BGF<br />
geht. Eine Situation, die offenbar ein problematisches Verhalten<br />
zur Folge hat bzw. es zumindest nicht verhindern kann: 40 Prozent<br />
der Befragten, so Dr. Lehmann, nennen bei der Frage nach individuellen<br />
Verarbeitungsstrategien „Alkoholgenuss“.<br />
Vor diesem Hintergrund zeichnete die LIGA-Präsidentin auch bei<br />
der Frage „wo steht die BGF heute“ ein differenziertes Bild:<br />
Auf „Anbieterseite“ verfügen BGF und BGM heute, nicht zuletzt<br />
vorangetrieben durch europäische Initiativen, über eine gute<br />
Wissensbasis wie funktionierende Infrastruktur: Kranken- und<br />
Unfallversicherung arbeiten zusammen, neue Netzwerke und<br />
Institutionen wurden aufgebaut, die Forschung intensiviert und<br />
das Beratungsangebot verbreitert.<br />
Zugleich aber – und obwohl Rentabilität wie Gesundheitseffekte<br />
von BGF „solide belegt“ sind – setzen noch zu wenige <strong>Betriebe</strong><br />
auf BGF oder gar betriebliches Gesundheitsmanagement. Zu viele
Unternehmen konzentrieren sich auf Einzelmaßnahmen, belassen<br />
es bei der Diagnose und verzichten gerade bei „einfachen“ Maßnahmen<br />
auf Qualitätssicherung und Evaluation.<br />
Das aber liegt nach Auffassung von Dr. Lehmann nicht daran, dass<br />
Gesundheitsförderer ihre Konzepte zu wenig verbreiten. Selbst<br />
für kleine und mittelständische Unternehmen gelte: die Informationen,<br />
die sie wollen und brauchen, holen sie sich selbst. Und<br />
Informationen, Ansätze gibt es offenbar genug, es liegt an den<br />
Unternehmen, sie zu nutzen. Es könne kein Ziel der BGF sein, der<br />
Komplexität betrieblicher Wirklichkeit durch genauso komplexe<br />
Ansätze von BGF und BGM zu begegnen.<br />
Auch wenn es so nicht ausgesprochen wurde, konnte man aus<br />
dem „Blick nach vorn“ der Referentin einen Appell zu mehr<br />
Pragmatismus und eine Warnung vor „Over-Engineering“ heraushören:<br />
Bei Evaluation und Qualitätssicherung solle man sich<br />
3<br />
auf Mindeststandards einigen. Gebraucht werden praxisnahe<br />
Werkzeuge, die die betriebliche Handlungsfähigkeit stärken, und<br />
zumindest die Praktiker sollten nicht auf immer neue Erkenntnisse<br />
der Wissenschaft hoffen. Es sei jetzt an der Zeit, die nachhaltige<br />
Umsetzung von BGF und BGM zu fördern. „Die Forschung“, so<br />
ihr Schlusswort, „ist immer langsamer als die Wirklichkeit, lassen<br />
Sie uns mit allem Wissen arbeiten.“
„Arbeitsmärkte in krisenhaften Zeiten –<br />
Chancen und Risiken für gesunde Arbeit?“<br />
Seit fast einen Vierteljahrhundert ist BGF ein Thema für die<br />
Krankenversicherungen, und naturgemäß konzentrierte man<br />
sich bei der Entwicklung von Maßnahmen wie bei Forschungsvorhaben<br />
auf die damalige Situation. Die war gekennzeichnet<br />
von vergleichsweise sicheren, auf Dauer angelegten Vollzeitarbeitsverhältnisse.<br />
Seitdem hat sich die Arbeitsmarktlage<br />
stark verändert, Teilzeit, Leiharbeit Minijobs haben enorm<br />
an Bedeutung gewonnen, und spätestens mit den Krisen der<br />
letzten zehn Jahre sind unsichere Beschäftigungsverhältnisse<br />
für immer mehr Menschen zur Normalität geworden. Sarah<br />
Mümken vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der<br />
Universität Duisburg-Essen hat bei der <strong>DNBGF</strong>-Konferenz<br />
beschrieben, was das für die betriebliche Gesundheitsförderung<br />
bedeutet.<br />
Es ist ein oft beklagtes Dilemma der Primärprävention, dass z. B.<br />
mit den Angeboten von Krankenkassen in erster Linie Personengruppen<br />
mit vergleichsweise hohem Gesundheitsbewusstsein<br />
erreicht werden. In der BGF relativiert sich dieses Problem zumindest<br />
theoretisch, weil durch das Setting Betrieb ungelernte Arbeiter<br />
genau so angesprochen werden können wie Top-Führungskräfte,<br />
Personen mit Risikoverhalten genauso wie diejenigen, die sich<br />
aktiv um ihre Gesundheit kümmern.<br />
Doch gute Praxis der BGF und des BGM, das machte Sarah Mümken<br />
auf der <strong>DNBGF</strong> Konferenz deutlich, konzentriert sich - wie<br />
auch die Forschung - auf das so genannte männliche „Normalarbeitsverhältnis“.<br />
Damit wird die große Gruppe der <strong>Beschäftigte</strong>n<br />
in unsicheren Arbeitsverhältnissen nicht erreicht, was aus zwei<br />
Gründen problematisch ist: Diese Gruppe mit sehr hohem Frauenanteil<br />
ist besonders hohen gesundheitlichen Risiken unterworfen<br />
– und sie ist in den letzten 20 Jahren ständig gewachsen, ohne<br />
dass ein Ende dieses Trends vorausgesagt werden kann.<br />
Nach den von Mümken vorgestellten Daten hat sowohl die Zahl<br />
der Teilzeitbeschäftigten wie die der Arbeitnehmer mit befristeten<br />
Verträgen zugenommen. Auch der Anteil der im Niedriglohnsektor<br />
arbeitenden Menschen ist gewachsen und tendiert langsam gegen<br />
Sarah Mümken, Institut Arbeit und Qualifikation<br />
an der Universität Duisburg/Essen<br />
4<br />
25 Prozent. In allen drei Gruppen ist die Zahl der Frauen zum Teil<br />
deutlich höher als die der Männer. Dabei wies die Referentin<br />
darauf hin, dass diese als atypische Beschäftigung bezeichneten<br />
Arbeitsverhältnisse nicht mit den „prekären“ gleichzusetzen sind,<br />
denn auch manche „Normalarbeitsverhältnisse“ wiesen prekäre<br />
Bedingungen auf.<br />
Prekarität, so Sarah Mümken, wird heute unscharf und unterschiedlich<br />
definiert. Sie selbst spricht von einer „unfreiwillig<br />
eingegangenen Unsicherheit, die nicht kompensiert wird“. Diese<br />
Unsicherheit hängt, außer an der persönlichen Lebenssituation,<br />
an verschiedenen arbeitsbezogenen Faktoren, z. B. an den materiellen<br />
Bedingungen, der (arbeits-) rechtlichen Situation, aber auch<br />
an Arbeitsqualität, Arbeitsplatzsicherheit und an der stark vom<br />
individuellen Gesundheitszustand bestimmten Beschäftigungsfähigkeit.<br />
Allerdings sei „Unsicherheit“ offenbar eine Kategorie, die nicht<br />
als Problem erkannt werde, weil es sich um ein „diffuses Gefühl“<br />
handele. Deshalb illustrierte Sarah Mümken die Folgen anhand<br />
der Daten einer Befragung von weiblichen Reinigungskräften, bei<br />
denen die meisten der genannten Indikatoren auf „Unsicherheit“<br />
stehen.<br />
Diese Frauen verdienen wenig, aber das Wenige stellt gleichwohl<br />
40 Prozent des Haushaltseinkommens; sie können ihren Lohn<br />
nicht selbständig durch Mehr- oder Minderarbeit beeinflussen;<br />
Ort und Dauer der Arbeit wechselt häufig und wird überwiegend<br />
durch die Interessen des Arbeitgebers bestimmt, weshalb es für<br />
die Betroffenen keine Planungssicherheit gibt, was natürlich die<br />
Abstimmung zwischen Beruf und Familienleben erschwert.<br />
Ihre Rechte als Arbeitnehmer kennen sie oft nicht oder verzichten<br />
darauf, sie einzufordern: Neun von zehn der befragten Frauen<br />
gehen trotz gesundheitlicher Beschwerden zu Arbeit, jede Zehnte<br />
glaubt gar, dass sie keinen Anspruch auf bezahlten Urlaub hat –<br />
und zwei Drittel werden oder fühlen sich durch Personal- oder<br />
Betriebsräte nicht bzw. schlecht vertreten. Wenig überraschend,
dass sie, wie wissenschaftlich schon im Gratifikationskrisenmodell<br />
von Prof. Siegrist für Personen mit Ungleichgewicht beschrieben,<br />
ihre Gesundheit subjektiv teils deutlich schlechter einschätzen, als<br />
die weibliche Gesamtbevölkerung.<br />
Anhand weiter Daten wies Sarah Mümken nach, dass sich (Arbeitsplatz-)<br />
Unsicherheit grundsätzlich im Gesundheitszustand niederschlägt;<br />
und zwar nicht nur bei der persönlichen Einschätzung des<br />
Gesundheitszustands, sondern auch beim Auftreten konkreter<br />
Beschwerden. Ob Herz-Kreislauf-Pprobleme, Rückenschmerzen,<br />
Verdauungsbeschwerden usw.: Alle weit verbreiteten Krankheitsbilder<br />
sind umso stärker ausgeprägt, je höher die Unsicherheit<br />
ist. Und die betrifft nicht nur den Niedriglohnsektor, sondern ist<br />
verbreitet auch bei <strong>Beschäftigte</strong>n mit befristeter Beschäftigung<br />
oder in Leiharbeitsverhältnissen.<br />
Dabei wären nach Mümkens Erkenntnissen die ersten Schritte zur<br />
Reduzierung der Unsicherheit recht einfach: Positive Effekte seien<br />
schon festzustellen, wenn Vorgesetze frühzeitig über wichtige<br />
Entwicklungen sprechen und es funktionierende Personalvertre-<br />
5<br />
tungen gibt. Deshalb ist die Verringerung der Auswirkungen von<br />
Unsicherheit nach Meinung Sarah Mümkens nur eine Herausforderung<br />
für Praxis und Forschung. Die Unsicherheit selbst müsse<br />
verringert werden, es brauche z.B. Weiterbildungsangebote, die<br />
den Zugang zu anderen Arbeitfelder erleichtern, und nicht zuletzt<br />
müssten sich Arbeitschutz und Prävention verstärkt auf Arbeitnehmer<br />
ohne die so genannte „Normalbeschäftigung“ ausrichten.<br />
Immerhin: Dass das zunehmend geschieht, wurde in verschiedenen<br />
Workshops der <strong>DNBGF</strong> Konferenz deutlich.
Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit<br />
Betrieblicher Gesundheitsförderung<br />
In Gesprächen der Konferenzteilnehmer wurde immer wieder<br />
diskutiert, ob und wie detailliert Unternehmen der finanzielle<br />
Nutzen von Betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM)<br />
vorgerechnet werden müsse. Angesichts der Prognosen zur<br />
sinkenden Zahl der Erwerbstätigen sollten Unternehmen<br />
erkannt haben, wie wichtig es ist, Menschen länger und<br />
gesund in Arbeit zu halten, sagen die einen. Aber, so das<br />
Gegenargument, immer noch entscheiden Unternehmen aufgrund<br />
betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen<br />
über Investitionen – also müssten Gesundheitsförderer auch<br />
Zahlen liefern. Die Botschaft des Workshops „Wirksamkeit<br />
und Wirtschaftlichkeit betrieblicher Gesundheitsförderung“<br />
relativiert das Problem: Zahlen zum wirtschaftlichen Ertrag<br />
können geliefert werden, und wer „wissen“ will, ob BGM<br />
das Kernleistungsversprechen „mehr Gesundheit“ erfüllt,<br />
bekommt ebenfalls wissenschaftlich haltbare Informationen.<br />
Beides ist offenbar notwendig, denn Einstellungen und Verhaltensweisen<br />
von <strong>Betriebe</strong>n ergeben kein homogenes Bild. Aber auch<br />
unter den Fachleuten, für die die größere Verbreitung von BGM ein<br />
unumstrittenes Ziel ist, gibt es unterschiedliche Positionen. Auf<br />
der einen Seite forderte z. B. Prof. Holger Rust in seinem Beitrag<br />
den Abschied von der Kultur der kennzahldominierten Formalisten,<br />
die jede Zukunft verlässlich berechnen möchten. Das kommt<br />
der Einstellung mancher Teilnehmer entgegen, die meinen, das<br />
Unternehmen BGM angesichts von Bevölkerungsentwicklung und<br />
Produktivitätszielen als alternativlos erkennen müssten. Auf der<br />
anderen Seite berichteten Praktiker auf der <strong>DNBGF</strong>-Tagung davon,<br />
dass die Frage „Was kostet das, was bringt das“ immer noch eine<br />
entscheidende Hürde darstellt.<br />
Tatsächlich, so Ina Kramer vom BKK Bundesverband in ihrem<br />
Vortrag für den Workshop mit Verweis auf Daten der Initiative<br />
Gesundheit und Arbeit (iga), ist der Preis von Gesundheitsförderung<br />
für 34 Prozent der Unternehmen eine wichtige Hürde, bei<br />
Mittelständlern von 200 bis 499 Mitarbeitern sagen das sogar 48<br />
Prozent. Doch zum Teil deutlich höher ist der Wunsch nach über-<br />
Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit sind bewiesen<br />
Daten zeigen: Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) und<br />
Prävention wirkt und erzielt betriebswirtschaftliche Effekte<br />
6<br />
tragbaren Beispielen guter Praxis und nach Informationen zum<br />
Nutzen sowie nach persönlicher Unterstützung durch Fachleute<br />
der Sozialversicherungsträger.<br />
Ein Schwerpunkt des Vortrags lag daher auf Beispielen für die<br />
Wirksamkeit von BGF bzw. zunächst auf der Erklärung, auf welcher<br />
Grundlage wissenschaftlich begründete Aussagen zur Wirksamkeit<br />
gemacht werden können. Wie Ina Kramer mit Verweis auf<br />
den iga-Report 13 verdeutlichte, geht es dabei um die Methode,<br />
das Konzept der evidenzbasierten Medizin auf BGF und BGM zu<br />
übertragen. Dabei stellt sich die Frage nach der Evidenz von Maßnahmen,<br />
d.h. dem verlässlichen Wissensstand darüber, ob durch<br />
bestimmte Maßnahmen tatsächlich die erhofften Ziele erreichbar<br />
sind. Für den iga-Report wurde der methodische Ansatz eines<br />
„Reviews von Reviews“ gewählt.<br />
Auf dieser Grundlage konnten die Autoren des Reports bei den<br />
präsentierten Beispielen mehrheitlich immerhin „begrenzte“ Evidenz<br />
für den Erfolg von Maßnahmen erkennen, bei einer Reihe<br />
von Interventionen sogar eine starke Evidenz. Bei einzelnen<br />
Maßnahmen konnte kein Effekt ermittelt werden, für manche<br />
Aussagen fehlt es auch an klaren Daten, um verlässliche Angaben<br />
machen zu können. Einige Beispiele: Klare Aussagen zitierte Ina<br />
Kramer beim Thema Raucherprävention. Dass aufgrund von Gruppenentwöhnung<br />
wie durch individuelle Beratungen die Aufhörrate<br />
sinkt und die Zahl der Raucher abnimmt, ist stark evident und kann<br />
somit als belegt gelten. Anleitungen zur Selbsthilfe mithilfe von<br />
Medien zeigten dagegen keinen Effekt. Und während Rauchverbote<br />
nachweislich zu geringerem Konsum während der Arbeitszeit<br />
und zu besserer Luftqualität führen, könne man diesbezüglich<br />
keine Aussagen hinsichtlich der Raucherprävalenz oder Aufhörrate<br />
treffen. Anreize für einen Rauchstopp führen zwar zu guten Teilnahmeraten<br />
an Programmen zur Nikotinentwöhnung, haben aber<br />
offenbar keine Auswirkung auf die tatsächlichen Aufhörraten.<br />
Durchweg überzeugend sind auch die Erkenntnisse für dauerhafte<br />
angebotene Bewegungsprogramme zur Prävention muskoskelettaler<br />
Krankheiten: Sowohl für einen Rückgang der Beschwerden
wie der Fehlzeiten und der Schmerzstärke gibt es aufgrund der<br />
Studienauswertungen starke Evidenz. Vorhanden, aber nicht ganz<br />
so überzeugend belegt sind positive Auswirkungen von Stressmanagement-Techniken<br />
auf psychische Ressourcen, stressbedingte<br />
Beschwerden und die Qualität des Arbeitslebens.<br />
Das gleiche gilt für verschiedene Methoden, um <strong>Beschäftigte</strong><br />
in Bewegung zu bringen oder für eine gesündere Ernährung zu<br />
gewinnen. Und wenn ein Betrieb verschiedene Maßnahmen<br />
kombiniert, um z. B. das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen<br />
zu verringern, kann er damit rechnen, dass nicht nur das Erkrankungsrisiko<br />
sinkt, sondern sich zugleich der allgemeine Gesundheitszustand<br />
bessert. Ähnliche Ergebnisse liefert die Auswertung<br />
von Studien zu kombinierten Programmen beim Thema Ergonomie<br />
und Partizipation: Hier werden nicht nur physische Faktoren<br />
positiv beeinflusst, auch auf die psychische Gesundheit haben<br />
Mehrkomponentenprogramme einen positiven Einfluss.<br />
Dass solche Ergebnisse auch einen messbaren ökonomischen<br />
Nutzen mit sich bringen, konnte Ina Kramer ebenfalls anhand von<br />
Reviews und insbesondere durch eine Metaanalyse belegen. Bei<br />
der Untersuchung von 56 Studien zu kombinierten Programmen<br />
mit mindestens 12monatiger Dauer habe man herausgefunden,<br />
dass sowohl die krankheitsbedingten Abwesenheitszeiten wie<br />
die Höhe der Krankheitskosten um mehr als ein Viertel gesenkt<br />
werden konnten. Das führe zu einem durchschnittlichen „Return<br />
on Investment“ (ROI) von 1:6. Bis zu zehn Euro, so Ina Kramer,<br />
7<br />
könnten – laut wissenschaftlicher Studien - für jeden in BGF investierten<br />
Euro in das Unternehmen zurück fließen.<br />
Treffen Gesundheitsförderer auf <strong>Betriebe</strong>, denen solche Durchschnittsrechnungen,<br />
die zum Teil auf Daten ganz anderer Unternehmen<br />
(andere Branchen, Größen, Märkte) beruhen, nicht genügen,<br />
können sie schon in absehbarer Zeit eine eigene, individuelle<br />
Rechnung aufmachen. Weil auch die iga-Fachleute erkannt haben,<br />
dass die bestehenden, überwiegend US-amerikanischen, Modelle<br />
für den Einsatz in Deutschland nicht geeignet sind, haben sie ein<br />
eigenes, einfaches und bedarfsgerechtes Instrument entwickelt.<br />
Mithilfe des iga-Return-on-Investment-Kalkulators kann aufgezeigt<br />
werden, inwieweit sich ein gut strukturiertes und an die Bedarfe<br />
des Unternehmens ausgerichtetes Mehrkomponentenprogramm<br />
auf die Kosten von Absentismus, Präsentismus und Krankheitsbehandlungen<br />
auswirkt. Gleichzeitig wird ein potentieller Return<br />
on Investment berechnet. Damit, so Ina Kramer, könnten auch<br />
Skeptiker überzeugt und könnte deshalb BGF spürbar stärker<br />
verbreitet werden.
Entgrenzte Arbeit, psychische Gesundheit<br />
und nachhaltige Präventionspolitik<br />
Die Zunahme psychischer Erkrankungen ist wie die meisten<br />
medizinischen Phänomene nicht monokausal zu erklären.<br />
Konsequentere Diagnostik, neue Krankheitsbilder, eine wachsende<br />
Bereitschaft der Betroffenen, sich zu ihrer Krankheit zu<br />
bekennen oder veränderte Verhältnisse im außerbetrieblichen<br />
Raum können eine Rolle spielen. Eine zentrale Rolle spielen<br />
aber eindeutig auch die Veränderungen in der Arbeitswelt.<br />
Für die <strong>DNBGF</strong> Konferenz gab Arno Georg von der Sozialforschungsstelle<br />
TU Dortmund einen Überblick dazu, wie diese<br />
Veränderungen aussehen und welche gesundheitlichen Folgen<br />
erkennbar sind.<br />
Unter dem Titel „Entgrenzte Arbeit, psychische Gesundheit und<br />
nachhaltige Präventionspolitik“ wurde zunächst skizziert, woran<br />
sich die Veränderungen festmachen: Es wird liberalisiert und dereguliert,<br />
der Wettbewerb innerhalb der Unternehmen nimmt zu, die<br />
so genannten Normalarbeitsverhältnisse verlieren an Bedeutung,<br />
für die Erbringung von Arbeit gibt es keine festen Zeiten und<br />
Orte mehr und die Mitarbeiter bzw. Funktionsbereiche sollen sich<br />
zunehmend selbst organisieren.<br />
Wie schnell und wie stark sich die Arbeitwelt verändert, machte<br />
der Vortrag mit einem Blick über die Entwicklung der Arbeitszeitformen<br />
deutlich: Das Verhältnis von Vollzeit- zu Teilzeitbeschäftigten<br />
veränderte sich von 1989 zu 2005 von 85 zu 15 auf 75 zu 25, die<br />
Zahl der <strong>Beschäftigte</strong>n mit regelmäßigem Schichtdienst stieg im<br />
gleichen Zeitraum um ein Drittel. Auch die Zahl der Wochenendarbeiter<br />
wuchs spürbar, genauso wie der Anteil der Beschäftigen,<br />
die regelmäßig Überstunden machen.<br />
Dabei, auch das wurde durch Zahlen belegt, ist diese „Mehrarbeit“<br />
längst nicht immer durch vertragliche Vereinbarungen<br />
gedeckt. Daten der BAuA für 2005 zeigen: Rund 37 Prozent der<br />
<strong>Beschäftigte</strong>n haben eine Wochenarbeitszeit von 25 bis 39,9<br />
Stunden vereinbart, aber nur 16 Prozent bewegen sich in diesem<br />
Rahmen. Dafür arbeiten gut 46 Prozent zwischen 40 und 47,9<br />
Stunden, obwohl nur 34 Prozent entsprechende Verträge haben<br />
– und bei Personen, die tatsächlich über 48 oder gar 60 Stunden<br />
arbeiten, ist die Diskrepanz noch deutlich größer.<br />
Entgrenzte Arbeit: Zahlen belegen Auswirkungen<br />
der veränderten Arbeitswelt auf die Gesundheit<br />
8<br />
Das schlägt sich offenbar in der Verteilung gesundheitlicher Belastungen<br />
nieder: Unter Nervosität leiden 24 Prozent der Menschen<br />
mit bis zu 40 Wochenstunden, bei Vielarbeitern mit 64 und mehr<br />
Stunden sind es 32 Prozent. Ähnlich sieht es aus bei Schlafstörungen<br />
(15 zu 25) und bei psychischer Erschöpfung (16 Prozent zu<br />
25 Prozent). Von hohen psychischen Belastungen berichten dann<br />
auch 28 Prozent der Arbeitnehmer mit einer 40 Stunden Woche<br />
oder weniger, 55 Prozent der bis 56 Stunden arbeitenden und 68<br />
Prozent der <strong>Beschäftigte</strong>n mit über 60 Wochenstunden.<br />
Zusätzlich belastend ist augenscheinlich, dass mit Zunahme der<br />
Wochenarbeitszeit - wenig überraschend - das Privatleben leidet<br />
und die Erholungsfähigkeit sinkt. 80 Prozent der Personen mit<br />
„normaler“ Arbeitszeit erleben ein ausgewogenes Verhältnis von<br />
Privat- und Arbeitsleben, aber nur etwas mehr als jeder Zweite<br />
mit bis zu 56 Stunden tatsächlicher Wochenarbeitszeit. Von den<br />
immerhin 24 Prozent aller Arbeitnehmer, die 60 bis 100 Stunden<br />
arbeiten berichten gerade 39 Prozent von einer guten „work-Life-<br />
Balance“, und 54 Prozent dieser Gruppe sagen, sie seien unfähig,<br />
sich zu erholen. Bei den „Normalarbeitern“ klagt darüber „nur“<br />
jeder Fünfte.<br />
Doch nicht nur die zeitliche Belastung, auch die Organisation der<br />
Arbeit ist relevant für die Gesundheit der <strong>Beschäftigte</strong>n. Das wird<br />
erkennbar, wenn man gesundheitliche Probleme von „Projektarbeitern“<br />
mit denen in „Normalarbeit“ betrachtet. Allein unter<br />
Rückenschmerzen leiden beide Gruppen gleich häufig (die „Normalen“<br />
etwas mehr), alle anderen Symptome tauchen bei Projektarbeitern<br />
um ein Vielfaches häufiger auf. Sie leiden fast dreimal so<br />
häufig unter Schlafstörungen oder Nervosität und vier- bis fünfmal<br />
so häufig unter Müdigkeit. Und diese Beschwerden betreffen<br />
keine Minderheit: Kopf- und Magenschmerzen gehören für knapp<br />
ein Drittel der Projektarbeiter zum Alltag, unter Nervosität oder<br />
Müdigkeit klagen gar 68 bis ca. 72 Prozent.
Betriebliches Gesundheitsmanagement<br />
in Großunternehmen<br />
Die ZunahmeMit der Volkswagen AG und der REWE Gruppe<br />
präsentierten zwei der größten deutschen Unternehmen ihr<br />
Gesundheitsmanagement auf der <strong>DNBGF</strong> Konferenz. Das<br />
unmissverständliche Bekenntnis beider zu Notwendigkeit<br />
und Nutzen von BGM hat hohen Referenzwert, weil die Unternehmen<br />
außer beim Faktor Größe sehr unterschiedlich sind:<br />
Eine vornehmlich gewerbliche geprägte Belegschaft hier, die<br />
Konzentration auf Dienstleistungen dort, eine Struktur mit<br />
wenigen Standorten und sehr hohen Mitarbeiterzahlen bei<br />
Volkswagen, eine sehr dezentrale Organisation mit tausenden<br />
von teils sehr unterschiedlichen Geschäftseinheiten bei<br />
REWE; und auf der einen Seite eine Arbeitswelt, bei der die<br />
Arbeitsbedingungen schon seit Jahrzehnte systematisch analysiert<br />
werden, während es vor allem im Handel trotz vieler<br />
Fortschritte noch Nachholbedarf gibt.<br />
Trotz dieser Unterschiedlichkeit wird bei der Betrachtung der beiden<br />
BGM-Konzepte deutlich: Motive und Ziele des Handelns sind<br />
bei beiden Konzernen ähnlich, auch die großen Linien in der Arbeit<br />
laufen parallel: BGM ist in beiden Unternehmen institutionalisiert,<br />
die Trennung zwischen Arbeits- und Gesundheitsschutz ist aufgehoben,<br />
alle relevanten Gruppen und Fachbereiche werden einbezogen,<br />
und der Präventionsbegriff wird umfassend umgesetzt, ob<br />
es nun um die Kombination von Verhältnis- und Verhaltensprävention<br />
geht oder um die Kompetenzerweiterung und Verantwortung<br />
von Führungskräften.<br />
Gleichwohl gehen beide ihren eigenen Weg, der ganz auf die Situation<br />
und den Bedarf des Unternehmens und seiner Mitarbeiter<br />
ausgerichtet ist. Dabei haben sie Ansätze entwickelt bzw. realisieren<br />
Maßnahmen, die auch anderen <strong>Betriebe</strong>n beim Aufbau ihres<br />
BGM als Vorbild dienen können.<br />
Beispielhaft ist unter anderem, wie die Rewe-Gruppe systematisch<br />
Handlungsfelder fürs Gesundheitsmanagement identifiziert.<br />
Aufgegriffen werden nicht Trends und Themen, die im Rahmen<br />
der Gesundheitsförderung gerade aktuell diskutiert werden.<br />
Gesundheitsmanagement in Großunternehmen:<br />
Individuell und Vorbild zugleich:<br />
Bei VW und REWE ist BGM längst Alltag<br />
9<br />
Gehandelt wird in den Bereichen, die auf Grundlage der Analyse<br />
aller dem Unternehmen zur Verfügung stehenden Informationsund<br />
Datenquellen als wichtig erkannt werden.<br />
So wertet das Gesundheitsmanagement nicht nur den Gesundheitsbericht<br />
aus, nutzt die Daten der Unfallstatistik sowie Auswertungen<br />
und Berichte von Berufsgenossenschaften und Behörden.<br />
Auch Daten des Personalcontrollings werden zur Identifizierung<br />
von Handlungsfeldern herangezogen, und konkrete Probleme an<br />
den einzelnen Arbeitsplätzen werden mithilfe einer Marktbegehungsliste<br />
erfasst und zum Thema des BGM gemacht.<br />
Besonders nützlich und arbeitserleichternd ist aus Sicht des Leiters<br />
des REWE Gesundheitsmanagements Roland Kraemer die<br />
Tatsache, dass der Konzern auf einen kassenartenübergreifenden<br />
Gesundheitsbericht zurückgreifen kann. Aufgrund der – auch bei<br />
Gesundheitsförderung nicht immer selbstverständlichen – großen<br />
Kooperationsbereitschaft der Kassen können die Daten so mit<br />
vergleichsweise geringem Aufwand erfasst, anonymisiert und<br />
aufbereitet werden.<br />
Bei der Auswertung nutzt Rewe Dienstleistungen des Team<br />
Gesundheit und der BKK Gesundheit. Der Bericht selbst wird<br />
entsprechend der Organisation der Gruppe aufgebaut, zusätzlich<br />
erhalten die strategischen Geschäftseinheiten einen individuellen<br />
Detailbericht, der mit den jeweils für Gesundheit Verantwortlichen<br />
diskutiert wird.<br />
Bei Volkswagen ist herauszuheben, wie der Konzern mit einem<br />
aufgrund der Mitarbeiterzahlen gigantischen Programm – zunächst<br />
in Deutschland – daran arbeitet, die Verhaltensprävention der<br />
Belegschaften zu fördern. Zwar sei die Zunahme der dominierenden<br />
Erkrankungen, so VW Gesundheitsmanager Dr. Uwe Brandenburg,<br />
nicht primär arbeitsabhängig, wirke sich aber natürlich<br />
auf die Arbeitsfähigkeit und damit auf Unternehmen aus.<br />
Weil diese Krankheitsentwicklung durch Prävention verhindert<br />
oder zumindest gebremst werden kann, hat Volkswagen einen
„Allgemeinen Gesundheits-Check up“ eingeführt, an dem sich<br />
alle Mitarbeiter auf freiwilliger Basis beteiligen können. Mit ihm<br />
sollen der persönliche Gesundheitszustand und die Fitness der<br />
Mitarbeiter ermittelt und Grundlagen für den Erhalt oder die Förderung<br />
beider Faktoren gelegt werden.<br />
Im Rahmen des Check up wird zudem ein detailliertes Gesundheits-<br />
und Fitnessprofil des jeweiligen Mitarbeiters erstellt. Auf<br />
dieser Grundlage werden ihm dann Handlungsempfehlungen<br />
gegeben und unterstützende Angebote gemacht .Der Check up<br />
ist nicht nur systematisiert und konzernweit standardisiert, er wird<br />
auch regelmäßig angeboten: Unter 45 jährige können sich alle fünf<br />
Jahre durchchecken lassen, die Älteren alle drei Jahre.<br />
Vorbildlich – und unter dem Gesichtspunkt der demografischen<br />
Entwicklung besonders wichtig – erscheint auch das Integrationsmanagement<br />
des Konzerns. Beteiligt sind hier die Vorgesetzen,<br />
der Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung, die Sozialabteilung<br />
und die Personalplanung, aber auch die zuständige Kran-<br />
10<br />
kenkasse wird einbezogen. Ziel: Unter Nutzung der Expertise und<br />
Ressourcen aller Beteiligten und medizinischen Befunde werden<br />
vom federführenden Werksarzt individuelle Rehabilitationspläne<br />
entwickelt.<br />
Die können zur zügigen Wiederaufnahme der bisherigen Arbeit<br />
führen, aber auch zur stufenweisen Wiedereingliederung, zur<br />
Umsetzung des Mitarbeiters oder zur Einleitung zusätzlicher<br />
Therapien – und letztlich auch zur Verrentung. Wichtig dabei ist<br />
vor allem, dass jeder Mitarbeiter tatsächlich entsprechend seines<br />
Gesundheitszustands mit allen verfügbaren Werkzeugen betreut<br />
wird, um die Beschäftigungsfähigkeit soweit eben möglich wieder<br />
herzustellen.
Restrukturierungsprozesse in öffentlichen<br />
Verwaltungen und Betriebliches<br />
Gesundheitsmanagement<br />
In Zeiten ständiger Veränderungen kann sich betriebliches<br />
Gesundheitsmanagement nicht darauf beschränken, bestehende<br />
Organisationen zu gesunden Unternehmen zu machen.<br />
Weil wettbewerbsorientierte Organisationen heute einem<br />
stetigen Veränderungsdruck ausgesetzt sind – dessen Folgen<br />
vom „sich neu Erfinden“ bis zum Verschwinden vom Markt<br />
reichen –, sind Vorbereitung, Begleitung und Mitsteuerung<br />
der Veränderungen eine Aufgabe von wachsender Bedeutung.<br />
Dass der Umbau von Organisationen heute eine ökonomische<br />
Selbstverständlichkeit ist, beschrieb Prof. Dr. Karl Kuhn in<br />
seinem Vortrag „Restrukturierungsprozesse in öffentlichen<br />
Verwaltungen und Betriebliches Gesundheitsmanagement“.<br />
Dazu führte er den Teilnehmern vor Augen, welche Folgen<br />
sich aus Restrukturierungen ergeben, und erläuterte, welche<br />
Interventionen Unternehmen und Gesundheitsförderern möglich<br />
sind.<br />
Zunächst dokumentierte Prof. Kuhn, dass Restrukturierungsmaßnahmen<br />
längst ein internationales und branchen- wie betriebsgrößenübergreifendes<br />
Phänomen sind - und dass sie fast immer mit<br />
Arbeitsplatzverlusten verbunden sind. Anlass ist dabei offenbar<br />
nur in den wenigsten Fällen die Schließung eines Unternehmens,<br />
fast 90 Prozent der Arbeitsplatzverluste sind die Folgen interner<br />
Restrukturierungsmaßnahmen oder von Fusionen.<br />
Deshalb überrascht es nicht, wenn, wie Prof. Kuhn konstatiert,<br />
Restrukturierungen in der Regel als Krise wahrgenommen werden,<br />
„bei der sowohl die momentanen Arbeitsbedingungen als auch die<br />
Beschäftigung selbst auf dem Spiel stehen“. Die Konsequenz<br />
daraus: Die Unsicherheit auf allen Ebenen der Organisation nimmt<br />
zu und viele Beteiligte sehen sich in einer Art „sozialem Krieg“,<br />
in dem sie dann eine Vielzahl von „Waffen“ bzw. Strategien einsetzen.<br />
Kuhn nannte beispielhaft unter anderem die Bildung von<br />
Machtbündnissen, das Ausarbeiten bestimmter Taktiken, das Finden<br />
von Sündenböcken, betrügerisches Verhalten, die Verbreitung<br />
falscher Informationen usw. Unsicherheit, kombiniert mit solchen<br />
Methoden, führt deshalb nahezu zwangsläufig dazu, dass organi-<br />
11<br />
satorischer Wandel immer ein Stressfaktor ist – und zwar nicht nur<br />
für die entlassenen oder von Entlassung bedrohten Mitarbeiter.<br />
Als eine Ursache für den Stress durch Veränderungsprozesse<br />
identifiziert Prof. Kuhn den Faktor „Angst“. Damit gemeint ist<br />
nicht nur die konkrete Angst, z. B. vor dem Verlust des Arbeitsplatzes,<br />
sondern eine generelle Angst vor Veränderungen. Denn<br />
auch die Zuweisung einer neuen Aufgabe, die Veränderung des<br />
sozialen Status im Betrieb oder auch nur die Versetzung in eine<br />
andere Abteilung mit unbekannten Kollegen bedeutet Verlust von<br />
Bekanntem und zumindest scheinbar Bewährtem – und löst damit<br />
Unsicherheit aus. Und zwar umso mehr, je überraschender man<br />
mit der Perspektive „Veränderung“ konfrontiert wird und je weniger<br />
Notwendigkeit, Sinnhaftigkeit und vor allem Gerechtigkeit des<br />
Prozesses kommuniziert werden.<br />
Da aber Arbeitsplatzunsicherheit empirisch nachweisbar ähnliche<br />
Folgen hat wie Arbeitslosigkeit – laut Kuhn unter anderem negative<br />
Auswirkungen auf Gesundheit, Wohlbefinden und Arbeitszufriedenheit,<br />
Gefahr eines Burnout oder Misstrauen gegenüber<br />
der Organisation -, weil dadurch die subjektive Zukunft unvorhersehbar<br />
und unkontrollierbar wird, wird Gesundheitsmanagement<br />
zu einem unverzichtbaren Element jedes langfristig denkenden<br />
Arbeitgebers. Und weil Restrukturierung de facto ein Dauerzustand<br />
in einer wettbewerbsorientierten Weltwirtschaft ist, ist die<br />
Verhinderung, zumindest aber der Abbau von Unsicherheiten ein<br />
zentrales Ziel von BGM.<br />
Dem Vortrag von Prof. Kuhn kann man entnehmen, dass der<br />
Weg dorthin durch zwei sich ergänzende Strategien vorgegeben<br />
wird: Auf der einen Seite geht es darum, die Betroffenen in die<br />
Gestaltung des Veränderungsprozesses einzubeziehen. Denn<br />
subjektiv erfahrene Gerechtigkeit, so Kuhn, erhöht die Akzeptanz<br />
für die Prozesse und erleichtert die Bewältigung der Veränderungen.<br />
Gerechtigkeit erleben die Menschen, wenn z. B. die<br />
Auswahlkriterien bei Entlassungen als gerechtfertigt gesehen<br />
werden und wenn die geplanten Maßnahmen nachvollziehbar
sind und der gesamte Prozess durch früh ansetzende, offene und<br />
„gerechte“ Kommunikation begleitet wird. Im Idealfall wird dann<br />
das Ziel erreicht, das die Bundesregierung in einem Leitfaden des<br />
Bundesinnenministeriums definiert hat, dass nämlich „die Betroffenen<br />
die Veränderungen wollen, richtig finden, gerne umsetzen<br />
und auch gut können.“<br />
Deshalb sei es notwendig, einen „sozialen Geleitschutz“ zu<br />
entwickeln, der aber nicht nur ein Standardangebot der Beratung<br />
für Umbruchsituationen, nachhaltige Strategien zum Thema<br />
„Beschäftigungsfähigkeit“, mehr Qualität und Qualitätskontrolle<br />
bei Beratungen und Interventionen sichert. Ein Schlüsselelement<br />
ist auch die „Ausdehnung von Unternehmensverantwortung jenseits<br />
der aktuellen Beschäftigung“, wie es Prof. Kuhn formuliert.<br />
Diese breiter definierte Unternehmensverantwortung mündet<br />
idealerweise in die zweite Strategie zur Verringerung von Unsicherheit:<br />
Die Gründe für die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes<br />
oder auch vor neuen Aufgaben an anderer Stelle durch<br />
konkrete Angebote zu bekämpfen. Dazu gehört es, „überflüssigen“<br />
Mitarbeitern direkt eine neue Beschäftigung zu vermitteln<br />
oder ihnen durch individuell zugeschnittene Fortbildungen und<br />
neue bzw. zusätzliche Qualifikationen neue berufliche Perspektiven<br />
zu eröffnen, die dann am besten ein Beschäftigungsangebot<br />
enthalten.<br />
Als Beispiel aus der Praxis nannte Karl Kuhn die Umsetzung des<br />
Beschäftigungsbündnisses bei der Deutschen Bahn, mit dem<br />
seit fast 15 Jahren die weitreichenden Änderungen des Konzerns<br />
(nicht nur) im Interesse der Mitarbeiter begleitet werden – und<br />
das offenbar funktioniert, weil es einen internen Arbeitsmarkt,<br />
eine Institution zu Weiter- oder Neuqualifizierung und gezieltes<br />
Insourcing miteinander kombiniert.<br />
Laut Prof. Kuhn konnten z. B. 2008 75 Prozent der Bahnmitarbeiter,<br />
deren Arbeitsplatz wegfiel direkt in andere Stellen des Konzerns<br />
vermittelt werden. Die restlichen 25 Prozent wurden bei um<br />
12<br />
15 – 20 Prozent verringertem Einkommen vom DB JobService so<br />
fit gemacht für neue Aufgaben, dass ca. zwei Drittel dieser Gruppe<br />
anschließend weiter im Konzern beschäftigt werden konnten.<br />
Was aber nur möglich ist, weil die Deutsche Bahn über ein eigenes<br />
„Zeitarbeit-Unternehmen“ verfügt, das mit Aufgaben betraut<br />
wird, die ansonsten an externe Anbieter „outgesourct“ würden<br />
oder schon „outgesourct“ worden waren.<br />
Für Konzerne mit sechsstelligen Mitarbeiterzahlen kann das Vorgehen<br />
der DB ein interessantes Modell sein. Mittelständler und<br />
kleinere Unternehmen dürften dagegen nur selten so große Dispositionsmöglichkeiten<br />
haben. Ob das durch regionale oder branchenbezogene<br />
Netzwerke zu kompensieren ist, wäre zweifellos<br />
einen Versuch wert. Einfach nichts zu tun oder sich in Einzelmaßnahmen<br />
zu verlieren, wäre jedenfalls die schlechtere Alternative,<br />
gerade auch aus ökonomischer Sicht.<br />
Denn wenn Restrukturierungen scheitern oder große Probleme<br />
erzeugen, wie es ja gerade bei Fusionen häufig zu erleben war,<br />
liegt das selten an einer falschen unternehmerischen Strategie.<br />
Ein entscheidender Fehler der Manager liege darin, so Kuhn, dass<br />
sie die Bedeutung von Menschen nicht verstehen und auch nicht<br />
verstehen, dass Menschen unterschiedlich auf Wandel reagieren.<br />
Denn „nicht die Strategie, sondern die menschliche Dimension<br />
war für 60-75 % der Fehler bei allen Restrukturierungen verantwortlich.“
Mehr Gesundheit wagen: Betriebliche Gesundheitsförderung<br />
in Einrichtungen des Gesundheitswesens<br />
Das Krankenhauswesen ist vielleicht mehr noch als andere<br />
Versorgungsbereiche eine Dauerbaustelle des Gesundheitssystems.<br />
Dabei bewegt es sich im Spannungsfeld des Strebens<br />
nach immer besserer Versorgungsqualität und seiner Rolle<br />
als Kostenfaktor, der bei Reformbemühungen meist in Mittelpunkt<br />
steht. Den Preis dafür zahlen nicht zuletzt die Mitarbeiter:<br />
Das Gesundheitswesen weist regelmäßig den höchsten<br />
Krankenstand auf, und auf die Belegschaften von Kliniken<br />
und Pflegeeinrichtungen entfallen dabei die „Spitzenwerte“.<br />
Im Workshop “Mehr Gesundheit wagen“ erfuhren die Konferenzteilnehmer,<br />
wie dem durch BGM entgegengewirkt<br />
werden kann. Zudem erfuhren sie, dass Kliniken durchaus<br />
auf gängige Leistungen – und damit Umsätze – verzichten,<br />
wenn sie medizinisch nicht notwendig sind, wie das Projekt<br />
„Natürliche Geburt im Krankenhaus“ des Universitätsklinikums<br />
Bonn zeigt.<br />
Dass Engagement für betriebliches Gesundheitsmanagement in<br />
Krankenhäusern erfolgreich sein kann, hat zuletzt eine repräsentative<br />
Krankenhausbefragung zum Thema „Gesundheitsförderung<br />
und Qualitätsmanagement im Krankenhaus“ nachgewiesen. In<br />
der vom Deutschen Krankenhausinstitut (DKI), den Universitäten<br />
Hamburg und Düsseldorf und der Hans Böckler Stiftung durchgeführten<br />
Studie schnitten die Mitglieder im Deutschen Netz<br />
Gesundheitsfördernder Krankenhäuser in fast allen Befragungsbereichen<br />
besser ab als der Durchschnitt der Kliniken.<br />
Wie das zu erreichen ist, erläuterte Dr. Karsten Thren von der Klinik<br />
Niedersachsen in Bad Nenndorf auf der <strong>DNBGF</strong>-Konferenz. Wichtigste<br />
Erkenntnis: Bei Zielen und Grundlagen unterscheidet sich<br />
BGM im Krankenhaus nicht von den Konzepten anderer Branchen.<br />
Es geht um die Verbindung von Verhaltens- und Verhältnisprävention<br />
und um die Integration des BGM in die vorhandenen Strukturen.<br />
Außerdem, das wird angesichts der Präsentation des Bad Nenndorfer<br />
Beispiels klar, sind laufende Information und Einbindung der Mitarbeiter<br />
aller Bereiche der Krankenhäuser eine notwendige Voraussetzung<br />
für den Erfolg. Die Mitarbeiter spielen auf allen sieben von<br />
BGM in Krankenhäusern: Methoden und Instrumente<br />
des BGM funktionieren auch in Kliniken<br />
13<br />
Dr. Thren vorgestellten Stufen auf dem Weg zum funktionierenden<br />
BGM eine nennenswerte und meist aktive Rolle.<br />
Dass BGM im Hochleistungsbetrieb Krankenhaus noch weniger<br />
als in anderen Branchen nach dem Motto „Beschlossen, verkündet<br />
und vollzogen“ realisiert werden kann, macht ein Blick auf die<br />
Zeitachse des Projekts deutlich: Die ersten Überlegungen fanden<br />
im September 2007 statt; bis zur Erarbeitung von „abteilungsbezogenen<br />
Optimierungspotenzialen“ auf Grundlage der Evaluation<br />
einer Erprobungsphase vergingen über zweieinhalb Jahre. Die<br />
haben sich allerdings schon gelohnt, wie der Referent am Beispiel<br />
des besonders belasteten Pflegedienstes beschrieb.<br />
Bei der Auswertung einer Mitarbeiterbefragung sowie der vorhandenen<br />
Kennzahlen hatte sich herausgestellt, dass die Belastungen<br />
hier durch hohen Zeitdruck, ungeplante Patientenkontakte und<br />
Fehler bei der Übertragung von Informationen sowie seitens des<br />
externen Labors verursacht wurden. Die Konsequenz: Auch bei<br />
der auf den Stationen geleistete Arbeit war die Fehlerhäufigkeit<br />
hoch, die Zufriedenheit von Mitarbeitern und Patienten nur mäßig<br />
– und die Personalplanung litt unter hoher Fluktuation und hohen<br />
Fehlzeiten.<br />
Mit wenigen und nicht sehr aufwändigen Maßnahmen – Planung<br />
von Patientenkontakten soweit wie möglich, Wechsel des<br />
Laboranbieters, besseres Patientenmanagement und veränderter<br />
Medikationspläne – wurde einiges erreicht: Die Zahl ungeplanter<br />
Patientenkontakte wie die Wartezeiten der Patienten wurde<br />
reduziert, die Prozesse verlaufen nun gleichmäßiger, die Zahl vermeidbarer<br />
Fehler sank und vor allem stieg die Zufriedenheit von<br />
Mitarbeitern und Patienten.<br />
Angesichts dieser Ergebnisse ist es Ziel in der Klinik Niedersachen,<br />
einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess für das BGM zu etablieren.<br />
Eine Reihe von Maßnahmen zur Steigerung der Mitarbeiterqualifizierung<br />
und Mitarbeiterzufriedenheit ist für den Rest des<br />
Jahres 2010 dann auch schon geplant.
Eine Sonderstellung im Rahmen der <strong>DNBGF</strong>-Konferenz nahm das<br />
ebenfalls im Workshop vorgestellte Projekt des Bonner Universitätsklinikums<br />
ein, das auf die Einrichtung eines „Versorgungskonzepts<br />
Hebammenkreißsaal“ zielte. Hierbei handelt es sich also<br />
nicht um eine typische BGF- oder BGM Maßnahme. Eher könnte<br />
man vom systematischen Abbau einer über Jahre gewachsenen<br />
Überversorgung sprechen, durch die das natürliche Gesundheitsbewusstsein<br />
von ansonsten als Patientinnen behandelten Müttern<br />
gefördert wird.<br />
Das führt natürlich auch zu veränderten Prozessen und Anforderungen<br />
an die Belegschaft und ermöglicht gesunden Schwangeren<br />
eine natürliche Geburt, was wiederum nach den Ausführungen<br />
von Andreas Kocks, Krankenpfleger und Pflegewissenschaftler,<br />
die Zufriedenheit der „Patientinnen“ erhöht. Immerhin werden in<br />
Deutschland mittlerweile 97 Prozent aller Kinder im Krankenhaus<br />
geboren, 90 Prozent der Frauen erhalten während der Geburt<br />
medizinische Interventionen, fast jede dritte Frau bringt ihr Kind<br />
per Kaiserschnitt auf die Welt – ein erheblicher Eingriff, der längst<br />
nicht immer medizinisch indiziert ist.<br />
14<br />
Die Philosophie des neuen Versorgungskonzepts beruht dann<br />
auch auf der Erkenntnis: „Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett<br />
und die Zeit danach sind primär natürliche Lebensvorgänge.“ Und<br />
für die Begleitung vor, während und nach der Geburt sind die Hebammen<br />
augenscheinlich die besten „Versorgerinnen“, zumindest<br />
wenn es sich nicht um Risikoschwangerschaften handelt.<br />
Darin liegt übrigens auch ein Aspekt betrieblicher Gesundheitsförderung:<br />
Denn für die Hebammen, die durch die Medizinisierung<br />
von Geburten oft in eine nachrangige Rolle gedrängt werden,<br />
bringt das die „eigenverantwortliche Organisation und selbständige<br />
Tätigkeit“. Weil zudem mit dem Neuen Versorgungsaspekt<br />
auch die neuen Prozesse unter Gesundheits- und Belastungsaspekten<br />
geplant werden können, kommen sozusagen nebenbei<br />
Erkenntnisse der betrieblichen Gesundheitsförderung zum Tragen.
Älter werden im Betrieb –<br />
Ein Beispiel guter Praxis<br />
Für viele Arbeitgeber ist die demografische Entwicklung bislang<br />
noch ein theoretisches Problem. Doch an vielen Stellen<br />
hat der Wettbewerb Talente und Fachkräfte schon begonnen.<br />
Neben Großunternehmen, die um Führungskräfte und<br />
-nachwuchs werben nehmen daran auch hoch spezialisierte<br />
mittelständische Unternehmen mit eher kleinen Belegschaften<br />
teil. Auch hier geht es um „Nachwuchs“, vor allem aber haben<br />
sie erkannt, wie problematisch es sein kann, wenn langjährige<br />
Mitarbeiter das Unternehmen aus gesundheitlichen Gründen<br />
frühzeitig verlassen – und damit Wissen und Kompetenz verloren<br />
gehen. Im Workshop „ Älter werden im Betrieb – Ein<br />
Beispiel guter Praxis“ wurden Theorie und Praxis des betrieblichen<br />
Gesundheitsmanagements angesichts der demografischen<br />
Entwicklung vorgestellt.<br />
Eine Analyse der Situation und daraus abgeleitete Handlungsoptionen<br />
waren das Thema von Dr. Michael Drupp vom AOK Institut<br />
für Gesundheitsconsulting. In seiner Bestandaufnahme verwies er<br />
einerseits auf positive Entwicklungen: Gesund älter werden und<br />
Demografie sind mittlerweile Trendthemen, die in Fachveranstaltungen<br />
und Netzwerken behandelt werden, zu denen es Beispiele<br />
guter Praxis gibt und die von renommierte Großunternehmen auf<br />
die Agenda genommen wurden. Andererseits identifizierte er verschiedene<br />
„Defizitbereiche“, zu denen beispielsweise der Trend<br />
zu Einzelmaßnahmen gehört, aber die mangelnde Evaluation von<br />
Projekten, die schwache Verbreitung im KMU- Bereich oder unzureichende<br />
Zusammenarbeit der beteiligten Träger.<br />
Anhand von AOK Daten belegte Dr. Drupp, dass die Zahl der<br />
Arbeitsunfähigkeiten bei den meisten verbreiteten Krankheitsarten<br />
sowie in den meisten Berufsgruppen ab Mitte des 20. Lebensjahre<br />
bis zum Rentenalter kontinuierlich steigt. Trotzdem stellt für ihn<br />
nicht nur die wachsende Zahl der Älteren ein Problem für die Unternehmen<br />
dar, sondern auch die sinkende Zahl der Jüngeren. Denn<br />
das führe zu Rekrutierungs- und Betriebsbindungsproblemen und<br />
damit zu einem „war for talents“, also zum harten Wettbewerb um<br />
Talente. Umso wichtiger wird die Aufgabe des Gesundheitsmanagements,<br />
die Älteren länger und gesund in den <strong>Betriebe</strong>n zu halten.<br />
15<br />
Betriebliches Demografiemanagement<br />
funktioniert in Theorie und Praxis<br />
Um das zu erreichen, sollte auf zwei Ebenen gehandelt werden: Auf<br />
der einen Seite durch neue bzw. veränderte Ansätze bei der Konzeption<br />
von Maßnahmen und Projekten, auf der anderen Seite bei<br />
den organisatorischen Rahmenbedingungen. Wichtig, auch unter<br />
Kosten-/Nutzenaspekten, sei die „Vorrangigkeit der Primär- und der<br />
Sekundärprävention vor der Tertiärprävention“; dieses „je früher<br />
desto besser“ gilt schließlich für alle Aktivitäten von Gesundheitsförderung<br />
und Prävention.<br />
Zudem sollte man bei der Arbeit mit und für die Älteren weniger auf<br />
deren Schwächen, als auf ihre Stärken schauen, Dr. Drupp nennt<br />
dass „vom Defizitansatz zum Potenzialansatz“ zu wechseln. Denn<br />
zweifellos nähmen manche Fähigkeiten mit dem Alter ab, aber<br />
Intelligenz, Kreativität, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit<br />
u.a. änderten sich nur unwesentlich. Bei Faktoren wie z. B. betriebsspezifischem<br />
Wissen, Betriebstreue, Urteilsfähigkeit und Qualitätsbewusstsein<br />
seien mit zunehmendem Alter sogar Verbesserungen<br />
festzustellen.<br />
Im Hinblick auf organisatorische Änderungen riet der Referent<br />
dazu, das Themenfeld Gesundheit und Altern systematisch in alle<br />
Managementprozesse einzubeziehen und auch das Eingliederungsmanagement<br />
weiter zu professionalisieren. Und weil insbesondere<br />
KMU auf „einfache und kostengünstige“ Lösungen angewiesen<br />
sind, gelte es hier, die schon existierenden Netzwerke und intermediären<br />
Strukturen weiter auszubauen.<br />
Wie sinnvoll das ist, erfuhren die Teilnehmer des Workshops durch<br />
die Präsentation von Thomas Spersveslage von der Wurst-Stahlbau<br />
GmbH im niedersächsischen Bersenbrück. Es handelt sich um<br />
einen Familienbetrieb mit rund 170 Mitarbeitern, dessen außergewöhnliche<br />
Qualitätsphilosophie ihm z. B. Aufträge bei der Errichtung<br />
der deutschen Antarktisstation oder dem Umbau des Bremer<br />
Weserstadions einbrachte.<br />
Schon 2005 wurde bei Wurst mit dem Aufbau von BGM begonnen,<br />
wobei der Mittelständler von der Zusammenarbeit mit dem<br />
INQUA-Kompetenznetzwerk profitierte. Ein sinnvoller wie letztlich
notwendiger Schritt, denn so mussten die Niedersachsen das Rad<br />
nicht neu erfinden, wenn es um Aufgaben wie Führung und Kommunikation,<br />
Benchmarking, Nachhaltigkeit und natürlich Demographie<br />
50+ ging.<br />
Die vielfältigen, auf Basis von Mitarbeiterbefragungen realisierten –<br />
und überwiegend recht einfachen - Maßnahmen schlagen sich bei<br />
Wurst messbar nieder: Krankenstand und Krankenkosten sanken<br />
genauso wie die Zahl der Arbeitsunfälle, vor allem wurde die Mitarbeitermotivation<br />
erhöht und führte zu höherer Produktivität. Einfach<br />
klingen auch die Maßnahmen, über die aus der Alterstruktur der<br />
Belegschaft das Beste für Unternehmen und Mitarbeiter herausgeholt<br />
werden soll.<br />
So lernen in altergemischten Teams alt und jung voneinander, ein<br />
systematisches Fortbildungsmanagement erleichtert das lebenslange<br />
Lernen und erlaubt Mitarbeitern jeden Alters, sich weiter zu<br />
entwickeln. Durch die Anschaffung technischer Hilfsmittel werden<br />
Belastungen verringert, die gerade den Älteren zu schaffen<br />
machen.<br />
16<br />
Tatsächlich unterstreicht das Beispiel aus Bersenbrück die von Dr.<br />
Drupp vorgestellten Erkenntnisse: Viele für den Betrieb wichtigen<br />
Fähigkeiten und Eigenschaften wie soziale und kommunikative<br />
Kompetenzen, Problemlösungsfähigkeiten, Sorgfalt u.a. nehmen<br />
mit dem Alter zu. Nur in einem Punkt fallen die Mitarbeiter von<br />
Wurst aus dem von Dr. Drupp skizzierten Muster: Sie sind nicht<br />
öfter krank, als ihre jüngeren Kollegen. Was den Schluss erlaubt,<br />
dass nicht Arbeit im Alter krank macht, sondern das Fehlen von<br />
alter(n)sgerechten Arbeitsbedingungen.
Beschäftigungsfähigkeit von (Langzeit-)<br />
Arbeitslosen. Ergebnisse einer internationalen Studie<br />
Dass Langzeitarbeitslosigkeit mit einem wachsenden Erkrankungsrisiko<br />
einhergeht, ist gut dokumentiert und erschwert<br />
naturgemäß die Vermittlung. Im Workshop Beschäftigungsfähigkeit<br />
von (Langzeit-) Arbeitslosen gab die Diplom-Psychologin<br />
Barbara Gawlik-Chmiel vom Werkstatt Frankfurt e.V. in<br />
Frankfurt am Main Einblick in die Ergebnisse einer internationalen<br />
Studie, die auf ein zusätzliches Problem hindeuten.<br />
Offenbar verlieren Menschen mit zunehmender Dauer der<br />
Arbeitslosigkeit auch den Glauben an ihre Arbeitsfähigkeit<br />
bzw. ihre tatsächliche Arbeitsfähigkeit.<br />
In der Studie von Barbara Gawlik-Chmiel wurde untersucht, wie<br />
dieser Personenkreis seine Arbeitsfähigkeit subjektiv bewertet. Als<br />
Instrument dafür wurde der Work Ability Score verwendet, mit dem<br />
das Verhältnis der gegenwärtigen Arbeitsfähigkeit mit der bestmöglichen<br />
bestimmt wird. Die Selbsteinschätzung von Langzeitarbeitslosen<br />
zeigt danach, dass sie ihre aktuelle Beschäftigungsfähigkeit<br />
(Employability) im Vergleich zur besten je erreichten Arbeitsfähigkeit<br />
mit wachsender Dauer der Arbeitslosigkeit niedriger bewerten.<br />
Da die Studie erst in diesem Herbst in einer wissenschaftlichen<br />
Publikation veröffentlicht wird, konnten Detailergebnisse an dieser<br />
Stelle nicht präsentiert werden. Immerhin: Das Abstract zeigt, dass<br />
es sich um kein spezifisch deutsches Problem handelt. Denn die<br />
Wer keine Arbeit hat,<br />
verliert den Glauben an seine Arbeitsfähigkeit<br />
17<br />
Schlussfolgerung, „dass sich die Verweildauer in der Langzeitarbeitslosigkeit<br />
auf das Erleben der Arbeitsfähigkeit negativ auswirken<br />
wird“, basiert auf der Befragung von insgesamt 644 Personen aus<br />
Frankfurt am Main, Warschau und Graz.<br />
Befragt wurden Personen, die sich „in temporären sozialen Beschäftigungsformen<br />
oder in gesundheitsfördernden bzw. arbeitsmarktintegrativen<br />
Kompetenzaufbauenden Maßnahmen“ befanden und<br />
durch die alle relevanten Subgruppen (nach Geschlecht, Alter, Dauer<br />
der Arbeitslosigkeit, gesundheitlichen Beeinträchtigungen und<br />
Lebensräumen) vertreten waren.
Arbeiten wie verrückt:<br />
Psychische Gesundheit in KMU<br />
Das Thema psychische Gesundheit am Arbeitplatz ist für<br />
die BGF – und erst recht in der öffentlichen Diskussion –<br />
noch relativ neu. Trotzdem könnten Außenstehende durch<br />
die Berichterstattung den Eindruck gewinnen, als sei das<br />
Problem wenn nicht das einzige, so doch das wichtigste<br />
der BGF; zugleich tun eifrige Dienstleister so, als wäre es<br />
längst erfasst und könne mit bekannten Instrumenten und<br />
Methoden bekämpft werden. Beide Positionen sind aus<br />
Sicht von Dr. Peter Bärenz von der Berufsgenossenschaft<br />
Nahrungsmittel und Gaststätten (BGN)<br />
problematisch, wie er in seinem Vortrag „Arbeiten wie verrückt<br />
– Psychische Gesundheit in KMU“ erläuterte. Weder<br />
sei es richtig, BGF zu sehr auf „psychische Gesundheit“ zu<br />
konzentrieren, noch könne man Ergebnisse der Ursachenforschung<br />
und erfolgreiche Ansätze aus Großunternehmen<br />
auf kleine und mittelständische <strong>Betriebe</strong> übertragen.<br />
Wer die psychische Gesundheit im Betrieb zum Thema machen<br />
wolle, so seine Eingangsthese, dürfe nicht nur die Folgen<br />
arbeitsbedingten Stresses betrachten. Man müsse auch im Blick<br />
behalten, inwieweit psychische Störungen von Mitarbeitern die<br />
Ausgangssituation bestimmen. Und man dürfe nicht allein die<br />
psychische Situation als Indikator nehmen, es ist, so Bärenz,<br />
„auch die somatische Komorbidität zu beachten“ und bei Diagnosen<br />
und Interventionen zu berücksichtigen.<br />
Zugleich kritisierte Dr. Bärenz die Tendenz, aus allgemeinen<br />
epidemiologischen Daten auf Handlungsfelder der BGF zu<br />
schließen. Sein Urteil ist eindeutig: „Die Großepidemiologie<br />
ist für eine Beurteilung des betrieblichen Problems nicht zu<br />
gebrauchen.“ Er stellt zwar nicht in frage, dass psychische<br />
Probleme vermehrt wahrgenommen oder als behandlungsbedürftig<br />
eingestuft werden. Doch bezweifelt Peter Bärenz, dass<br />
es sich dabei um eine tatsächliche Zunahme der Fälle handelt.<br />
Vielmehr vermutet er, dass die Menschen heute vermehrt<br />
zu ihren psychischen Problemen stehen, z. B., weil die Stigmatisierung<br />
nachgelassen hat; oder dass heute Probleme als<br />
behandlungsbedürftig gesehen werden, die früher womöglich<br />
als Stimmungs- oder Befindlichkeitsstörungen abgetan wurden<br />
(auch weil neue Krankheitsbilder definiert wurden).<br />
Anhand einer Studie der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel<br />
und Gaststätten belegte er außerdem, dass es bei psychischen<br />
Belastungen, anders als bei physischen, keine zwangsläufigen<br />
Kausalitäten gibt. Beispiele aus Gastronomie und Hotellerie<br />
zeigen, dass selbst dauerhaft hoher zeitlicher Arbeitsaufwand<br />
mit zu kurzen Ruhephasen und privatlebenfeindlichen Arbeitszeiten<br />
eben nicht alle Menschen krank machen. Offenbar, so<br />
Dr. Bärenz, spielen die individuelle „Ausstattung“, persönliche<br />
Bewältigungsmechanismen und individuelle Ressourcen eine<br />
wichtige Rolle.<br />
Die Studie ergab beispielsweise, dass die Mitarbeiter von<br />
kleineren gastronomischen <strong>Betriebe</strong>n (10 oder weniger Mitarbeiter)<br />
immerhin durchschnittlich 66 Stunden die Woche arbeiten,<br />
60 Prozent davon sogar ohne Ruhetag. Aber: Die meisten<br />
Befragten fühlen sich dabei recht gesund. Sie bewerteten ihren<br />
Gesundheitszustand im Durchschnitt mit der Note 2,1 auf einer<br />
fünfstufigen Skala. Auch die Arbeitsfähigkeit scheint unter der<br />
hohen Belastung nicht zu leiden, 75 Prozent der Befragten ordnen<br />
sie auf einer 10-stufigen Skala höher als 7 ein.<br />
Deshalb, so erläutert Dr. Bärenz, helfe es KMU wenig, Konzepte<br />
aus Großbetrieben zu übertragen, mit denen spezifische und<br />
in großen Organisationen zweifellos immer vorhandene Probleme<br />
angegangen werden sollen. BGF in KMU sollte sich an<br />
der tatsächlichen Gesundheitssituation möglichst der einzelnen<br />
Mitarbeiter orientieren bzw. die Folgen bestimmter betrieblicher<br />
Bedingungen oder Veränderungen aufgreifen. Deshalb sei es<br />
notwendig, ihnen variable und vor allem einfach zu nutzende<br />
Instrumente und Materialien zur Verfügung zu stellen.<br />
Unter anderem sieht er Bedarf für einen wirklich einfachen<br />
Selbstcheck oder für ein Stufenmodell, das Diagnosen und Interventionen<br />
unterschiedlicher Komplexität erlaubt. Bei Information<br />
und Aufklärung der Unternehmen gehe es weniger um fachlich<br />
18<br />
BGF in KMU darf sich nicht nur<br />
auf Stressfolgen konzentrieren
schlüssige Papiere als um Verständlichkeit – und um eine Form der<br />
Darstellung, die nicht nur nackte Fakten präsentiert, sondern die<br />
„emotionale Erfahrung“ der Adressaten berücksichtigt.<br />
Für Peter Bärenz macht das deutlich: „Der Zugang zu den <strong>Betriebe</strong>n<br />
muss diskutiert werden.“ Denn was für Großbetriebe oder aktive<br />
große Mittelständler eine rational nachvollziehbare unternehmerische<br />
Aufgabe ist, ist für KMU oft eine ganz neue Welt, die auf den<br />
ersten Blick gar nicht mit ihren eigentlichen Aufgaben zu tun hat.<br />
Sie sehen den Aufwand, die Kosten und fürchten womöglich die<br />
Fremdsteuerung durch externe Experten. Was sie brauchen, sind<br />
konkrete Lösungen für konkrete, oft individuelle Probleme.<br />
Anders ausgedrückt: Wenn der Chef eines KMU hört, es sei<br />
enorm wichtig, die psychische Gesundheit seiner Mitarbeiter zu<br />
verbessern, ist das womöglich ein zu abstrakter Anspruch. Bietet<br />
man aber beispielsweise an zu überprüfen, wie Veränderungen<br />
19<br />
im Betrieb sich auf die Mitarbeiter auswirken können und wie sie<br />
gesundheitsverträglich zu organisieren sind, oder greift auf, welche<br />
Folgen Doppelbelastungen haben und wie man die Erholungsfähigkeit<br />
Einzelner erkennen bzw. fördern kann, ist das näher an der<br />
betrieblichen Wirklichkeit und am Denken der Unternehmer – und<br />
dürfte den BGF-Experten eher die Türen öffnen.
Nachhaltige Verankerung von<br />
BGM-Aktivitäten am Beispiel der Stadt München<br />
Landeshauptstadt meldet „Vollzug“:<br />
In München ist BGM dauerhaft in die Verwaltungskultur integriert<br />
Obwohl immer mehr Unternehmen sich für BGF und BGM interessieren,<br />
klafft weiterhin eine Lücke zwischen Erkenntnisstand<br />
und Umsetzungsgrad. Im Einführungsvortag zu Konferenz hatte<br />
Dr. Eleftheria Lehmann festgestellt, dass BGF-Aktivitäten<br />
häufig nur bis zur Diagnosephase reichen und Unternehmen<br />
sich zu häufig mit Einzelmaßnahmen begnügen. Umso wichtiger<br />
sind Beispiele wie das der Stadt München. Deutschlands<br />
größter kommunaler Arbeitgeber konnte auf der <strong>DNBGF</strong><br />
Tagung vermelden „die Verankerung von BGM als integraler<br />
Bestandteil der Verwaltungskultur ist abgeschlossen.“<br />
Sabine Can, BGM-Fachfrau der Stadt, skizzierte im Workshop 9 die<br />
Ausgangslage, den Weg des „Münchener Modells“ und bisherige<br />
Ergebnisse. Dabei bestätigte sie auch die Erkenntnisse der „Theoretiker“,<br />
z. B. dass BGM nur als dauerhafter Prozess funktioniert, in<br />
bestehende Strukturen eingebaut werden muss, Zeit braucht und<br />
vor allem eine „originäre Führungsaufgabe“ ist.<br />
Bemerkenswert ist das Münchener Beispiel auch, weil das Unternehmen<br />
Landehauptstadt aufgrund seiner komplexen Strukturen<br />
kein einfaches Feld für die Implementierung eines BGM ist. Die insgesamt<br />
rund 30.000 <strong>Beschäftigte</strong>n arbeiten an hunderten Standorten<br />
mit sehr unterschiedlichen Aufgaben in einer großen Vielfalt von<br />
Berufsbildern, es gibt verschiedene Arten von Beschäftigungsverhältnissen,<br />
und nicht zuletzt ist die Stadtverwaltung wie alle öffentlichen<br />
Verwaltungen von Hierarchien und Entscheidungsprozessen<br />
geprägt, die manche Veränderungen schwieriger machen, als das<br />
in gut aufgestellten privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen<br />
der Fall ist.<br />
Dass Gesundheitsförderung zum Thema werden müsse, wurde in<br />
München schon Anfang des letzten Jahrzehnts erkannt. Die Auswertung<br />
der AU-Daten der damals rund 12.500 AOK-Versicherten<br />
brachte beispielsweise zutage, dass die Belegschaft überdurch-<br />
20<br />
schnittlich alt war (und ist) und zu einem großen Teil in „Schwerarbeitsberufen“<br />
beschäftigt ist. Weil das mit überdurchschnittlichen<br />
Ausfallzeiten einherging, gab der Rat der Stadt im Frühjahr 2003<br />
grünes Licht für das Projekt „Betriebliche Gesundheitsförderung“.<br />
Von Beginn an wurde dabei ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, der<br />
eindeutig mehr war als ein modisches Etikett. Um das zentrale Ziel<br />
zu erreichen, Ressourcen und Anforderungen bei jedem Mitarbeiter<br />
in Balance zu bringen, wurde eine Strategie formuliert, die später<br />
auch unmissverständlich in einer Dienstvereinbarung „Betriebliches<br />
Gesundheitsmanagement“ festgeschrieben wurde: BGM ist<br />
danach die „bewusste Steuerung und Integration aller betrieblichen<br />
Prozesse [und Strukturen] mit dem Ziel der Erhaltung und Förderung<br />
der Gesundheit und des Wohlbefindens der <strong>Beschäftigte</strong>n und<br />
damit einer optimalen Arbeitsfähigkeit“.<br />
Um zu illustrieren welche Aufgabenfelder bei einem ganzheitlichen<br />
Ansatz berücksichtigt werden müssen, bedienen sich die Münchner<br />
des vom Finnen Juhani Ilmarinen entwickelten Modells eines<br />
„Hauses der Arbeitsfähigkeit“. Ilmarinen dazu: „Es verdeutlicht,<br />
welche Faktoren beteiligt sind und wie sie aufeinander wirken. Es<br />
besteht aus vier Stockwerken: Sie heißen Gesundheit, Qualifikation,<br />
Werte und Arbeit. (…) Das vierte Stockwerk des Hauses ist<br />
das größte und schwerste - es ist die Arbeit selbst. Und weil es<br />
das oberste Stockwerk ist, drückt es mit seinem Gewicht auf die<br />
unteren - alles, was hier passiert, hat deutliche Auswirkungen auf<br />
alle vorher genannten Stockwerke.“<br />
Die im 4. Stock zu erledigenden Aufgaben (Führung, Management,<br />
Arbeitsumfeld, -organisation, -umgebung und -inhalte bzw. -anforderungen)<br />
gehören gemäß den Vorgaben des Arbeitschutzgesetzes<br />
zu den Pflichtaufgaben eines Arbeitgebers. Weil aber nicht nur<br />
die Last des Faktors Arbeit, um in Ilmarinens Bild zu bleiben, die<br />
unteren Stockwerke beeinflusst, sondern z. B. die im Erdgeschoss
angesiedelte physische und psychische Gesundheit wie ein Fundament<br />
wirkt, dessen Zustand bis in die oberen Etagen hineinwirkt,<br />
gehört es zur Ganzheitlichkeit, auf allen vier Stockwerken aktiv zu<br />
werden.<br />
Bei der Beschreibung des „wie“ stellte Sabine Can vier methodische<br />
Elemente besonders heraus:<br />
Konsequent verfolgt wurde das Prinzip „vom Projekt in die Linie“.<br />
In verschiedenen Organisationseinheiten wurden Projekte konzipiert<br />
und durchgeführt, die Erkenntnisse lieferten für die breite,<br />
gleichwohl organisationsspezifische Umsetzung auch in anderen<br />
Bereichen.<br />
Angesichts der unstrittigen Tatsache, dass Einführung wie<br />
Umsetzung von BGM insbesondere engagierte und befähigte Führungskräfte<br />
benötigt, wurde eine ganze Reihe von Veranstaltungen<br />
und Fortbildungen für diese Schlüsselzielgruppe aufgelegt.<br />
BGM wird zudem intensiv bei den Aufgaben der Personalent-<br />
wicklung beteiligt: Von der übergreifenden Aufgabe der Entwicklung<br />
eines Demografie-Konzeptes bis zur Gestaltung von Mitarbeitergesprächen,<br />
überall fließen Aspekte des Gesundheitsmanagements<br />
ein.<br />
Schließlich wird besonderer Wert gelegt auf die „intrakommunale<br />
Vernetzung“: Vertreter aller übergeordneten Organisationseinheiten<br />
der Stadtverwaltung treffen sich regelmäßig zum Thema Betriebliches<br />
Gesundheitsmanagement.<br />
Sieben Jahre nach dem erwähnten Ratsbeschluss betrachtet die<br />
Stadtverwaltung das Ziel „BGM-Integration in die Verwaltungskultur“<br />
als erreicht, „die Projektphase ist abgeschlossen“, so Sabine<br />
Can. Und fügt an, dass damit kein zeitloses, unveränderbares<br />
21<br />
Modell geschaffen wurde, sondern die Grundlage für einen unternehmensweiten<br />
Prozess der ständigen Verbesserung; also eine<br />
sich an stetig ändernden Bedingungen orientierende Abfolge von<br />
Planung, Testlauf, Auswertung und Anwendung entsprechend dem<br />
pdca Zyklus.<br />
Doch nicht nur die Strukturen, auch, was letztlich wichtiger ist, die<br />
Ergebnisse können sich sehen lassen. Befragungen zeigen, dass<br />
in allen Arbeitsfeldern des BGM Verbesserungen wahrgenommen<br />
werden und <strong>Beschäftigte</strong> auf allen Ebenen von einer verbesserten<br />
Gesundheitskompetenz berichten. Wichtig für die „Vermarkter“<br />
von BGM-Konzepten ist insbesondere die Einschätzung der Führungskräfte,<br />
dass Aufwand und Ertrag von BGM in einem aus ihrer<br />
Sicht positiven Verhältnis stehen.<br />
Besonders interessant unter dem Aspekt „Nachhaltigkeit“ ist eine<br />
weitere Erkenntnis der Münchner Gesundheitsförderer: Man muss<br />
die Mitarbeiter heute nicht mehr zum Jagen tragen. Sabine Can<br />
berichtete, dass einerseits das Interesse der „lokalen“ Hierarchie<br />
am Thema geweckt ist und die Referate nun eigene Ressourcen<br />
fürs BGM einfordern. Zweitens verzeichnet sie eine „steigende<br />
Nachfrage hinsichtlich der Durchführung konkreter Projekte zum<br />
Betrieblichen Gesundheitsmanagement vor Ort“.<br />
Das lässt vermuten: Operative Mitarbeiter wie die unteren Führungsebenen<br />
zeigen offenbar ähnliche Verhaltensmuster wie manche<br />
Unternehmen, die man von BGM überzeugen will. Argumente,<br />
Daten und Konzepte allein sind nicht handlungsauslösend. Erst<br />
wenn man Beispiele guter Praxis vor Augen hat, also sieht, wie<br />
BGM „nebenan“ funktioniert, wächst nicht nur der Bedarf, sondern<br />
auch die Motivation, selbst aktiv zu werden.
psyGA – Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt<br />
fördern – ein Projekt des BKK Bundesverbandes mit<br />
Kooperationspartners des <strong>DNBGF</strong> und anderen im<br />
Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit.<br />
Umfragen zeigen: Mit der wachsenden Zahl von Arbeitsunfähigkeitszeiten<br />
und Frühverrentungen aufgrund psychischer<br />
Erkrankungen ist auch das Interesse der Arbeitgeber an diesem<br />
Thema gewachsen. Zugleich aber herrschen oftmals Unsicherheit<br />
bzw. Unwissenheit darüber, ob und wie man diesem<br />
Trend mit Betrieblicher Gesundheitsförderung begegnen kann<br />
und welche Hilfen dazu vorliegen. Im Workshop „Psychische<br />
Gesundheit in der Arbeitswelt fördern“ stellten Dr. Gregor<br />
Breucker vom BKK Bundesverband und Michaela Mißler von<br />
Team Gesundheit deshalb den Ansatz von BGF und zwei neu<br />
entwickelte Instrumente vor.<br />
Grundlage der Vorträge war in erster Linie das im Rahmen der<br />
Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) gestartete Projekt psyGa<br />
(psychische Gesundheit in der Arbeitswelt). psyGA soll den Wissenstransfer<br />
stärken „zur Verringerung psychischer Fehlbelastungen<br />
und Stärkung psycho-sozialer Ressourcen in der Arbeitswelt beitragen“,<br />
unter anderem durch die Entwicklung von geeigneten<br />
Instrumenten.<br />
Dr. Breucker gab in seinem Vortrag einen Überblick zu den Handlungsfeldern<br />
von BGF zum Thema: Er differenzierte zwischen dem<br />
Umgang mit arbeitsbedingtem oder arbeitsrelevantem Stress, den<br />
Möglichkeiten zur Förderung psychischer Gesundheit und den<br />
Ansätzen zur besseren Integration bzw. Reintegration von Menschen<br />
mit psychischen Erkrankungen.<br />
Das heißt konkret: Es geht darum, Fehlbelastungen zu vermeiden<br />
(Stressreduzierung), Ressourcen zu stärken (Förderung psychischer<br />
Gesundheit) und Betroffene zu unterstützen (Hilfen für psychisch<br />
Kranke). Die Krankenkassen, so Dr Breucker, unterstützen Unternehmen<br />
dabei, da sie mit Gesundheitszirkeln, Maßnahmen zur Förderung<br />
gesunder Lebensstile, Konzepten zur gesundheitsgerechten<br />
psyGa: Neue Instrumente für den ersten Schritt<br />
in Richtung „Förderung psychischer Gesundheit“<br />
22<br />
Führung und natürlich Möglichkeiten zur Unterstützung Betroffener<br />
über Erfolg versprechende und bewährte Methoden verfügen.<br />
Doch vor dem Handeln steht die Bestandaufnahme, und für die<br />
mussten angesichts der Besonderheiten des Themas erst neue<br />
Kriterien und Instrumente entwickelt werden. Denn die Ursachen<br />
psychischer Belastungen sind physikalisch nicht zu messen (es sei<br />
denn, es handelt sich um Nebeneffekte physischer Belastungen<br />
wie Lärm), und bislang konnte man auch nicht auf akzeptierte<br />
Qualitätskriterien für das betriebliche Gesundheitsmanagement im<br />
Bereich der psychischen Gesundheit zurückgreifen.<br />
Michaela Mißler beschrieb im Workshop deshalb zwei von psyGa<br />
entwickelte Produkte: Einerseits wurde ein Kriterienmodell entwickelt,<br />
das Qualitätsmerkmale für die Bereiche „Struktur und<br />
Organisation“ „Prozesse und Maßnahmen“ sowie „Ergebnisse“<br />
liefert. Anderseits erläuterte sie das neu entwickelte Element<br />
zur Selbsteinschätzung von Unternehmen, das Praktiker bei der<br />
Beschreibung des Ist-Zustands bei der Förderung psychischer<br />
Gesundheit unterstützt. Damit könne man nicht nur, so Michaela<br />
Mißler, Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Situation erkennen.<br />
Es habe auch eine Motivationsfunktion, weil die Bestandsaufnahme<br />
die Bereitschaft von Investitionen in psychische Gesundheit erhöhen<br />
könne.<br />
Wichtig aus Sicht der Unternehmen ist zweifellos, dass die Instrumente<br />
auch ohne besondere Expertise verwendet werden können,<br />
die Unternehmen in Ihrer Wirklichkeit „abholen“ und auch keinen<br />
besonderen zeitlichen Aufwand erfordern. Sie zeichnen sich aus<br />
durch eine einfache Struktur und verständliche Sprache, was nicht<br />
zuletzt sicherstellt, dass die neuen Erkenntnisse zum Thema Psychische<br />
Gesundheit im Betrieb“ nicht durch zusätzlichen Stress der<br />
BGF-Akteure erkauft wird.
Organisationen im<br />
demographischen Wandel<br />
Grundlagenkompetenz statt umsetzbarer Routinen: Demografic Literacy<br />
als Basis und Age Cert alsInstrument zur Analyse von Altersmanagement<br />
Zwischen der Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />
und angemessenen Reaktionen in der betrieblichen Wirklichkeit<br />
liegt oft eine lange Latenzzeit. Auch fundierte Hinweise<br />
auf mögliche Folgen der demografischen Entwicklung sind<br />
nicht neu, haben bis heute aber nur in einer Reihe flexibler und<br />
zukunftsorientierter Unternehmen zu Konsequenzen geführt.<br />
Doch dass muss und kann sich ändern: Im Workshop „Organisationen<br />
im demographischen Wandel“ erfuhren die Konferenzteilnehmer,<br />
welche neuen Schlüsselkompetenzen der<br />
Wandel erfordert und wie einfach es schon heute ist, den Status<br />
quo für jedes Unternehmen systematisch zu beschreiben.<br />
Wenn, wie Mitte Juli geschehen, der Hauptgeschäftsführer des<br />
Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) öffentlich<br />
die erleichterte Zuwanderung von Fachkräften fordert, müsste<br />
jeder Arbeitgeber erkennen, dass man einer alternden Erwerbsbevölkerung<br />
nicht mit einem „weiter so“ begegnen kann. Deshalb,<br />
so Dr. Mirko Sporket vom Max Planck Institut für Demografische<br />
Forschung werde „Demographic Literacy“ – verkürzt könnte man<br />
sagen: die Fähigkeit, die demografische Entwicklung zu verstehen<br />
und daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen - zu einer Schlüsselkompetenz<br />
der Zukunft. Susann Kocura von der Marie-Luise<br />
und Ernst Becker Stiftung beschrieb ergänzend, wie Unternehmen<br />
mithilfe des Qualitätssiegels AGE CERT ihre Kompetenz im<br />
betrieblichen Demografiemanagement testen und testieren lassen<br />
können.<br />
Dass es sich bei der Alterung der Gesellschaft – und damit bei<br />
Alterung und Schrumpfung der erwerbstätigen Bevölkerung – nicht<br />
um ein vages Szenario, sondern um eine berechenbare Entwicklung<br />
handelt, dokumentierte Dr. Sporket zunächst anhand von verschiedenen<br />
Zahlen und Prognosen. Danach ist klar: Selbst wenn die<br />
Bevölkerung weniger schrumpft, als in manchen Szenarien angenommen,<br />
wird die Erwerbsbevölkerung auch alternativen Berechnungen<br />
zufolge bis 2050 von heute rund 50 Millionen Personen auf<br />
deutlich unter 40 Millionen sinken.<br />
Nach Einschätzungen der Demografieforscher stellt nicht allein<br />
diese sinkende Zahl die Arbeitgeber vor neue Aufgaben. Sie sehen<br />
23<br />
auch eine zusätzliche Verschärfung der Situation, weil zwar die<br />
„Anforderungen an Qualifikation und Kompetenzen“ wachsen, es<br />
aber zugleich eine „Bildungsstagnation“ gäbe. Ihr Fazit: Schon bald<br />
werden die über 50jährigen die bestausgebildeten Arbeitnehmer<br />
sein, deshalb müssen Unternehmen sich heute fragen, wie sie das<br />
Ausscheiden dieser großen Gruppe der „Babyboomer“ mit den<br />
Möglichkeiten der kleineren und weniger gut ausgebildeten der<br />
Folgegeneration kompensieren können.<br />
Wer als Antwort darauf den Verweis auf einen universell einsetzbaren<br />
Prozess des Alter(ns)management erwartet, wird zwangsläufig<br />
enttäuscht. Denn Organisationen sind zu unterschiedlich, als<br />
dass man einen für alle gangbaren goldenen Weg aufzeigen könnte.<br />
Die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung, so Dr. Sporket,<br />
müssten vielmehr in alle strategischen Entscheidungen einbezogen<br />
werden, um bedarfs- und situationsgerechte Lösungen zu finden.<br />
Das wiederum, und hierin liegt die eigentliche Aufgabe zukunftsorientierter<br />
Organisationen, kann nur gelingen, wenn sie eine<br />
neue Schlüsselkompetenz erwerben. Dr. Sporket spricht hier von<br />
„Demographic Literacy“, also demografischer Bildung oder demografischen<br />
Kenntnissen, die z. B. Arbeitgeber befähigt,<br />
Informationen zum Thema Demografie zu erwerben,<br />
sie zu analysieren und mit anderen Daten zu verknüpfen<br />
sie zu verstehen und zu bewerten und<br />
auf dieser Grundlage Maßnahmen zu entwickeln und<br />
umzusetzen<br />
Diese vor allem auf systematischer Arbeit mit Daten beruhende<br />
Aufgabe, das wissen auch die Demografieforscher, stellt insbesondere<br />
für kleine und mittlere Unternehmen eine neue und nicht<br />
unerhebliche Hürde dar. Deshalb seien gerade die KMU auf Unterstützung<br />
angewiesen. Wie die aussehen kann, beschrieb Susann<br />
Kocura von der Marie-Luise und Ernst Becker Stiftung anhand des<br />
Qualitätssiegels AGE CERT.<br />
Hinter dem Siegel steht ein nach wissenschaftlichen Kriterien<br />
entwickeltes Instrument, das eine zuverlässige Beschreibung und
Bewertung altersgerechter Personalentwicklung ermöglicht - und<br />
damit auch Defizite und entsprechende Handlungsmöglichkeiten<br />
aufzeigt. Grundlage dafür – und erster Schritt zum Siegel – sind die<br />
Daten, die über einen frei zugänglichen Selbstcheck (www.age-cert.<br />
de) erfasst werden.<br />
Der Check wird umgehend ausgewertet und liefert den Teilnehmern<br />
Informationen zu Stärken und Verbesserungspotenzialen online ins<br />
Haus; oder sie erhalten den Vorschlag, eine Visitation durch Age<br />
Cert Experten durchführen zu lassen, damit diese die Situation vor<br />
Ort in Augenschein nehmen und eine unternehmensspezifische<br />
Befragung durchführen können.<br />
Interessant ist Age Cert wegen des unkomplizierten und kostenlosen<br />
Selbstchecks. Durch ihn erhalten KMU, die sich erstmals mit<br />
dem Thema Demografie beschäftigen, Basisinformationen über<br />
sich und ihre Möglichkeiten zum altersgerechten Personalmanagement.<br />
Aber auch die Teilnahme am eigentlichen Testierungsprozess<br />
ist nach Darstellung seiner Entwickler in jeder Hinsicht unaufwändig<br />
und in jedem Fall lohnenswert.<br />
Zeitlich unaufwändig ist der Prozess, weil sich die zertifizierten<br />
Visitatoren auf die Felder konzentrieren, auf denen nach der Auswertung<br />
des Selbstchecks Handlungsmöglichkeiten zu erkennen<br />
sind. So kann die eigentliche Begehung und Befragung des Betriebs<br />
auf einen halben Tag beschränkt werden. Finanziell unaufwändig<br />
dürfte das Leistungspaket auch aus Sicht kleinerer Unternehmen<br />
sein: Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern kostet der<br />
24<br />
Age Check – Testierungsverfahren, wissenschaftliche Begleitung,<br />
Markennutzungsrechte und Service bei Presse und Öffentlichkeitsarbeit<br />
– 2.000,- Euro netto, größere Unternehmen müssen einen<br />
Tausender mehr bezahlen.<br />
Lohnend ist Age Check nach Darstellung Susann Kocuras letztlich<br />
unabhängig vom Ergebnis des Verfahrens: Entweder das Unternehmen<br />
kann sofort mit dem Qualitätssiegel an die Öffentlichkeit<br />
gehen, oder es bekommt das Siegel zugesagt, vorausgesetzt es<br />
führt innerhalb einer bestimmten Frist notwendige Verbesserungen<br />
durch. Aber selbst wenn die Qualität „Altersgerechtheit“ nach Auffassung<br />
der Experten kurzfristig nicht erreicht werden kann, erhält<br />
das Unternehmen immerhin konkrete Hinweise und Empfehlungen<br />
für den Weg dorthin.
Gesundheitsorientierung<br />
in der Grundsicherung<br />
Die größte Aufgabe für die Betriebliche Gesundheitsförderung<br />
wartet außerhalb der Werkstore, und zwar quantitativ<br />
wie qualitativ: Es geht um Ansprache und Aktivierung von<br />
Arbeitslosen, insbesondere der Bezieher der Grundsicherung.<br />
Quantitativ bedeutsam ist sie, weil es um eine in Millionen zu<br />
zählende Zielgruppe geht. Erschwerend kommt hinzu, dass sie<br />
nicht über die üblichen Settings zu erreichen ist. Die qualitative<br />
Herausforderung ergibt sich aus der Tatsache, dass Arbeitslosigkeit<br />
mit hohen gesundheitlichen Belastungen und entsprechenden<br />
Erkrankungszahlen verbunden ist. Mittlerweile, das<br />
zeigte der Workshop „Gesundheitsorientierung in der Grundsicherung“,<br />
gibt es nicht nur gezielt für die Aufgabenstellung<br />
entwickelte Instrumente, auch die Arbeitsverwaltung hat das<br />
Thema weit oben auf ihre Agenda gesetzt. Trotzdem steht die<br />
BGF in diesem Bereich aus Sicht des Beobachters immer noch<br />
am Anfang eines langen Weges.<br />
Denn immerhin, so Andreas Staible von der Bundesagentur für<br />
Arbeit, haben 35% der Bezieher von Leistungen nach dem SGB<br />
II gesundheitliche Einschränkungen, bei einer Arbeitslosigkeit von<br />
mehr als zwei Jahren ist zudem das Sterblichkeitsrisiko um das 3,4<br />
fache erhöht. Allerdings, auch das machte Staible in seinem Vortrag<br />
unmissverständlich klar, ist eine Verbesserung dieser Werte kein originäres<br />
Ziel der Arbeitsverwaltung, sondern „nur“ eine notwendige<br />
Voraussetzung für den eigentlichen Auftrag, die Arbeitslosen wieder<br />
in Beschäftigungsverhältnisse zu vermitteln.<br />
Die besondere Schwierigkeit dieser Aufgabe lässt sich durch einen<br />
Vergleich der Bedingungen „klassischer“ BGF und der Situation<br />
der Bundesagentur verdeutlichen: Im Betrieb kann bei Verhältnissen<br />
und Verhaltensweisen angesetzt werden, im Idealfall arbeiten<br />
Geschäftsleitung, Führungskräfte, Belegschaftsvertreter, Experten<br />
und Mitarbeiter zusammen. Es gibt den klaren Doppelnutzen<br />
„Mehr Gesundheit und größere Arbeitsplatzsicherheit“ und vor<br />
allem sichert das Setting Betrieb die tägliche Erreichbarkeit der<br />
Zielgruppe.<br />
Gesundheitsförderung für Arbeitslose legt den Schwerpunkt naturgemäß<br />
auf Verhaltensänderungen mit dem Ziel, Beschäftigungsfä-<br />
25<br />
BGF in der Grundsicherung:<br />
Am Anfang eines langen Weges<br />
higkeit und Leistungsfähigkeit zu verbessern. Der Arbeitslose erlebt<br />
sich dabei zunächst nicht als Teil einer Gruppe mit grundsätzlich<br />
gleichen Interessen, sondern als auf Unterstützung angewiesenes<br />
Individuum, das ja erklärtermaßen gefördert und gefordert werden<br />
soll.<br />
Wie das im Einzelfall gelingen kann, ist abhängig von Situation,<br />
Einstellungen und Möglichkeiten der Arbeitslosen, aber auch von<br />
den Ressourcen und der Motivation der Berater. So wie jeder<br />
Betrieb letztlich sein eigenes Konzept entwickeln und umsetzen<br />
muss, muss letztlich bei jedem „Kunden“ der Arbeitsagentur ein<br />
individuelles Vorgehen erarbeitet werden. Für die Bundesagentur<br />
bedeutet das: Es können nur grundsätzliche Verfahrensweisen und<br />
Instrumente bereitgestellt, Prozesse vorgegeben werden, keine<br />
Handlungsvorgaben für bestimmte „Kundentypen“ oder gar Einzelpersonen.<br />
In der Bundesagentur führte das laut Andreas Staible z.<br />
B. zur Entwicklung einer „Referenzstrategie für Gesundheitsorientierung“.<br />
Sie beschreibt drei aufeinander aufbauende Aufgabenbereiche mit<br />
insgesamt sieben Phasen, mit denen das Ziel einer „Realisierung<br />
der gesundheitlich angemessen Beschäftigung“ erreicht werden<br />
soll. In der ersten, bis zu dreieinhalb Monate dauernden Aufgabe,<br />
soll die Leistungsfähigkeit des Arbeitslosen festgestellt werden,<br />
was Grundlage für die „weitere Ausgestaltung der Integrationsstrategie“<br />
ist. An zweiter Stelle folgt die Aufgabe „Leistungsfähigkeit<br />
fördern“. Zunächst geht es darum, Problembewusstsein und Motivation<br />
auf „Kundenseite“ zu fördern und die Arbeitslosen anzuregen,<br />
eigene Lösungsansätze zu entwickeln.<br />
Nach spätestens zwei Monaten steht dann die Steigerung der<br />
Leistungsfähigkeit an. Wie in allen Phasen spielt hier das „Mitmachen“<br />
der „Kunden“ eine Schlüsselrolle, der Arbeitslose soll die<br />
vereinbarten Beratungsangebote und weitere Maßnahmen konsequent<br />
wahrnehmen, dabei wird er von der Agentur beraten, die<br />
auch Fördermaßnahmen oder Hilfsangebote initiiert bzw. vermittelt.<br />
Erst im dritten Schritt, der dann nochmals bis zu acht Monaten<br />
dauern kann, werden „Beschäftigungsoptionen“ identifiziert die der<br />
Arbeitslose akzeptiert. Sie bilden die Grundlage für die Suche nach<br />
entsprechenden Angebote auf dem Arbeitsmarkt.
Weil die Mitarbeiter der Agentur weder Gesundheits- noch Gesundheitsförderungsexperten<br />
sind und laut Staible auch nicht werden<br />
sollen, konzentrieren sich die Qualifizierungsmaßnahmen auf<br />
Grundlegendes. Dazu gehört die Vermittlung von Systemwissen<br />
wie der Fähigkeit, Probleme auf Kundenseite früh zu erkennen<br />
sowie natürlich die Sensibilisierung für die Aufgabe. Wie ein entsprechendes<br />
Qualifizierungsangebot aussieht, wurde am Beispiel<br />
„Sucht“ skizziert Zu diesem für die Beschäftigungsfähigkeit besonders<br />
problematischen Krankheitsbild hatte das Bundesministerium<br />
für Gesundheit 2009 Ergebnisse des Forschungsprojekts „Erhebung<br />
von Ansätzen guter Praxis zur Integration Suchtkranker ins<br />
Erwerbsleben im Rahmen des SGB II“ veröffentlicht.<br />
Das Qualifizierungsmodul Sucht soll den Integrationsfachkräften<br />
Grundlagenwissen zu Suchterkrankungen vermitteln, ihnen ihre<br />
Rolle im Beratungsprozess verdeutlichen und nicht zuletzt die<br />
Kenntnis der lokalen Infrastruktur verbessern, um die Angebote<br />
lokaler Netzwerkpartner auch nutzen zu können. Neben solchen<br />
Schulungsangeboten werden die Fachkräfte durch die Ergebnisse<br />
eines systematischen Wissensmanagements unterstützt, das<br />
externes wie BA internes Wissen bündelt und adressatengerecht<br />
aufbereitet.<br />
Es bewegt sich also einiges bei der BA, aber allein die Tatsache,<br />
dass der Referent beim Thema „nächste Schritte“ darauf hinweist,<br />
dass man nun den Handlungsbedarf beschreiben müsse,<br />
„Handlungsschwerpunkte“ identifizieren wolle und Vorschläge für<br />
gemeinsame Initiativen erarbeite, bestätigt den Eindruck, dass BGF<br />
in der Grundsicherung noch immer in der Konzeptionsphase ist.<br />
Immerhin, das zeigte der zweite Vortrag im Workshop, kann die<br />
BA dabei von mehrjährigen Vorarbeiten der Gesundheitsförderer<br />
profitieren. Denn das mittlerweile etablierte Projekt „JobFit“ ist ein<br />
Beispiel guter Praxis dafür, wie Gesundheitsförderung mit Maßnahmen<br />
der Arbeitsmarktpolitik verknüpft werden kann.<br />
JobFit, schon 2004 und wegen der damals beschlossenen Reform<br />
der Arbeitverwaltung eher neben als mit der BA entwickelt, nutzt<br />
die mit der Arbeitsvermittlung zusammenarbeitenden Beschäftigungs-<br />
und Qualifizierungsträger - und kommt damit der Situation<br />
eines betrieblichen Settings so nahe wie möglich. Nach knapp<br />
zweijähriger Erprobungsphase mit unterschiedlichen Partnern in<br />
NRW wird es seit 2006 implementiert. Mittlerweile wird es in den<br />
meisten Bundesländern von Kommunen und ARGEn, in Bildungszentren<br />
oder im Rahmen des Beschäftigungspakts 50+ eingesetzt,<br />
wie Barbara Hordt von der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung<br />
(G.I.B.) referierte.<br />
26<br />
JobFit kombiniert eine „individuelle Gesundheitskompetenzberatung“<br />
mit einem speziell für die Zielgruppe entwickelten Präventionskurs.<br />
Die Beratung beginnt mit einem einstündiges Gespräch, in<br />
dessen Rahmen ein Gesundheitsprofil des Arbeitslosen erstellt und<br />
Gesundheitsziele vereinbart werden. Drei Stunden stehen für Folgeberatungen<br />
zur Verfügung, die dem Feedback, der zusätzlichen<br />
Motivierung oder auch der Vermittlung weiterer Unterstützungsangebote<br />
dienen. Der Präventionskurs, für dessen Durchführung<br />
eine Zertifizierung notwendig ist, ist auf neun Kurseinheiten à 90<br />
Minuten angelegt und thematisiert praxis- und zielgruppennah<br />
auch die zentralen Präventionsthemen Bewegung, Ernährung und<br />
Entspannung.<br />
Zahlreiche Beispiele stehen dafür, dass JobFit ein gutes, funktionales<br />
und weithin einsetzbares Konzept ist, um Gesundheit und<br />
damit Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitslosen zu verbessern.<br />
Trotzdem leidet es noch an dem letztlich BGF-typischen Problem<br />
„zu geringe Verbreitung“: Barbara Hordt konnte zwar auf die Schulung<br />
von 140 Personen verweisen, die nun JobFit-fähig sind, doch<br />
angesichts des „Kundenpotenzials“ in Millionenhöhe ist diese Zahl<br />
noch recht bescheiden.<br />
Auch das unterstreicht den Eindruck, dass Gesundheitsförderung<br />
für Arbeitlose noch lange nicht in der Breite und auf gutem Niveau<br />
etabliert ist. Einen Grund dafür kann man aus der Struktur des<br />
Vortrags von Barbara Hort folgern: Den größten Bereich der Präsentation<br />
nutzte sie zur Beschreibung der Finanzierungsregelung und<br />
für Zitate aus Dokumenten politischer Institutionen und der BA, die<br />
belegen, das – und mit welchen Zielen – Gesundheitsorientierung<br />
bei Eingliederungsmaßnahmen tatsächlich eine Pflichtaufgabe ist.<br />
Selbstverständlich ist dieses Wissen also bis heute offenbar nicht.
Gute gesunde Lehrkräfte –<br />
Lehrergesundheit in der guten gesunden Schule<br />
Nur zwei Foren des <strong>DNBGF</strong> beschäftigen sich explizit mit der<br />
Situation in bestimmten „Branchen“, zum einen „Gesundheitswesen<br />
und Wohlfahrtspflege“, zum anderen „Bildung<br />
und Erziehung.“ Zu den Gemeinsamkeiten gehört ihre große<br />
gesellschaftliche Bedeutung wie auch ein vergleichsweise großer<br />
Nachholbedarf beim Thema BGF. Ein großer Unterschied:<br />
Während die Situation der Mitarbeiter im Gesundheitswesen<br />
überwiegend Mitgefühl und den Ruf nach Verbesserungen<br />
erzeugt, werden Probleme von Lehrern gerne relativiert oder<br />
gar als selbst gemacht und vorgeschoben bewertet. Der im<br />
Workshop „Gute gesunde Lehrkräfte - Lehrergesundheit in der<br />
guten gesunden Schule“ präsentierte „Problemaufriss zum<br />
Thema Lehrergesundheit“ kann helfen, Vorurteilen mit Fakten<br />
zu begegnen.<br />
Die von Prof. Dr. Peter Paulus und Dr. Birgit Nieskens von der<br />
Leuphana Universität Lüneburg zusammengestellte Präsentation<br />
machte zunächst über Zitate und Zahlen deutlich, dass es in Schulen<br />
offenbar weder eine einheitliche Problemlage noch ein einheitliches<br />
Problemverständnis gibt. Die Unterschiede beim Problemverständnis<br />
wurden durch zwei Antworten auf die Frage „Was ist für Sie<br />
eine gesunde Lehrerin?“ illustriert: Ein Schulleiter zeigt sich „völlig<br />
überfragt“, gesund sei, wer nicht krank und in vernünftigem Maße<br />
belastbar ist; eine seiner Kolleginnen antwortet dagegen mit einer<br />
ausführlichen Definition, nach der sich Gesundheit in positiven Einstellungen<br />
und Verhalten gegenüber Beruf, Schülern aber auch im<br />
Privatleben zeigt.<br />
Noch auffälliger sind die Unterschiede, wenn man Lehrer verschiedener<br />
Schulen nach subjektiven Einschätzungen zu Stand und<br />
Folgen ihres „allgemeinen Gesundheitszustands“ befragt. Die Antworten<br />
von insgesamt 369 Lehrpersonen von acht Schulen geben<br />
einen Hinweis darauf, wie unterschiedlich die Arbeitswelt Schule<br />
aussehen kann bzw. auf die Lehrer wirkt: Während an einer Schule<br />
87 Prozent des Lehrkörpers ihren Gesundheitszustand als eher<br />
schlecht oder durchschnittlich bewerten, sagen Lehrer anderer<br />
Schulen zu rund zwei Dritteln, ihre Gesundheit sei eher gut oder<br />
sogar sehr gut.<br />
Kein einheitliches Bild der Lehrergesundheit –<br />
Gute, gesunde Schule als Ziel der BGF<br />
27<br />
Vergleicht man alle acht Schulen, so zeigt sich, dass bei der Hälfte<br />
die neutrale oder negative Einschätzung der eigenen Gesundheit<br />
überwiegt, bei der anderen Hälfte die <strong>Gesunde</strong>n und sehr gesunden<br />
eindeutig in der Mehrheit sind. Sehr schlecht fühlen sich danach<br />
übrigens nur wenige Lehrer, auffällig dabei: Diese Antwort-Option<br />
wird häufiger an Schulen gewählt, an denen die Mehrheit ihre<br />
Gesundheit positiv einschätzt.<br />
Die Unterschiede in der aktuellen Selbsteinschätzung schlagen sich<br />
offensichtlich auch in den Erwartungen nieder, ob man den Beruf<br />
bis ins Rentenalter ausüben könne. Dabei sieht man, dass einerseits<br />
nicht alle sehr oder eher gesunden glauben, dafür die notwendige<br />
„Kraft und Gesundheit“ zu haben, andererseits an einer Schule<br />
mit vergleichsweise wenigen Mitgliedern dieser Gruppe über 57<br />
Prozent der Lehrer – und damit der mit Abstand größte Anteil – das<br />
Erreichen des Pensionsalters als wahrscheinlich ansieht.<br />
Tatsache ist jedoch, dass ansonsten deutlich weniger – zwischen 9<br />
und 54,4 Prozent der Befragten davon ausgehen, so lange „durchzuhalten“.<br />
Zwischen rund 32 und über 65 Prozent sind sich unsicher,<br />
ob sie es schaffen, für 6,7 bis 26,1 Prozent ist schon heute klar,<br />
dass der Vorruhestand auf sie wartet. Dabei schneiden die Schulen<br />
mit „mehr <strong>Gesunde</strong>n“ grundsätzlich deutlich besser ab. Trotzdem<br />
belegen die Zahlen, den Handlungsbedarf in Sachen BGF, denn mindestens<br />
ein Viertel bis weit über die Hälfte der Befragten rechnen<br />
definitiv oder mit hoher Wahrscheinlichkeit damit, in Zukunft unter<br />
„Befindensstörungen“ zu leiden.<br />
Diese Antwort lässt erahnen, dass die gesundheitlichen Probleme<br />
von Lehrern vor allem im psychischen Bereich zu finden sind.<br />
Das wird belegt durch eine Studie des Instituts für Arbeits- und<br />
Sozialmedizin der TU Dresden. Dort wurde aufgrund der Daten<br />
von über 5 500 Lehrern festgestellt, dass 50 Prozent des Morbiditätsgeschehens<br />
auf psychische bzw. Verhaltensstörungen fällt.<br />
Danben spielen auch physische Krankheitsbilder wie Muskel- und<br />
Skeletterkrankungen eine Rolle, deren Entwicklung nicht selten<br />
durch psychische Faktoren gefördert oder ausgelöst wird. So sind<br />
es auch Symptome wie Nacken- oder Rückenschmerzen, die mit
knapp unter 40 Prozent auf der Liste der „häufigsten aktuellen<br />
Beschwerden“ auftauchen, Begriffe wie Mattigkeit, innere Unruhe,<br />
Grübelei oder Reizbarkeit stehen hier ganz oben.<br />
Sowohl auf die Frage, warum es trotz dieser „Diagnose“ so schwer<br />
ist, die Akzeptanz für Gesundheitsförderung in den Schulen zu<br />
erhöhen wie auf die Frage, wie Erfolg versprechende Gesundheitsförderung<br />
in Schulen aussehen kann, wurden im <strong>DNBGF</strong><br />
Forum „Bildung und Erziehung“ wie im Rahmen anderer Initiativen<br />
und Projekte schon Antworten gegeben. Das Ziel heißt heute die<br />
„gute, gesunde Schule“, bei der nicht gefragt wird, wie die Schule<br />
Gesundheit fördern kann, sondern wie durch Gesundheitsförderung<br />
das Kerngeschäft von Schule „Bildung und Erziehung“ unterstützt<br />
werden kann. Oder anders ausgedrückt: „Stand in der bisherigen<br />
Sichtweise Schule im Dienste der Gesundheit, geht es jetzt darum,<br />
Gesundheit in den Dienst der Schule zu stellen.“<br />
Das führt angesichts der oben beschriebenen Situation dazu, dass<br />
Lehrergesundheit „an zentrale Stelle zur Förderung der Qualität von<br />
Schule“ rückt und „Motor, Katalysator, „Erleichterer“ der Schulentwicklung“<br />
ist. Warum dieser Ansatz teils mühsam in die Schulen<br />
hineingetragen werden muss, hat Prof. Dr. Peter Paulus schon an<br />
anderer Stelle erklärt: „Die Gründe (für den mangelnden Rückgriff<br />
auf Erkenntnisse der schulischen GF, d.Red.) liegen tiefer. Sie haben<br />
hauptsächlich damit zu tun, dass der Ansatz der Gesundheitsfördernden<br />
Schule originär kein Ansatz ist, der aus der Schule selbst,<br />
d.h. aus ihren Entwicklungsnotwendigkeiten heraus, entwickelt<br />
28<br />
worden ist, sondern von außen, von außerschulischen bzw. –pädagogischen<br />
Interessen geleitet, an die Schule herangetragen worden<br />
ist und wird“.<br />
Gleichwohl ist für Paulus klar: „Die gute gesunde Schule stellt<br />
einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung schulischer Gesundheitsförderung<br />
in Deutschland dar. (…) Die Konzentration auf das<br />
Kerngeschäft der Schule und das Angebot, Schule dort nachhaltig<br />
wirksam zu unterstützen, birgt große Chancen.“ Die Fragen, was<br />
für Lehrergesundheit entscheidend ist, was Schulen tun können,<br />
wie ein Qualitätsrahmen „<strong>Gesunde</strong> Schule“ aussehen kann und,<br />
ganz praktisch, wie die Stationen auf dem Weg zur gesunden Schule<br />
aussehen, sind beantwortet, zahlreiche Schulen haben diesen<br />
Weg auch schon eingeschlagen.<br />
Ein „aber“ ergibt sich aus dem oben zitierten Schulvergleich. Wenn<br />
sich gesundheitliche Situation und Perspektive der Lehrer von<br />
Schule zu Schule so stark unterscheiden, werden standardisierte<br />
Motivations- und Implementierungsstrategien von BGF hier noch<br />
weniger funktionieren als auf anderen Arbeitsfeldern. Angesichts<br />
der Zahl von über 900.000 allgemein- und berufsbildenden Schulen,<br />
die zudem im Rahmen der föderalen Kulturpolitik unterschiedlichen<br />
politischen Vorgaben unterworfen sind, könnte es noch dauern, bis<br />
die große Mehrheit von Lehrern und Schülern die „gute <strong>Gesunde</strong><br />
Schule“ erleben kann.
PRAGDIS – Gesundheitsförderung für <strong>Beschäftigte</strong> mit<br />
diskontinuierlichen Erwerbsverläufen<br />
Alleinunternehmer als neue Zielgruppe der BGF: Mit der Zahl der<br />
„Freelancer“ wachsen Auch die gesundheitlichen Probleme<br />
Die Zahl der selbständig tätigen Alleinunternehmer nimmt seit<br />
Jahren stetig zu. Fast 2,5 Millionen Menschen arbeiteten Ende<br />
des letzten Jahrzehnts mit diesem Status auf eigene Rechnung<br />
und eigenes Risiko. Damit rückt diese spezielle Gruppe von<br />
Freiberuflern (oder „Freelancern)“ auch verstärkt in den Fokus<br />
der betrieblichen Gesundheitsförderer.<br />
Die stehen dabei vor zwei Hürden: Viele Unternehmen sehen es<br />
nicht als ihre Aufgabe, diese formal ja Selbständigen zu schützen,<br />
auch wenn sie sie regelmäßig beschäftigen; und für die BGF sind<br />
die selbstständigen Fachkräfte oft nur schwer zu erreichen, weil<br />
sie bestenfalls bedingt über das Setting Betrieb zu erreichen sind.<br />
Mit dem von Dr. Dagmar Siebecke vorgestellten Projekt pragdis<br />
(Präventiver Arbeits- und Gesundheitsschutz in diskontinuierlichen<br />
Erwerbsverläufen) wird versucht, sich der Zielgruppe zu nähern und<br />
Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.<br />
Unter den Erwerbstätigen jenseits der so genannten „Normalarbeitsverhältnisse“<br />
stellen die „neuen Selbständigen“ eine<br />
Besonderheit dar. Ähnlich wie klassische Freiberufler (Ärzte,<br />
Anwälte) sind sie meist gut ausgebildet und gebildet und arbeiten<br />
in angesehenen oder zumindest attraktiv erscheinenden Berufen.<br />
So hat sich laut Dr. Siebecke die Zahl der Soloselbständigen in der<br />
Software-Entwicklung von 1998 bis 2008 fast verdoppelt, aber<br />
auch in der Kommunikationsbranche und im Beratungsgeschäft<br />
zu unterschiedlichen Themen wächst die Zahl der Einzelkämpfer.<br />
Doch die sind in der Regel davon abhängig, von Unternehmen,<br />
engagiert zu werden, die ihre Leistungen für bestimmte Projekte<br />
oder Zeiträume buchen.<br />
Diese besondere Situation schlägt sich offenbar im Gesundheitszustand<br />
nieder. Auf die Frage, welche ihrer gesundheitlichen Probleme<br />
arbeitsbedingt sein könnten, nannten Freelancer fast alle<br />
Beschwerden teils deutlich häufiger, als abhängig <strong>Beschäftigte</strong> oder<br />
29<br />
Unternehmer mit eigenen Angestellten: Über 65 Prozent machten<br />
die Arbeit für Muskel- und Skelettbeschwerden, über 50 Prozent für<br />
psychische Probleme verantwortlich.<br />
Bei Arbeitnehmern sagten dies jeweils nur knapp über 40 Prozent,<br />
bei „klassischen Unternehmern“ verwiesen über 50 Prozent auf<br />
Muskel- und Skelettbeschwerden, unter 40 Prozent auf psychische<br />
Probleme. Auch bei Problemen mit dem Atmungs- sowie dem Herz-<br />
Kreislaufsystem sehen Freelancer am häufigsten arbeitsbedingte<br />
Ursachen, nur ihr Verdauungssystem scheint recht stabil zu sein:<br />
Über 40 Prozent der Unternehmer schlägt die Arbeit nach eigener<br />
Einschätzung auf den Magen, und auch abhängig <strong>Beschäftigte</strong> glauben<br />
das noch häufiger als die Freiberufler.<br />
Diese Situation spiegelt sich den Ausführungen Dr. Siebeckes<br />
zufolge in der Einschätzung zur Dauer der Arbeitsfähigkeit nieder.<br />
14 Prozent der im Schnitt Mitte 40jährigen befragten Alleinunternehmer<br />
meinen, sie müssten aufgrund der Belastungen „eigentlich<br />
schon jetzt aufhören zu arbeiten“, drei bis fünf Prozent mehr als bei<br />
Angehörigen der Vergleichsgruppen „abhängig <strong>Beschäftigte</strong>“ bzw.<br />
„Unternehmer“. Andererseits: Während zwei Drittel der Arbeitnehmer<br />
glauben, bis 50 oder 65 arbeiten zu können, rechnen auch 57<br />
Prozent der „Freien“ damit, aber nur 50 Prozent der Unternehmer<br />
mit Angestellten. Von denen glaubt fast ein Drittel, berufliche Belastungen<br />
nur bis zum 50. Lebensjahr ertragen zu können.<br />
Betrachtet man vor diesem Hintergrund Präventionsinteresse und<br />
Handlungsmöglichkeiten von Unternehmen, sind die Aussichten für<br />
Freelancer bis heute eher düster. Die Arbeit mit „Normalbeschäftigten“<br />
wird mittlerweile als notwendig anerkannt, hier warten die<br />
Arbeitgeber laut Dr. Siebecke auf entsprechende Konzepte. Auch<br />
befristet <strong>Beschäftigte</strong> werden zumindest in kurzfristige Maßnahmen<br />
integriert, und man könne Unternehmen ggf. auch davon<br />
überzeugen, sie mittelfristige mit einzubeziehen.
Alleinunternehmer als Honorarkräfte dagegen, so Dagmar Siebecke,<br />
würden auch bei kurzfristigen Projekten wenn überhaupt nur<br />
nach Überzeugungsarbeit einbezogen. Für kontinuierliche Gesundheitsförderung<br />
sieht die Expertin hier bislang keine Handlungsmöglichkeit,<br />
Unternehmen könnten oder würden einfach keinen Beitrag<br />
leisten.<br />
Das zeigt sich auch bei den Antworten auf die Frage nach der Verfügbarkeit<br />
von Angeboten: Knapp unter 30 Prozent der Arbeitnehmer<br />
sagen, sie könnten nicht uneingeschränkt an Präventionsangeboten<br />
teilnehmen, knapp über 40 Prozent wissen es einfach nicht.<br />
Die Freelancer sind sich da vergleichsweise sicher. Über 70 Prozent<br />
30<br />
wissen: Das wird nicht für mich gemacht. Und da beinahe ein weiteres<br />
Viertel darüber nichts zu sagen weiß, kann man schließen,<br />
dass BGF nur für eine geringe Anzahl dieser Alleinunternehmer<br />
angeboten wird.
„Die ‚Dritte Kultur’ im Management:<br />
HR-Konzepte für die Zukunft“<br />
Zusammenfassung des Vortrags von Prof. Holger Rust, Leibnitz<br />
Universität Hannover, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie<br />
Vordergründig wirkte der unterhaltsame – und frei vorgetragene<br />
– Abschlussvortrag des Soziologen Prof. Holger Rust<br />
wie eine leicht spöttische Abrechnung mit großen Teilen der<br />
wirtschaftlichen Elite. Zugleich aber lieferte seine Analyse<br />
der heutigen Führungs- und Beratungskulturen – auch wenn<br />
Prof Rust das nicht explizit ansprach - auch eine Erklärung,<br />
warum immer noch zu wenige Unternehmen auch Erkenntnisse<br />
und Möglichkeiten der Betrieblichen Gesundheitsförderung<br />
nutzen. Und er war geeignet, Gesundheitsförderer<br />
in ihren grundsätzlichen Positionen zu bestätigen, sind sie<br />
doch Elemente der von Prof. Rust geforderten “Dritten Kultur“<br />
für das Management.<br />
Im Mittelpunkt seiner Kritik der heute dominierenden Managementkultur<br />
steht zunächst ein „kennzahlendominierter Formalismus“,<br />
durch den versucht werde, Zukunft anhand von Daten<br />
erfassbar, berechenbar und damit für Unternehmen planbar zu<br />
machen. Dabei steht das Management vor scheinbar widersprüchlichen<br />
Zielsetzungen: Einerseits soll es den Unternehmen<br />
durch stabile Strukturen Sicherheit, Verlässlichkeit und feste Aufgabenverteilungen<br />
geben, andererseits sollen diese Strukturen<br />
es ermöglichen, jederzeit und schnell auf neue Situationen, auf<br />
Veränderungen und unerwartete Herausforderungen zu reagieren.<br />
Das Problem liegt nun darin, dass Zukunft sich der Beschreibung<br />
durch Kennzahlen entzieht. Die Wirklichkeit ist zu komplex, wird<br />
von zu vielen Faktoren bestimmt, die auf einander einwirken, als<br />
dass man sie vorhersagen oder gar berechnen kann. Das sei den<br />
kennzahldominierten Formalisten auch irgendwie bewusst, aber<br />
statt, was eigentlich Aufgabe des Managements wäre, vor dem<br />
Hintergrund dieser Erkenntnis neue Ansätze und Lösungen zu<br />
entwickeln, lagert es diese Aufgabe aus.<br />
Davon profitiert die vergleichsweise neue Kaste der Trendund<br />
Zukunftsforscher, die sich den Kennzahlen entziehen und<br />
Wahrheiten über das Morgen verkaufen, wobei aber weder ihre<br />
Methoden noch ihre Ergebnisse der Empirie entziehen. Prof.<br />
Rust nutzte in diesem Zusammenhang Begriffe wie „statistisch<br />
invalide“, „fehleranfällig“ und „beruht auf individualistischen<br />
Perspektiven“. Die Trendforschung beanspruche eine Art religiöser<br />
Gefolgschaft, könne aber „allenfalls eine anekdotische<br />
Impression“ liefern. Erfolg hat sie laut Rust vor allem deshalb,<br />
weil sie den Chefs „Kommunikation, Inspiration, Vision, Ermutigung“<br />
und andere angestrebte Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
versprechen und dabei Verkäuflichkeit und Marktgängigkeit vor<br />
Objektivität stellen. Einer Überprüfung ihrer Arbeit anhand von<br />
Indikatoren, mit denen man Erfolg – das eigentliche Ziel jeder<br />
Beratung – messen könnte, entziehen sie sich.<br />
Erfolg haben so nur die Trend- und Zukunftsforscher selbst, denn<br />
sie liefern den Unternehmen Signale, Trends und Weichenstellungen,<br />
die unvorhersehbare Herausforderungen – scheinbar –<br />
vorhersehbar machen. Mit Methoden, so Prof. Rust, bei denen<br />
es sich meist um nichts anders handelt, als „um eine kursorische<br />
Durchsicht von Zeitungen und Zeitschriften, gelegentliche<br />
Straßenbefragungen, anekdotische Beweisketten (…), deren<br />
Schwäche durch eine Kunstsprache, durch „exotische Neologismen“<br />
kaschiert werde.<br />
Der Reiz an der Zusammenarbeit mit „Agenturen“ und „Think<br />
Tanks“, „Büros“ und „Institute“, „Scouts“, „Coolhunter“,<br />
„Futurists“ und „Forschungsteams“, die Informationen über<br />
Trends und Zukünfte anbieten, liegt für die Manager nicht zuletzt<br />
darin, dass man sich weiter in bewährten und altbekannten<br />
„Habituszirkeln“ bewegen kann, eigentlich nichts – und erst<br />
recht nicht sich selbst – verändern muss. Stattdessen würden<br />
sie von den Beratern dafür noch als kreative Klasse definiert. In<br />
Wirklichkeit aber seien Sie „Galaxien“ von der Kultur „des normalen<br />
Alltags und mithin des Marktgeschehens entfernt“.<br />
Benötigt werde aber, so der Soziologe, „ein Führungstypus,<br />
der auf den Beitrag einer intellektuellen Wertschöpfung mit der<br />
geistigen Hilfe aller Mitarbeiter setzt.“ Weil sie Repräsentanten<br />
der Alltagskultur sind „aus der die Märkte für ihre Produkte und<br />
Dienstleistungen entstehen.“ Über das Wissen darum – und<br />
31
die entsprechenden Fähigkeiten – verfügen nach Rusts Untersuchungen<br />
sehr viele der potentiellen Führungskräfte von morgen.<br />
Doch zugleich sehen die in den Führungsetagen, dass es erhebliche<br />
Defizite insbesondere bei mitarbeiterorientierten Handlungsoptionen<br />
- Rust nennt z. B. Inspiration, Ermutigung, Kommunikation,<br />
Lernbereitschaft – gibt.<br />
Die Konsequenz: Diese für die Führung von morgen geeigneten<br />
Kräfte wenden sich ab und suchen sich andere Arbeits- und<br />
Lebensfelder. Denn sie sind zwar bereit, die für den Erfolg notwendigen<br />
Anforderungen zu erfüllen, erkennen aber das Defizit an geistig<br />
offener, inspirierender kooperativer und ermutigender Führung.<br />
Das Problem: Auch wenn die Vertreter dieser zweiten Kultur die<br />
Mehrheit des Nachwuchses ausmachen, gibt es genug junge Männer<br />
und Frauen, die dem bisher verbreiteten Habitus entsprechen<br />
und ihn annehmen – und die werden heute rekrutiert, schreiben<br />
also den Status quo fort. Rust: „Somit steht wieder alles auf Anfang<br />
und die Fortdauer des klassischen Systems aus beschränktem Rationalismus<br />
und unbeschränktem Illusionismus ist gesichert.“<br />
Die Dritte Kultur müsste sich nach Auffassung von Prof. Rust an<br />
der Erkenntnis orientierten, dass wirtschaftliches Wissen „das<br />
Ergebnis einer vieldimensionalen Betrachtung der Wirklichkeit, die<br />
Beschreibung des Alltags und seiner Geschichte“ ist. Sie frage<br />
nach kurzfristigen Reaktionen auf Veränderungen in der Alltagskultur<br />
mit langfristigen Konsequenzen dieser kurzfristigen Veränderungen.<br />
Voraussetzung dafür, dies in der unternehmerischen Praxis<br />
32<br />
umzusetzen, sei „eben jene Kommunikationskultur, die jeder will,<br />
die aber aus geheimnisvollen Gründen nur selten entsteht“.<br />
Denn eigentlich bedeute Innovation nur, mit „revolutionären Mitteln<br />
alles beim Alten zu lassen“. Dafür müsse man auch die schwachen<br />
Zeichen für mögliche Veränderungen sehen, die könne man bei den<br />
eigenen Mitarbeitern als Repräsentanten der Alltagskultur erkennen.<br />
Dazu brauche es Mut und die Bereitschaft, ungeschriebene<br />
Vorschriften zu lockern und die Intelligenz der Mitarbeiter zu nutzen.<br />
Doch das ist nach Prof. Rust nur möglich „in einer kommunikativen<br />
Vertrauenskultur, in der die Entscheidungen der Führung auf der<br />
Basis einer breiten intellektuellen Wertschöpfung durch die Vernetzung<br />
vieler unterschiedlicher Geister bewirkt wird.“