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<strong>Inhalt</strong><br />

<strong>AUFSÄTZE</strong><br />

Völkerstrafrecht<br />

Der Präsident und sein Gericht<br />

Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs<br />

über den Erlass eines Haftbefehls gegen Al Bashir<br />

Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Boris Burghardt,<br />

Wiss. Mitarbeiterin Julia Geneuss, Berlin 126<br />

Strafrecht<br />

Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos<br />

Recht beugen<br />

Über ein degeneriertes „natürliches Recht“, richterliche<br />

Willkür, Geheimjustiz, Gleichheit vor dem Gesetz und<br />

historische Parallelen<br />

Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Christoph Mandla, Halle-Wittenberg 143<br />

Strafprozessrecht<br />

Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das<br />

Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />

Von Wiss. Mitarbeiterin Dr. Silke Hüls, Bielefeld 160<br />

<strong>BUCHREZENSIONEN</strong><br />

Strafrecht<br />

Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten,<br />

2007<br />

(Prof. Dr. Werner Beulke, Passau) 170<br />

Lothar Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung<br />

von Strafgesetzen, 2006<br />

(Präsident des Landgerichts Dr. Herbert Veh, Augsburg) 175<br />

Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung<br />

(Zirkumzision) Minderjähriger als verfassungs- und<br />

sozialrechtliches Problem, 2008<br />

(Wiss. Assistent Dr. Holm Putzke, LL.M., Bochum) 177<br />

Völkerstrafrecht<br />

Stefan van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen<br />

Völkerstrafrechts, 2006<br />

(Privatdozent Dr. Klaus Gärditz, Bayreuth/Bonn) 188<br />

Strafprozessrecht<br />

Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und<br />

Prozessstruktur, 2008<br />

(Prof. Dr. Ulfrid Neumann, Frankfurt a.M.) 190<br />

Klaus Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess,<br />

2005<br />

(Mag. Lisa Pühringer, Wien) 193


Der Präsident und sein Gericht<br />

Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs über den Erlass eines Haftbefehls gegen Al<br />

Bashir<br />

Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Boris Burghardt, Wiss. Mitarbeiterin Julia Geneuss*<br />

I. Einleitung<br />

Als der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs<br />

(IStGH), Luís Moreno Ocampo, am 14.7.2008 einen Antrag<br />

auf Erlass eines Haftbefehls gegen den Präsidenten des Sudan,<br />

Omar Al Bashir, wegen der Verbrechen in Darfur stellte,<br />

ging ein Raunen durch die Weltgemeinschaft. Erstmals sollten<br />

sich die Strafverfolgungsbemühungen des IStGH gegen<br />

ein amtierendes Staatsoberhaupt richten. Schnell waren,<br />

selbst aus höchsten Kreisen der Vereinten Nationen, kritische<br />

Stimmen zu vernehmen, die zu bedenken gaben, die Strafverfolgungsaktivitäten<br />

des IStGH würden internationale Friedensbemühungen<br />

in Darfur erschweren.<br />

Am 4.3.2009 hat die Vorverfahrenskammer I des IStGH<br />

über den Antrag entschieden und Haftbefehl gegen Al Bashir<br />

wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

erlassen. 1 Dagegen hat sie hinreichende Verdachtsgründe<br />

für das Vorliegen von Völkermord abgelehnt. Die<br />

Kammer ist damit in einem in seiner symbolischen Bedeutung<br />

kaum zu überschätzenden Punkt von dem Antrag des<br />

Anklägers abgewichen.<br />

Der vorliegende Beitrag fasst die Entscheidung zusammen<br />

und nimmt eine Bewertung der rechtlichen Ausführungen<br />

der Vorverfahrenskammer vor. Dabei ist es hilfreich, sich<br />

zunächst die Hintergründe des Darfur-Konflikts vor Augen<br />

zu führen und zu erläutern, wie der IStGH dazu kam, sich mit<br />

der Situation in Darfur zu befassen (dazu II.). Sodann werden<br />

die prozessualen und materiellrechtlichen Aspekte der Entscheidung<br />

analysiert (unter III.), wobei insbesondere Fragen<br />

nach der Immunität Al Bashirs (unter 1. und 4.), der Auslegung<br />

des Tatbestands der Kriegsverbrechen (2. a) aa) und der<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit (2. a) bb) sowie nach<br />

der individuellen Verantwortlichkeit Al Bashirs (2. b) vertieft<br />

werden. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf den Ausführungen<br />

zum Völkermordtatbestand (2. a) cc), insbesondere<br />

dem Erfordernis eines Kontextelements (1) und dem prozessualen<br />

Beweismaßstab bei der Zerstörungsabsicht (3). In<br />

einem abschließenden Fazit werden die wichtigsten Punkte<br />

der Entscheidung zusammengefasst und der Versuch eines<br />

Ausblicks unternommen (unter IV.).<br />

* Dr. Boris Burghardt ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für<br />

deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht<br />

und Juristische Zeitgeschichte, Julia Geneuss ist Wiss. Mitarbeiterin<br />

an der Lichtenberg-Professur für Internationales<br />

Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, beide Humboldt-<br />

Universität zu Berlin. Prof. Dr. Gerhard Werle und Prof. Dr.<br />

Florian Jeßberger danken wir für wertvolle Anregungen.<br />

1<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009 (Al Bashir, Pre-Trial Chamber<br />

I). Die Entscheidung ist abrufbar unter www.icccpi.int/iccdocs/doc/doc639096.pdf,<br />

der Haftbefehl unter<br />

www.icc-cpi.int/iccdocs/doc/doc639078.pdf (10.4.2009).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

126<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

II. Die Vorgeschichte: Der IStGH und Darfur<br />

1. Der Darfur-Konflikt<br />

Darfur bezeichnet eine Region im Westen Sudans. 2 Die Bevölkerung<br />

Darfurs setzt sich aus einer Vielzahl verschiedener<br />

Stämme zusammen, die alle sunnitische Muslime sind. 3 Anhand<br />

ihrer Lebensweise kann die Bevölkerung in zwei Gruppen<br />

unterteilt werden: Zum einen in nomadische Viehzüchter,<br />

in der Regel arabische Stämme, deren Existenz auf Einwanderungsbewegungen<br />

im 13. und Mitte des 18. Jahrhunderts<br />

zurückgehen; zum anderen in zumeist afrikanisch-stämmige,<br />

sesshafte Ackerbauern. Zu letzteren zählen auch die Stämme<br />

der Fur, Masalit und Zaghawa.<br />

Konflikte innerhalb dieses ethnisch komplexen Gefüges<br />

gab es schon lange; gewöhnlich ging es dabei um den Zugang<br />

zu Land und Wasser. Die Konkurrenz um knappe Ressourcen<br />

verschärfte sich mit der Zeit jedoch zusehends. Es kam, bedingt<br />

durch lang anhaltende Dürreperioden, zum Rückgang<br />

von Anbauflächen, Weideland und Wasserstellen, was zu<br />

schweren Hungersnöten führte. Es folgten Wanderbewegungen<br />

in die niederschlagsreicheren Gebiete. Die nomadisch<br />

lebenden arabischen Stämme griffen zunehmend auf das<br />

Weideland der sesshaften afrikanischen Bauern zu. Diese<br />

wiederum versuchten, die Nomaden von dem fruchtbareren<br />

Land auszusperren. Dadurch kam es zu immer gewalttätigeren<br />

Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen<br />

Gruppen, die durch traditionelle Streitschlichtungsmechanismen<br />

nicht mehr aufzulösen waren. 4 Die Kontrahenten dieser<br />

Konflikte waren demnach zwar durchaus ethnisch zu unterscheiden,<br />

die ethnische Diversität war jedoch nicht die Ursache<br />

der Auseinandersetzungen. 5<br />

Erst im Laufe der Zeit wurden die Auseinandersetzungen<br />

ethnisch aufgeladen. Die wirtschaftliche und politische Marginalisierung<br />

durch die Zentralregierung führte zur ökonomischen<br />

und sozialen Unterentwicklung Darfurs. 6 Durch Arabisierungsbestrebungen<br />

der sudanesischen Regierung und politische<br />

Benachteiligung der afrikanischen Stämme wurde das<br />

2 Der Name stammt aus dem Arabischen und bedeutet<br />

„Land/Heimat/Haus der Fur“. Die Region Darfur erstreckt<br />

sich über ein Gebiet, das etwa der Größe Frankreichs entspricht,<br />

und umfasst drei der 26 sudanesischen Bundesstaaten.<br />

Vgl. Elliesie, Verfassung und Recht in Übersee 2007,<br />

199 (200).<br />

3 El Ouazghari, Grund zur Hoffnung? Die Afrikanische Union<br />

und der Darfur Konflikt, HSFK-Report 14/2007, S. 16.<br />

4 Siehe hierzu Strube-Edelmann, Der Darfur-Konflikt – Genese<br />

und Verlauf, Wissenschaftliche Dienste – Deutscher<br />

Bundestag, 2006, S. 10; Khalafalla, Aus Politik und Zeitgeschichte<br />

4/2005, 40 (43).<br />

5 Khalafalla, Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2005, 41;<br />

Elliesie, Verfassung und Recht in Übersee 2007, 201 f.<br />

6 El Ouazghari (Fn. 3), S. 17.


Der Präsident und sein Gericht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

zwischen den Gruppen bestehende Konfliktpotenzial von der<br />

Politik ausgenutzt, um eigene Interessen durchzusetzen und<br />

Macht und Einfluss zu gewinnen. 7 In dieser Situation bildeten<br />

sich verschiedene bewaffnete Widerstandsbewegungen in<br />

Darfur, deren Mitglieder zum größten Teil den Stämmen der<br />

Fur, Masalit oder Zaghawa angehören. Als die größten und<br />

einflussreichsten dieser Rebellengruppen sind die Sudan<br />

Liberation Army (SLA) und das Justice and Equality Movement<br />

(JEM) zu nennen; doch besteht daneben eine Vielzahl<br />

von Splittergruppen. Die Rebellengruppen fordern eine gerechtere<br />

Verteilung finanzieller Ressourcen und politischer<br />

Macht, sind untereinander jedoch teilweise zerstritten und<br />

bekämpfen sich gegenseitig.<br />

Die gegenwärtige Phase des Konflikts begann Anfang<br />

2003 mit Angriffen der Rebellen auf El Fasher, die Hauptstadt<br />

des Bundesstaates Nord-Darfur. Bei diesen Angriffen<br />

wurden unter anderem der Flughafen und militärisches Gerät<br />

zerstört und zahlreiche Regierungssoldaten getötet. 8 Die<br />

Zentralregierung in Khartum antwortete ihrerseits mit massiver<br />

militärischer Gewalt. Bei der Bekämpfung der Rebellen<br />

bediente sie sich nicht nur der bewaffneten Streitkräfte, der<br />

Polizei und des Geheimdienstes, sondern auch der sogenannten<br />

Janjaweed-Milizen. Dabei handelt es sich um berittene<br />

und bewaffnete, gut organisierte arabische Gruppen, die sich<br />

in einer „Grauzone zwischen Banditentum und regierungsnahen<br />

Schlägertruppen“ 9 bewegen und bereits Ende der 80er<br />

Jahre zum ersten Mal in Erscheinung traten. Die Regierungsseite<br />

beschränkte sich nicht auf gezielte Aktionen gegen die<br />

Rebellen, sondern richtete ihre Angriffe vor allem gegen die<br />

Zivilbevölkerung. 10 Die Angriffe liefen in der Regel nach<br />

einem einheitlichen Muster ab: Die Armee führte zunächst<br />

großflächige Bombardements aus der Luft durch. Nach den<br />

Luftangriffen rückten die Janjaweed an, umstellen die Dörfer,<br />

plünderten und brannten die Häuser nieder, vergewaltigten<br />

und töteten die fliehenden Dorfbewohner. 11<br />

7 Auswärtiges Amt, Hintergrund und Entwicklung des Darfur-Konflikts<br />

bis 2007, abrufbar unter www.auswaertigesamt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/Afrik<br />

a/SudanDarfurHi-Gru.html (10.4.2009). Die politischen Ambitionen<br />

der Konfliktparteien hängen unter anderem auch mit<br />

der damit einhergehenden Kontrolle über die Erdölvorkommen<br />

und andere Bodenschätze in Darfur zusammen, vgl.<br />

Strube-Edelmann (Fn. 4), S. 12 f., 24.<br />

8 Beck, Zeitschrift für Genozidforschung 2004, 52 (54); El<br />

Ouazghari (Fn. 3), S. 17.<br />

9 Prunier, Darfur. Der „uneindeutige“ Genozid, 2007, S. 129.<br />

Die Milizen rekrutieren sich aus Straßenräubern, entlassenen<br />

Soldaten, Arbeitslosen. Die Regierung des Sudan bestreitet<br />

zwar eine Kooperation mit den Janjaweed, doch lässt sich<br />

dies in Anbetracht der zahlreichen Beweise kaum bezweifeln;<br />

vgl. Beck, Zeitschrift für Genozidforschung 2004, 56; El<br />

Ouazghari (Fn. 3), S. 18.<br />

10 Auswärtiges Amt (Fn. 7); vgl. auch Welzer, Klimakriege,<br />

2008, S. 98.<br />

11 Vgl. Prunier (Fn. 9), S. 132 ff.; Beck, Zeitschrift für Geno-<br />

zidforschung 2004, 56 f.<br />

Allein bis zum Februar 2005 wurden in dieser Weise etwa<br />

75% der Dörfer in Darfur niedergebrannt. 12 Nach Schätzungen<br />

hat der Konflikt bislang zwischen 200.000 und 500.000<br />

Tote gefordert. 13 Etwa 2,5 Millionen Menschen wurden zur<br />

Flucht gezwungen. 14 Sie leben und sterben in behelfsmäßigen<br />

Flüchtlingslagern im Grenzgebiet zum Tschad unter katastrophalen<br />

Bedingungen.<br />

Obgleich die Intensität der Angriffe inzwischen abgenommen<br />

hat, kommt es bis heute immer wieder zu den beschriebenen<br />

Attacken auf Siedlungen und Flüchtlingslager.<br />

Auch den Rebellengruppen wird vorgeworfen, humanitäres<br />

Völkerrecht in massiver Weise zu missachten. Verschiedene<br />

Waffenstillstands- und Friedensabkommen zwischen den<br />

Rebellengruppen und der Regierung, unter anderem durch<br />

Vermittlung des Tschad und der Afrikanischen Union, wurden<br />

bis in die jüngste Vergangenheit stets innerhalb kurzer<br />

Zeit von beiden Konfliktparteien gebrochen. 15<br />

2. Die „Situation Darfur“ vor dem IStGH<br />

Als sich die Eskalation der Gewalt und das Ausmaß der humanitären<br />

Katastrophe in Darfur immer deutlicher abzeichneten,<br />

beauftragte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im<br />

Jahr 2004 eine unabhängige Expertenkommission mit der<br />

Untersuchung der Situation in Darfur unter völkerstrafrechtlichen<br />

Gesichtspunkten. 16 In ihrem Bericht kam die Kommission<br />

zu dem Schluss, dass von der Regierung des Sudan und<br />

den Janjaweed Verbrechen gegen die Menschlichkeit und<br />

Kriegsverbrechen begangen werden. Eine Völkermordpolitik<br />

werde seitens der Regierung des Sudan jedoch nicht verfolgt.<br />

Weiter stellte die Kommission fest, dass das sudanesische<br />

Justizsystem weder bereit noch in der Lage sei, die begangenen<br />

Verbrechen selbst zu verfolgen. 17<br />

Der Empfehlung der Expertenkommission folgend, überwies<br />

der Sicherheitsrat die „Situation Darfur“ 18 gemäß Kapi-<br />

12<br />

Cohen/O’Neill, 62 Bulletin of the Atomic Scientists<br />

(2006), 51 (54), zitiert nach El Ouazghari (Fn. 3), S. 18.<br />

13<br />

Welzer (Fn. 10), S. 96.<br />

14<br />

Auswärtiges Amt (Fn. 7).<br />

15<br />

Vgl. hierzu auch Welzer (Fn. 10), S. 98 f.<br />

16<br />

UN-Sicherheitsrat, Resolution 1564 vom 18.9.2004, UN Doc.<br />

S/RES/1564 (2004), abrufbar unter http://daccessdds.<br />

un.org/doc/UNDOC/GEN/N04/515/47/PDF/N0451547.pdf?Open<br />

Element (10.4.2009).<br />

17<br />

Report of the International Commission of Inquiry on Darfur<br />

to the United Nations Secretary-General of 25 January 2005,<br />

UN Doc. S/2005/60. Der Bericht der Kommission, die von dem<br />

ehemaligen Präsident des Jugoslawien-Strafgerichtshofs Antonio<br />

Cassese geleitet wurde, ist abrufbar unter<br />

www.un.org/News/dh/sudan/com_inq_darfur.pdf (10.4.2009).<br />

Zu dem Bericht siehe Fletcher/Ohlin, 3 Journal of International<br />

Criminal Justice (2005), 539; Kreß, 3 Journal of International<br />

Criminal Justice (2005), 562; Schabas, 18 Leiden Journal of<br />

International Law (2005), 871.<br />

18<br />

Der Begriff der „Situation“ ist hier im prozessualen Sinne<br />

zu verstehen (vgl. Art. 13, 14 IStGH-Statut): Er umfasst den<br />

gesamten Konflikt, in dem möglicherweise Völkerrechtsverbrechen<br />

begangen werden, und steht damit in Abgrenzung<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

127


Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

tel VII der UN-Charta durch Resolution 1593 vom 31.3.2005<br />

an den IStGH. 19 Am 6.6.2005 leitete der Ankläger des IStGH<br />

gemäß Art. 53 Abs. 1 IStGH-Statut ein förmliches Ermittlungsverfahren<br />

ein. Ende April 2007 erließ der Gerichtshof<br />

auf Antrag des Anklägers gegen den ehemaligen sudanesischen<br />

Innenminister Ahmad Harun sowie den Janjaweed-<br />

Führer Ali Kushayb Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen und<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 20 Am 14.7.2008 beantragte<br />

der Ankläger bei der Vorverfahrenskammer I gemäß<br />

Art. 58 IStGH-Statut den Erlass eines Haftbefehls gegen Al<br />

Bashir wegen des Verdachts von Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord. 21<br />

III. Die Entscheidung der Vorverfahrenskammer<br />

Die Vorverfahrenskammer hat dem Antrag des Anklägers auf<br />

Erlass eines Haftbefehls gegen Al Bashir stattgegeben. Die<br />

erforderlichen Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls<br />

hat die Kammer in drei Schritten untersucht. Zunächst<br />

prüft sie, ob der Fall grundsätzlich der Gerichtsbarkeit (jurisdiction)<br />

des IStGH unterfällt und die Ausübung der Gerichtsbarkeit<br />

zulässig (admissible) ist (siehe dazu 1.). Im zweiten<br />

Schritt wird untersucht, ob nach dem vom Ankläger präsentierten<br />

Beweismaterial begründeter Verdacht besteht, dass Al<br />

Bashir für mindestens ein der Jurisdiktion des IStGH unterfallendes<br />

Verbrechen strafrechtlich verantwortlich ist (dazu<br />

2.). Schließlich prüft die Kammer, ob der Haftbefehl als prozessuales<br />

Instrument erforderlich ist (dazu 3.). Darüber hinaus<br />

trifft sie bestimmte Begleitverfügungen zum Haftbefehl<br />

(dazu 4.).<br />

1. Gerichtsbarkeit und Zulässigkeit<br />

a) Gerichtsbarkeit in örtlicher, zeitlicher, sachlicher und<br />

persönlicher Hinsicht<br />

Die Begründung der Gerichtsbarkeit des IStGH in örtlicher,<br />

zeitlicher und sachlicher Hinsicht bereitet der Vorverfahrens-<br />

zu einem konkreten Fall (case) im Sinne des Art. 17 IStGH-<br />

Statut, der sich bereits auf bestimmte Personen oder Taten<br />

bezieht. Siehe hierzu Olásolo, 20 Leiden Journal of International<br />

Law (2007), 193.<br />

19<br />

UN-Sicherheitsrat, Resolution 1593 vom 31.3.2005,<br />

UN Doc. S/RES/1593 (2005), abrufbar unter http://daccessdds.<br />

un.org/doc/UNDOC/GEN/N05/292/73/PDF/N0529273.pdf?Ope<br />

nElement (10.4.2009). Die dem IStGH als Institution zumindest<br />

skeptisch gegenüber eingestellten ständigen Sicherheitsratsmitglieder<br />

China, Russland und USA ermöglichten diesen<br />

Beschluss, indem sie sich ihrer Stimme enthielten. Zu der<br />

Resolution 1593 siehe Condorelli/Ciampi, 3 Journal of International<br />

Criminal Justice (2005), 590.<br />

20<br />

IStGH, Beschl. v. 27.4.2007 (Ahmad Harun and Ali Kushayb,<br />

Pre-Trial Chamber I). Die Haftbefehle sind abrufbar<br />

unter www2.icc-cpi.int/Menus/ICC/Situations+and+Cases/Situations/Situation+ICC+0205/<br />

(10.4.2009).<br />

21<br />

Verschiedene rechtliche Gesichtspunkte des Antrags des<br />

Anklägers werden in den Editorial Comments von Cayley,<br />

Gosnell, Jeßberger/Geneuss, Sluiter und Ciampi, 6 Journal of<br />

International Criminal Justice (2008), 829-897, vertieft.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

128<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

kammer keine Schwierigkeiten. Ratione loci und ratione<br />

temporis ergibt sich die Gerichtsbarkeit aus Art. 13 lit. b<br />

IStGH-Statut kraft Zuweisung durch Beschluss des UN-<br />

Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN-Charta. 22 Dass der<br />

Sudan kein Vertragsstaat des IStGH-Statuts ist, hindert die<br />

Gerichtsbarkeit des IStGH nicht. Art. 12 Abs. 2 IStGH-<br />

Statut, der bestimmt, dass der Gerichtshof grundsätzlich nur<br />

über Taten urteilt, die entweder auf dem Territorium oder von<br />

Staatsangehörigen eines Vertragsstaates begangen wurden,<br />

findet in Fällen der Überweisung einer Situation durch den<br />

Sicherheitsrat keine Anwendung. 23 In sachlicher Hinsicht<br />

betreffen die Vorwürfe des Anklägers Kriegsverbrechen,<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, so<br />

dass auch an der Gerichtsbarkeit des IStGH ratione materiae<br />

gemäß Art. 5 Abs. 1 IStGH-Statut kein Zweifel besteht. 24<br />

Etwas größeren Begründungsaufwand widmet die Kammer<br />

hingegen der Gerichtsbarkeit ratione personae. 25 Hier<br />

stellt sich die Frage der Immunität Al Bashirs angesichts<br />

seiner amtlichen Eigenschaft als Staatsoberhaupt des Sudan.<br />

Zwar regelt Art. 27 IStGH-Statut, dass die amtliche Eigenschaft<br />

einer Person weder einen Ausschlussgrund für die<br />

strafrechtliche Verantwortlichkeit bildet (Abs. 1) noch prozessuale<br />

Verfolgungshindernisse begründen kann (Abs. 2).<br />

Im vorliegenden Fall war jedoch zu berücksichtigen, dass der<br />

Sudan kein Vertragsstaat zum IStGH-Statut ist. Zu prüfen<br />

war daher, ob Art. 27 IStGH-Statut dennoch Anwendung<br />

findet oder ob auf die Immunitätsregelungen des Völkerrechts<br />

zurückgegriffen werden muss. Ob auch nach diesen<br />

Regeln eine Immunität Al Bashirs ausscheidet, ist zweifelhaft.<br />

26<br />

22<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 37 ff.<br />

23<br />

Das ergibt sich im Umkehrschluss aus Art. 12 Abs. 2<br />

IStGH-Statut. Vgl. hierzu Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl.<br />

2007, Rn. 232. Abgeleitet wird die Gerichtsbarkeit des IStGH<br />

in diesen Fällen unmittelbar vom UN-Sicherheitsrat, der nach<br />

Kapitel VII der UN Charta völkerrechtlich verbindliche<br />

Maßnahmen zur Friedenssicherung gegenüber allen Mitgliedstaaten<br />

der UN treffen kann. Auf dieser Grundlage wurden<br />

1993 der Jugoslawien- (JStGH) und 1995 der Ruanda-<br />

Strafgerichtshof (RStGH) errichtet.<br />

24<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 39.<br />

25<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 40 ff.<br />

26<br />

Völkerrechtlich genießt ein enger Kreis von hochrangigen<br />

Staatsbediensteten für die Dauer ihrer Amtszeit grundsätzlich<br />

Immunität ratione personae. Hierunter fallen Staats- und<br />

Regierungschefs, Diplomaten und nach dem Urteil des Internationalen<br />

Gerichtshofs (IGH) im Haftbefehlsfall auch Außenminister.<br />

Nach Auffassung des IGH gilt dies selbst im<br />

Fall des Verdachts eines Völkerrechtsverbrechens. Siehe<br />

IGH, Urt. v. 14.2.2002 (Arrest Warrant of 11 April 2000<br />

[Democratic Republic of the Congo v. Belgium]). Zum Ganzen<br />

ausführlich Kreicker, Völkerrechtliche Exemtionen,<br />

2007; ders., Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften<br />

2008, S. 157; Kreß, GA 2003, 25; Ipsen, Völkerrecht,<br />

5. Aufl. 2004, § 26 Rn. 41. Umstritten ist jedoch, ob der persönliche<br />

Immunitätsschutz völkergewohnheitsrechtlich nur<br />

vor staatlichen oder auch vor internationalen Gerichten gilt.


Der Präsident und sein Gericht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Die Vorverfahrenskammer ist der Ansicht, die Funktion Al<br />

Bashirs als amtierender Präsident des Sudan schließe die<br />

Kompetenz des IStGH ratione personae nicht aus. Zur Begründung<br />

macht sie im Wesentlichen folgende Überlegung<br />

geltend: Mit der Übertragung der Darfur-Situation durch den<br />

UN-Sicherheitsrat sei das gesamte Regelungsinstrumentarium<br />

des IStGH anwendbar geworden. Aus dem IStGH-Statut<br />

ergebe sich aber die Unbeachtlichkeit der amtlichen Eigenschaft<br />

als Staatsoberhaupt und der Ausschluss sämtlicher<br />

Immunitätsregeln. Dabei bezieht sich die Kammer neben<br />

Art. 27 IStGH-Statut auch auf die Präambel, nach der übergeordnetes<br />

Ziel des Gerichtshofs ist, Straflosigkeit von Völkerrechtsverbrechern<br />

zu vermeiden. 27 Angesichts dieser klaren<br />

Grundentscheidung des Statuts zur Frage der Immunität<br />

komme auch ein Rückgriff auf die allgemeinen Regeln des<br />

Völkerrechts nicht in Betracht, da es an der für einen solchen<br />

Rückgriff gemäß Art. 21 Abs. 1 lit. a und b IStGH-Statut<br />

erforderlichen Regelungslücke fehle. Diese Argumentation<br />

vermag freilich nur dann zu überzeugen, wenn man zwei<br />

implizite Annahmen der Vorverfahrenskammer teilt: Erstens,<br />

dass der UN-Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel<br />

VII der UN-Charta rechtsschöpferisch tätig werden kann. Nur<br />

dann lässt sich begründen, warum mit der Übertragung der<br />

Situation Darfur auf den IStGH die Vorschriften des IStGH-<br />

Statuts ungeachtet ihrer Geltung als Völkergewohnheitsrecht<br />

anwendbar sein sollen. Und zweitens muss die Prämisse<br />

überzeugen, dass in der Übertragung einer Situation an den<br />

IStGH tatsächlich die Erklärung zu sehen ist, jede Einzelregel<br />

des IStGH-Statuts solle anwendbar sein. 28<br />

b) Zulässigkeit (admissibility)<br />

Grundsätzlich umfasst die Zulässigkeitsprüfung nach Art. 17<br />

IStGH-Statut Fragen des Vorrangs nationaler Strafverfahren<br />

(Komplementaritätsprinzip) und der Erheblichkeit (gravity)<br />

der Sache. 29 Ob der Grundsatz der Komplementarität auch<br />

dann Anwendung findet, wenn der IStGH aufgrund der Übertragung<br />

einer Situation zur Untersuchung durch Beschluss<br />

des Sicherheitsrats tätig wird, wird nicht einheitlich beur-<br />

Für den völkergewohnheitsrechtlichen Ausschluss des Immunitätsschutzes<br />

ratione personae vor internationalen Gerichten<br />

Werle (Fn. 23), Rn. 616; Kreicker, Exemtionen,<br />

a.a.O., S. 759 ff.; Steinberger-Frauenhofer, Internationaler<br />

Strafgerichtshof und Drittstaaten, 2008, S. 202 ff. In diese<br />

Richtung weist auch ein obiter dictum des IGH im Haftbefehlsfall:<br />

Eine Strafverfolgung amtierender Amtsträger vor<br />

einem zuständigen internationalen Strafgerichtshof käme<br />

durchaus in Betracht; dabei nimmt der IGH u.a. ausdrücklich<br />

auf Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut Bezug; IGH, a.a.O, para. 61;<br />

siehe auch Kreß, a.a.O., 37 ff. Zur Immunität ratione personae<br />

gegenüber staatlicher Gerichtsbarkeit siehe unten III. 4.<br />

27<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 42 ff.<br />

28<br />

Dass diese Prämissen nicht selbstverständlich sind, zeigen<br />

beispielhaft Bock/Preis, Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften<br />

2007, S. 148.<br />

29<br />

Zur Zulässigkeitsprüfung vgl. Cárdenas, Die Zulässigkeitsprüfung<br />

vor dem Internationalen Strafgerichtshof, 2005.<br />

teilt. 30 Die Kammer stellt insoweit fest, dass eine Prüfung der<br />

Zulässigkeit gemäß Art. 19 Abs. 1, 2 IStGH-Statut in ihrem<br />

Ermessen liege. Im vorliegenden Fall verzichtet sie vorerst<br />

auf eine genaue Prüfung, da zum einen der Antrag des Anklägers<br />

auf Erlass des Haftbefehls ex parte und vertraulich<br />

eingereicht wurde und zum anderen keine Tatsachen vorlägen,<br />

die der Kammer Anlass geben, an der Zulässigkeit zu<br />

zweifeln. Insbesondere seien keine Anhaltspunkte ersichtlich,<br />

dass im Sudan ein Verfahren gegen Al Bashir für die hier in<br />

Frage stehenden Taten durchgeführt werde oder die Taten<br />

unter der in Art. 17 Abs. 1 lit. d IStGH-Statut aufgestellten<br />

Erheblichkeitsschwelle zurück blieben. 31<br />

2. Bestehen eines begründeten Verdachts gegen Al Bashir<br />

Der Erlass eines Haftbefehls kommt nach Art. 58 Abs. 1<br />

IStGH-Statut nur dann in Betracht, wenn nach Auffassung<br />

der Vorverfahrenskammer angesichts des vom Ankläger<br />

vorgetragenen Beweismaterials der „begründete Verdacht“<br />

(reasonable grounds to believe) besteht, dass die betreffende<br />

Person die ihr vorgeworfenen Verbrechen begangen hat.<br />

Entsprechend der bei den ad hoc-Strafgerichtshöfen wie dem<br />

IStGH üblichen Systematisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen<br />

32 erfolgt die Untersuchung in zwei Hauptschritten: Im<br />

ersten Schritt prüft die Vorverfahrenskammer, ob begründeter<br />

Verdacht besteht, dass überhaupt Völkerrechtsverbrechen<br />

gemäß Art. 5 IStGH-Statut in Darfur begangen wurden (hierzu<br />

a). 33 Dabei fragt die Kammer zunächst jeweils nach dem<br />

sogenannten Kontextelement, also dem Kontext organisierter<br />

Gewalt, welcher der Einzeltat ihr spezifisches völkerstrafrechtliches<br />

Gepräge gibt, 34 sodann nach dem Einzelverbrechen.<br />

Im zweiten Schritt untersucht die Kammer, ob begründeter<br />

Verdacht besteht, dass Al Bashir für ein solches<br />

Verbrechen strafrechtlich verantwortlich ist (dazu unter b). 35<br />

a) Völkerrechtsverbrechen in Darfur<br />

Die Vorverfahrenskammer gelangt zu dem Ergebnis, dass<br />

begründeter Verdacht hinsichtlich der Begehung von Kriegsverbrechen<br />

und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliege.<br />

Dagegen verneint sie ausreichende Verdachtsgründe für<br />

Völkermord.<br />

30 Nach Werle (Fn. 23), Rn. 245, finden die Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />

nach Art. 17 in diesem Fall keine Anwendung;<br />

a.A. Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 8<br />

Rn. 10; Meißner, Die Zusammenarbeit mit dem Internationalen<br />

Strafgerichtshof nach dem Römischen Statut, 2003,<br />

S. 104 ff.; Kleffner, Complementarity in the Rome Statute<br />

and National Criminal Jurisdictions, 2008, S. 165 m.w.N.<br />

31 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 46 ff.<br />

32 Siehe dazu näher Burghardt, Die Vorgesetztenverantwortlichkeit<br />

im völkerrechtlichen Straftatsystem, 2008, S. 265 ff.<br />

Vgl. auch Zahar/Sluiter, International Criminal Law, 2008,<br />

S. 220.<br />

33 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 52 ff.<br />

34 Siehe dazu Werle (Fn. 23), Rn. 332.<br />

35 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 209 ff.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

129


Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

aa) Kriegsverbrechen<br />

Die Kammer stellt fest, dass begründeter Verdacht hinsichtlich<br />

der Begehung von Kriegsverbrechen in Darfur vorliege.<br />

Jedenfalls zwischen März 2003 und Juli 2008 habe ein nichtinternationaler<br />

bewaffneter Konflikt zwischen der sudanesischen<br />

Regierung in Khartum und ihren Streitkräften, einschließlich<br />

der Janjaweed-Milizen, auf der einen Seite und<br />

den Rebellen, insbesondere der SLA und der JEM, auf der<br />

anderen Seite bestanden. 36<br />

Nach Art. 8 Abs. 2 lit. f IStGH-Statut ist der nichtinternationale<br />

bewaffnete Konflikt insbesondere von inneren<br />

Unruhen und Spannungen (internal disturbances and tensions)<br />

abzugrenzen. Die Kriegsverbrechenstatbestände finden<br />

daher nur auf solche bewaffneten Auseinandersetzungen<br />

Anwendung, die „lang anhaltend“ (protracted) sind. Was<br />

„lang anhaltend“ meint, hat dieselbe Kammer bereits in ihrer<br />

Entscheidung zur Bestätigung der Anklage (confirmation of<br />

charges) gemäß Art. 61 IStGH-Statut im Verfahren gegen<br />

Thomas Lubanga Dyilo näher bestimmt. Danach bezeichnet<br />

„lang anhaltend“ nicht nur eine zeitliche Ausdehnung der<br />

Auseinandersetzung, sondern auch einen bestimmten Grad an<br />

Intensität der Gewaltanwendung. 37 Die Kammer hat angesichts<br />

der umfangreichen Militäroperationen der beiden Konfliktparteien<br />

keinen Zweifel daran, dass die Ereignisse einen<br />

entsprechenden „lang anhaltenden“ Charakter aufweisen. 38<br />

Es bestehe überdies der begründete Verdacht, dass im<br />

Rahmen dieses Konfliktes Kriegsverbrechen begangen wurden,<br />

nämlich das Kriegsverbrechen des vorsätzlichen Angriffs<br />

auf die Zivilbevölkerung als solche oder auf einzelne<br />

Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar<br />

teilnehmen (Art. 8 Abs. 2 lit. e, i IStGH-Statut) und das<br />

Kriegsverbrechen der Plünderung (Art. 8 Abs. 2 lit. e, v<br />

IStGH-Statut). 39 In diesem Zusammenhang spricht die Kammer<br />

von hunderten von Angriffen der Regierungskräfte auf<br />

die Zivilbevölkerung der Fur, Masalit und Zaghawa und<br />

nennt beispielhaft eine Reihe von Angriffen auf bestimmte<br />

Siedlungen, Dörfer und Städte. 40<br />

bb) Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

Die Kammer bejaht darüber hinaus das Vorliegen begründeten<br />

Verdachts hinsichtlich verschiedener Verbrechen gegen<br />

die Menschlichkeit gemäß Art. 7 IStGH-Statut. Seitens der<br />

Regierungstruppen habe es in Darfur einen ausgedehnten und<br />

systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung im Sinne<br />

von Art. 7 Abs. 2 IStGH-Statut gegeben. Dörfer und Städte<br />

insbesondere der Fur, Masalit und Zaghawa seien über fünf<br />

Jahre immer wieder nach demselben Muster angegriffen<br />

worden. Es bestehe der begründete Verdacht, dass es im<br />

Rahmen dieser Angriffe zu vorsätzlichen Tötungen (Art. 7<br />

36 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 70.<br />

37 Vgl. IStGH, Beschl. v. 29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-<br />

Trial I), paras. 234, 235, im Anschluss an JStGH, Beschl. v.<br />

2.10.1995 (Tadic, Appeals Chamber), para. 70.<br />

38 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 60 ff.<br />

39 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 78.<br />

40 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 72 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

130<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Abs. 1 lit. a IStGH-Statut), Ausrottung (Art. 7 Abs. 1 lit. b<br />

IStGH-Statut), zwangsweiser Überführung der Bevölkerung<br />

(Art. 7 Abs. 1 lit. d IStGH-Statut), Folter (Art. 7 Abs. 1 lit. f<br />

IStGH-Statut) und Vergewaltigungen (Art. 7 Abs. 1 lit. g<br />

IStGH-Statut) gekommen sei. 41<br />

Eine Konkretisierung dieser Tatbestände erfolgt nur für<br />

die Ausrottung und die vorsätzliche Tötung. Während sich<br />

die nähere Bestimmung des Ausrottungstatbestands in den<br />

Pfaden der Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale bewegt, 42<br />

findet sich bei der Prüfung vorsätzlicher Tötungen ein interessanter<br />

Gedanke. Diesbezüglich stellt die Vorverfahrenskammer<br />

klar, dass im vorliegenden Fall nur solche vorsätzlichen<br />

Tötungen den Verbrechenstatbestand gemäß Art. 7<br />

Abs. 1 lit. a IStGH-Statut erfüllen, die nach den Regeln des<br />

humanitären Völkerrechts verboten sind. 43 Damit schneidet<br />

sie – wenngleich lediglich beiläufig – eine komplexe und<br />

bislang wenig behandelte Rechtsfrage an, die das Verhältnis<br />

der völkerrechtlichen Verbrechenstatbestände zueinander<br />

bzw. ihre Beeinflussung durch die Regeln des humanitären<br />

Völkerrechts betrifft. Zwar zwingt das Recht der bewaffneten<br />

Konflikte grundsätzlich zu der Unterscheidung militärischer<br />

und nichtmilitärischer Ziele (principle of distinction) und<br />

untersagt prinzipiell Angriffe gegen Zivilisten und zivile<br />

Objekte. Es gibt es jedoch Ausnahmen. Nicht jede vorsätzliche<br />

Tötung eines Zivilisten ist nach den Regeln des humanitären<br />

Völkerrechts verboten. 44 Andererseits können Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit nach allgemeiner Auffassung<br />

auch (und gerade) im Rahmen bewaffneter Konflikt begangen<br />

werden. 45<br />

Wird eine Ausstrahlungswirkung des humanitären Völkerrechts<br />

auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verneint,<br />

stellt sich daher das Problem, dass die Tötung einer<br />

Person nach dem Recht der bewaffneten Konflikte zulässig<br />

sein kann, während sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

als strafbares Verhalten bewertet werden würde. 46 In<br />

41<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 109.<br />

42<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 96 ff. Zur Rechtsprechung<br />

der ad hoc-Strafgerichtshöfe siehe zuletzt zusammenfassend<br />

RStGH, Urt. v. 12.3.2008 (Seromba, Appeals<br />

Chamber), para. 189; RStGH, Urt. v. 18.12.2008 (Bagosora<br />

u.a., Trial Chamber), paras. 2191 ff.<br />

43<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 92.<br />

44<br />

Zum principle of distinction als Grundsatz im Recht der<br />

bewaffneten Konflikte sowie zu Situationen, in denen die<br />

vorsätzliche Tötung oder Verletzung von Zivilisten nicht<br />

gegen das Recht der bewaffneten Konflikte verstößt, siehe<br />

ausführlich Olásolo, Unlawful Attacks in Combat Situations.<br />

From the ICTY’s Case Law to the Rome Statute, 2008, S. 13 ff.<br />

45<br />

Vgl. nur Art. 6 lit.c IMG-Statut, Art. 5 lit. c IMGFO-Statut<br />

und Art. 5 JStGH-Statut, die jeweils noch verlangen, das<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit müsse im Zusammenhang<br />

mit einem bewaffneten Konflikt verübt werden. Zu<br />

dieser inzwischen auch als Jurisdiktionserfordernis überwundenen<br />

Voraussetzungen siehe Werle (Fn. 23), Rn. 744 ff.<br />

46<br />

Parallele Probleme sind auch im Verhältnis von humanitärem<br />

Völkerrecht und dem Völkermordtatbestand denkbar.<br />

Vgl. dazu Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener


Der Präsident und sein Gericht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

der Konsequenz liefe dies auf eine zusätzliche Limitierung<br />

der völkerrechtlich zulässigen Kampfhandlungen hinaus. Es<br />

entstünde eine zweite, versteckte Spur des humanitären Völkerrechts,<br />

ein Ergebnis, das den Zweck eines ius in bello<br />

konterkariert und daher nicht überzeugen kann. Sofern ein<br />

Verhalten oder die Herbeiführung eines Erfolges im Rahmen<br />

eines bewaffneten Konflikts nach den Regeln des humanitären<br />

Völkerrechts erlaubt ist, scheidet auch eine Strafbarkeit<br />

wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus. Dies kann<br />

sowohl im Wege einer teleologischen Reduktion des Verbrechenstatbestands<br />

als auch unter Heranziehung eines unbenannten<br />

Strafausschließungsgrunds (ground for excluding<br />

criminal responsibility) gemäß Art. 31 Abs. 3 IStGH-Statut<br />

erreicht werden. 47 Der um eine Harmonisierung der Regeln<br />

des humanitären Völkerrechts und der Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit bemühte Standpunkt der Kammer ist also<br />

durchaus begrüßenswert. Zweifelhaft bleibt allerdings, ob sie<br />

zum jetzigen Verfahrensstand Stellung zu dieser grundsätzlichen<br />

Rechtsfrage beziehen musste. 48<br />

cc) Völkermord<br />

Die bei weitem ausführlichsten Ausführungen betreffen den<br />

begründeten Verdacht für das Vorliegen von Völkermord in<br />

Darfur. Im Ergebnis hat die Vorverfahrenskammer einen<br />

solchen Verdacht in einer Mehrheitsentscheidung verneint.<br />

Nach Ansicht der aus der Vorsitzenden Richterin Kuenyehia<br />

und der Richterin Steiner bestehenden Mehrheit der Kammer<br />

fehlt es an tragfähigen Hinweisen auf die für das Verbrechen<br />

des Völkermords kennzeichnende Zerstörungsabsicht (intent<br />

to destroy). 49 Zu einem anderen Ergebnis gelangt dagegen die<br />

Richterin Usacka in einem abweichenden Sondervotum. 50<br />

(1) Kontextelement des Völkermords<br />

Die Vorverfahrenskammer unternimmt zunächst einige<br />

grundsätzliche Rechtsausführungen zum Kontextelement des<br />

Völkermordtatbestands. 51 Das ist bemerkenswert, weil es sich<br />

nicht um entscheidungstragende Überlegungen handelt. Die<br />

Kammer verzichtet insoweit sogar gänzlich auf eine fallbezogene<br />

Subsumtion. Noch überraschender sind diese Ausfüh-<br />

Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 6/2 (im Erscheinen<br />

2009), § 6 VStGB Rn. 92 f.<br />

47 Im Ergebnis ebenso Akhavan, 6 Journal of International<br />

Criminal Justice (2008), 21; Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst,<br />

An Introduction to International Criminal Law and<br />

Procedure, 2007, S. 193 f.; Fenrick, Crimes in Combat: The<br />

Relationship Between Crimes Against Humanity and War<br />

Crimes, S. 11 ff., abrufbar unter www2.icc-cpi.int/NR/<br />

rdonlyres/E7C759C8-C5A4-4AD3-8AB5-EF6ED68AC1D4<br />

/0/Fenrick.pdf (10.4.2009). Ähnlich auch Special Court for<br />

Sierra Leone, Urt. v. 28.5.2008 (Fofana and Kondewa, Appeals<br />

Chamber), paras. 250 ff.<br />

48 Siehe dazu unter III. 2. a) cc) (1) (c) (cc).<br />

49 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 205, 206.<br />

50 Vgl. Abweichendes Sondervotum Richterin Usacka zu<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 84 ff.<br />

51 IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 117 ff.<br />

rungen, weil sie einen strafrechtsdogmatischen Paukenschlag<br />

beinhalten, mit dem der IStGH mit der bisherigen Rechtsprechung<br />

der ad hoc-Tribunale zum Völkermord bricht.<br />

(a) Problemaufriss<br />

Erforderlich ist nach Ansicht der Kammer, dass das von der<br />

Zerstörungsabsicht getragene Verhalten für den Fortbestand<br />

der angegriffenen Gruppe eine konkrete Bedrohung (a concrete<br />

threat) darstellt. 52 Der Bestimmung des Völkermords in<br />

Art. 6 IStGH-Statut ist ein solches Merkmal nicht zu entnehmen.<br />

Danach ist stets nur das Begehen einer in Art. 6 lit. a-e<br />

IStGH-Statut genannten Einzeltat mit der für den Völkermord<br />

charakteristischen Zerstörungsabsicht erforderlich. Ein Kontextelement<br />

wie der systematische oder ausgedehnte Angriff<br />

auf eine Zivilbevölkerung bei den Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit oder der bewaffnete Konflikt bei den Kriegsverbrechen<br />

findet sich nicht. Das gilt auch für die weitgehend<br />

wortgleichen Bestimmungen des Völkermords in Art. II der<br />

Völkermord-Konvention von 1948, in Art. 4 Abs. 2 JStGH-<br />

Statut und Art. 2 Abs. 2 RStGH-Statut. 53 Dementsprechend<br />

haben sowohl der JStGH als auch der RStGH festgestellt,<br />

dass es nicht eines die Tat des Einzelnen umfassenden Völkermordgeschehens,<br />

eines kollektiven genozidalen Handlungszusammenhangs<br />

oder einer genozidalen Politik bedürfe.<br />

Es komme auch nicht darauf an, ob das Einzelverbrechen<br />

tatsächlich zur Zerstörung der geschützten Gruppe oder eines<br />

Teils der Gruppe führe. 54<br />

Allerdings sehen die Verbrechenselemente (Elements of<br />

Crimes) zu Art. 6 IStGH-Statut, anders als das IStGH-Statut<br />

selbst, ein solches Kontextelement vor. Dort heißt es: „The<br />

conduct took place in the context of a manifest pattern of<br />

similar conduct directed against that group or was conduct<br />

that could itself effect such destruction.“ 55<br />

Wie mit diesem Befund umzugehen ist, ist seit der Staatenkonferenz<br />

in Rom umstritten. Möglich ist es, Art. 6<br />

IStGH-Statut im Licht der gefestigten Rechtsprechung der ad<br />

hoc-Tribunale zu lesen und die Verbrechenselemente als dem<br />

IStGH-Statut widersprechend gemäß Art. 9 Abs. 3 IStGH-<br />

52<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 124.<br />

53<br />

Dem entsprechend fehlt ein solches Kontextelement auch<br />

in der eng an der völkerrechtlichen „Mutternorm“ orientierten<br />

§ 6 VStGB.<br />

54<br />

Vgl. JStGH, Urt. v. 5.7.2001 (Jelisic, Appeals Chamber),<br />

para. 48; JStGH, Urt. v. 19.4.2004 (Krstic, Appeals Chamber),<br />

paras. 223 ff.; RStGH, Urt. v. 20.5.2005 (Semanza,<br />

Appeals Chamber), para. 260; RStGH, Urt. v. 27.11.2007<br />

(Simba, Appeals Chamber), para. 260. Allerdings haben die<br />

ad hoc-Strafgerichtshöfe zugleich stets betont, dass es kaum<br />

denkbar sei, individuelle Zerstörungsabsicht nachzuweisen,<br />

wenn der Täter in seinem Handeln nicht in einem genozidalen<br />

Kontext stehe; vgl. nur JStGH, Urt. v. 5.7.2001 (Jelisic,<br />

Appeals Chamber), para. 48.<br />

55<br />

Vgl. Verbrechenselemente zu Art. 6 lit. a IStGH-Statut,<br />

Nummer 4; Art. 6 lit. c, d, Nummer 5, Art. 6 lit. e, Nummer<br />

7.<br />

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131


Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />

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Statut zu übergehen. 56 Möglich ist es aber auch, das Kontextelement<br />

unter Berücksichtigung teleologischer Überlegungen<br />

bereits der Verbrechensdefinition zu entnehmen. Bei dieser<br />

Lesart sprechen die Verbrechenselemente lediglich ausdrücklich<br />

aus, was bereits Art. 6 IStGH-Statut – wie auch alle<br />

anderen völkerrechtlichen Regelungen des Völkermords<br />

zuvor – bei richtiger Auslegung enthält. 57 Eine vermittelnde<br />

Lösung erkennt in der Regelung der Verbrechenselemente<br />

zwar einen Widerspruch zu Art. 6 IStGH-Statut, will diese<br />

aber als mittelbaren Ausdruck des Willens der Vertragsstaaten<br />

nicht außer Acht lassen. Das Kontextelement wird daher<br />

nicht als Merkmal des Verbrechenstatbestands verstanden,<br />

sondern als ein die Jurisdiktion des IStGH beschränkendes<br />

Kriterium, als eine spezifische Ausformung der in Art. 17<br />

Abs. 1 lit. d IStGH-Statut vorgesehenen Erheblichkeitsschwelle<br />

(gravity threshold). 58<br />

(b) Die Lösung der Vorverfahrenskammer<br />

Die Kammer schlägt sich auf die Seite derjenigen, die das<br />

Kontextelement als ein Merkmal des Völkermordtatbestands<br />

berücksichtigt wissen wollen. Allerdings übernimmt sie nicht<br />

das Kontextelement in der Fassung der Verbrechenselemente,<br />

sondern formuliert, ohne dies näher zu erläutern, neu: Das<br />

Verbrechen des (vollendeten) Völkermords liege nur dann<br />

vor, wenn das untersuchte Verhalten eine konkrete Bedrohung<br />

für den Fortbestand der angegriffenen Gruppe oder<br />

eines Teiles dieser Gruppe darstelle (the crime of genocide is<br />

only completed when the relevant conduct presents a concrete<br />

threat to the existence of the targeted group, or part thereof).<br />

59 Ihre Begründung besteht aus mehreren methodischen<br />

Überlegungen.<br />

Zunächst wischt die Kammer die entgegenstehende<br />

Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale als für sie unbeachtlich<br />

beiseite. Der IStGH sei gem. Art. 21 Abs. 1 lit. a IStGH-<br />

Statut primär stets an sein Statut, die Verbrechenselemente<br />

und seine Beweis- und Verfahrensregeln gebunden. Andere,<br />

in Art. 21 Abs. 1 lit. b und c genannte Rechtsquellen, seien<br />

nur dann relevant, wenn Statut, Verbrechenselemente und<br />

Verfahrens- und Beweisregeln eine Lücke (lacuna) erkennen<br />

ließen, die sich auch mit den in Art. 31 und 32 der Wiener<br />

Vertragsrechtskonvention geregelten Mitteln der Auslegung<br />

nicht schließen lässt. 60 Dass für die Rechtsprechung der ad<br />

56 So z.B. Ambos (Fn. 30), § 7 Rn. 145; Lüders, Die Strafbarkeit<br />

von Völkermord nach dem Römischen Statut für den<br />

Internationalen Strafgerichtshof, 2004, S. 163 f.<br />

57 In diesem Sinne z.B. Kreß, 18 European Journal of International<br />

Law (2007), 619 (621 ff.); Triffterer, in: Schünemann<br />

u.a. (Hrsg.), Festschrift Claus Roxin zum 70. Geburtstag,<br />

2001, S. 1415 ff. (1442), allerdings mit unterschiedlicher<br />

dogmatischer Einordnung des Kontextelements. Ähnlich<br />

auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.9.1997 (Jorgic).<br />

58 So beispielsweise Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst<br />

(Fn. 47), S. 169, 177 f.; Werle (Fn. 23), Rn. 705. Ähnlich<br />

Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals,<br />

2005, S. 204.<br />

59 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 124.<br />

60 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 126.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

132<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

hoc-Tribunale unter diesen Voraussetzungen kein Platz<br />

bleibt, kann nicht überraschen.<br />

Sodann erklärt die Kammer, die Verbrechenselemente<br />

seien solange zu beachten, wie sie nicht in einem unauflöslichen<br />

Widerspruch (irreconcilable contradiction) zum IStGH-<br />

Statut stünden. Ein solcher Widerspruch liege aber hinsichtlich<br />

des in den Verbrechenselementen zum Völkermord vorgesehenen<br />

Kontextelementes nicht vor. 61 Vielmehr – und<br />

damit führt die Vorverfahrenskammer ihre dritte methodische<br />

Überlegung ein – entspreche das Erfordernis eines Kontextelementes<br />

für den Völkermord dem in Art. 22 IStGH-Statut<br />

geregelten Grundsatz nullum crimen sine lege, insbesondere<br />

dessen Konkretisierung in Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut. 62<br />

Danach ist nicht nur die enge Auslegung der Statutsvorschriften<br />

geboten. Vielmehr sieht Satz 2 der Vorschrift eine Auslegung<br />

der Verbrechenstatbestände im Zweifelsfall zugunsten<br />

des Angeklagten vor, erstreckt also den Grundsatz in dubio<br />

pro reo – für den deutschen Strafjuristen befremdlich – auch<br />

auf Rechtsfragen. 63 Die Kammer meint, jede andere Auslegung<br />

als die von ihr gewählte laufe diesen Grundsätzen zuwider<br />

und führe daher zu einer spürbaren Schwächung des<br />

nullum crimen sine lege-Prinzips (the safeguards provided for<br />

by the article 22 nullum crimen sine lege principle would be<br />

significantly eroded). 64<br />

(c) Stellungnahme<br />

Eine Stellungnahme zu den Ausführungen der Vorverfahrenskammer<br />

zwingt zur Differenzierung zwischen der Entscheidung<br />

in der Sache und der gelieferten Begründung. Die<br />

Begründung ist abzulehnen. In der Sache lassen sich hingegen<br />

Gründe finden, ein Kontextelement in der von der Kammer<br />

geforderten Form für das Vorliegen von Völkermord<br />

vorauszusetzen. Schließlich ist zu fragen, ob es angemessen<br />

ist, dass die Vorverfahrenskammer in der gegebenen Verfahrenssituation<br />

eine derart grundsätzliche Rechtsfrage behandelt.<br />

(aa) Die Begründung der Vorverfahrenskammer<br />

Die Begründung der Kammer verdient Kritik. Sie lässt inhaltliche<br />

Überlegungen zum Unrecht des Völkermords vermissen<br />

und beschränkt sich stattdessen auf zweifelhafte methodische<br />

Erwägungen. Nach diesen ist ein Rückgriff auf Rechtsquellen<br />

außerhalb des Statuts, der Verbrechenselemente und der<br />

Verfahrens- und Beweisregeln im Grunde stets ausgeschlossen.<br />

Denn eine Lücke, die sich, wie es die Kammer fordert,<br />

selbst unter Heranziehung der gängigen Auslegungsmethoden<br />

nicht schließen lässt, findet nur, wer sie finden will. Die Aussage<br />

der Vorverfahrenskammer bedeutet im Kern nicht mehr,<br />

61 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 128 ff.<br />

62 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 133.<br />

63 Siehe zu Art. 22 IStGH-Statut Broomhall, article 22, in:<br />

Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the<br />

International Criminal Court, 2. Aufl. 2008. Zu dem prozessualen<br />

in dubio pro reo-Grundsatz siehe unter III. 2. a) cc) (3)<br />

(b).<br />

64 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 131.


Der Präsident und sein Gericht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

als dass ihre Bereitschaft, in der Frage des Kontextelements<br />

beim Völkermord eine solche Lücke ausfindig zu machen,<br />

sehr gering ist.<br />

Durch die Rechtsquellenlehre des Art. 21 IStGH-Statut ist<br />

dieses Ergebnis viel weniger determiniert, als die Kammer<br />

glauben machen möchte. Denn nach Art. 21 Abs. 1 lit. b<br />

IStGH-Statut sind Grundsätze und Regeln des Völkerrechts,<br />

als deren Ausdruck die Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale<br />

mittelbar zu verstehen sind, „an zweiter Stelle, soweit angebracht“<br />

(in the second place, where appropriate) zu berücksichtigen.<br />

Diese Formel lässt sich mit guten Gründen offener<br />

deuten, als die Vorverfahrenskammer meint. 65 Ein solcher<br />

Grund ist vor allem die Einheitlichkeit des Völkerstrafrechts.<br />

Es ist zwar möglich, das IStGH-Statut als ein selbständiges,<br />

geschlossenes Regelsystem des Völkerstrafrechts zu verstehen.<br />

Wünschenswert ist es aber nicht. Kurzfristig mag eine<br />

solche Emanzipation des IStGH insbesondere von der Rechtsprechung<br />

der ad hoc-Tribunale heilsam erscheinen, weil<br />

subjektiv empfundene Fehlentwicklungen in der Rechtsfortbildung<br />

so auf bequeme Weise korrigiert werden können.<br />

Mittel- und langfristig führt dieser Weg aber zu einer Fragmentierung<br />

in ein Völkerstrafrecht des IStGH und seiner<br />

Vertragsstaaten und ein Völkerstrafrecht jenseits dieser Institution.<br />

Eine solche Fragmentierung schadet aber auf lange Sicht<br />

nicht nur der Akzeptanz des IStGH, sondern gefährdet die<br />

Grundidee des Völkerstrafrechts selbst. Die Überzeugungskraft<br />

des Völkerstrafrechts schöpft sich nämlich in wesentlichem<br />

Maß aus seiner universellen wertrationalen Evidenz. 66<br />

Eine Fragmentierung der Rechtsmaterie zerbricht diese Evidenz<br />

und rührt daher an ihren Legitimationsgrundlagen. Das<br />

gilt jedenfalls, soweit es um die Verbrechenstatbestände geht,<br />

also um die Frage, ob ein Verhalten völkerstrafrechtlich kriminalisiert<br />

ist oder nicht.<br />

65<br />

Für eine offenere Deutung auch McAuliffe deGuzman,<br />

article 21, in: Triffterer (Fn. 63), Rn. 9 f.; Pellet, in: Cassese<br />

u.a. (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal<br />

Court, A Commentary, S. 1051 (1067 ff.); Schabas, An Introduction<br />

to the International Criminal Court, 3. Aufl. 2007,<br />

S. 195 f.; Werle (Fn. 23), Rn. 179. Enger dagegen Jesse, Der<br />

Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009, S. 110 ff.<br />

66<br />

Besonders anschaulich z.B. Tallgren, 13 European Journal<br />

of International Law (2002), 561. Mit der „wertrationalen<br />

Evidenz“ ist freilich nicht gemeint, dass das Völkerstrafrecht<br />

etwa der Frage nach seiner Legitimation enthoben sei. Im<br />

Gegenteil, diese Evidenz hat zu inzwischen vielfach kritisierten<br />

Begründungsdefiziten des Völkerstrafrechts geführt, vgl.<br />

nur Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der<br />

Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, S. 14 ff.; Pawlik,<br />

<strong>ZIS</strong> 2006, 274; Tallgren, a.a.O., 561 ff. Dieses Begründungsdefizit<br />

bedeutet aber nicht, dass das Völkerstrafrecht<br />

auf seine unmittelbare, sozusagen unkritische Evidenz verzichten<br />

könnte. Im Gegenteil: Die Kriterien zur Überprüfung<br />

der Legitimität des Völkerstrafrechts, seien sie nun beispielsweise<br />

dem internationalen Recht der Menschenrechte<br />

oder der Kantischen Rechtslehre entnommen, bedürfen ihrerseits<br />

dieser apriorischen Überzeugungskraft.<br />

Wem es mit dem Völkerstrafrecht ernst ist, dem kann die von<br />

der Vorverfahrenskammer so schneidig beschworene Beschränkung<br />

des Blicks also kaum behagen. Vorzugswürdig<br />

ist vielmehr eine Konkretisierung der Statutsvorschriften, die<br />

stets im Dialog mit dem überkommenen Völkerstrafrecht,<br />

insbesondere mit der Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale,<br />

erfolgt. 67 In diesem Dialog ersetzt dann weder ein vermeintlich<br />

eindeutiger Wortlaut des Statuts oder der Verbrechenselemente<br />

noch eine ständige Rechtsprechung die inhaltliche<br />

Argumentation. Wünschenswert wäre daher gewesen, dass<br />

die Vorverfahrenskammer die Auseinandersetzung mit dieser<br />

Rechtsprechung in der Sache gesucht und begründet hätte,<br />

warum diese Rechtsprechung inhaltlich nicht zutreffend ist.<br />

Die weiteren methodischen Argumente der Kammer wirken<br />

beliebig. Dass die Verbrechenselemente solange verbindlich<br />

sein sollen, wie sie nicht in einem unauflöslichen Widerspruch<br />

(irreconcilable contradiction) zum IStGH-Statut stehen,<br />

lässt sich Art. 9 IStGH-Statut keineswegs entnehmen. 68<br />

Woraus sich diese Aufwertung der Verbrechenselemente<br />

ergeben soll, erläutert die Kammer nicht. 69 Mehr noch: Sie<br />

selbst hält sich nicht an den zuvor aufgestellten Grundsatz,<br />

sondern formuliert das Kontextelement in inhaltlicher Abweichung<br />

von den Verbrechenselementen neu.<br />

Allenfalls geringe Überzeugungskraft besitzt zudem der<br />

Verweis auf das Gebot der engen Auslegung und einer Auslegung<br />

in Zweifelsfällen zugunsten des Beschuldigten, Angeklagten<br />

oder Verurteilten gemäß Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut.<br />

Einmal abgesehen von der rechtstheoretisch intrikaten Frage,<br />

wann eine Begriffsbestimmung zweifelhaft ist (oder vielmehr:<br />

wann nicht), bleibt festzustellen, dass der IStGH – und<br />

zwar nicht zuletzt in Gestalt der entscheidenden Vorverfahrenskammer<br />

selbst – in seiner noch jungen Geschichte bereits<br />

mehrfach eine Interpretation gewählt hat, die sich unter diesen<br />

Gesichtspunkten nicht rechtfertigen lässt. 70 Die Berufung<br />

67<br />

Ähnlich auch Werle (Fn. 23), Rn. 173.<br />

68<br />

Art. 9 Abs. 1 IStGH-Statut spricht davon, dass die Verbrechenselemente<br />

dem Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung<br />

der Verbrechenstatbestände „helfen“ sollen (shall<br />

assist). Art. 9 Abs. 3 IStGH-Statut verlangt, dass die Verbrechenselemente<br />

mit dem Statut vereinbar sind (shall be consistent).<br />

Ein weniger enges Verständnis teilen daher z.B. auch<br />

Jesse (Fn. 65), S. 161 ff.; Koch, <strong>ZIS</strong> 2007, 150; Pellet<br />

(Fn. 65), S. 1077 f.; Werle (Fn. 23), Rn. 173.<br />

69<br />

Folgerichtig lehnt die Richterin Usacka den von der Kammermehrheit<br />

gewählten Maßstab des unauflöslichen Widerspruchs<br />

(irreconcilable contradiction) ab, vgl. Abweichendes<br />

Sondervotum Richterin Usacka zu IStGH, Beschl. v. 4.3.2009,<br />

para. 17.<br />

70<br />

Exemplarisch kann hier die Auslegung des in seiner Formulierung<br />

nach allgemeiner Ansicht missglückten Art. 30<br />

IStGH-Statut genannt werden, der die Standardanforderungen<br />

der subjektiven Tatseite für alle Verbrechenstatbestände<br />

regelt. Obwohl der Wortlaut dieser Vorschrift, die als Musterbeispiel<br />

einer nach ihrer Bedeutung zweifelhaften Bestimmung<br />

gelten kann, eher dafür spricht, dolus eventualis im<br />

Hinblick auf die Verwirklichung des tatbestandlichen Erfolgs<br />

nicht ausreichen zu lassen, hat dieselbe Vorverfahrenskam-<br />

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133


Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />

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auf Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut erscheint daher recht bemüht.<br />

Wie bei den Ausführungen zur Bedeutung der Verbrechenselemente<br />

fehlt der Glaube, dass der IStGH die hier<br />

aufgestellten Maßstäbe in künftigen Fällen ähnlich ernst<br />

nehmen wird.<br />

(bb) Die Entscheidung in der Sache<br />

Dagegen lassen sich bei einer sachbezogenen Betrachtung<br />

durchaus Gründe für die Position der Vorverfahrenskammer<br />

finden. Unbestritten ist, dass zwischen der Phänomenologie<br />

des Völkermords und seiner völkerstrafrechtlichen Umschreibung<br />

eine Divergenz besteht. Der völkerstrafrechtliche<br />

Tatbestand erweckt den Anschein, als sei das Kennzeichen<br />

des Verbrechens eine Absicht von Einzelpersonen. Die kollektive,<br />

makrokriminelle Dimension, die allen bislang als<br />

Völkermord bewerteten Geschehnissen in phänomenologischer<br />

Hinsicht eignet, wird damit auf der Ebene der Verbrechensdefinition<br />

invisibilisiert. 71<br />

Diese Divergenz lässt sich freilich im Hinblick auf das<br />

spezifisch völkerstrafrechtliche Unrecht des Völkermords<br />

erklären und rechtfertigen. Die für den Völkermord charakteristische<br />

Weltfriedensstörung liegt nämlich in der Bedrohung<br />

des Fortbestands einer (tatbestandlich näher bestimmten)<br />

geschützten Gruppe. 72 Die Einbindung in einen kollektiven<br />

Begehungszusammenhang verbürgt dieses Bedrohungspotential<br />

zwar regelmäßig, und alle historischen Beispiele von<br />

Völkermord weisen einen solchen Begehungszusammenhang<br />

auf. Vorstellbar ist aber, dass in besonderen Fallkonstellationen<br />

das Handeln einzelner oder einiger weniger Personen den<br />

Fortbestand einer Gruppe gefährdet, entweder, weil die angegriffene<br />

Gruppe zahlenmäßig sehr klein ist, oder aber, weil<br />

die Täter Waffen mit einer entsprechend großen Zerstörungswirkung<br />

einsetzen. 73 Nicht die Kollektivität der Begehungsweise,<br />

sondern die Bedrohung des Fortbestands der<br />

mer im Verfahren gegen Lubanga Dyilo entschieden, es reiche<br />

aus, wenn der Täter lediglich die erhebliche Wahrscheinlichkeit<br />

des Erfolgseintritts kenne, vgl. IStGH, Beschl. v.<br />

29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-Trial Chamber I), para. 37.<br />

Zu Art. 30 IStGH-Statut siehe Werle/Jeßberger, 3 Journal of<br />

International Criminal Justice (2005), 35; Roßkopf, Die innere<br />

Tatseite des Völkerrechtsverbrechens. Ein Beitrag zur<br />

Auslegung des Art. 30 IStGH-Statut, 2007.<br />

71<br />

Vgl. Kreß, 18 European Journal of International Law<br />

(2007), 620.<br />

72<br />

Vgl. Kreß (Fn. 46), § 6 VStGB Rn. 3 f.; Lüders (Fn. 56),<br />

S. 91; Werle (Fn. 23), Rn. 91, 660 ff., jeweils m.w.N.<br />

73<br />

Ebenso z.B. Lüders (Fn. 56), S. 163; Triffterer (Fn. 57),<br />

S. 1434; Werle (Fn. 23), Rn. 702. Unpassend ist es, wenn<br />

Schabas insoweit von „little more than a sophomoric hypothèses<br />

d’école, and a distraction for international judicial<br />

institutions“ spricht, vgl. Schabas, 18 Leiden Journal of International<br />

Law (2005), S. 877. Es geht um eine dem charakteristischen<br />

Unrecht und dem Schutzgut entsprechende Verbrechensdefinition.<br />

Der Fall des Einzeltäters mag praktisch irrelevant<br />

sein. Er schärft aber das Bewusstsein für den eigentlichen<br />

Schutzzweck.<br />

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134<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

geschützten Gruppe kennzeichnet den Völkermord als Völkerrechtsverbrechen.<br />

Es lässt sich also zunächst festhalten, dass der Verzicht auf<br />

einen kollektiven Aktionszusammenhang als Tatbestandsvoraussetzung<br />

in Art. 6 IStGH-Statut im Hinblick auf die spezifisch<br />

völkerrechtliche Dimension des Völkermords nicht zu<br />

beanstanden ist. Soweit die Verbrechenselemente einen solchen<br />

Begehungszusammenhang erfordern, stellen sie eine<br />

Ergänzung des Tatbestandes dar, die im Hinblick auf das<br />

spezifisch völkerrechtliche Unrecht des Völkermords nicht<br />

überzeugt.<br />

Etwas anderes gilt für ein Kontextelement in der von der<br />

Vorverfahrenskammer geforderten Form. Wenn diese eine<br />

„konkrete Bedrohung“ des Fortbestands der angegriffenen<br />

Gruppe voraussetzt und damit solche Fälle ausschließt, in<br />

denen dem Täter jede realistische Chance fehlt, sein Ziel zu<br />

erreichen, knüpft sie unmittelbar an das charakteristische<br />

Unrecht des Völkermords an. Tatsächlich lässt sich fragen,<br />

ob eine Weltfriedensstörung konstatiert werden kann, wenn<br />

eine reale Bedrohung des Fortbestands einer geschützten<br />

Gruppe nicht einmal prospektiv zu befürchten ist. Dies mag<br />

sich mit Verweis auf die abstrakte Gefährlichkeit begründen<br />

lassen, die ausnahmslos jeder Verwirklichung eines Einzelverbrechens<br />

mit Zerstörungsabsicht zugeschrieben wird. 74<br />

Gegen eine solche Konzeption des Völkermords lassen sich<br />

allerdings verschiedene Erwägungen geltend machen. Zum<br />

einen verträgt sich eine Ausdeutung des Völkermords als<br />

abstraktes Gefährdungsdelikt nur schlecht mit der Bewertung<br />

als schwerstes völkerstrafrechtliches Unrecht, als crime of<br />

crimes. 75 Zum anderen spricht dagegen, dass die abstrakte<br />

Bedrohung des Fortbestands der Gruppe bereits in einigen<br />

völkerstrafrechtlichen Sonderverbrechenstatbeständen erfasst<br />

wird, nämlich der in Art. 25 Abs. 3 lit. e IStGH-Statut geregelten<br />

Anstachelung zum Völkermord und der völkergewohnheitsrechtlich<br />

strafbaren, in das IStGH-Statut allerdings<br />

nicht aufgenommenen Verschwörung zum Völkermord. 76<br />

Warum nicht nur diese subsidiären Sondertatbestände, sondern<br />

auch das eigentliche Völkermordverbrechen im Hinblick<br />

auf das unmittelbar völkerrechtliche Schutzgut ein abstraktes<br />

Gefährdungsdelikt sein soll, lässt sich nur schwer begründen.<br />

Bei einer am spezifisch völkerrechtlichen Unrechtsgehalt<br />

orientierten Betrachtung ist es überzeugender, für den Völkermordtatbestand<br />

mehr als eine lediglich abstrakte Bedrohung<br />

für den Fortbestand der angegriffenen Gruppe, also<br />

mehr als die rein innere Tatsache der Zerstörungsabsicht an<br />

sich zu fordern. Ein solches Mehr wäre bereits, wenn die<br />

Möglichkeit, den Fortbestand der angegriffenen Gruppe zu<br />

bedrohen, als objektiver Bezugspunkt der Zerstörungsabsicht<br />

vorausgesetzt wird. Diese Möglichkeit kann sich entweder<br />

74<br />

In diesem Sinne z.B. Lüders (Fn. 56), S. 93 f., 164.<br />

75<br />

So der Untertitel von Schabas Monographie zum Völkermord,<br />

vgl. Schabas, Genocide in International Law, 2. Aufl.<br />

2009. Siehe auch IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 133.<br />

76<br />

Vgl. RStGH, Urt. v. 18.12.2008 (Bagosora u.a., Trial<br />

Chamber), paras. 2084 ff.; RStGH, Urt. v. 28.11.2007 (Nahimana<br />

u.a., Appeals Chamber), paras. 673 ff., 893 ff. Siehe<br />

Werle (Fn. 23), Rn. 581, 724 ff.


Der Präsident und sein Gericht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

aus dem Handeln des Täters des Einzelverbrechens ergeben<br />

oder aber aus einem kollektiven Begehungszusammenhang,<br />

in den sich dieses Handeln stellt.<br />

Gut begründbar erscheint also eine Ausdeutung des Völkermordtatbestands<br />

als potentielles oder abstrakt-konkretes<br />

Gefährdungsdelikt. Etwas anderes dürfte auch die Kammer<br />

mit ihrer Formulierung, erforderlich sei eine „konkrete Bedrohung“<br />

(a concrete threat), nicht gemeint haben. Methodisch<br />

lässt sich dieses Ergebnis als teleologische Reduktion<br />

des Tatbestandes, genauer als am spezifisch völkerrechtlichen<br />

Unrecht des Völkermords orientierte Auslegung der Zerstörungsabsicht<br />

beschreiben. 77 Dem Verweis auf die Verbrechenselemente<br />

kommt in diesem Begründungszusammenhang<br />

allenfalls Hilfscharakter zu.<br />

(cc) Funktionsspezifische Einwände<br />

Bei den Überlegungen der Kammer zum Erfordernis eines<br />

Kontextelements beim Völkermord handelt es sich um ein<br />

Obiter. Nicht nur, dass im Falle Darfurs ein solches Kontextelement<br />

fraglos gegeben war, die Kammer also bereits insofern<br />

hätte offen lassen können, ob es einer solchen zusätzlichen<br />

Voraussetzung bedurfte. Die Überlegungen sind auch<br />

deswegen im Gang der Entscheidungsbegründung überflüssig,<br />

weil die Kammer begründeten Verdacht hinsichtlich des<br />

Völkermords letztlich im Hinblick auf das Vorliegen von<br />

Zerstörungsabsicht ablehnt.<br />

Die Frage, ob die Vorverfahrenskammer in einer solchen<br />

Verfahrenssituation berufen war, eine derart grundsätzliche<br />

Rechtsfrage zu erörtern, drängt sich daher auf. Im Rahmen<br />

des Gerichtsaufbaus erfüllt die Vorverfahrenskammer primär<br />

eine andere Funktion. Sie dient der Kontrolle des Anklägers<br />

in den verschiedenen Stadien der Ermittlungen bis zur Anklageerhebung.<br />

Ihre Aufgabe ist die vorläufige Bewertung<br />

des vom Ankläger präsentierten Beweismaterials im Hinblick<br />

auf die Vornahme prozessualer Maßnahmen und Entscheidungen.<br />

78<br />

Auffällig ist nun, dass die Vorverfahrenskammern, und<br />

hier insbesondere die Vorverfahrenskammer I, in der bisherigen<br />

Verfahrenspraxis ihre Tätigkeit über diese Kernaufgabe<br />

hinaus schrittweise ausgedehnt und so die Bedeutung des<br />

Vorverfahrens erheblich aufgewertet haben. Dazu gehört<br />

auch, dass vor allem die Vorverfahrenskammer I in ihren<br />

Entscheidungen zur Bestätigung der Anklage (conformation<br />

of charges) in den Verfahren gegen Lubanga Dyilo und gegen<br />

Katanga and Ngudjolo Chui fallrelevante Rechtsfragen ausführlich<br />

und in grundsätzlicher Weise erörtert hat. 79 Indem<br />

77<br />

Ebenso Kreß (Fn. 46), § 6 VStGB Rn. 15, 78.<br />

78<br />

Vgl. Art. 15, 18, 19, 54 Abs. 2, 57, 61 Abs. 7 und 72<br />

IStGH-Statut. Zusammenfassend zur Rolle der Vorverfahrenskammer<br />

Nerlich, in: Cassese u.a. (Hrsg.), Oxford Companion<br />

to International Criminal Justice, 2009, S. 458 f.<br />

79<br />

Vgl. nur die Ausführungen der Vorverfahrenskammer zur<br />

Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme (IStGH, Beschl.<br />

v. 29.1.2007 [Lubanga Dyilo, Pre-Trial Chamber I], paras.<br />

322 ff.) oder zu den Merkmalen der mittelbaren Täterschaft<br />

(IStGH, Beschl. vom 30.9.2008 [Katanga and Ngudjolo<br />

Chui, Pre-Trial Chamber I], paras. 480 ff.).<br />

die Kammer dies nun sogar in einer Konstellation tut, in der<br />

die grundsätzlichen Rechtsausführungen offensichtlich nicht<br />

tragend für die getroffene Entscheidung sind, geht sie noch<br />

einen Schritt weiter.<br />

Wie diese Entwicklung zu bewerten ist und ob sie von<br />

Dauer sein wird, lässt sich derzeit noch nicht abschließend<br />

sagen. 80 Die bereits jetzt erkennbare Folge ist eine Verlängerung<br />

der Verfahrensdauer. Das Vorverfahren hat zunehmend<br />

das Gepräge einer vorgelagerten, umfassenden Verhandlung<br />

des Falles bekommen, in der die wesentlichen Rechtsfragen<br />

bereits erstmals in aller Ausführlichkeit erörtert werden. Im<br />

Hinblick auf die Dauer der Verfahren vor dem IStGH, die, so<br />

lässt sich prognostizieren, ohnehin erheblich sein wird, ist<br />

diese Entwicklung jedenfalls dann besorgniserregend, wenn<br />

sich der Angeklagte bereits in Untersuchungshaft befindet. 81<br />

Insgesamt hätte der Kammer jedenfalls weniger allzu deutlicher<br />

Willen zur Rechtsfortbildung und mehr judicial selfrestraint<br />

gut zu Gesicht gestanden. 82<br />

(2) Die geschützte Gruppe<br />

Im Anschluss an die Ausführungen zum Kontextelement<br />

widmet sich die Kammer den weiteren charakteristischen<br />

Merkmalen des Völkermords. Voraussetzung sei, dass die<br />

Opfer des jeweiligen Einzelverbrechens einer geschützten<br />

Gruppe im Sinne von Art. 6 IStGH-Statut angehören und der<br />

Täter mit der Absicht handle, diese Gruppe ganz oder teilweise<br />

zu zerstören. 83 Die Überlegungen der Kammer zum<br />

Merkmal der geschützten Gruppe entsprechen der Rechtsprechung<br />

der ad hoc-Tribunale. Erforderlich ist also eine Kennzeichnung<br />

der angegriffenen Gruppe durch bestimmte<br />

Merkmale der Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, der<br />

Rasse oder der Religion. Eine ausschließlich am Fehlen bestimmter<br />

Eigenschaften orientierte Gruppendefinition wird<br />

dagegen abgelehnt. 84<br />

80<br />

Der Blick auf den JStGH weckt insoweit die Hoffnung,<br />

dass es sich lediglich um ein Phänomen der Anfangszeit<br />

handelt. Auch der JStGH hat nämlich in den ersten Jahren<br />

seiner Tätigkeit in Ermangelung von Angeklagten in seinem<br />

Gewahrsam die Bedeutung von Vorverfahrensentscheidungen,<br />

damals insbesondere nach Regel 61 der Verfahrens- und<br />

Beweisregeln, ausgeweitet. Die berühmte Jurisdiktionsentscheidung<br />

im Verfahren gegen Tadic, JStGH, Beschl. v.<br />

2.10.1995 (Tadic, Appeals Chamber), ist in ihrer Ausführlichkeit<br />

und ihrem greifbaren Willen, grundsätzliche Rechtsfragen<br />

zu erörtern, ebenfalls eine typische Frucht dieser Anfangszeit.<br />

Zu den Verfahren nach Regel 61 siehe Friman, in:<br />

Cassese u.a. (Fn. 78), S. 458 f.<br />

81<br />

Im Verfahren gegen Lubanga Dyilo lag zwischen Erlass<br />

eines Haftbefehls und der Bestätigung der Anklageschrift<br />

etwa ein Jahr, im Verfahren gegen Katanga und Ngudjolo<br />

Chui waren es 15 Monate.<br />

82<br />

In diesem Sinne auch das abweichende Sondervotum der<br />

Richterin Usacka zu IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 16,<br />

20.<br />

83<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 134.<br />

84<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 135. Zur Rechtsprechung<br />

der ad hoc-Tribunale siehe JStGH, Urt. v. 22.3.2006 (Stakic,<br />

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Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />

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Die Anwendung dieser Begriffsbestimmung auf den konkreten<br />

Fall wirft allerdings Fragen auf. Nach Ansicht der Kammermehrheit<br />

ist der Antrag des Anklägers auf Erlass eines<br />

Haftbefehls jedenfalls insofern fehlerhaft gewesen, als er die<br />

Fur, Masalith und Zaghawa zu einer geschützten Gruppe<br />

zusammenfasse. Tatsächlich handle es sich unter Berücksichtigung<br />

von ethnischen Merkmalen wie Sprache, Stammesgebräuchen<br />

und an ein bestimmtes Siedlungsgebiet gebundenen<br />

Traditionen um drei verschiedene geschützte Gruppen im<br />

Sinne von Art. 6 IStGH-Statut. 85<br />

Die Kammer wählt somit einen ausschließlich objektiven<br />

Ansatz zur Bestimmung der geschützten Gruppe. Außer Betracht<br />

bleibt dabei der Täterhorizont. Das kann nicht überzeugen,<br />

weil die geschützte Gruppe gerade im Hinblick auf<br />

die Zerstörungsabsicht des Täters bestimmt wird. Dementsprechend<br />

vertreten die ad hoc-Tribunale inzwischen auch in<br />

ständiger Rechtsprechung einen Ansatz, der weitgehend auf<br />

die Täterperspektive Bezug nimmt und lediglich eine gewisse<br />

Objektivierbarkeit der vom Täter für die Gruppenzugehörigkeit<br />

für entscheidend gehaltenen Merkmale verlangt. 86 Es ist<br />

daher zu begrüßen, dass Richterin Usacka in ihrem abweichenden<br />

Sondervotum die Täterperspektive stärker in den<br />

Vordergrund rückt und deutlich macht, dass die Fur, Masalith<br />

und Zaghawa als schwarzafrikanische, dem arabischdominierten<br />

Regime in Khartum feindliche Stämme in den<br />

Augen der Angreifer möglicherweise doch als eine einzige<br />

Gruppe erscheinen. 87 Ob man die Schlussfolgerungen des<br />

Sondervotums in diesem Punkt teilt, mag dahin stehen. Der<br />

Mehrheitsentscheidung gerät die Täterperspektive jedenfalls<br />

allzu sehr aus dem Blick.<br />

(3) Zerstörungsabsicht<br />

(a) Vorliegen von Zerstörungsabsicht<br />

Auch bei der näheren Bestimmung der Zerstörungsabsicht<br />

knüpft die Vorverfahrenskammer an aus der Rechtsprechung<br />

der ad hoc-Tribunale Bekanntes an. So wird die Zerstörungsabsicht<br />

im Sinne eines dolus specialis oder, um mit Begriffen<br />

der deutschen Strafrechtsdogmatik zu sprechen, einer Absicht<br />

im technischen Sinne, also dolus directus ersten Grades,<br />

verstanden, die in der Deliktsstruktur eine überschießende<br />

Innentendenz des Täters beschreibt. Damit wird, ohne dass<br />

Appeals Chamber), paras. 20 ff. Ebenso IGH, Urt. v.<br />

27.2.2007 (Case Concerning the Application of the Convention<br />

on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide),<br />

paras. 192 ff.<br />

85 IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 136 f.<br />

86 Vgl. z.B. JStGH, Urt. v. 22.3.2006 (Stakic, Appeals Chamber),<br />

para. 25; JStGH, Urt. v. 1.9.2004 (Brdanin, Trial Chamber),<br />

paras. 683 f.; RStGH, Urt. v. 28.11.2007 (Nahimana<br />

u.a., Appeals Chamber), para. 496; RStGH, Urt. v. 17.6.2004<br />

(Gactumbitsi, Trial Chamber), para. 254; RStGH, Urt. v.<br />

12.11.2008 (Nchamihigo, Trial Chamber), para. 338. So auch<br />

Lüders (Fn. 56), S. 60 ff.; Werle (Fn. 23), Rn. 668 ff.; Ambos<br />

(Fn. 30), § 7 Rn. 133.<br />

87 Abweichendes Sondervotum Usacka zu IStGH, Beschl. v.<br />

4.3.2009, paras. 23 ff.<br />

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136<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

die Kammer das ausführlicher begründet, der so genannte<br />

knowledge-based-approach zurückgewiesen, der zunehmend<br />

Befürworter in der völkerstrafrechtlichen Literatur gefunden<br />

hat. 88 Danach fällt unter die Zerstörungsabsicht auch dolus<br />

directus zweiten Grades. Es werden also insbesondere auch<br />

solche Fälle erfasst, in denen der Täter weiß, dass er im<br />

Rahmen eines genozidalen Geschehens handelt, auch wenn er<br />

selbst die Zerstörung der angegriffenen Gruppe nicht zu seinem<br />

Handlungsziel erhebt. Dieser Ansatz kann nicht überzeugen.<br />

Er versucht, auf der Ebene der Verbrechensdefinition<br />

ein Problem zu lösen, das sachgerecht im Rahmen der Beteiligungslehre<br />

zu behandeln ist. 89 Die Klarstellung der Vorverfahrenskammer<br />

ist insofern zu begrüßen.<br />

Der Begriff der Zerstörung wird, auch insoweit im Einklang<br />

mit der einschlägigen Rechtsprechung von JStGH und<br />

RStGH, ebenfalls eng ausgelegt. Danach ist die Absicht, eine<br />

Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, insbesondere von<br />

der Absicht zu unterscheiden, eine Gruppe aus einer bestimmten<br />

Region zu vertreiben. Die Praxis ethnischer Säuberungen<br />

erlaubt daher zwar den Schluss auf die im Rahmen<br />

der Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. h IStGH-Statut erforderliche Diskriminierungsabsicht,<br />

nicht ohne weiteres aber den Schluss auf<br />

die für den Völkermord charakteristische Zerstörungsabsicht.<br />

90<br />

In der Beweiswürdigung kommt die Kammermehrheit zu<br />

dem Ergebnis, dass sich aus den systematischen Verbrechen<br />

der auf Seiten der sudanesischen Zentralregierung unter Al<br />

Bashir kämpfenden Streitkräfte gegen die Fur, Masalit und<br />

Zaghawa nicht zwangsläufig der begründete Verdacht für das<br />

Vorliegen von Zerstörungsabsicht ableiten lasse. 91 Dabei<br />

untersucht die Kammer die Zerstörungsabsicht nicht für Al<br />

Bashir selbst, sondern für die sudanesische Regierung insgesamt,<br />

ohne klarzustellen, welche Rückschlüsse sich aus der<br />

Prüfung dieses Kollektivs für die Absicht Al Bashirs ziehen<br />

lassen. 92 Die Mehrheit der Kammer ist der Ansicht, weder<br />

88<br />

Vgl. zum knowledge-based-approach insbesondere<br />

Greenawalt, 99 Columbia Law Review (1999), 2259; Kreß, 3<br />

Journal of International Criminal Justice (2005), 562 ff.;<br />

Triffterer (Fn. 57), S. 1422, 1438 ff., 1441 ff. Ähnlich Vest,<br />

Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002,<br />

S. 104 ff.<br />

89<br />

Ähnlich van Sliedregt, 5 Journal of International Criminal<br />

Justice (2007), 184 (193); Werle (Fn. 23), Rn. 713; van der<br />

Wilt, 4 Journal of International Criminal Justice (2006), 239<br />

(243 ff.).<br />

90<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 141 ff. Zur Rechtsprechung<br />

der ad hoc-Tribunale vgl. z.B. JStGH, Urt. v.<br />

14.1.2000 (Kupreskic u.a., Trial Chamber), para. 636. Ebenso<br />

IGH, Urt. v. 27.2.2007 (Case Concerning the Application of<br />

the Convention on the Prevention and Punishment of the<br />

Crime of Genocide), paras. 187 ff.<br />

91<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 202 ff.<br />

92<br />

Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 147 ff.; siehe hierzu<br />

auch die kritische Bemerkung von Richterin Usacka in<br />

ihrem abweichenden Sondervotum zu IStGH, Beschl. v.<br />

4.3.2009, Fn. 4.


Der Präsident und sein Gericht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

aus den offiziellen Stellungnahmen und Verlautbarungen der<br />

Regierung noch aus den in Darfur begangenen Verbrechen<br />

ergebe sich die Zerstörungsabsicht in hinreichend sicherem<br />

Maße. Denkbar sei stets auch, dass die Regierung zwar mit<br />

der Absicht gehandelt habe, die Stämme der Fur, Masalit und<br />

Zaghawa zu diskriminieren, nicht aber diese Stämme zu<br />

zerstören. Die Kammermehrheit verweist zur Begründung<br />

wiederholt darauf, dass der Ankläger selbst das Vorgehen der<br />

Regierungsseite in seinem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls<br />

gegen Ahmad Harun und Ali Kushayb nicht als Völkermord<br />

bewertet habe. Es sei nicht zu erkennen, warum sich<br />

die rechtliche Bewertung nun im Fall Al Bashirs geändert<br />

habe. 93<br />

Zu einem anderen Schluss kommt Richterin Usacka. In<br />

ihrem abweichenden Sondervotum kommt sie zu dem Ergebnis,<br />

dass das vorgelegte Beweismaterial begründeten Verdacht<br />

für das Vorliegen der Zerstörungsabsicht Al Bashirs<br />

trägt. 94<br />

(b) Der prozessuale Prüfungsmaßstab<br />

Als entscheidend für die Ablehnung begründeten Verdachts<br />

hinsichtlich der Zerstörungsabsicht erweist sich die von der<br />

Kammermehrheit gewählte Konkretisierung des bei Art. 58<br />

IStGH-Statut erforderlichen prozessualen Bewertungsmaßstabs.<br />

Im konkreten Fall war zu klären, wann vom Vorliegen<br />

begründeten Verdachts der Zerstörungsabsicht auszugehen<br />

ist. Die Ausführungen der Kammer sind jedoch verallgemeinerungsfähig<br />

und daher auch im Hinblick auf künftige Verfahren<br />

vor dem IStGH von besonderer Bedeutung.<br />

Zunächst stellt die Kammer fest, dass der Prüfungsmaßstab<br />

des Art. 58 IStGH-Statut dann erfüllt ist, wenn aus dem<br />

vom Ankläger im Zuge seines Haftbefehlantrags vorgelegten<br />

Beweismaterial das Bestehen begründeten Verdachts der<br />

Zerstörungsabsicht die einzig vernünftige Schlussfolgerung<br />

(the only reasonable conclusion) ist. 95 Dieser Feststellung ist<br />

zuzustimmen: Nach dem Wortlaut des Art. 58 Abs. 1 IStGH-<br />

Statut müssen die Richter vom Vorliegen des begründeten<br />

Verdachts überzeugt sein. 96 Richterliche Überzeugung bedeutet<br />

subjektive Gewissheit. 97 Bestehen hingegen vernünftige<br />

Zweifel, lässt also die Beweiswürdigung mehr als nur eine<br />

einzige vernünftige Schlussfolgerung zu, so besteht diese<br />

Gewissheit nicht. Von entscheidender Bedeutung ist dabei,<br />

dass Gegenstand der Überzeugung der begründete Verdacht<br />

93<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 176, 200, 204.<br />

94<br />

Abweichendes Sondervotum Usacka zu IStGH, Beschl. v.<br />

4.3.2009, paras. 36 ff., 84 ff.<br />

95<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 158, vgl. aber auch paras.<br />

201, 203, 205.<br />

96<br />

Nach Art. 58 Abs. 1 IStGH-Statut erlässt die Kammer den<br />

beantragten Haftbefehl, wenn sie „zu der Überzeugung gelangt<br />

ist, dass begründeter Verdacht besteht, dass die Person<br />

ein [...] Verbrechen begangen hat“.<br />

97<br />

Vgl. Schabas, article 66, in: Triffterer (Fn. 63), Rn. 23 ff.<br />

Zur richterlichen Überzeugung nach deutschem Recht vgl.<br />

Schoreit, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur<br />

Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

6. Aufl. 2008, § 261 Rn. 2.<br />

ist, nicht etwa die Tatsache, auf die sich der begründete Verdacht<br />

beziehen muss, hier die innere Tatsache der Zerstörungsabsicht.<br />

Nur einen Absatz später kommt die Kammermehrheit jedoch<br />

im angeblichen Umkehrschluss aus der soeben getroffenen<br />

Feststellung zu dem Ergebnis, dass der erforderliche<br />

prozessuale Bewertungsmaßstab dann nicht erfüllt sei, wenn<br />

das Bestehen der Zerstörungsabsicht nicht die einzige vernünftige<br />

Schlussfolgerung aus dem vorgelegten Beweismaterial<br />

ist. 98 Dabei beruft sie sich – wie schon bei ihren Ausführungen<br />

zum Kontextelement beim Völkermordtatbestand 99 –<br />

auf Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut. Aus dieser Vorschrift ergebe<br />

sich ein allgemeiner Auslegungsgrundsatz in dubio pro reo<br />

(general principle of interpretation in dubio pro reo). Anhand<br />

dieses Bewertungsmaßstabs erfolgt dann auch die konkrete<br />

Beweiswürdigung.<br />

Damit macht die Kammermehrheit im Ergebnis den Gegenstand<br />

des begründeten Verdachts, also die Zerstörungsabsicht,<br />

zum Gegenstand der erforderlichen Überzeugung. Die<br />

Konsequenz ist, dass die Richter das Vorliegen der Zerstörungsabsicht<br />

anhand des Maßstabs der Überzeugung prüfen,<br />

der eigentlich nach Art. 66 Abs. 3 IStGH-Statut für die Verurteilung<br />

erforderlich ist (proof beyond reasonable doubt).<br />

Das im IStGH-Statut enthaltene System abgestufter Beweismaßstäbe<br />

wird auf diese Weise eingeebnet.<br />

Nach diesem System sind – je nach Funktion des jeweiligen<br />

Verfahrensstadiums – verschiedene Verdachtsgrade<br />

vorgesehen: Für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens<br />

ist nach Art. 53 Abs. 1 IStGH-Statut lediglich erforderlich,<br />

dass eine „hinreichende Grundlage“ besteht, um ein Verfahren<br />

aufzunehmen (sufficient basis to proceed). Der Erlass<br />

eines Haftbefehls, der eine verfahrenssichernde Funktion<br />

erfüllt, 100 erfolgt bei Vorliegen „begründeten Verdachts“<br />

(reasonable grounds to believe), Art. 58 Abs. 1 IStGH-Statut.<br />

Zur Bestätigung der Anklage, die zumindest auch dazu dient,<br />

den Angeschuldigten vor haltlosen oder falschen Vorwürfen<br />

zu schützen, muss gemäß Art. 61 Abs. 7 IStGH-Statut „dringender<br />

Verdacht“ (substantial grounds to believe) gegeben<br />

sein. 101 In der Hauptverhandlung, in der die Schuld des Angeklagten<br />

festzustellen ist, muss das Gericht von der Schuld<br />

des Angeklagten „so überzeugt sein, dass kein vernünftiger<br />

Zweifel besteht“ (convinced of the guilt beyond reasonable<br />

doubt), Art. 66 Abs. 3 IStGH-Statut.<br />

98<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 159.<br />

99<br />

Siehe oben III. 2. a) cc) (1) (c) (aa).<br />

100<br />

Vgl. die Haftgründe in Art. 58 Abs. 1 lit. b IStGH-Statut:<br />

Sicherstellung des Erscheinens vor dem Gerichtshof, Verdunkelungsgefahr,<br />

Gefahr der fortdauernden Begehung der<br />

dem Haftbefehl zugrunde liegenden oder mit diesem im Zusammenhang<br />

stehenden Verbrechen.<br />

101<br />

Siehe IStGH, Beschl. v. 29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-<br />

Trial Chamber I), para. 37; in para. 39 führt die Vorverfahrenskammer<br />

I aus, dass der Prüfungsmaßstab des dringenden<br />

Verdachts dann erfüllt ist, wenn die Anklage handfeste Beweise<br />

vorgelegt „demonstrating a clear line of reasoning<br />

underpinning its specific allegations“.<br />

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137


Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Vor diesem Hintergrund ist der Begriff des „begründeten<br />

Verdachts“ inhaltlich auszufüllen. 102 Auf der Skala der Beweismaßstäbe<br />

ist er zwischen der „hinreichenden Grundlage“<br />

und dem „dringenden Tatverdacht“ anzusiedeln. 103 Begründeter<br />

Verdacht kann mithin angenommen werden, wenn die<br />

Richter nach Auswertung des vorgelegten Beweismaterials<br />

zu dem Schluss kommen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit<br />

besteht, dass der Verdächtige die Tat begangen hat bzw. – auf<br />

den vorliegenden Fall gemünzt – die Zerstörungsabsicht<br />

vorliegt. 104 Die hohe Wahrscheinlichkeit muss hinter der<br />

Gewissheit zurückbleiben; sie impliziert, dass nach der Beweislage<br />

auch das Nichtvorliegen der Zerstörungsabsicht<br />

möglich ist. Damit besteht auch dann begründeter Verdacht<br />

der Zerstörungsabsicht, wenn dies nicht die einzig vernünftige<br />

Schlussfolgerung nach Auswertung der vorgelegten Beweise<br />

ist, sondern einer von mehreren möglichen Schlüssen,<br />

sofern er nur besonders wahrscheinlich ist.<br />

Ähnlich argumentiert auch Richterin Usacka in ihrem<br />

Sondervotum. Ihr zufolge ist es im jetzigen Verfahrensstadium<br />

ausreichend, dass aus dem vorgelegten Beweismaterial<br />

vernünftigerweise auch auf die Zerstörungsabsicht geschlossen<br />

werden kann, solange dieser Schluss nicht in einem<br />

nächsten Prüfungsschritt durch die Beweismittel derart erschüttert<br />

wird, dass er auf zweiten Blick doch unvernünftig<br />

erscheint (rendered unreasonable). 105<br />

Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung<br />

eines „allgemeinen Auslegungsgrundsatzes in dubio pro<br />

reo“. Dabei ist zunächst zweifelhaft, ob sich ein solcher<br />

Grundsatz tatsächlich aus Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut ergibt.<br />

Seinem Wortlaut nach findet diese Zweifelsregelung nur auf<br />

die Auslegung der Verbrechenstatbestände, also auf materielle<br />

Rechtsfragen, Anwendung. 106 Ein prozessualer in dubio-<br />

Grundsatz kann hingegen aus der Unschuldsvermutung nach<br />

Art. 66 Abs. 1, 3 IStGH-Statut abgeleitet werden: Jede Person<br />

gilt als unschuldig, solange ihre Schuld nicht zweifelsfrei<br />

nachgewiesen ist. Die Unschuldsvermutung gilt nach dem<br />

Wortlaut nicht nur für den Angeklagten im Hauptverfahren,<br />

102<br />

Weder im Statut noch in den Verfahrens- und Beweisregeln<br />

finden sich zu dem Begriff des begründeten Verdachts<br />

nähere Angaben. Der Entstehungsgeschichte ist immerhin zu<br />

entnehmen, dass er objektive Kriterien zum Ausdruck bringt,<br />

siehe „Zutphen Draft“, 1.4.1998, Fn. 10, 11 zu Art. 52 [28]:<br />

“The term ‘reasonable grounds’ was understood to embody<br />

objective criteria. Some delegations preferred other terms<br />

such as ‘serious reasons’”. Vgl. Hall, article 58, in: Triffterer<br />

(Fn. 63), Rn. 9, Fn. 20.<br />

103<br />

Vgl. Schabas, article 66, in: Triffterer (Fn. 63), Rn. 23.<br />

104<br />

Da es um den Erlass eines Haftbefehls geht, also eine für<br />

den Verdächtigen äußerst einschneidende Maßnahme, ist ein<br />

hoher Wahrscheinlichkeitsgrad erforderlich, der jedoch hinter<br />

dem des dringenden Verdachts i.S.v. Art. 61 Abs. 7 zurückbleibt.<br />

105<br />

Abweichendes Sondervotum Usacka zu IStGH, Beschl. v.<br />

4.3.2009, para. 34.<br />

106<br />

Vgl. Broomhall, article 22, in: Triffterer (Fn. 63), Rn. 39.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

138<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

sondern bereits – zumindest mittelbar – im Vor- und damit<br />

auch im Haftbefehlsverfahren. 107<br />

Konkret bedeutet das: Ist die Kammer vom Vorliegen begründeten<br />

Verdachts nicht überzeugt, bestehen also vernünftige<br />

Zweifel daran, dass der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad<br />

erreicht ist, so ist der Antrag auf Erlass des Haftbefehls<br />

abzulehnen. Es bedeutet hingegen nicht, dass bei Zweifeln<br />

bezüglich des Vorliegens der Zerstörungsabsicht zugunsten<br />

des Verdächtigen zu entscheiden ist, da die Möglichkeit<br />

des Nichtvorliegens der Zerstörungsabsicht dem begründeten<br />

Verdacht immanent ist. Stünden Zweifel beim Vorliegen der<br />

Zerstörungsabsicht selbst dem Erlass eines Haftbefehls entgegen,<br />

so wie es die Ansicht der Vorsitzenden Richterin<br />

Kuenyehia und Richterin Steiner nahelegt, so würde die<br />

Haftbefehlsentscheidung als vorgezogene Hauptverhandlung<br />

zweckentfremdet. Das zu diesem Zeitpunkt vorgelegte –<br />

unvollständige – Beweismaterial würde durch die Vorverfahrenskammer<br />

bereits abschließend bewertet. Im Falle der Annahme<br />

der Zerstörungsabsicht käme dies einer „Vorverurteilung“<br />

gleich. Eine abschließende Beurteilung des vorgelegten<br />

Beweismaterials ist der Vorverfahrenskammer jedoch nicht<br />

gestattet, sie muss den Richtern der Hauptverhandlung vorbehalten<br />

bleiben. 108<br />

b) Individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit Al Bashirs<br />

In Bezug auf die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit<br />

folgt die Vorverfahrenskammer dem Ankläger und bejaht<br />

begründeten Verdacht für die mittelbare (Mit-)Täterschaft Al<br />

Bashirs hinsichtlich der in Darfur begangenen Völkerrechtsverbrechen.<br />

Wie schon in den Verfahren gegen Lubanga<br />

Dyilo 109 und gegen Katanga and Ngudjolo Chui 110 betont die<br />

Kammer unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die deutsche<br />

Strafrechtsdogmatik, dass die Abgrenzung zwischen Tätern<br />

im Sinne des Art. 25 Abs. 3 lit. a IStGH-Statut und Teilnehmern<br />

mittels des Kriteriums der Tatherrschaft (notion of<br />

control of the crime) durchzuführen sei. 111 Begründeter Verdacht<br />

hinsichtlich der Tatherrschaft Al Bashirs wird von der<br />

Kammer sodann anhand der Lehre der Organisationsherrschaft<br />

bejaht: Er übe als Präsident des Sudan und als Befehlshaber<br />

über die Streitkräfte de jure und de facto Kontrolle<br />

über den hierarchisch organisierten Staatsapparat aus. Diese<br />

Kontrolle habe er bewusst genutzt, um die in Frage stehenden<br />

Verbrechen durch andere zu begehen. Die Taten der selbst<br />

107 So Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst (Fn. 47), S. 356,<br />

Zappalà, in: Cassese u.a. (Fn. 78), S. 458.<br />

108 Nicht überzeugend ist es im Übrigen, dass die Kammer<br />

dem Umstand große Bedeutung zumisst, dass sich die Zerstörungsabsicht<br />

als innere Tatsache in Ermangelung direkter<br />

Aussagen Al Bashirs nur mittels Indizienbeweis (proof of<br />

inference) feststellen lässt, vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009,<br />

para 147. Der Indizienbeweis kann den prozessual erforderlichen<br />

Beweismaßstab keinesfalls modifizieren.<br />

109 IStGH, Beschl. v. 29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-Trial<br />

Chamber I), paras. 326-339.<br />

110 IStGH, Beschl. v. 30.9.2008 (Katanga and Ngudjolo Chui,<br />

Pre-Trial Chamber I), paras. 484 ff.<br />

111 IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 210.


Der Präsident und sein Gericht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

vollverantwortlich handelnden unmittelbaren Ausführungstäter<br />

würden ihm daher zugerechnet. 112<br />

Offen lässt die Richtermehrheit jedoch, ob Al Bashir als<br />

mittelbarer Täter (indirect perpetrator) oder als mittelbarer<br />

Mittäter (indirect co-perpetrator) anzusehen ist. 113 Die Figur<br />

der mittelbaren Mittäterschaft wurde von der Vorverfahrenskammer<br />

erstmals in Katanga and Ngudjolo Chui ausführlich<br />

diskutiert. 114 In diesem Fall standen sowohl Germain Katanga<br />

als auch Mathieu Ngudjolo Chui jeweils alleine an der Spitze<br />

verschiedener, hierarchisch organisierter bewaffneter Gruppen<br />

von Kindersoldaten. Gleichzeitig lagen zwischen den<br />

beiden die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der<br />

Mittäterschaft vor. Insbesondere hatten sie einen gemeinsamen<br />

Tatplan entwickelt, an deren Umsetzung die beiden<br />

Organisationen zwingend beteiligt sein mussten. Damit war<br />

es nach Ansicht der Vorverfahrenskammer möglich, die Katanga<br />

mittels Organisationsherrschaft zugerechneten Verbrechen<br />

seiner Ausführungstäter auch Ngudjolo Chui im Wege<br />

der Mittäterschaft zuzurechnen – und umgekehrt. So verstanden<br />

ist die Figur der mittelbaren Mittäterschaft eine hintereinander<br />

geschaltete Kombination aus mittelbar-täterschaftlicher<br />

Zurechnung auf vertikaler und mittäterschaftlicher<br />

Zurechnung auf horizontaler Ebene.<br />

Im vorliegenden Fall bestätigt die Kammer ihre Rechtsprechung,<br />

115 scheint unter der Rechtsfigur zugleich aber<br />

etwas anders zu verstehen. Es geht nicht darum, dass einzelne<br />

Führungsfiguren alleinige Organisationsherrschaft über einen<br />

Teil des Staatsapparates haben und die von diesem Teil des<br />

Apparates begangenen Verbrechen den Mittätern auf der<br />

112<br />

Mittelbare Täterschaft wird in Art. 25 Abs. 3 lit. a IStGH-<br />

Statut geregelt; ausdrücklich anerkannt wird dort auch die<br />

Figur des „Täters hinter dem Täter“. Nach Ansicht der Vorverfahrenskammern<br />

I und III lässt sich daraus ableiten, dass<br />

das IStGH-Statut damit auch die Lehre von der Tatherrschaft<br />

kraft Organisationsherrschaft inkorporiert; vgl. IStGH, Beschl.<br />

v. 29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-Trial Chamber I),<br />

paras. 94-96, in der letztlich jedoch Mittäterschaft angenommen<br />

wurde; IStGH, Beschl. v. 30.9.2008 (Katanga and Ngudjolo<br />

Chui, Pre-Trial Chamber I), paras. 495 f.; IStGH, Haftbefehl<br />

vom 10.6.2008 (Bemba Gombo, Pre-Trial Chamber<br />

III), para. 24. Zu der Anwendung dieser im deutschen Recht<br />

von Roxin entwickelten dogmatischen Figur durch den IStGH<br />

siehe Jeßberger/Geneuss, 6 Journal of International Criminal<br />

Justice (2008), 853.<br />

113<br />

Der Antrag des Anklägers basiert hingegen ausschließlich<br />

auf der Täterschaftsform der indirect perpetration, vgl. Anklagebehörde,<br />

Antrag vom 14.7.2008, paras. 39, 247.<br />

114<br />

IStGH, Beschl. v. 30.9.2008 (Katanga and Ngudjolo Chui,<br />

Pre-Trial Chamber I), paras. 495 ff.<br />

115<br />

Noch deutlicher als zuvor behandelt die Kammer die mittelbare<br />

Mittäterschaft als eine vierte eigenständige Form der<br />

Täterschaft im Sinne des Art. 25 Abs. 3 lit. a IStGH-Statut<br />

neben der unmittelbaren, der mittelbaren und der Mittäterschaft,<br />

vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 210, 213. Siehe<br />

hierzu auch die Ausführungen der Kammer in IStGH,<br />

Beschl. v. 30.9.2008 (Katanga and Ngudjolo Chui, Pre-Trial<br />

Chamber I), paras. 490 ff.<br />

Führungsebene zugerechnet werden sollen. Vielmehr stellt<br />

sich die Vorverfahrenskammer die Frage, ob Al Bashir als<br />

alleiniger Führer an der Spitze des hierarchisch gegliederten<br />

Staatsapparates steht, ob er also die Organisationsherrschaft<br />

alleine innehat, oder ob nicht vielmehr ein Zirkel mehr oder<br />

minder gleichrangiger Funktionäre den Staatsapparat kontrolliert<br />

und somit gemeinsam die Organisationsherrschaft ausübt.<br />

116 Ob die mittäterschaftlich-horizontale Zurechnung in<br />

solchen Fällen erforderlich ist, soll im Rahmen dieses Beitrages<br />

nicht vertieft werden. Der BGH hat diese Notwendigkeit<br />

in den Verfahren gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates<br />

der DDR und des Politbüros der SED jedenfalls<br />

nicht gesehen. 117<br />

3. Notwendigkeit der Festnahme<br />

Schließlich hält die Kammer die Festnahme Al Bashirs gemäß<br />

Art. 58 Abs. 1 lit. b IStGH-Statut für notwendig, um<br />

sicherzustellen, dass er zur Verhandlung erscheint, die weiteren<br />

Ermittlungen nicht behindert oder gefährdet, und um ihn<br />

an der Begehung weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

und Kriegsverbrechen zu hindern. Da Al Bashir bisher<br />

auch keine Bereitschaft gezeigt habe, vor dem Gerichtshof zu<br />

erscheinen oder sonst mit ihm zu kooperieren, stelle eine<br />

Ladung im Sinne des Art. 58 Abs. 7 IStGH-Statut keine Alternative<br />

dar.<br />

4. Festnahme- und Überstellungsersuchen<br />

Zur Umsetzung der Haftbefehlsentscheidung weist die Vorverfahrenskammer<br />

die Kanzlei (registry) an, Festnahme- und<br />

Überstellungsersuchen an den Sudan, die Vertragsstaaten des<br />

Rom-Statuts und die Mitgliedstaaten des Sicherheitsrats, die<br />

keine Vertragsstaaten sind, zu übermitteln. 118 Zudem sollen<br />

Ersuchen vorbereitet werden, die gegebenenfalls weiteren<br />

Nicht-Vertragsstaaten zugestellt werden können.<br />

In diesem Zusammenhang stellen sich zwei abschließende<br />

Fragen, die für den Verlauf des Verfahrens von entscheidender<br />

Bedeutung sind. Erstens: Sind diese Staaten zur Kooperation<br />

mit dem IStGH und damit zur Festnahme Al Bashirs<br />

verpflichtet? Und zweitens: Steht einer Festnahme Al Bashirs<br />

durch diese Staaten nicht vielmehr dessen Immunität ratione<br />

personae entgegen? Denn formell gesehen handelt es sich bei<br />

116<br />

Richterin Usacka geht ausschließlich von mittelbarer<br />

Täterschaft Al Bashirs aus: Nach dem vom Ankläger vorgebrachten<br />

Beweismaterial sei nicht hinreichend klar, ob neben<br />

Al Bashir auch andere Regierungsmitglieder Tatherrschaft<br />

besitzen. Daher scheide Mittäterschaft im jetzigen Verfahrensstadium<br />

aus, Abweichendes Sondervotum Usacka zu<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 103 f.<br />

117<br />

Die Zurechnung der Erschießungen an der deutschdeutschen<br />

Grenze erfolgte in diesen Verfahren ausschließlich<br />

im Wege der mittelbaren Täterschaft; vgl. BGH, Urt. v.<br />

26.7.1994, BGHSt 40, 218 und Urt. v. 8.11.1999, BGHSt 45,<br />

270.<br />

118<br />

IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, S. 93, wobei die Kammer<br />

nicht näher erläutert, warum die Ersuchen auch an die Mitgliedstaaten<br />

des Sicherheitsrats übermittelt werden.<br />

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139


Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />

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einer Festnahme durch staatliche Behörden um die Ausübung<br />

eigener, nationaler Strafgerichtsbarkeit, selbst wenn damit<br />

einem Rechtshilfeersuchen des IStGH nachgekommen wird.<br />

Gegenüber nationalen Gerichtsbarkeiten genießen amtierende<br />

Staats- und Regierungschefs aber nach allgemeiner Ansicht<br />

ausnahmslos und absolut völkergewohnheitsrechtliche Immunität<br />

ratione personae. 119<br />

Relativ einfach lassen sich diese Fragen im Hinblick auf<br />

den Sudan selbst klären. Der Sudan – hier stellt sich die Frage<br />

nach der völkerrechtlichen Immunität ratione personae<br />

nicht – ist unmittelbar nach der Sicherheitsratsresolution<br />

1593 verpflichtet, dem Festnahme- und Überstellungsersuchen<br />

des IStGH nachzukommen. Dort heißt es: „[T]he Government<br />

of Sudan [...] shall cooperate fully with and provide<br />

any necessary assistance to the Court and the Prosecutor<br />

pursuant to this resolution“. 120 Freilich ist es, jedenfalls zum<br />

derzeitigen Zeitpunkt, äußerst unwahrscheinlich, dass der<br />

Sudan dieser Verpflichtung nachkommt.<br />

Komplizierter sieht es hingegen bei den Vertragsstaaten<br />

zum IStGH-Statut aus. Die Pflicht zur Kooperation mit dem<br />

Gerichtshof, und damit auch die Pflicht, dem Festnahmeersuchen<br />

Folge zu leisten, ergibt sich zwar grundsätzlich aus den<br />

Art. 86, 89 IStGH-Statut. Nach Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut<br />

ist es dem Gerichtshof jedoch nicht gestattet Rechtshilfe- und<br />

Überstellungsersuchen zu stellen, wenn damit von dem ersuchten<br />

Staat verlangt würde, gegen völkerrechtlich bestehende<br />

„horizontale“, also zwischenstaatliche, Immunitätsregelungen<br />

zu verstoßen. Ziel des Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut<br />

ist es, „völkerrechtliche Pflichtenkollisionen“ zu vermeiden.<br />

121<br />

Entscheidend ist demnach, ob die grundsätzlich bestehende<br />

„horizontale“ Immunität Al Bashirs möglicherweise aufgehoben<br />

wurde. Aus der Sicherheitsratsresolution, die die<br />

„Situation Darfur“ an den IStGH überweist, kann nicht unmittelbar<br />

auf eine Aufhebung der Immunität Al Bashirs durch<br />

den Sicherheitsrat geschlossen werden, die auch staatliche<br />

Rechtshilfemaßnahmen zugunsten des IStGH umfasst. Die<br />

Resolution verpflichtet ausschließlich den Sudan zur Kooperation<br />

mit dem IStGH, andere Staaten werden lediglich dringend<br />

dazu angehalten. 122 Ohne ausdrückliche Kooperations-<br />

119<br />

So für amtierende Staats- und Regierungschefs sowie<br />

Außenminister ausdrücklich der IGH, Urt. v. 14.2.2002 (Arrest<br />

Warrant of 11 April 2000 [Democratic Republic of the<br />

Congo v. Belgium]), paras. 52 ff. Vgl. hierzu Kreß, GA 2003,<br />

30 ff., 39; Ipsen (Fn. 26), § 26 Rn. 35, 41 f.<br />

120<br />

UN-Sicherheitsrat, Resolution 1593 (Fn. 19), S. 1. Zur<br />

Umsetzung der Resolution ist der Sudan gem. Art. 25 UN-<br />

Charta verpflichtet.<br />

121<br />

Vgl. hierzu Kreicker, Exemtionen (Fn. 26), S. 1380 ff;<br />

Ambos (Fn. 30), § 8 Rn. 66.<br />

122<br />

„While recognizing that States not party to the Rome<br />

Statute have no obligations under the Statute, the [UN Security<br />

Council] urges all States [...] to cooperate fully.“ UN-<br />

Sicherheitsrat, Resolution 1593 (Fn. 19), S. 1.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

140<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

verpflichtung lässt sich jedoch eine umfassende Aufhebung<br />

der Immunität Al Bashirs kaum begründen. 123<br />

Diese Feststellung stimmt auch mit den Ausführungen der<br />

Vorverfahrenskammer zur Prüfung der „vertikalen“ Immunität<br />

Al Bashirs überein: 124 Die Kammer stützt ihre Argumentation,<br />

dass die Immunität Al Bashirs einer Strafverfolgung<br />

durch den IStGH nicht entgegensteht, nicht unmittelbar auf<br />

die UN-Resolution selbst, sondern beruft sich auf Art. 27<br />

Abs. 2 IStGH-Statut, da mit der Übertragung der Darfur-<br />

Situation durch den UN-Sicherheitsrat das gesamte Regelungsinstrumentarium<br />

des IStGH anwendbar geworden ist.<br />

Folgt man dieser Argumentationslinie stellt sich als<br />

nächstes jedoch die Frage, ob von Art. 27 Abs. 2 IStGH-<br />

Statut dann nicht auch die staatlichen Rechtshilfemaßnahmen<br />

zugunsten des IStGH umfasst sind. Im Falle von Vertragsstaatsangehörigen<br />

wird dies im Schrifttum vertreten und so<br />

der Widerspruch zwischen Art. 27 Abs. 2 und 98 Abs. 1<br />

IStGH-Statut aufgelöst: Der Immunitätsausschluss des<br />

Art. 27 Abs. 2 IStGH wird nicht in einem engen, technischen<br />

Sinne verstanden, der allein die Gerichtsbarkeit des IStGH<br />

erfasst; vielmehr müsse er, um nicht regelmäßig ins Leere zu<br />

laufen, auch die das internationale Strafverfahren erst ermöglichenden<br />

vertikalen Kooperationsmaßnahmen der Vertragsstaaten<br />

zugunsten des IStGH, insbesondere Festnahme und<br />

Überstellung, umfassen. 125 Geht man im vorliegenden Fall<br />

123<br />

Nach Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst (Fn. 47),<br />

S. 441, ist eine Immunität ratione personae von Nicht-IStGH-<br />

Vertragsstaatsangehörigen gegenüber staatlichen Gerichtsbarkeiten<br />

dann nicht anzunehmen, wenn der UN-Sicherheitsrat<br />

die Situation nach Kapitel VII der UN-Charta an den IStGH<br />

überweist und die Resolution die entsprechenden Staatenverpflichtungen<br />

beinhaltet. Ähnliche Überlegungen stellt Kreß,<br />

GA 2003, 39 unter Bezugnahme auf den Erlass des Haftbefehls<br />

gegen Slobodan Milosevic durch den JStGH an. Denkbar<br />

wäre es ebenfalls, nicht aus der Resolution, sondern unmittelbar<br />

aus einem völkergewohnheitsrechtlichen Immunitätsausschluss<br />

ratione personae vor internationalen Strafgerichten<br />

auf das Nicht-Entgegenstehen der Immunität auch<br />

gegenüber staatlichen Strafgerichtsbarkeiten, die Rechtshilfemaßnahmen<br />

zugunsten des IStGH ausführen, zu schließen;<br />

ähnlich Kreß, a.a.O., 39 f., ders., NStZ 2000, 617 (622). Ob<br />

ein solch weit reichender völkerrechtlicher Immunitätsausschluss<br />

tatsächlich angenommen werden kann, kann im<br />

Rahmen dieses Beitrages jedoch nicht weiter vertieft werden.<br />

124<br />

Siehe oben III. 1. a).<br />

125<br />

Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut ist nach dieser Argumentation<br />

letztendlich irrelevant, sofern es um die Immunität ratione<br />

personae eines Vertragsstaatsangehörigen geht. Zu diesem<br />

Ergebnis kommen auch die Vertreter der Ansicht, nach der<br />

Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut bei Vertragsstaatsangehörigen<br />

schon von vornherein keine Anwendung findet, da mit „Drittstaaten“<br />

allein Nicht-Vertragsstaaten gemeint sind. Anders<br />

Kreicker, Exemtionen (Fn. 26), S. 1380 ff., nach dem zum<br />

einen Art. 98 IStGH-Statut auch auf Vertragsstaaten Anwendung<br />

findet, und zudem Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut eng<br />

auszulegen ist und nur die Gerichtsbarkeit des IStGH umfasst,<br />

nicht die vertragsstaatliche Gerichtsbarkeit. Damit


Der Präsident und sein Gericht<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

mit der Kammer von der durch den Sicherheitsrat gewollten<br />

Anwendung des Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut aus, so kann<br />

konsequenterweise nichts anderes gelten.<br />

Diese Argumentation ist jedenfalls mit dem Schutzzweck<br />

von Immunitäten ratione personae gegenüber nationalen<br />

Gerichtsbarkeiten vereinbar, da Rechtshilfemaßnahmen einzelner<br />

Staaten zugunsten des Gerichtshofs grundsätzlich<br />

einen anderen Charakter haben als Maßnahmen, die allein im<br />

Rahmen nationaler Strafverfolgungen erfolgen. In diesen<br />

Fällen handelt es sich ausschließlich um Hilfstätigkeiten für<br />

den IStGH, da dieser mangels eigener Vollzugsbehörden<br />

„durch“ seine Vertragsstaaten handeln muss. Ein Verstoß<br />

gegen den Grundsatz souveräner Gleichheit aller Staaten liegt<br />

nicht vor, da der ersuchte Staat nicht über einen anderen zu<br />

Gericht sitzt. Die Gefahr politischen Missbrauchs der staatlichen<br />

Strafverfolgung ist somit derart eingeschränkt, dass es<br />

vertretbar erscheint, der effektiven Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen<br />

durch den IStGH den Vorrang vor der umfassenden<br />

Immunität ratione personae einzuräumen. 126<br />

Damit war es dem Gerichtshof nach Art. 98 Abs. 1<br />

IStGH-Statut gestattet, Festnahme- und Überstellungsersuchen<br />

an seine Vertragsstaaten zu stellen. Die Vertragsstaaten<br />

sind demnach berechtigt und zugleich verpflichtet, dem Ersuchen<br />

nachzukommen. Es erübrigt sich folglich die Frage, wie<br />

ein Vertragsstaat mit nach seiner Ansicht „rechtswidrigen“,<br />

das heißt entgegen den Voraussetzungen des Art. 98 Abs. 1<br />

IStGH-Statut gestellten, Rechtshilfeersuchen, umzugehen<br />

hat. 127<br />

dürfen Staaten bei Bestehen völkerrechtlicher Immunität<br />

keine Strafgerichtsbarkeit ausüben, auch nicht, wenn es sich<br />

um eine Rechtshilfemaßnahme zugunsten des IStGH handelt<br />

– der Gerichtshof muss zunächst bei dem betreffenden Vertragsstaat<br />

einen Verzicht auf Immunität zugunsten der nationalen<br />

Strafgerichtsbarkeit erreichen. Zum Ganzen siehe Kreß,<br />

in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr<br />

in Strafsachen, 3. Aufl., Stand: Februar 2009, Vor III<br />

26 Rn. 244; Kreß/Prost, article 98, in: Triffterer (Fn. 63), Rn.<br />

9, 13 f; Akande, 98 American Journal of International Law<br />

(2004), 407 (419 ff.).<br />

126<br />

Ähnlich Kreß, GA 2003, 41.<br />

127<br />

Im Schrifttum wird überwiegend vertreten, dass der IStGH<br />

die alleinige Entscheidungskompetenz über die Immunitätsfrage<br />

im Sinne des Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut innehat.<br />

Folglich darf ein ersuchter Staat nicht selbst Konsequenzen<br />

aus der nach seiner Ansicht nach aufgrund des „rechtswidrigen“<br />

Ersuchens des IStGH bestehenden Pflichtenkollision<br />

ziehen und die Erledigung des Ersuchens verweigern. Er<br />

kann lediglich auf seine abweichende Rechtsauffassung hinweisen<br />

und zur Not die Rechtmäßigkeit des Ersuchens anfechten,<br />

so Meißner (Fn. 30), S. 121. Gestützt wird diese<br />

Ansicht auf den Wortlaut des Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut<br />

und Regel 195 der Verfahrens- und Beweisanordnung. Eine<br />

gegenteilige Ansicht wird teilweise von den Vertragsstaaten<br />

vertreten, die sich in ihren Kooperationsgesetzen ein eigenes<br />

Prüfungsrecht vorbehalten. So i.E. auch Steinberger-Frauenhofer<br />

(Fn. 26), S. 215. Zum Ganzen vgl. Akande 98 American<br />

Journal of International Law (2004), 431 f.; Broomhall,<br />

Was Nicht-Vertragsstaaten angeht, so kann eine Kooperationsverpflichtung<br />

mit dem IStGH aus dem Statut naturgemäß<br />

nicht abgeleitet werden. Sie ergibt sich, wie bereits dargestellt,<br />

auch nicht unmittelbar aus der Sicherheitsratsresolution.<br />

Aus der Resolution und ebenfalls über den „Umweg“<br />

des IStGH-Statuts ließe sich jedoch möglicherweise eine<br />

Berechtigung der Nicht-Vertragsstaaten zur Festnahme Al<br />

Bashirs herleiten: Indem sich der Sicherheitsrat das Statut zu<br />

Eigen gemacht hat, entfaltet es mittelbar Wirkung nicht nur<br />

gegenüber den Vertragsstaaten, sondern auch gegenüber<br />

Nicht-Vertragsstaaten. Diese wären damit – wenn der oben<br />

erläuterten weiten Auslegung des Art. 27 IStGH-Statut gefolgt<br />

wird – zu Rechtshilfemaßnahmen zugunsten des Gerichtshofs<br />

zumindest berechtigt.<br />

IV. Fazit und Ausblick<br />

Auf das bereits nach Bekanntwerden des Antrags auf Erlass<br />

des Haftbefehls gegen Al Bashir äußerst kontrovers diskutierte<br />

Verhältnis von politischen Friedensbemühungen und internationaler<br />

Strafverfolgung und die damit angesprochenen,<br />

sehr grundsätzlichen Fragen der Funktionsbestimmung und<br />

Legitimation internationaler Strafjustiz sind die Richterinnen<br />

in ihrer Entscheidung nicht eingegangen. 128 Die Haftbefehlsentscheidung<br />

der Vorverfahrenskammer behandelt aber Probleme<br />

des materiellen Völkerstrafrechts und des Verfahrensrechts,<br />

die für die weitere Tätigkeit des IStGH von außerordentlicher<br />

Bedeutung sind. Allerdings verdienen die Ausführungen<br />

überwiegend Kritik: Die Überlegungen zum Erfordernis<br />

eines Kontextelements beim Völkermord können nicht<br />

überzeugen, weil die Kammer eine sachbezogene Argumentation<br />

vermissen lässt und sich stattdessen auf fragwürdige<br />

methodische Erwägungen beschränkt. Auch die Ausführungen<br />

der Kammermehrheit zum prozessualen Prüfungsmaßstab<br />

sind abzulehnen; insoweit steht allerdings zu hoffen,<br />

dass die Berufungskammer zeitnah eine Korrektur herbeiführen<br />

wird. 129<br />

International Justice and the International Criminal Court,<br />

S. 142; Kreß, NStZ 2000, 622. Im deutschen Recht wird der<br />

Gedanke des Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut durch § 21 GVG<br />

umgesetzt; siehe hierzu Kreß, GA 2003, 42 f.; Kreicker,<br />

Exemtionen (Fn. 26), S. 1396, insbesondere Fn. 360.<br />

128<br />

Vgl. dazu z.B. Cayley, 6 Journal of International Criminal<br />

Justice (2008), 829; Ciampi, 6 Journal of International Criminal<br />

Justice (2008), 885; Gosnell, 6 Journal of International<br />

Criminal Justice (2008), 841; Nguyen, Höchstrichterliche<br />

Rechtsprechung im Strafrecht, 2008, S. 368 ff.<br />

129<br />

Der Ankläger hat gegen die Entscheidung der Kammer am<br />

10.3.2009 Beschwerde gemäß Art. 82 Abs. 1 lit. d IStGH-<br />

Statut eingelegt. Die Beschwerde ist abrufbar unter<br />

www2.icc-cpi.int/NR/exeres/CC751CCC-B58D-49A8-8073-<br />

83E0D06D3717.htm (10.4.2009). Sie richtet sich im Wesentlichen<br />

gegen die Interpretation des prozessualen Beweismaßstabs<br />

durch die Kammermehrheit und deren konkrete Würdigung<br />

des Beweismaterials bezüglich der Zerstörungsabsicht.<br />

Es bleibt abzuwarten, ob der IStGH die Beschwerde annehmen<br />

wird.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

141


Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Fallübergreifend bestätigt die Entscheidung zwei Tendenzen,<br />

die jedenfalls erheblicher Skepsis begegnen. Zum einen<br />

wird erneut der Wille der Vorverfahrenskammer I überdeutlich,<br />

die Rechtsentwicklung des IStGH maßgeblich zu prägen.<br />

Mit den erkennbar nicht entscheidungsrelevanten, dem<br />

gefestigten Stand der internationalen Rechtsprechung widersprechenden<br />

Ausführungen zum Kontextelement des Völkermords<br />

in einer Haftbefehlsentscheidung erreicht diese<br />

Entwicklung einen Punkt, der zu einer Rückbesinnung auf die<br />

verfahrensimmanenten Aufgaben der Vorverfahrenskammer<br />

Anlass geben sollte. Zum anderen fällt die bewusste Absetzung<br />

des IStGH von der Rechtsprechung der ad hoc-<br />

Tribunale ins Auge. Diese Tendenz ist nicht an sich problematisch.<br />

Sie ist aber dort zu kritisieren, wo sie – wie im vorliegenden<br />

Fall bei den Überlegungen der Vorverfahrenskammer<br />

zum Kontextelement des Völkermords – nicht in<br />

inhaltlicher Auseinandersetzung erfolgt, sondern in formaler<br />

Betonung der Eigenständigkeit des IStGH.<br />

Für den Fortgang des eigentlichen Verfahrens ist dagegen<br />

entscheidend, dass der Haftbefehl gegen Al Bashir ausgeführt<br />

und der sudanesische Präsident festgenommen und dem<br />

IStGH überstellt wird. Hier sind insbesondere die Vertragsstaaten<br />

aufgerufen, ihrer Verpflichtung gegenüber dem<br />

IStGH gerecht zu werden, sobald sich die Gelegenheit dazu<br />

ergibt.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

142<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

Über ein degeneriertes „natürliches Recht“, richterliche Willkür, Geheimjustiz, Gleichheit vor dem<br />

Gesetz und historische Parallelen*<br />

Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Christoph Mandla, Halle-Wittenberg<br />

I. Vater, Sohn und natürliches Recht<br />

1. Der Fall Görgülü<br />

Wäre Jesus Christus in Deutschland geboren worden und<br />

hätte eine deutsche Maria ihn dann zur Adoption freigegeben,<br />

hätte wohl nur der Allmächtige selbst keine etwa 50 (in Worten:<br />

fünfzig!) Gerichtsentscheidungen 1 aus sechs Instanzen<br />

und neun Jahre benötigt, um für seinen eingeborenen Sohn<br />

das Sorgerecht zu erhalten. Als sterblicher Mensch hat Kazim<br />

Görgülü erheblich weniger Macht, als Ausländer in Deutschland<br />

noch ein bisschen weniger 2 und so musste er darauf<br />

vertrauen, dass der deutsche Staat, der das Recht der Eltern –<br />

also auch das des Vaters – sein eigenes Kind zu pflegen und<br />

zu erziehen, als „natürliches Recht“ in seiner Verfassung<br />

verankert hat, Art. 6 Abs. 1 GG, ihm dieses auch tatsächlich<br />

gewährte. Görgülü konnte eigentlich guten Mutes sein.<br />

Deutschland war im Jahr der Geburt seines Sohnes seit fünfzig<br />

Jahren, drei Monaten und zwei Tagen ein Rechtsstaat, die<br />

deutsche Justiz an Recht und Gesetz gebunden, Art. 20 Abs.<br />

3 GG, und die deutschen Richter ausdrücklich dem Gesetz<br />

unterworfen, Art. 97 Abs. 1 GG. Doch irgendetwas ging<br />

gründlich schief.<br />

2. Das Rechtsbeugungsprivileg<br />

a) Gäbe es in Deutschland noch die Todesstrafe und hätte der<br />

14. Senat des OLG Naumburg Görgülü zum Tode verurteilt,<br />

und hätte die Staatsanwaltschaft dann die drei Richter wegen<br />

Rechtsbeugung und Justizmordes angeklagt 3 – das richterli-<br />

* Zugleich Anmerkung zum Beschluss des OLG Naumburg<br />

vom 6.10.2008 – 1 Ws 504/07 = NJW 2008, 3585. Der Beschluss<br />

ist auch unter www.njw.de als Datei abrufbar:<br />

http://rsw.beck.de/rsw/upload/NJW/KW_44-2008.pdf. Dort<br />

findet sich auch eine Diskussion mit dem VorsRiOLG Heintschel-Heinegg.<br />

Als Lösung des Problems wurden der Tatbestand<br />

der „gemeinschaftlichen Rechtsbeugung“ und eine<br />

dienstrechtliche „Kronzeugenregelung“ vorgeschlagen. Die<br />

dort u.a. empfohlene Richteranklage, Art. 84 Abs. 1 VerfLSA,<br />

würde aber aus den gleichen Gründen erfolglos bleiben wie<br />

die Strafanklage. Die Richter würden sich auf § 43 DRiG<br />

berufen.<br />

1<br />

Alle Entscheidungen sind im Internet unter „Tagebuch<br />

Görgülü“ abrufbar. – Der Gedanke ist doppelt theoretisch,<br />

denn in seiner Allwissenheit wäre Gottvater klar gewesen,<br />

dass Maria das Kind behielte, so dass er die Sache nicht vor<br />

Gericht hätte in seine Hand nehmen müssen.<br />

2<br />

Siehe zuletzt BVerfG – 2 BvR 1064/08, Beschl. v. 9.1.2009.<br />

3<br />

Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 184 nennt auch<br />

die „Tötung“ als ggf. mitverwirklichtes Delikt (s. u. bei<br />

Fn. 56). Vor allem, aber nicht nur, die ältere Literatur, vgl.<br />

Spendel, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />

Leipziger Kommentar, Bd. 9, 11. Aufl. 2006, § 339,<br />

Stichworte: „nackter Mord“, „Justizmord“; sowie die Nach-<br />

che Beratungsgeheimnis und die angebliche Sonderstellung<br />

eines Kollegialgerichts, dem die angeklagten Richter angehörten,<br />

hätten nach Naumburger Lesart bereits eine Hauptverhandlung<br />

verhindert. Schweres Justizunrecht wäre nicht<br />

aufgearbeitet worden. Man mag dieses Beispiel übertrieben<br />

und geschmacklos finden 4 und sich mit Art. 102 GG trösten.<br />

Deutsche Richter dürfen keine Todesstrafe verhängen und<br />

geraten somit gar nicht erst in die Gefahr, jemanden vielleicht<br />

auch einmal zu Unrecht zu töten. Aber unterhalb der Grenze<br />

zum Töten steht das sehr lange 5 oder auch kurze 6 Einsperren<br />

– oder der Entzug des leiblichen Kindes 7 . Eine Kindesentziehung<br />

ist strafbar, § 235 StGB, u. U. sogar dann, wenn ein<br />

Elternteil sie (gegenüber dem anderen) begeht. 8<br />

b) Der 14. Senat des OLG Naumburg hatte mit seinen Beschlüssen<br />

verhindert, dass der Vater Umgang mit seinem<br />

Sohn haben konnte, obwohl zuvor der EGMR eine Verletzung<br />

des Menschenrechts auf Familie 9 sowie das Bundesverfassungsgericht<br />

die grundsätzliche Verbindlichkeit der Straßburger<br />

Entscheidung festgestellt hatten und der 14. Senat für<br />

die Sachentscheidung nicht zuständig war. 10 Eine Rechtsbeugung<br />

jedoch, so die Kollegen aus demselben Hause wie zwei<br />

der angeklagten Familienrichter (der dritte stammte vom<br />

Landgericht Halle), lasse sich nicht nachweisen. Und wegen<br />

der Sperrwirkung des § 339 StGB, so der Strafsenat, könne<br />

damit auch die möglicherweise verwirklichte Kindesentziehung<br />

nicht verfolgt werden.<br />

weise bei Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,<br />

56. Aufl. 2009, §, 339, Rn. 1a, die zeigen, dass das<br />

Delikt der Rechtsbeugung bisher vor allem in Bezug auf die<br />

nationalsozialistische Justiz und DDR-Justiz eine Rolle spielte,<br />

vgl. Scholderer, Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat,<br />

1993, S. 23: Rechtsbeugung sei das Synonym für die<br />

NS-Justiz.<br />

4 Zu dem der Strafsenat selbst einlädt mit seinem Nachweis<br />

bei Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, Kommentar,<br />

4. Aufl. 2005, § 193, Fn. 29, die auf OGHSt 1, 217 verweisen.<br />

Dort hatten die angeklagten Richter die Todesstrafe<br />

verhängt.<br />

5 Erb, in: Hettinger (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper<br />

zum 70. Geburtstag, 2007, S. 29 ff. (35) berichtet und kommentiert<br />

unter der Überschrift „leichtfertig getroffene Fehlentscheidungen<br />

mit gravierenden Folgen“ den von Rückert in<br />

der Zeit Nr. 19/2002 und Nr. 52/2005 geschilderten Fall einer<br />

verhängnisvollen Fehlentscheidung.<br />

6 BGHSt 47, 106 (Fall Schill).<br />

7 EGMR, Haase gegen Deutschland, Nr. 11057/02, Urt. v.<br />

8.4.2004.<br />

8 BGHSt 44, 355; Fischer (Fn. 3), § 235, Rn. 6.<br />

9 Urt. v. 26.2.2004, Beschwerde-Nr. 74969/01 = NJW 2004,<br />

3397.<br />

10 Beschl. v. 14.10.2004, Az.: 2 BvR 1481/04 = NJW 2004,<br />

3407.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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143


Christoph Mandla<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

c) Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg<br />

zeichnet mit seiner Entscheidung ein ernüchterndes und beschämendes<br />

Bild deutscher Richter und der deutschen Justiz,<br />

wenn er nicht ausschließt, dass das Recht gebeugt und damit<br />

ein Verbrechen begangen wurde, 11 aber meint, dass die Täter<br />

sich nicht feststellen ließen, weil sie „Kollegialrichter“ seien.<br />

Wo Justizverbrecher „Recht“ sprechen sollen, hat man den<br />

Bock zum Gärtner gemacht. Wo mutmaßliche Justizverbrecher<br />

Recht sprechen sollen, fehlt berechtigterweise das Vertrauen<br />

in die Gerichtsbarkeit. Wer beim OLG Naumburg<br />

heute Familienrichtern gegenübersteht, weiß nicht, ob nicht<br />

ein mutmaßlicher Justizverbrecher darunter ist, 12 dem man<br />

die Tat meinte nicht nachweisen zu können.<br />

d) Richter können sich, wie jeder andere Mensch, wegen<br />

vieler Delikte strafbar machen. Sie können in den Verdacht,<br />

auch den falschen, geraten, irgendeine Straftat begangen zu<br />

haben, und unterscheiden sich dabei nicht von anderen Menschen.<br />

Wirft ihnen die Generalstaatsanwaltschaft – also nicht<br />

ein frustrierter Verfahrensbeteiligter oder Querulant, sondern<br />

die Behörde, deren gesetzlicher Auftrag es ist, Straftaten zu<br />

verfolgen – das Verbrechen der Rechtsbeugung vor und hält<br />

mit einer Nichtzulassungsbeschwerde an der Anklage fest 13 ,<br />

dann steht der massive Vorwurf des Versagens der dritten<br />

Gewalt im Raum. 14 Wenn Richter Recht sprechen, sind sie<br />

nicht wie jeder andere Bürger Teilnehmer am Rechtsverkehr,<br />

dann sind sie Teilhaber staatlicher Macht, die in einem demokratischen<br />

Rechtsstaat der Kontrolle unterliegt. Daher gibt<br />

es gerade dort keinen quasi rechtsfreien Raum – schon gar<br />

nicht für die Begehung eines Verbrechens.<br />

11<br />

Lamprecht, NJW 2007, 2744 stockte gar die Feder, als er<br />

„Verbrechen“ schrieb – allerdings auch noch anderthalb Jahre<br />

später: myops 2009, 4; Strecker, BJ 2008, 377 (378): „Skandal<br />

der Straflosigkeit“, „Katastrophe für den Rechtsstaat“,<br />

„klägliches Bild von einer Richterschaft“; Knapp, Frankfurter<br />

Rundschau – online, 12.01.09: „Nicht zu fassen“ – s. aber<br />

unten VI. 1.<br />

12<br />

Die Brisanz dieser Feststellung relativiert sich bezogen auf<br />

die deutsche Nachkriegsjustiz erheblich. Dennoch kann die<br />

Kritik in den Beschlüssen des BVerfG zum Görgülü-Fall nur<br />

beunruhigen. Solchen Richtern mit seiner Familiensache<br />

ausgeliefert zu sein, bereitet berechtigterweise Unbehagen,<br />

auch wenn es seit längerem keinen 14. Senat mehr in Naumburg<br />

gibt (vgl. zuletzt Geschäftsverteilungsplan OLG Naumburg<br />

v. 1.1.2009).<br />

13<br />

Vgl. Miehe, in: Samson (Hrsg.), Festschrift für Gerald<br />

Grünwald zum 70. Geburtstag, 1999, S. 379 ff. (394), der es<br />

für „einigermaßen absurd“ hält, „sich vorzustellen, dass<br />

Staatsanwälte in blindem Verfolgungseifer aussichtslose<br />

Sachen an die Gerichte herantragen […], im Gegenteil.“<br />

14<br />

Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, 1969, S. 9:<br />

Bindung der von den anderen Staatsgewalten unabhängigen<br />

Richter an das Recht, Scholderer (Fn. 3), S. 95, 132; Saliger,<br />

in: Alexy (Hrsg.), Juristische Grundlagenforschung, 2004,<br />

S. 138, 139: Bedrohung der Gewaltenteilung; Lamprecht,<br />

NJW 2007, 2745, hält es im Görgülü-Fall dem Begriffe nach<br />

für einen „Staatsstreich“.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

144<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Vollends beschädigt ist das Bild der Richterschaft aber,<br />

wenn die Richter angesichts des Verdachts der Rechtsbeugung<br />

feige schweigen (nachdem sie zuvor angeblich Recht<br />

„gesprochen“ haben), um unbehelligt davonzukommen. Sie<br />

sinken armselig auf die Ebene gewöhnlicher Krimineller<br />

hinab. Wenn sie sich dafür sogar auf ein Privileg 15 , nämlich<br />

das des Beratungsgeheimnisses, berufen, 16 ist das Recht auf<br />

den Kopf gestellt oder „in sein Gegenteil verkehrt“. Es gibt<br />

keine juristisch auch nur halbwegs überzeugende Begründung,<br />

warum man bei Richtern, die im Kollegium Recht<br />

sprechen und damit Macht i.S. der Gewaltenteilung ausüben,<br />

angesichts eines möglichen Machtmissbrauchs vermuten<br />

sollte, einer von ihnen könnte ja eventuell gegen das Verbrechen<br />

gewesen sein. Es ist absurd anzunehmen, das Richterprivileg<br />

des Grundgesetzes oder die Normen des GVG umfassten<br />

das Recht oder gar die Pflicht (!), schweigend dabei<br />

zu stehen 17 (oder durch Unterschrift zu bestätigen), wenn<br />

Richterkollegen ein Verbrechen begehen. Wer also Angst vor<br />

der ihm gegebenen Macht als Richter hat oder nicht ausschließen<br />

kann, sie zu missbrauchen, sollte dieses Amt nicht<br />

ausüben. Wer meint, sich im Senat dem Gruppenzwang nicht<br />

entziehen zu können, darf nicht in ein Richterkollegium gehen.<br />

War es keine Rechtsbeugung – wovon angesichts der Unschuldsvermutung<br />

ausgegangen werden muss – hätte es angesichts<br />

der Dimensionen des Falles – ein deutsches Obergericht<br />

aus der Provinz revoltiert 18 gegen das Bundesverfas-<br />

15<br />

Nicht das Einzige: Spendel, in: Lüttger (Hrsg.), Festschrift<br />

für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, 1972, S. 445 ff. (455)<br />

kritisiert die Sperrwirkung als ungerechtfertigtes „Standesprivileg“;<br />

Schroeder, FAZ v. 3.2.1995, S. 12: „Beschränkung<br />

auf elementare Verstöße gegen die Rechtspflege“ sei „bedenkliches<br />

Richterprivileg“; s.a. Seidel, AnwBl. 2002, 325<br />

m.w.N.; krit. auch Schneider, AnwBl. 1990, 113.<br />

16<br />

Natürlich dürfen sie als Beschuldigte schweigen, §§ 136<br />

Abs. 1, S. 2, 243 Abs. 4 S. 1 StPO. Aber als Richter sollten<br />

und dürfen sie es nicht. Scholderer (Fn. 3), S. 224 weist zu<br />

Recht darauf hin, dass angesichts einer Anklage wegen<br />

Rechtsbeugung das Vertrauen in den Richterspruch nicht<br />

mehr schutzwürdig ist.<br />

17<br />

Was an die Geschichte vom letzten freien Platz in der Hölle<br />

erinnert: Der Teufel selbst tritt vor die Tür, um den geeigneten<br />

Sünder auszuwählen. Es drängeln sich Mörder, Räuber,<br />

Vergewaltiger und jede Art von Verbrecher – bis auf einen<br />

Mann, der unbeteiligt abseits steht. Als der Teufel ihn anspricht,<br />

sagt dieser, dass er sicher nur irrtümlich hier sei.<br />

Neben ihm sei gemordet, geraubt und vergewaltigt worden,<br />

er aber habe nichts getan. Dann sei er der Rechte, sagt der<br />

Teufel, winkt ihn heran und macht sich ganz schmal, damit er<br />

den Mann nicht berührt, als der durch die Höllenpforte tritt.<br />

18<br />

Bisher – soweit ersichtlich – unwidersprochen Lamprecht,<br />

NJW 2007, 2744: Amtsträger, die den Aufstand proben;<br />

vergleichbar sei die Autorität des Rechts nur durch die RAF<br />

herausgefordert worden. Welch schräges Weltbild man im<br />

14. Senat pflegte, zeigen die Begründungen: So hatten die<br />

Richter, Beschl. v. 9.7.2004, Az. 14 WF 60/04, S. 13, z.B.<br />

behauptet, das Kinde werde „demnächst […] und in absehba-


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte<br />

– einer öffentlichen Hauptverhandlung bedurft. 19<br />

War es wirklich keine Rechtsbeugung, hätte jedermann dann<br />

dem strafgerichtlichen Urteil entnehmen können, warum das<br />

Bundesverfassungsgericht den Richtern des 14. Senates zwar<br />

Willkür und einen Verstoß gegen die Bindung an Recht und<br />

Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) vorgeworfen hat, diese aber das<br />

Recht trotzdem nicht gebeugt haben. Die Strafjustiz hätte<br />

dem staunenden Bürger erklären können, wie elastisch das<br />

Recht doch ist, wie viel Missachtung und Verbiegung, Verletzung<br />

und Willkür es verträgt, ohne gebeugt und damit<br />

beschädigt zu werden. Man hätte sehen können, ob ein Oberlandesgericht<br />

wirklich das Bundesverfassungsgericht vorführen<br />

darf, das sich gegen lästige Anwälte und Beschwerdeführer<br />

immerhin mit der Verhängung einer Missbrauchsgebühr,<br />

§ 34 Abs. 2 BVerfGG, wehren kann, nicht aber gegen trotzige<br />

Oberlandesrichter.<br />

3. Der Verfahrensgang<br />

a) Der zugrunde liegende Verfahrensgang, besser die Verfahrensgänge<br />

können hier nur kurz skizziert werden, spiegelt<br />

sich in ihnen doch eine Justizodyssee wider, die ihresgleichen<br />

sucht. 20 Nachzulesen ist sie, immer ein bisschen länger, in<br />

rer Zeit“ damit „überfordert sein, verständige Überlegungen<br />

über die besondere Problematik des Umgangs eines gemischtnationalen<br />

Kindes mit seinem Vater vor dem Hintergrund<br />

einer die Adoption anstrebenden Pflegefamilie anzustellen<br />

[…]“. Das klingt provinziell und xenophob – als ob<br />

ein Kind mit fünf Jahren über Nationalität und Staatsangehörigkeitsfragen<br />

nachdächte.<br />

19<br />

A.A. wohl Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar,<br />

51. Aufl. 2008, § 203, Rn. 2 unter Verweis auf Bockelmann,<br />

NJW 1960, 217 und Güde, NJW 1960, 519; der aber<br />

Bockelmann vorwirft, ihn falsch zitiert zu haben. Güde, damals<br />

Generalbundesanwalt, schreibt, a.a.O.: „Es gibt auch<br />

Fälle, in denen eine Verurteilung sehr unwahrscheinlich sein<br />

mag und trotzdem die Anklage geboten ist, weil der Prozeßstoff<br />

und seine Beurteilung vor den Augen der Öffentlichkeit<br />

ausgebreitet werden muß, damit die Öffentlichkeit<br />

die Entscheidung mitvollziehen kann. In solchen extremen<br />

Fällen kommt eben zum Ausdruck und zur Geltung, daß wir<br />

im Namen des Volkes judizieren, und als Beauftragte des<br />

Volkes dann, wenn Rechtsverwirrung droht, von der Art, wie<br />

wir diesen Auftrag ausführen, Rechenschaft geben.“ Es sei an<br />

Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit<br />

der Gerechtigkeitspflege, Bd. 1: Von der Öffentlichkeit<br />

der Gerichte, von der Mündlichkeit der Rechtverwaltung,<br />

Aalen 1969, Bd. 1, S. 131 f. erinnert: „Eine Justiz [...], die<br />

sich hinter einen Vorhang schleicht, um hier im Geheimen<br />

das ihrige zu treiben; die niemanden zusehen läßt, wann sie<br />

auf ihrer Wage das Recht mit den Thatsachen abwägt ...<br />

scheint ... mit sich selbst oder andern einen, ihrer Würde eben<br />

nicht sehr anständigen Scherz zu treiben. Denn wer seine<br />

eigenen Handlungen verbirgt, wandelt nicht im Oeffentlichen<br />

[...]“.<br />

20<br />

Darin zeigt sich das bisher kaum thematisierte Versagen<br />

des deutschen Kindschaftsrechts. Ein ab der Anerkennung<br />

den jeweiligen Entscheidungen und auch in der überregionalen<br />

Presse. 21<br />

K. Görgülü hatte nach der Trennung von der Mutter des<br />

Kindes erfahren, dass diese schwanger war und nach der<br />

Geburt des Kindes seine Vaterschaft gerichtlich feststellen<br />

lassen. Das Amtsgericht Wittenberg gab ihm das Sorgerecht<br />

22 , der 14. OLG-Senat entzog es ihm wieder 23 , das Bundesverfassungsgericht<br />

nahm die Verfassungsbeschwerde<br />

ohne Begründung nicht an. 24 Das war im Jahre 2001, das<br />

Kind war knapp zwei Jahre alt und lebte die ganze Zeit bei<br />

einer Pflegefamilie, die es auch adoptieren wollte. Im Frühjahr<br />

2004 bestätigte der EGMR Vater Görgülü eine Verletzung<br />

seines Grundrechts auf Familie 25 und im März 2004<br />

erhielt er vom Amtsgericht Wittenberg erneut das Sorgerecht<br />

26 , außerdem regelte das Gericht den Umgang. 27 Das<br />

Kind war mittlerweile fast fünf. Was die Naumburger Familienrichter<br />

geritten hat, sich gegen den EGMR aufzulehnen 28 ,<br />

können wahrscheinlich nur Psychologen herausfinden, erneut<br />

verweigerten sie Herrn Görgülü Sorge- 29 und Umgangsrecht,<br />

30 wobei sie dem EGMR „einseitige(r), ideologisch<br />

überhöhte(r) Präferenz für den Anspruch des rein biologischen<br />

Vaters auf Achtung seines Familienlebens“ vorwar-<br />

der Vaterschaft bestehendes Sorgerecht hätte den Fall Görgülü<br />

unmöglich gemacht – bzw. 2003 beendet. Fast alle europäischen<br />

Staaten haben das so geregelt, vgl. Frank, FamRZ<br />

2004, 841 (846) m.w.N. Es ist daher außerordentlich milde,<br />

wenn Jahn, JuS 2009, 79, nur schreibt, das Verfahren sei<br />

„sicher weit davon entfernt, ein Ruhmesblatt unserer Justiz zu<br />

sein“. Es ist ein Skandal.<br />

21<br />

Fritz, FAZ v. 14.1.2006, S. 3 „In den Fängen der Amtsgewalt“;<br />

Verbeet, Spiegel, 24.12.2005, S. 40, „Kind im Kreidekreis“;<br />

ausführlich im Internet: Tagebuch Görgülü.<br />

22<br />

Beschl. v. 9.3.2001, Az. 5 F 21/00.<br />

23<br />

Beschl. v. 20.6.2001, Az. 14 UF 52/01.<br />

24<br />

Beschl. v. 31.7.2001, Az. 1 BvR 1174/01.<br />

25<br />

Urt. v. 26.2.2004, Beschwerde-Nr. 74969/01 = NJW 2004,<br />

3397.<br />

26<br />

Beschl. v. 19.3.2004, Az. 5 F 741/02 SO.<br />

27<br />

Beschl. v. 19.3.2004, Az. 5 F 463/02 UG<br />

28<br />

Lamprecht, NJW 2007, 2247 spricht von einer Déformation<br />

professionelle. Es genügt, die Beschlüsse des 14. Senats<br />

zu lesen. Sie sind – im negativen Sinne – so markant, dass die<br />

Staatsanwaltschaft versuchen wollte, aus der „Diktion“ der<br />

Texte Schlüsse auf den Verfasser abzuleiten, vgl. Beschl. v.<br />

6.10.2008, S. 10.<br />

29<br />

Beschl. v. 9.7.2004, Az. 14 WF 60/04. Der Beschluss ist<br />

ein vortreffliches Beispiel für überhebliches und miserables<br />

Juristendeutsch. Statt z.B. „à tout prix“ (S. 10) sollte man auf<br />

deutsch, § 184 GVG, „um jeden Preis“ schreiben, auch wenn<br />

die Verfahrensbeteiligten dann nicht erkennen können, dass<br />

man französische Worte kennt. Kritisch zum Stil der Beschlüsse<br />

des 14. Senates darüber hinaus: Völker, FF 2005,<br />

144: „unkollegial“, „schlechter Stil“, „äußerst bedenklich“,<br />

„abkanzeln“, „überschreitet die Grenzen sachlicher Kritik“.<br />

Siehe auch ders., KindPrax 2004, 215 ff.<br />

30<br />

Beschl. v. 30.6.2004, Az. 14 WF 64/04.<br />

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145


Christoph Mandla<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

fen. 31 Das Bundesverfassungsgericht, dieses Mal der 2. Senat,<br />

hob die Entscheidung auf und verwies die Sache an einen<br />

anderen Senat des OLG Naumburg. 32 Wieder erhielt Görgülü<br />

das Umgangsrecht vom Amtsgericht Wittenberg 33 , wieder<br />

nahm es der 14. Senat ihm weg. 34 Dagegen erhob Görgülü<br />

Verfassungsbeschwerde und beantragte eine einstweilige<br />

Anordnung. Nachdem die Beschwerde den Äußerungsberechtigten<br />

zugestellt war, 35 hob der 14. Senat am 20. Dezember<br />

2004 den Umgangsausschluss auf 36 , entschied aber am<br />

selben Tag auf eine Untätigkeitsbeschwerde hin erneut, dass<br />

der Umgang auszuschließen sei. 37 Die 1. Kammer des 1.<br />

Senats des Bundesverfassungsgerichts erließ auf die daraufhin<br />

von Görgülü erhobene Verfassungsbeschwerde vom<br />

24.12.2004 am 28.12.2004 eine einstweilige Anordnung und<br />

regelte selbst den Umgang des Vaters mit seinem Kind. 38 Der<br />

14. Senat verschickte am 4. Januar 2005 einen formlosen<br />

Vermerk an die Verfahrensbeteiligten und das Bundesverfassungsgericht.<br />

39 In zwei Beschlüssen über die Verfassungsbeschwerden<br />

zum Sorge- 40 und Umgangsrecht 41 maßregelte das<br />

31 Beschl. v. 9.7.2004, Az. 14 WF 60/04, S. 10. Auf S. 12 hält<br />

der 14. Senat die Interpretation des Art. 8 EMRK durch den<br />

EGMR für „hochgradig ideologisch vorbesetzt“.<br />

32 Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111,<br />

307 = NJW 2004, 3407.<br />

33 Beschl. v. 2.12.2004, Az. 5 F 463/02 UG (einstweilige<br />

Anordnung).<br />

34 Beschl. v. 8.12.2004, Az. 14 WF 236/04. (Aussetzung der<br />

einstweiligen Anordnung).<br />

35 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.12.2004, Az. 1 BvR 2790/04<br />

Rz. 9.<br />

36 Beschl. v. 20.12.2004, Az. 14 WF 236/04 (Aufhebung der<br />

Aussetzung).<br />

37 Beschl. v. 20.12.2004, Az. 14 WF 236/04 (Umgangsausschluss<br />

in der Hauptsache).<br />

38 Die Kammer vermutet, dass sich der 14. Senat habe von<br />

sachfremden Erwägungen leiten lassen (Rn. 22), seine Ausführungen<br />

seien nicht mehr nachvollziehbar (Rn. 25), es<br />

erscheine nicht ausgeschlossen, dass das OLG die Vorschrift<br />

des § 620c Abs. 2 ZPO habe umgehen wollen, es habe nicht<br />

ansatzweise dargelegt, warum es die Beschwerde für statthaft<br />

hielt (Rn. 26), das OLG habe Vorgaben abermals nicht beachtet,<br />

setze sich nicht ansatzweise auseinander, habe sich<br />

nicht hinreichend befasst, pauschal erwogen und ohne konkrete<br />

Tatsachen […], nicht in Betracht gezogen (Rn. 29).<br />

39 Vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 06.10.2008 – 1 Ws<br />

504/07, S. 6; BVerfG, Beschl. v. 10.6.2005, Az. 1 BvR<br />

2790/04, Rn. 25.<br />

40 Beschl. v. 5.4.2005, Az. 1 BvR 1664/04. Die Kritik ist<br />

vernichtend: Das OLG habe nicht hinreichend berücksichtigt<br />

(Rn. 21), verkannt […] verkannt […] verkannt (Rn. 22), nicht<br />

hinreichend auseinandergesetzt (Rn. 25), Feststellungen nicht<br />

getroffen (Rn. 26), weitere Vorgabe des EGMR nicht beachtet<br />

(Rn. 27), hätte erwägen müssen (Rn. 28), nicht hinreichend<br />

erwogen, sich nicht damit auseinandergesetzt (Rn. 29),<br />

es sei nicht ersichtlich, dass das OLG die erforderlichen Ermittlungen<br />

angestrengt habe, das durchgeführte Verfahren sei<br />

ungeeignet gewesen, es lasse sich nicht entnehmen, dass das<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

146<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

höchste deutsche Gericht den 14. Naumburger Senat in einer<br />

bisher nicht gekannten Weise.<br />

b) Herr Görgülü musste noch einmal vier (!) Jahre deutsche<br />

Familiengerichtsbarkeit über sich ergehen lassen. Portionsweise<br />

bekam er sein „natürliches Recht“ zugeteilt. 42 Der<br />

Präsident des EGMR zeigte sich zwischenzeitlich über die<br />

mangelnde Umsetzung des Urteils sogar überrascht. 43 Letztlich<br />

war das Kind neun Jahre, als es endgültig beim Vater<br />

leben durfte, der nun auch das Sorgerecht hat. 44 Vater und<br />

Sohn Görgülü bleibt die Möglichkeit, die zweite Hälfte der<br />

Kindheit mit allen Rechten und Pflichten für den Vater, Vor-<br />

und Nachteilen für den Sohn gemeinsam zu erleben. Was sie<br />

über den Verlust, die erste Hälfte der Kindheit „normal“ zu<br />

erleben, vielleicht nicht hinwegtröstet, was sie aber berühmt<br />

Gericht selbst über genügende Sachkunde verfüge, das Gericht<br />

habe ohne persönliche Anhörung der Beteiligten entschieden<br />

(Rn. 30).<br />

41 Beschl. v. 10.6.2005, Az. 1 BvR 2790/04 – Die Kritik ist<br />

noch härter: Entscheidung des Gerichts nicht mehr zu rechtfertigen,<br />

also willkürlich (Rn. 24, 25), ohne nachvollziehbar<br />

zu begründen, nicht ansatzweise dargelegt (Rn. 26), Ausführungen<br />

des OLG nicht mehr nachvollziehbar (Rn. 29) das<br />

OLG habe die Vorschrift des § 620c Satz 2 ZPO umgangen,<br />

habe nicht ansatzweise dargelegt (Rn. 31), es dränge sich der<br />

Verdacht auf, das OLG habe den Beschluss einer verfassungsgerichtlichen<br />

Prüfung entziehen wollen (Rn. 32), das<br />

OLG habe die rechtlichen Bindungen grundlegend verkannt<br />

(Rn. 36), Vorgaben des EGMR nicht nur nicht beachtet, sondern<br />

in ihr Gegenteil verkehrt (Rn. 37), das OLG habe außerhalb<br />

seiner Zuständigkeit unter Verstoß gegen die Bindung<br />

an Recht und Gesetz einen konventionsgemäßen Zustand<br />

aufgehoben (Rn. 38).<br />

42 Beschl. v. 15.12.2006, Az. 8 UF 84/05, BGH, Beschl. v.<br />

26.9.2007, Az. XII 229/06; AG Wittenberg, Beschl. v. 11.2.<br />

und 29.8.2008, Az. 4 F 621/07 SO. Auf familienrechtliche<br />

Fragen soll hier nicht eingegangen, auf zwei Punkte jedoch<br />

hingewiesen werden: 1.) Das Amtsgericht hat beständig zu<br />

Gunsten des Vaters entschieden. Der 14. Senat hat die Beteiligten<br />

nicht einmal persönlich angehört (s. BVerfG, Beschl.<br />

v. 5.4.2005, Rn. 30). Am Ende hat das Amtsgericht – sachverständig<br />

beraten – nach neun Jahren Trennung endgültig<br />

zugunsten Görgülüs entschieden. 2.) Gäbe es das „natürliche“<br />

Elternrecht auch für den nichtehelichen Vater von der Anerkennung<br />

der Vaterschaft an, hätte dieses Verfahren nicht<br />

stattgefunden. Das Recht aus Art. 6 Abs. 1 GG ist für den<br />

nichtehelichen Vater das einzige Grundrecht, das er nur erhalten<br />

kann, wenn ein einziger Mensch zustimmt, ohne dass<br />

er dies gerichtlich einfordern kann. Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat § 1626a BGB für verfassungsgemäß gehalten,<br />

1 BvL 20/99, Urt. v. 29.1.2003 = NJW 2003, 955, u.a. mit<br />

der naiven Annahme, eine Mutter missbrauche ihre Macht<br />

nicht, a.a.O., Rn. 70, wenn sie dem Vater die gemeinsame<br />

Sorge verweigere. Siehe dazu EGHMR, Beschwerde Nr.<br />

22028/04, Zaunegger gegen Deutschland, Zulassungsbeschluss<br />

vom 1.4.2008.<br />

43 Tagesspiegel-online vom 8.12.2006.<br />

44 Beschl. v. 28.8.2008, Az. 4 F 621/07 SO.


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gemacht hat, ist, dass sie Rechtsgeschichte geschrieben haben<br />

– im Familien-, im Verfassungs-, im Europa- und nun auch<br />

im Straf- und Strafprozessrecht.<br />

II. Das Strafverfahren<br />

1. Verfahrensdauer<br />

Bereits die Dauer des Strafverfahrens wirft ein schlechtes<br />

Licht auf die Justiz. Nachdem im Januar 2005 die Ermittlungen<br />

eingeleitet worden waren 45 , klagte die Staatsanwaltschaft<br />

im November 2006 an 46 , das Landgericht Halle lehnte im Juli<br />

2007 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. 47 Im Oktober<br />

2008 wurde die Nichtzulassungsbeschwerde mit dem hier<br />

kritisierten Beschluss zurückgewiesen. Drei Jahre und neun<br />

Monate sind prima facie eine unangemessen lange Zeit, vor<br />

allem wenn man berücksichtigt, dass die Zahl der herangezogenen<br />

Beweismittel – zwei Beschlüsse von fünf und elf Seiten,<br />

ein Vermerk von drei Seiten Länge, sowie zwei unergiebige<br />

Zeugenaussagen im Zwischenverfahren – überschaubar<br />

war. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war für die beschuldigten<br />

Richter das Verfahren in rechtsstaatswidriger Weise verzögert,<br />

legt man die dazu von BGH 48 und BVerfG 49 gebildeten<br />

Maßstäbe zugrunde. Kritiker der Naumburger Familienjustiz<br />

könnten das zwar als ausgleichende Gerechtigkeit betrachten,<br />

sollten sich aber vor Augen halten, dass eine darin liegende<br />

Verdachtsstrafe gerade keine rechtsstaatliche Sanktion ist.<br />

Das Landgericht hatte aus rechtlichen Gründen die Eröffnung<br />

des Hauptverfahrens abgelehnt und hilfsweise darauf<br />

abgestellt, dass sie auch aus tatsächlichen Gründen abzulehnen<br />

gewesen wäre. Diese Entscheidung ist bisher unter Verschluss<br />

geblieben. 50<br />

45<br />

Mitteldeutsche Zeitung, 1.2.2005, 2.2.2005. U.a. hatte der<br />

Verband „Anwalt des Kindes“ um eine strafrechtliche Prüfung<br />

gebeten, vgl. VAK 17.01.2005, www.v-a-k.de.<br />

46<br />

OLG Naumburg, Pressemitteilung 23/06, v. 23.11.2006, in<br />

der das OLG auf die Unschuldsvermutung und die Möglichkeit<br />

der Richter, ihre Rechte als Bürger wahrzunehmen, aufmerksam<br />

macht.<br />

47<br />

Beschl. v. 20.7.2007, Az. 23 KLs 64/2006 (Der 33seitige<br />

Beschluss ist nicht veröffentlicht).<br />

48<br />

Vgl. BGH GS 1/07, Beschl. v. 17.1.2008, Rn. 7: von der<br />

Justiz zu verantwortende Verzögerung von etwa einem Jahr<br />

und sechs Monaten bei einer besonders schweren Brandstiftung<br />

und versuchtem Betrug (NJW 2008, 860); 3 StR 388/07,<br />

Beschl. v. 18.1.2008, Rn. 2: mehr als vierjährige Verfahrensverzögerung<br />

bei sexueller Nötigung, sexuellem Missbrauch<br />

von Kindern; 5 StR 283/08, Beschl. v. 23.7.2008: durch verzögerte<br />

Sachbehandlung Verfahrensverzögerung von fünf<br />

Monaten berechtigt zur Kompensation; StraFo 2005, 24:<br />

Verfahrensstillstand 1 Jahr und drei Monate; BGH NStZ 05,<br />

445.<br />

49<br />

Vgl. BVerfG NJW 1984, 967; 1992, 2473; 1995, 1277;<br />

BVerfG – 2 BvR 327/02, Rn. 33, 37 ff.; 153/03, Rn. 32 ff.;<br />

109/05, Rn. 27, 34 ff.; 1315/05, Rn. 30.<br />

50<br />

Kritik daran von Verbeet, DRiZ 2007, 343 Es sei an Feuerbach<br />

(Fn. 20) erinnert. So wie in Halle und Naumburg hätte<br />

das Verfahren auch zur Zeit der Kabinettsjustiz ablaufen<br />

2. Die Kollegen im selben Hause: Rechtsbeugung nicht beweisbar<br />

a) Der 1. Strafsenat des OLG Naumburg hält die sofortige<br />

Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Anklage durch das<br />

Landgericht Halle für unbegründet, weil nicht zu erwarten<br />

sei, dass die Angeschuldigten verurteilt würden. Darauf, dass<br />

das Landgericht aus rechtlichen Gründen die Zulassung abgelehnt<br />

hat und nur hilfsweise auf tatsächliche Gründe abstellt,<br />

geht der Senat nicht ein. Das hätte er aber tun müssen, weil es<br />

auf die Beweisbarkeit nicht ankommt, wenn der Tatvorwurf<br />

ein Verhalten betrifft, das keiner Strafnorm unterliegt. 51 Was<br />

sowieso nicht strafbar wäre, braucht auch nicht festgestellt zu<br />

werden. Das Landgericht war davon überzeugt (wenn auch<br />

nicht gänzlich, andernfalls hätte es keine Hilfsbegründung<br />

nachgeschoben), dass aus rechtlichen Gründen eine Bestrafung<br />

wegen Rechtsbeugung ausgeschlossen war. 52 Warum er<br />

sich dem nicht angeschlossen hat, verschweigt der Strafsenat.<br />

Stattdessen versucht er, mit einer widersprüchlichen und<br />

daher nicht überzeugenden Begründung zu erklären, warum<br />

den Richtern nichts nachgewiesen werden könne.<br />

b) Der Strafsenat leitet seine Begründung mit dem Verweis<br />

auf § 196 Abs. 1 GVG ein, nach dessen Vorschrift das<br />

Gericht mit der absoluten Mehrheit der Stimmen entscheidet.<br />

Dann erklärt er, dass ein überstimmter Richter sich durch<br />

seine Mitwirkung am weiteren Verfahren weder als Mittäter<br />

noch als Gehilfe strafbar mache. Zum Nachweis führt er aus:<br />

„h.M. vgl. Fischer, StGB, 55. Aufl. § 339, Rn. 8“. Warum<br />

sich aber ein überstimmter Richter eines Kollegialorgans<br />

nicht strafbar macht, wenn durch die Entscheidung des gesamten<br />

Senats das Recht gebeugt wird, also das Gegenteil<br />

von Rechtsprechung geschieht – nämlich Unrecht in Gestalt<br />

eines Verbrechens – hält der Strafsenat nicht für erforderlich<br />

zu erklären. Billigte man dieser Aussage des Senats den Status<br />

eines Arguments zu, lautete dieses: Das war eben schon<br />

immer so. 53<br />

können. Auf die Bitte eines Universitätsprofessors um eine<br />

anonymisierte Fassung des Beschlusses antwortete das LG<br />

Halle nicht einmal; die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg<br />

übersandte umgehend eine Abschrift.<br />

51<br />

Vgl. Stuckenberg, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/<br />

Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26. Aufl. 2008,§ 203<br />

StPO, Rn. 16; Graalmann-Scherer, in: Erb/Esser/Franke/dies./<br />

Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 170,<br />

Rn. 32.<br />

52<br />

Auf das Abstimmungsverhalten kommt es dann gar nicht<br />

an.<br />

53<br />

Zur Gefährlichkeit dieser Auffassung: Schmidt, Einführung<br />

in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, unveränd.<br />

Nachdruck der 3. Aufl. 1965, 1983, Vorwort zur ersten Auflage<br />

1947: „Die ganze Geschichte des Rechts kreist um den<br />

Gegensatz von Macht und Recht, von Zweckmäßigkeit und<br />

Gerechtigkeit. […] Die größten Leiden der Menschen ergeben<br />

sich aus den Spannungen, die aus diesem Gegensatz<br />

hervorgehen. Die Geschichte bietet hierfür ein reiches Anschauungsmaterial<br />

und vermittelt beherzigenswerte Lehren<br />

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Christoph Mandla<br />

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Schlägt man allerdings bei Fischer nach, endet das dortige<br />

Zitat nicht mit fünf Nachweisen, die – ohne 54 oder mit nur<br />

knapper Begründung 55 – die herrschende Auffassung belegen,<br />

sondern wird fortgesetzt mit den fett gedruckten Buchstaben<br />

a.A., der anderen Ansicht also, die „mit gewichtigen<br />

Argumenten“ vertreten werde, wie Fischer schreibt, und für<br />

die er drei Quellen nennt. 56<br />

Hätte der Senat dort weiter gelesen, wäre er gleich bei<br />

Dencker 57 auf den Hinweis gestoßen, dass die h.M. auf einer<br />

beiläufigen, nicht begründeten Erklärung des BGH 58 fuße,<br />

der über richterliches Handeln im Nationalsozialismus zu<br />

befinden hatte. Der 5. Strafsenat des BGH – also jener, von<br />

dem die Entscheidung aus dem Jahre 1957 stammt – hat im<br />

Jahre 1995 ausdrücklich erklärt, dass die Verfolgung des<br />

nationalsozialistischen Justizunrechts insgesamt fehlgeschlagen<br />

sei 59 , aber die Frage ausdrücklich offengelassen, ob sich<br />

[…] durch welche Leiden und Irrtümer die Menschen in<br />

ihrem unablässigem Ringen um Gerechtigkeit haben hindurchgehen<br />

müssen und mit welcher Zähigkeit die Menschen,<br />

die den Griff des Schwertes der Gewalt in der Hand haben,<br />

selbst am offenkundigen Irrtum festhalten, wenn es gilt, in<br />

eingefahrener Weise erwünschte Ziele bequem zu erreichen<br />

[…]“.<br />

54<br />

Uebele, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar<br />

zum Strafgesetzbuch, 2006, § 339, Rn. 56.<br />

55<br />

Rudolphi/Stein, in: Rudolphi u. a. (Hrsg.), Systematischer<br />

Kommentar zum Strafgesetzbuch, 58. Lieferung, Stand: September<br />

2003, § 339, Rn. 17e lassen Bemühungen in der Beratung<br />

genügen und halten im Ergebnis eine Mitwirkung – am<br />

Verbrechen der Rechtsbeugung! – bei der Verkündung und<br />

Abfassung der Entscheidung für rechtlich geboten und daher<br />

nicht für eine Rechtsbeugung. Für Kuhlen, in: Kindhäuser/<br />

Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,<br />

2. Aufl. 2005, § 339, Rn. 82, ist das Mitwirken bei der<br />

Verkündung (also dem Wirksammachen der Rechtsbeugung)<br />

kein so „elementarer“ Verstoß wie die vorherige Zustimmung<br />

zur Rechtsbeugung; ebenso Spendel (Fn. 3), § 339, Rn 109,<br />

wo der Widerspruch besonders deutlich wird: Keine Rechtsbeugung,<br />

auch wenn der (überstimmte) Richter – an Rechtsbeugung<br />

– mitwirkt (durch Angehörigkeit zum Spruchkörper<br />

und Anwesenheit bei der Verkündung) – unter Verweis auf –<br />

BGH GA 1958, 241 (!), was Dencker (Fn. 3), S. 183 kritisch<br />

hervorhebt.<br />

56<br />

Dencker (Fn. 3); Knauer, Die Kollegialentscheidung im<br />

Strafrecht, 2001, S. 52 ff, 203 ff.; Erb, (Fn. 5) S. 29, 31;<br />

s. dazu unten 3. a)-c).<br />

57<br />

Dencker (Fn. 3), S. 183.<br />

58<br />

BGH GA 1958, 241: Der Satz lautet: „Der Kollegialrichter<br />

macht sich einer Rechtsbeugung bei der Entscheidung nur<br />

schuldig, wenn er für die von ihm als Unrecht erkannte Entscheidung<br />

stimmt. Das muß festgestellt werden.“ So schon<br />

OGH MDR 1949, 305, 306, (s. u. bei Fn. 61).<br />

59<br />

BGHSt 41, 247 (252); insbesondere 315, 339: berechtigte<br />

Kritik an der Rechtsprechung des BGH wegen fehlgeschlagener<br />

Auseinandersetzung mit der Blutjustiz des NS-<br />

Regimes. Schon in der Entscheidung 40, 30 (40) hat der Senat<br />

diese Auffassung vertreten. Vgl. dazu Lamprecht NJW<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

148<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

der Richter nur strafbar mache, wenn er für das rechtsbeugende<br />

Urteil stimme. 60 Es ist daher höchst einseitig, wenn ein<br />

OLG-Strafsenat kommentarlos einer „h.M.“ folgt, die letztlich<br />

auf einer Entscheidung beruht, die der BGH-Senat, von<br />

dem sie stammt, möglicherweise längst aufgegeben hat, weil<br />

sie Ausdruck justiziellen Versagens bei der Aufarbeitung von<br />

Justizverbrechen ist.<br />

c) Auch dass der Strafsenat auf Kissel/Mayer, GVG,<br />

4. Aufl. § 193, Rn. 13 verweist, macht seine Begründung<br />

nicht überzeugender: Dort nämlich wird zuerst erklärt, dass<br />

das Beratungsgeheimnis nichts an der strafrechtlichen Haftung<br />

des einzelnen Richters ändere. Diese Aussage wird mit<br />

einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes aus dem<br />

Jahre 1948 belegt. 61 Aber auch der OGH begründet dort<br />

nicht, woraus die fehlende Tatbestandsmäßigkeit folgen soll,<br />

wenn ein Richter gegen die Mehrheit gestimmt, aber mitverkündet<br />

hat. Vor allem aber hätte sich der Naumburger Strafsenat<br />

fragen müssen, warum ein OLG-Familiensenat unter<br />

der Geltung des Grundgesetzes im Jahre 2004 mit einem im<br />

Mai 1945 Todesurteile verkündenden Kriegsgericht der Nazi-<br />

Terrorjustiz in diesem Punkt gleichgestellt werden kann. 62<br />

Die Pflicht, dem einzelnen Richter sein Abstimmungsverhalten<br />

nachzuweisen, belegen Kissel/Mayer an dieser Stelle<br />

hingegen mit einer Entscheidung des Reichsgerichts in Zivilsachen.<br />

Dort ist zwar nicht von strafrechtlicher Haftung die<br />

Rede. Vielmehr heißt es: „[…] das Bürgerliche Gesetzbuch<br />

kennt keine Haftung des Kollegiums als solchen oder eine<br />

Gesamthaftung aller seiner Mitglieder, auch der Mitglieder,<br />

die gegen die schädigende Entscheidung gestimmt haben<br />

[…]“. 63 Viel entscheidender ist aber, dass das Reichsgericht<br />

zugelassen hat, dass sich ein Richter – wie im dort entschiedenen<br />

Fall – zum Beratungsergebnis äußert. Auch wieder nur<br />

in „Zivilprozessen wegen Amtspflichtverletzungen“ hat das<br />

Reichsgericht eine Ausnahme von der Schweigepflicht für<br />

zulässig gehalten 64 . Das Reichsgericht begründet dies mit der<br />

Entstehungsgeschichte. Es führt aus, dass die Möglichkeit der<br />

1994, 562. Auch die Literatur stimmt dem zu: Spendel<br />

(Fn. 3), § 339, Rn. 12: „Bankrotterklärung der Rechtsprechung“;<br />

Klug, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes<br />

in NS-Prozessen, in: Kohlmann (Hrsg.), Rechtsphilosophie,<br />

Menschenrechte, Strafrecht, 1994, S. 234, 235: „Verdrängung<br />

der Nazi-Justizkriminalität größten Ausmaßes“; Saliger<br />

(Fn. 14), S. 139 hält das Versagen für unstreitig.<br />

60<br />

BGHSt 41, 330, 340; Sarstedt, in: Lüttger (Fn. 15), S. 427,<br />

433 f. hält dies auf Grundlage der subjektiven Lehre für gegeben.<br />

61<br />

OGHSt 1, 217 = MDR 1949, 305.<br />

62<br />

Der OGH hat (bezüglich des Strafrichters) sogar erklärt,<br />

dass die Gefahr seiner Bestrafung wegen falscher Rechtsanwendung<br />

„unter rechtsstaatlichen Verhältnissen in ungefährlicher<br />

Ferne“ liege, a.a.O., S. 307.<br />

63<br />

RGZ 89, 13; wobei es auch keine Vermutung für die Einstimmigkeit<br />

gibt, vgl. Sprau, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch,<br />

68. Aufl. 2009, § 839, Rn. 84.<br />

64<br />

RGZ 89, 13, 16. Im zu entscheidenden Fall hatte der beklagte<br />

Richter erklärt, von den Schöffen überstimmt worden<br />

zu sein.


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Richter, ihre abweichenden Gutachten zu den Akten zu geben,<br />

nur deshalb nicht in das GVG aufgenommen worden sei,<br />

weil der Richter durch seine Erklärung und das Zeugnis seiner<br />

Mitrichter den <strong>Inhalt</strong> seiner Abstimmung beweisen könne.<br />

65 Das Reichsgericht ging also davon aus, dass der überstimmte<br />

Richter angesichts des Vorwurfs der Pflichtverletzung,<br />

weil seine „dienstliche Stellung, sein Ansehen und sein<br />

Fortkommen […] davon betroffen“ seien, den Mund auftun<br />

und über das Abstimmungsverhalten berichten würde. 66<br />

Die drei angeklagten Familienrichter tun jedoch das Gegenteil:<br />

Sie schweigen. Mehr noch, sie berufen sich dabei auf<br />

§ 43 DRiG, der, wie Kissel/Mayer schreiben, nicht als Deckmantel<br />

für richterliche Fehler 67 diene. Legt man die Prämisse<br />

des Reichsgerichts zugrunde, was der Strafsenat indirekt<br />

durch den Verweis auf Kissel/Mayer getan hat, nämlich dass<br />

der rechtmäßig handelnde – im strafrechtlichen Sinne wäre<br />

das der tatsächlich unschuldige – Richter das Abstimmungsverhalten<br />

trotz § 43 DRiG mitteilen will, ist die Berufung auf<br />

das Beratungsgeheimnis durch Mitglieder des 14. Naumburger<br />

Familiensenates nicht nur ein Indiz dafür, dass keiner von<br />

ihnen überstimmt wurde. Es ist ein Schuldeingeständnis!<br />

Nur wenn man § 136 Abs. 1 S. 2 StPO isoliert betrachtet<br />

und ihm gewissermaßen eine Sperrwirkung zukommen lässt,<br />

ließe sich diese Schlussfolgerung vermeiden, so dass aus dem<br />

Schweigen keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden<br />

dürften. 68 Dann aber kommt es für die angeschuldigten Richter<br />

gar nicht auf § 43 DRiG an. Somit liegt schon ein erheblicher<br />

Mangel der Ausführungen des Strafsenats darin, dass er<br />

eine Berufung der angeschuldigten Richter auf das richterliche<br />

Beratungsgeheimnis unkommentiert hat stehen lassen. 69<br />

d) Auch eine BGH-Entscheidung hätte der Strafsenat<br />

nicht ignorieren dürfen. 70 Wenn mehrere entscheiden, kann<br />

sich jeder wegen des dadurch eintretenden schädigenden<br />

Ereignisses strafbar machen, wie sich aus dem Lederspray-<br />

Urteil des BGH 71 ergibt. Reduziert man den vierten Leitsatz<br />

auf seine Kernthese, so lautet er: Haben mehrere gemeinsam<br />

über eine Schadensvermeidung zu entscheiden, so ist jeder<br />

einzelne von ihnen verpflichtet, alles ihm Mögliche und Zu-<br />

65<br />

Kritisch aber Erb (Fn. 5), S. 34, bei Fn. 28: Die Richter<br />

könnten sich gegenseitig durch unwahre Aussagen belasten.<br />

66<br />

Binding, GS 1904, S. 1, 18 f., geht sogar davon aus, dass<br />

zwei Richter, die bona fide gegen das Gesetz gestimmt – also<br />

objektiv den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt haben –<br />

aussagen würden. Dass ein ganzes Kollegium vorsätzlich und<br />

einstimmig gegen das Gesetz verstoßen würde, kommt in<br />

seiner Beispielssammlung nicht vor.<br />

67<br />

Kissel/Mayer (Fn. 4), § 193, Rn. 13. Hervorhebungen im<br />

Original.<br />

68<br />

BVerfG NStZ 1995, 555; BGHSt 25, 365, 368; Meyer-<br />

Goßner (Fn. 19), § 261, Rn. 15 ff. m.w.N.<br />

69<br />

Der Fehler wiegt umso schwerer, als der Strafsenat im<br />

weiteren ja ausführlich darlegt, warum das Beratungsgeheimnis<br />

nicht uneingeschränkt gilt, siehe auch die vom Senat<br />

zitierte BT-Drs. 3/516, S. 47.<br />

70<br />

Worauf bereits Jahn, JuS 2009, 80 zu Recht hinweist.<br />

71<br />

BGHSt 37, 106; zustimmend in diesem Zusammenhang<br />

Jahn, JuS 2009, 80.<br />

mutbare zu tun, um diese Entscheidung herbeizuführen. (Ob<br />

es sich hier um eine Unterlassungspflicht handelt, kann vorerst<br />

dahinstehen, siehe dazu unter f). Noch deutlicher ist der<br />

sechste Leitsatz: Jeder, der es unterlässt, seinen Beitrag zum<br />

Zustandekommen der gebotenen Entscheidung zu leisten,<br />

setzt damit eine Ursache für das Unterbleiben der Maßnahme.<br />

Er haftet auch dann strafrechtlich, wenn er mit seinem Votum<br />

für die rechtmäßige Entscheidung am Widerstand der anderen<br />

gescheitert wäre. Wenn aber jeder handeln muss, um einen<br />

Schaden zu verhindern, kann es schwerlich genügen, es bei<br />

einem Kollegialgericht ausreichen zu lassen, wenn sich einer<br />

seiner Angehörigen lediglich gegen die Rechtsbeugung ausgesprochen<br />

hat, alle weiteren Akte zur Schädigung (evtl.<br />

Abfassung des Beschlusses und Unterschrift) aber mit vornimmt.<br />

72 Der BGH hat den damaligen Täterkreis sogar noch<br />

weiter gezogen: Auch die Angeklagten, deren Anwesenheit<br />

bei der entscheidenden Sitzung nicht feststand, seien Täter,<br />

weil sie die Entscheidung billigten, sich zu eigen machten<br />

und umsetzten. 73 Auf der Basis dieser Grundsätze hätte auch<br />

der überstimmte Richter mit seiner Unterschrift die Entscheidung<br />

mit umgesetzt.<br />

e) Aber auch zu Fragen der Mittäterschaft sucht man vergebens<br />

nach Ausführungen. Die Staatsanwaltschaft hatte ein<br />

mittäterschaftliches Handeln angeklagt, § 25 Abs. 2 StGB.<br />

Darüber verliert der Strafsenat ebenfalls kein Wort. Wenn es<br />

für die Mittäterschaft genügen kann, dass ein fördernder<br />

Beitrag geleistet wurde, ohne den die Tat wesentlich erschwert<br />

worden wäre 74 , ist das für jeden der mitunterzeichnenden<br />

Richter gegeben. Ohne alle drei Unterschriften hätte<br />

der Beschluss nicht wirksam werden können. Aber selbst<br />

wenn man den Schwerpunkt der Handlung allein in der Ab-<br />

72<br />

Auf die Unterlassungsstrafbarkeit im Lederspray-Fall<br />

kommt es nur an, weil die schädigende Folge erst nach Ingangsetzen<br />

der Kausalkette bekannt wurde. Wäre im Fall der<br />

Lederspray-Entscheidung die schädigende Wirkung des<br />

Sprays von Anfang an bekannt gewesen, so wäre es die<br />

Pflicht der Beteiligten gewesen, die schädigenden Produkte<br />

nicht in Verkehr zu bringen, also nicht entsprechend zu entscheiden.<br />

Der Tatvorwurf hätte sich dann auf die Entscheidung<br />

bezogen, die Produkte in den Verkehr zu bringen, also<br />

auf ein Handeln. Aber auch dabei hätte es nicht genügt, nur<br />

dagegen zu stimmen, bei allen weiteren Teilakten aber mitzuwirken.<br />

73<br />

BGHSt 37, 106 (129, 130).<br />

74<br />

BGH NStZ 1991, 91: Der Betreffende müsse „auf der<br />

Grundlage gemeinsamen Wollens einen die Tatbestandsverwirklichung<br />

fördernden Beitrag“ leisten, „welcher sich nach<br />

seiner Willensrichtung nicht als bloße Förderung fremden<br />

Tuns, sondern als Teil der Tätigkeit aller darstellt, und der<br />

dementsprechend die Handlungen der anderen als Ergänzung<br />

seines eigenen Tatanteils erscheinen läßt.“ Jeder der drei, also<br />

auch der überstimmte Richter wollte mit seiner Unterschrift<br />

den Beschluss wirksam werden lassen als Entscheidung des<br />

gesamten Senats. Die Abstimmung allein ist noch keine Entscheidung<br />

einer Rechtssache, weil erst durch die Unterschrift<br />

erklärt wird, dass so wie geschrieben auch entschieden wurde.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

149


Christoph Mandla<br />

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stimmung sähe, so käme für den überstimmten Richter durch<br />

die Unterschriftsleistung immer noch eine Beihilfe in Betracht,<br />

weil er die Tatumstände kannte, sie billigte und nicht<br />

durch eigenes Einschreiten verhinderte. 75 Unter diesem Gesichtspunkt<br />

wären alle drei Familienrichter also mindestens<br />

wegen Beihilfe zur (nach wie vor: mutmaßlichen) Rechtsbeugung<br />

strafbar.<br />

3. Praktische Folge: Kollegialrichter können straflos Recht<br />

beugen<br />

Folgte man der vom Strafsenat bemühten „h.M.“, bedeutete<br />

dies, dass die Rechtsbeugung durch ein Kollegialgericht nie<br />

bestraft, ja nicht einmal öffentlich verhandelt werden kann,<br />

wenn die ihm angehörenden Richter schweigen. 76 Man könnte<br />

es damit bewenden lassen, dass man unterstellt, eine<br />

Rechtsbeugung durch Richter komme im demokratischen<br />

Rechtsstaat so selten vor, dass solche Überlegungen rein<br />

theoretischer Natur seien 77 , hätten nicht eben die Görgülü-<br />

Beschlüsse einen praktischen Fall daraus gemacht. Dogmatisch<br />

sauber lässt sich dieses Problem nicht der herrschenden<br />

Meinung folgend lösen, wie die Überlegungen der drei bereits<br />

oben genannten Autoren zeigen.<br />

a) Dencker hält die Aussage des BGH über die Straflosigkeit<br />

des überstimmten Richters für ersichtlich falsch. Er behandelt<br />

ausdrücklich nur das strafgerichtliche Urteil, ohne<br />

dass zu erkennen wäre, warum prinzipiell nicht auch in anderen<br />

Rechtsgebieten das Gleiche zutrifft. Er weist darauf hin,<br />

dass das Urteil durch Verkündung ergehe, dieses zur Hauptverhandlung<br />

gehöre, an der die Richter ununterbrochen teilnehmen<br />

müssten, weil andernfalls ein Revisionsgrund vorläge.<br />

Der überstimmte Richter, so schließt Dencker, sei damit<br />

„conditio sine qua non“ für die rechtsbeugende Entscheidung,<br />

wenn er das Urteil mitverkünde, selbst wenn er dagegen<br />

gestimmt habe. Dencker sieht darüber hinaus keinen Grund<br />

zu zweifeln, dass sämtliches „Mit-Wirksammachen“ objektiv<br />

Rechtsbeugung sei. Allerdings unterscheidet er bei der Abstimmung.<br />

Habe es sich um eine „evident rechtsferne“ Ab-<br />

75<br />

Vgl. BGHSt 36, 363 (367). Wobei diese Lösung im Ergebnis<br />

nicht zu überzeugen vermag: Der überstimmte Richter<br />

hätte nicht durch ein Einschreiten das Wirksamwerden des<br />

Beschlusses verhindern müssen (das erst, wenn man versucht<br />

hätte, seine Unterschrift zu ersetzen, § 24 Abs. 2 StGB),<br />

sondern durch Unterlassen. Im Übrigen lässt sich nicht annehmen,<br />

der überstimmte Richter habe „nur zum Schein“<br />

oder blind unterschrieben.<br />

76<br />

Verbeet, DRiZ 2007, 343 spricht gar von einem „Freibrief<br />

für Rechtsbeugung“; Erb (Fn. 5), S. 29, 34: massive Beweisprobleme<br />

lassen § 339 StGB leerlaufen. Knauer (Fn. 56), S.<br />

60: „unbefriedigend“; Strecker, BJ 2008, 378 spricht vom<br />

„Rechtbeugungsprivileg“; krit. ebenfalls Jahn, JuS 2009, 81:<br />

„sachlich nicht gerechtfertigte Vorzugstellung“.<br />

77<br />

Binding, GS 1904, 16, diskutiert die Rechtsbeugung durch<br />

ein Kollegium nur als „Problema“; BT-Drs. 3/516, 47: „äußerst<br />

seltne(n) Fälle“; a.A.: Spendel (Fn. 3), § 339, Rn 3:<br />

„eine schon nicht mehr fromme Selbsttäuschung“; differenzierend<br />

Fischer (Fn. 3), § 339, Rn. 4; Scheffler, NStZ 1996,<br />

67 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

150<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

stimmungsfrage gehandelt, so sei das Abstimmungsergebnis<br />

„Gesamttatprojekt“, an dem die Teilnahme „Teilhandeln“ im<br />

Rahmen der Rechtsbeugung sei. Sofern die Abstimmungsfrage<br />

nicht evident rechtsfern sei, müsse sich der Richter kraft<br />

Dienstrecht an der Abstimmung beteiligen. Hier sieht Dencker<br />

sogar die Möglichkeit, dass die anderen Richter sich<br />

dadurch von ihrer rechtsbeugerischen Ansicht abbringen<br />

lassen könnten. Sei einer der Richter aber überstimmt worden<br />

und habe die Mehrheit ein Ergebnis gefunden, das den Tatbestand<br />

der Rechtsbeugung erfülle, dürfe der Richter nicht mehr<br />

mitwirken. „Sein Mitverkünden wäre dann plangemäßes<br />

Teilhandeln des mit der Abstimmung vorgegebenen `Gesamtprojekts<br />

Rechtsbeugung´ (und ggfs. Tötung (sic!), Freiheitsberaubung<br />

usw.).“ 78 Es sind dann „praktische Gründe“ –<br />

eben das Beratungsgeheimnis – die dazu führen, dass Dencker<br />

erklärt, erst die (Mit-)Verkündung sei teil- und gesamttatbestandlich<br />

zugrunde zu legen. Erst mit dem Akt der Verkündung<br />

wirke das Urteil nach außen und die Abstimmung<br />

werde wirksam. Wer an der Verkündung mitwirke, „begehe<br />

ggfs. eine Teiltat einer gemeinschaftlichen Rechtsbeugung,<br />

gleichviel ob er zuvor überstimmt worden sei oder nicht“.<br />

Selbst wenn er seine Stimme gar nicht abgegeben habe, weil<br />

die Mehrheit schon feststand, müsse dies gelten. 79 Eine Einschränkung<br />

will Dencker gelten lassen: Der kriminelle Charakter<br />

der Urteilsverkündung müsse evident sein, weil den<br />

Abstimmungsregeln des GVG zugrunde liege, dass das Kollegium<br />

klüger sei als der einzelne Richter. 80 Ohne dies näher<br />

auszuführen, fügt er aber hinzu, dass diese Entlastung nicht<br />

grenzenlos sei. Dabei verweist er auf die ebenfalls begrenzte<br />

entlastende Wirkung prozessualer Regelungen für das Handeln<br />

des Rechtsanwalts. 81<br />

Legt man diese Auffassung für richterliche Beschlüsse<br />

allgemein zugrunde, hätte jeder der dem Familiensenat angehörigen<br />

Richter – auch der möglicherweise überstimmte –<br />

mit seiner Unterschrift unter den Beschluss das seinerseits<br />

Erforderliche getan, um den Tatbestand der Rechtsbeugung<br />

zu erfüllen.<br />

b) Knauer hält die Auffassung des BGH, nur derjenige<br />

Richter könne strafrechtlich belangt werden, der für das<br />

rechtsbeugende Urteil gestimmt habe, ebenfalls für falsch. 82<br />

Erneut auf das Strafgericht bezogen, hält er – ohne zwischen<br />

evidenter und nicht evidenter Rechtsferne zu unterscheiden –<br />

jedwede (selbst wünschenswerte) Gegenstimme für unbeachtlich,<br />

wenn der Richter hinterher die Entscheidung mitverkündet.<br />

Denn der Richter müsse sich nicht nur gegen den Erfolg<br />

78<br />

Dencker (Fn. 3), S. 184. Auch hier wird deutliche, welche<br />

Fallkonstellationen dem Problem vorwiegend zugrunde lagen.<br />

79<br />

Dencker (Fn. 3), S. 185. Das entspricht der Auffassung in<br />

BGHSt 37, 106 (128).<br />

80<br />

Hiergegen Knauer (Fn. 56), S. 60, wobei der Widerspruch,<br />

wie Erb (Fn. 5), S. 31, Fn. 16, zu Recht feststellt, nicht so<br />

scharf ist.<br />

81<br />

Dencker (Fn. 3) S. 184, sowie Fn. 158, die auf BGHSt 38,<br />

345 verweist; letztlich ist das ein Problem des Vorsatzes. s. a.<br />

Erb (Fn. 5), S. 44.<br />

82<br />

Knauer (Fn. 56), S. 56.


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

(der Rechtsbeugung) aussprechen, sondern dürfe zu diesem<br />

auch nicht beitragen. Das tue er aber, wenn er mit verkünde.<br />

Dies unterlassen zu müssen, fügt Knauer hinzu, lege keine<br />

Widerstandspflicht auf, sondern verbiete nur eine rechtsgutschädigende<br />

Handlung. Der entscheidende Satz in Knauers<br />

Analyse lautet: „Denn die Grenze der Rechtsbeugung ist<br />

zugleich die Grenze des Schutzes der richterlichen Entscheidungsfreiheit.“<br />

83 Folgt man bezüglich der Strafbarkeit des<br />

überstimmten Richters wegen Rechtsbeugung den Überlegungen<br />

Knauers, so ist die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung<br />

eines jeden der drei Richter trotz unterstellter Gegenstimme<br />

möglich.<br />

c) Auch Erb widerspricht – ausdrücklich Dencker und<br />

Knauer zustimmend – der h.M. Er hält fest, dass derjenige,<br />

der sich in den Gerichtssaal begebe, um dort in seiner Eigenschaft<br />

als Mitglied eines Spruchkörpers schweigend der Urteilsverkündung<br />

durch den Vorsitzenden beizuwohnen, damit<br />

zum Ausdruck bringe, dass er die Entscheidung im Zusammenwirken<br />

mit den anwesenden Kollegen in der vorliegenden<br />

Form in Kraft setzen wolle. Das gelte erst recht bei der<br />

Mitunterzeichnung einer Entscheidung, die im schriftlichen<br />

Verfahren ergehe. Nach Erb bestehe gerade nicht die Teilnahmepflicht<br />

am Wirksammachen der rechtsbeugerischen<br />

Entscheidung, weil die „Förderung sonstiger Straftaten kein<br />

legitimer Zweck eines staatlich geordneten Verfahrens“ sei. 84<br />

Dabei übersieht Erb auch nicht den Konflikt, in den der überstimmte<br />

Richter geraten könnte. Aber eine Konfrontation mit<br />

seinen Kollegen (z.B. als zum OLG abgeordneter Richter am<br />

Landgericht mit dem ihn beurteilenden Vorsitzenden) oder<br />

disziplinarische Folgen müsse er so hinnehmen, wie es beispielsweise<br />

ein Mitarbeiter einer Chemiefirma müsste, der<br />

zur Erhaltung seines Arbeitsplatzes ein gravierendes Umweltdelikt<br />

begehen soll. 85<br />

Ausdrücklich verweist Erb darauf, dass eine solche Auffassung<br />

Beweisprobleme entfallen lasse. 86 Erb, der an dieser<br />

83<br />

Knauer (Fn. 56), S. 58. Nichts anderes ergibt sich aus<br />

Art. 97 Abs. 1 GG.<br />

84<br />

Erb (Fn. 5), S. 33; anders Rudolphi/Stein (Fn. 55), § 339<br />

Rn. 17e .<br />

85<br />

Erb (Fn. 5), S. 34. Siehe auch die Remonstrationspflicht<br />

des Beamten, dazu unten. Man stelle sich den Fall bei drei<br />

Arbeitnehmern vor: A, B und C sind von Arbeitgeber U angewiesen,<br />

Abfälle aus ökologischer Landwirtschaft einzusammeln<br />

und in einem ebenfalls nach ökologischen Prinzipien<br />

arbeitenden Betrieb abzuliefern. A und B nehmen hochkontaminierte<br />

Abfälle auf. C widerspricht dem zwar, steht<br />

beim Aufladen daneben, fährt bis zum Schluss mit, immer<br />

vor sich hinmurmelnd, er sei ja dagegen, und unterschreibt<br />

den Ladeschein. Welches Gericht würde annehmen, es könnte<br />

ja sein, dass einer von ihnen sich gegen das Auf- und Abladen<br />

der Abfälle ausgesprochen und daran nicht mitgewirkt<br />

habe und eine Anklage wegen Straftaten gegen die Umwelt,<br />

§§ 324 ff. StGB, nicht zulassen. Ähnlich Strecker, BJ 2008,<br />

380.<br />

86<br />

Ausdrücklich heißt es: „Vor allem aber haben es die beteiligten<br />

Richter stets (d.h. vor allem auch bei einer in Wahrheit<br />

einstimmig getroffenen Entscheidung) in der Hand, die Über-<br />

Stelle weitere Gedanken zur Strafbarkeit richterlichen Fehlverhaltens,<br />

insbesondere für leichtfertig getroffene Entscheidungen<br />

anstellt, weist abschließend ebenfalls darauf hin, dass<br />

der Schutz des Art. 97 Abs. 1 GG versage, wenn sich ein<br />

Richter in offensichtlicher Weise von Recht und Gesetz entferne.<br />

87<br />

d) Diese drei Stimmen machen deutlich, wie eine systematische,<br />

rechtsdogmatisch fundierte Auseinandersetzung<br />

mit dem Problem der Strafbarkeit des Kollegialrichters<br />

zwangsläufig zur Annahme der Strafbarkeit des überstimmten<br />

Richters führt. 88 Damit beruht die Behauptung fehlender<br />

Strafbarkeit des überstimmten Richters tatsächlich nur auf<br />

einer unbegründeten Annahme.<br />

f) Damit liegt kein Unterlassen vor. Man mag zwar der<br />

Auffassung sein, ein Richter im demokratischen Rechtsstaat<br />

sei Garant 89 für eine rechtsstaatliche Entscheidung (die auch<br />

falsch sein kann, sonst sähe der Rechtsstaat keinen Rechtsweg<br />

mit Rechtsmitteln und Instanzen vor). Wenn aber die Tat<br />

durch das Wirksammachen (Verkündung oder Unterzeichnung<br />

– nochmals: Wie sonst?) begangen wird und jeder der<br />

beteiligten Richter daran mitwirkt, so hieße eine Garantenstellung,<br />

dass der einzelne Richter den Erfolg der Tat durch<br />

Tun verhindern müsste. 90 Der in der Abstimmung überstimmte<br />

Richter muss aber – wie von Knauer und Erb gezeigt –<br />

gerade nichts tun, sondern unterlassen. Ob der Richter, der in<br />

der Abstimmung für die rechtsbeugende Entscheidung votiert<br />

hat, vom Versuch zurücktritt, wenn er am Wirksammachen<br />

nicht teilnimmt 91 , braucht hier nicht erörtert zu werden, weil<br />

alle drei Richter unterschrieben haben.<br />

4. Gleichheit vor dem Gesetz<br />

Zwei weitere Überlegungen stützen die von den drei Autoren<br />

geäußerte Ansicht, weil sie das hier gefundene Ergebnis<br />

zwanglos in die Rechtsordnung einfügen, und damit ihrer<br />

Einheit nicht zuwiderlaufen. Sie betreffen die Gleichheit vor<br />

dem Gesetz, Art. 3 Abs. 1 GG.<br />

a) Die für Kollegialrichter angenommene Privilegierung<br />

führt zu einer tatsächlichen Ungleichbehandlung innerhalb<br />

führung eines jeden von ihnen zuverlässig zu blockieren<br />

[…]“.<br />

87 Erb (Fn. 5), S. 44.<br />

88 Bisher hat, soweit ersichtlich, niemand den Ergebnissen<br />

dieser drei Untersuchungen widersprochen, im Gegenteil,<br />

vgl. Fischer (Fn. 3), § 339 Rn. 5; zustimmend auch Jahn, JuS<br />

2009, 80. Es bedarf also nicht des Tatbestandes der „kollektiven<br />

Rechtsbeugung“.<br />

89 Knauer (Fn. 56), S. 205 scheint eine solche anzunehmen,<br />

weil „der Anknüpfungspunkt der Zurechnung außerhalb des<br />

Beschlusses“ liege, insbesondere „wenn den einzelnen eine<br />

aus einer Garantenstellung resultierende Erfolgsabwendungspflicht<br />

trifft, kommt es auf sein Stimmverhalten in einem<br />

etwaigen Beschlussverfahren nicht an.“<br />

90 Das ließe sich nur annehmen, wenn man ihn als Überwachergaranten<br />

betrachtete. Das allerdings widerspräche der<br />

Gleichberechtigung der Richter in der Kammer oder im Senat.<br />

91 So Knauer (Fn. 56), S. 54 m.w.N.<br />

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151


Christoph Mandla<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

der Justiz selbst. Kein Einzelrichter – also die Mehrheit der<br />

Richter in Deutschland – kann sich sinnvoll auf ein Beratungsgeheimnis<br />

berufen. Der Kollegialrichter ist damit gegenüber<br />

dem Einzelrichter völlig systemwidrig privilegiert, 92<br />

obwohl ihn, um nochmals mit Dencker zu sprechen, sogar die<br />

Klugheit der Mehrheit vor Fehlentscheidungen bewahrt 93 (an<br />

der es hier offensichtlich gemangelt hat). Der unlängst vom<br />

Landgericht Stuttgart verurteilte Betreuungsrichter 94 wäre als<br />

Senatsmitglied (bei kollektivem Schweigen) nicht nur vor der<br />

Verurteilung sondern schon vor einer Hauptverhandlung<br />

sicher gewesen, weil – folgte man der Naumburger Auffassung<br />

– nicht auszuschließen gewesen wäre, dass z.B. einer<br />

der Richter gegen die Entscheidungen aufgrund rechtswidriger<br />

Verfahrensweise gestimmt hat. Es ist nicht ersichtlich,<br />

worin angesichts § 25 Abs. 1 und 2 StGB Entscheidungen<br />

durch den Einzelrichter bezogen auf eine mögliche Rechtsbeugung<br />

wesentlich anders 95 sind als solche durch den Kollegialrichter.<br />

b) Hinzu kommt, dass § 339 StGB auch für andere Amtsträger<br />

gilt, denen das Privileg des richterlichen Beratungsgeheimnisses<br />

nicht zukommt. Klassisches Beispiel ist der<br />

Staatsanwalt, der als Beamter den Beamtengesetzen unterliegt.<br />

Diese verlangen, dass der Beamte remonstriert, §§ 38<br />

Abs. 3 BRRG (§ 36 Abs. 2 S. 3 BeamtStG), 56 Abs. 2 S. 3<br />

BBG, 56 Abs. 2 BG LSA, wenn er Bedenken gegen die<br />

Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen hat. 96 Das hätte<br />

der überstimmte Richter mit seiner Gegenstimme getan. Erkennbar<br />

strafbare Handlungen darf er nicht ausführen. 97 Das<br />

gleiche gilt – jenseits von § 339 StGB – für deutsche Soldaten,<br />

§ 11 Abs. 2 S. 1 SoldatenG. 98 Wenn also schon der weisungsabhängige,<br />

also der im System subordinierte Beamte,<br />

und sogar der klassische Befehlsempfänger beim Militär,<br />

darüber hinaus auch der weisungs- und lohnabhängige Arbeitnehmer<br />

sich gegen die an sie gerichtete Aufforderung,<br />

92<br />

Strecker, BJ 2008, 377 f.; Jahn, JuS 2009 S. 81.<br />

93<br />

Dencker (Fn. 3), S. 184.<br />

94<br />

Urt. v. 14.11.2008 – 16 KLs 180 Js 10961/06 (nicht rechtskräftig).<br />

95<br />

Vgl. BVerfGE 55, 72 (88); 62, 256 (274); 66, 331 (335);<br />

69, 188 (205); 70, 230 (240); 82, 60 (86); 82, 126 (146); 84,<br />

197 (199); 88, 87 (96); s. auch Heun, in: Dreier (Hrsg.)<br />

Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 3, Rn. 19, 21 (Fn. 132), 31,<br />

46.<br />

96<br />

Battis, Bundesbeamtengesetz -Kommentar, 3. Aufl., 2004,<br />

§ 56, Rn. 4; Zängl, in: Fürst (Hrsg.), GKÖD-Beamtenrecht<br />

des Bundes und der Länder, Bd. 1, 2a, Lieferung 5/00, § 56<br />

BBG, Rn. 39.<br />

97<br />

Battis (Fn. 96), Rn. 6: bei strafrechtswidriger Anordnung<br />

besteht die Strafbarkeit trotz Remonstration; Zängl (Fn. 96)<br />

§ 56 BBG, Rn. 66; s. auch § 97 Abs. 2 StVollzG, § 5 Abs. 1<br />

WStG, § 7 Abs. 2 S. 2 UZwG.<br />

98<br />

Vogelgesang in: Fürst (Fn. 96) Bd. 1, 5a, Lieferung 1/08,<br />

§ 11 SoldatenG, Rn. 24: Ein solcher Befehl darf nicht befolgt<br />

werden. Darauf weist auch Strecker, BJ 2008, 380 hin.<br />

S. auch Schwartz, Handeln aufgrund eines militärischen Befehls<br />

und einer beamtenrechtlichen Weisung, 2007, S. 101,<br />

206 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

152<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

rechtswidrig zu handeln, wenden müssen, und ihnen Straftaten<br />

zu begehen, gänzlich ausdrücklich verboten ist 99 , so ist<br />

erst recht der unabhängige, niemandem (nur dem Gesetz)<br />

unterworfene (Kollegial-)Richter nicht nur verpflichtet, gegen<br />

eine Straftat zu votieren 100 , es ist ihm auch verboten, an<br />

der Verwirklichung, also der Ausführung einer Straftat mitzuwirken.<br />

Die Verkündung einer das Recht beugenden Entscheidung<br />

– oder die Unterschrift unter eine solche – verlangt<br />

das Gesetz nicht vom Richter. 101 Wer daran mitwirkt, begeht<br />

Rechtsbeugung, wenn die weiteren Voraussetzungen (Vorsatz<br />

usw.) gegeben sind.<br />

c) Allen diesen Argumenten verschließen sich die Kollegen<br />

aus demselben Hause wie die Angeschuldigten. Hätten<br />

Studenten einen Fall so bearbeitet, hätte man ihnen zu Recht<br />

vorgeworfen, gegen grundlegende Arbeitsmethoden der<br />

Rechtsfindung zu verstoßen. 102 Eine andere Ansicht mit beachtlichen<br />

Argumenten darf nicht ignoriert werden. 103 Was<br />

wäre geschehen, lässt sich fragen, wenn das nach Zulassung<br />

der Anklage zuständige Landgericht sich den beachtlichen<br />

Argumenten der „a.A.“ angeschlossen hätte, weil beispielsweise<br />

die Schöffen nicht der richterfreundlichen Auffassung<br />

der h.M. gefolgt wären? 104 Eine Verurteilung war für ihn<br />

damit nur deshalb unwahrscheinlich, weil der Strafsenat dem<br />

Tatgericht eine der herrschenden Auffassung folgende<br />

Rechtsmeinung unterstellt hat. Das vermag aber auch schon<br />

deshalb nicht zu überzeugen, weil der Senat auf die rechtlichen<br />

Gründe, die das Landgericht für die Nichtzulassung<br />

herangezogen hat, gar nicht eingegangen ist.<br />

Gegen die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde,<br />

ist ein ordentliches Rechtmittel nicht gegeben. 105 Bei<br />

einem Freispruch hätte hingegen die Staatsanwaltschaft Revision<br />

einlegen können. Dann hätte der BGH u.U. entscheiden<br />

99<br />

Für den Arbeitnehmer gilt das StGB unmittelbar. Das Weisungsrecht<br />

des Arbeitgebers ist durch §§ 157, 242 BGB begrenzt.<br />

100<br />

Das ergibt sich aus § 339 StGB!<br />

101<br />

Erb (Fn. 5) S. 33; Knauer (Fn. 56), S. 58; Sarstedt,<br />

(Fn. 60), S. 433; zustimmend Jahn, JuS 2009, 80.<br />

102<br />

Otto, Übungen im Strafrecht, 6. Aufl. 2005, S. 10; Beulke,<br />

Klausurenkurs im Strafrecht I, 4. Aufl. 2008, Rn. 24; Valerius,<br />

Einführung in den Gutachtenstil, 2. Aufl. 2007, S. 27:<br />

unerlässlich wenn entscheidungserheblich; Arzt, Die Strafrechtsklausur,<br />

7. Aufl. 2006, S. 49, s. auch S. 52 f., 106. –<br />

Hier ließe sich sogar fragen, ob von herrschender „Meinung“<br />

überhaupt gesprochen werden kann, wenn diese nur wiederholt,<br />

nicht aber begründet wird.<br />

103<br />

Krit. auch Jahn, JuS 2009, 80.<br />

104<br />

Vgl. BGH NStE Nr. 3 zu § 203 StPO, Beschl. v.<br />

24.8.1987 – 1 BJs 279/86 – 4 StB 9/87 unter Verweis auf<br />

§ 76 Abs. 1, 2 GVG: fehlende institutionelle Identität. Hinzu<br />

kommt, dass die Richter sich vielleicht doch eingelassen<br />

hätten, s. unten, und auch der landgerichtliche Nichtzulassungsbeschluss<br />

nur auf einer Mehrheitsentscheidung beruhen<br />

kann.<br />

105<br />

Was das OLG – scheinbar mit Erleichterung – in seiner<br />

Pressemitteilung festhält, PM 007/08. Die Anhörungsrüge hat<br />

es mit Beschl. v. 19.12.2008 zurückgewiesen.


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

müssen. Faktisch hat der Strafsenat den Rechtsweg verkürzt.<br />

106<br />

III. Mitgegangen – mitgefangen: Zur Prognose des Verhaltens<br />

der Beschuldigten in der Hauptverhandlung<br />

Indem er von vornherein die Gegenauffassung ignoriert,<br />

musste sich der Strafsenat nur der Frage widmen, ob für die<br />

eingeschränkte Voraussetzung der Rechtsbeugung der Nachweis<br />

der Täterschaft erbracht werden kann. Das hat er abgelehnt.<br />

Aber auch hier vermögen seine Ausführungen nicht zu<br />

überzeugen.<br />

Nach § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung<br />

des Hauptverfahrens, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden<br />

Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend<br />

verdächtig ist. Dabei hat das Gericht die Tat vorläufig<br />

zu bewerten und unter Berücksichtigung des gesamten<br />

Akteninhalts zu prüfen, ob die vorhandenen und noch zu<br />

erwartenden Beweise eine gerichtliche Überzeugung vom<br />

Vorliegen der Strafbarkeitsvoraussetzungen wahrscheinlich<br />

erwarten lassen. 107 Das hatte das Landgericht, wie bereits<br />

erwähnt, hinsichtlich der tatsächlichen Gründe nur hilfsweise<br />

verneint, der Strafsenat des OLG Naumburg hat – ohne sich<br />

mit dem Standpunkt des LG Halle auseinanderzusetzen –<br />

ausschließlich aus tatsächlichen Gründen die Zulassung abgelehnt.<br />

Ob in rechtlicher Sicht eine Rechtsbeugung zu bejahen<br />

108 ist, lässt sich ohne Kenntnis der gesamten Akten (z.B.<br />

auch der Gutachten) und vor allem des Wortlauts des ergänzenden<br />

Vermerks nicht beurteilen.<br />

Ob – auch auf der sehr eingeschränkten Grundlage für die<br />

Annahme einer Täterschaft, von der der Strafsenat ausgeht –<br />

die Rechtsbeugung nachzuweisen, aus tatsächlichen Gründen<br />

ausgeschlossen ist, muss jedoch bezweifelt werden. Es ist<br />

jedenfalls ein böses, geradezu entlarvendes Zeugnis, das die<br />

Naumburger Strafrichter ihren Kollegen aus demselben Hause<br />

ausstellen. Auch in der öffentlichen Hauptverhandlung, in<br />

der „rechtsstaatlich“ der Tatvorwurf geprüft wird, würden die<br />

Angeschuldigten schweigen und zum schwersten Vorwurf,<br />

den man einem Richter machen kann 109 – insoweit jedem<br />

106<br />

Vgl. BGH NStE Nr. 3 zu § 203 StPO, Beschl. v.<br />

24.8.1987 – 1 BJs 279/86 – 4 StB 9/87; sowie BGHSt 41,<br />

330, 340 oben bei Fn. 60.<br />

107<br />

Vgl. BGHSt 23, 304 (306): Eröffnungsbeschluss – vorläufige<br />

Tatbewertung, die sich auf Grund der Hauptverhandlung<br />

als unzulänglich oder falsch erweisen kann. Weitere Nachweise<br />

bei Stuckenberg (Fn. 51), § 203, Fn. 26.<br />

108<br />

Bejahend Lamprecht, myops 2009, 4 „evident“ – Das<br />

Karlsruher Verdikt passe zu § 339 StGB wie eine Maßanzug;<br />

die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg und das Bundesverfassungsgericht,<br />

wenn man die Ausführungen in den Beschlüssen<br />

als Gründe betrachtet – jedenfalls für den objektiven<br />

Tatbestand; auch Jahn, JuS 2009, 80 sieht die Beugung<br />

des Rechts „mit der Autorität des BVerfG besiegelt“.<br />

109<br />

Spendel (Fn. 15), S. 446: „Die Rechtsbeugung ist das<br />

[Hervorhebung im Original] Standesdelikt des Richters.<br />

Nicht übler kann er sein hohes Amt missbrauchen, als wenn<br />

gerade er, der berufene Hüter des Rechts, sich nicht nach dem<br />

Recht, dem im ursprünglichen Sinne Gerichteten und Gera-<br />

anderen gemeinen Kriminellen gleich – keine Erklärung<br />

abgeben. 110 Keiner der drei, so die Prognose ihrer Kollegen,<br />

würde angesichts der öffentlich erhobenen Vorwürfe sein<br />

Schweigen brechen und seine Motivation darlegen, warum er<br />

an den Beschlüssen wie geschehen mitgewirkt hat. Keiner der<br />

drei würde – z.B. an seinen Richtereid 111 erinnert – sich einlassen<br />

oder gar ein Geständnis ablegen, und so den Versuch,<br />

die Wahrheit zu erforschen und die möglicherweise Schuldigen<br />

zu bestrafen, unterstützen. 112 Und angesichts der präsumtiven<br />

Unschuld eines der drei Angeschuldigten, bedeutet<br />

diese Interpretation des Senats auch, dass keiner der beiden<br />

anderen Angeschuldigten, die für die zur Anklage geführten<br />

Beschlüsse gestimmt haben, – so der Strafsenat – den überstimmten<br />

Kollegen entlastet hätte: mitgefangen, mitgehangen.<br />

Ebenso wenig erwartet der Strafsenat, dass der Richter,<br />

der rechtmäßig gehandelt hat, Wahrheitserforschung, Schuldausgleich<br />

und Prävention vor seine falsch verstandene Kollegialität<br />

– oder Kumpanei? – stellt. So hält das Gesetz der<br />

omertà 113 einen OLG-Senat zusammen. Üblicherweise gilt<br />

das in anderen gesellschaftlichen Kreisen. Dass aber in einer<br />

solchen Atmosphäre auf rechtstaatliche Weise Recht gefunden<br />

und gesprochen wird, ist außerordentlich schwer vorstellbar.<br />

114 Alle drei Familienrichter, so die Einschätzung<br />

den, richtet, sondern es „biegt“ oder „beugt“.“ Ders. (Fn. 3),<br />

§ 339, Rn. 9: „das Übelste“; „Sünde wider den richterlichen<br />

Geist“, „unvorstellbare Schande“. Schon das Alte Testament<br />

verbot die Rechtsbeugung: 2 Mose 23, 6; 3 Mose 19, 15; 5<br />

Mose, 16, 19 u. 27, 19: „verflucht“ – es gab sie wohl trotzdem:<br />

1 Sam. 8, 3; Sprüche 17, 23.<br />

110<br />

Hier also schließt der Strafsenat aus der Erklärung, die<br />

Aussage verweigern zu wollen, dass dies auch noch für die<br />

Hauptverhandlung gelte. Beim Stimmverhalten in vorangegangenen<br />

Entscheidungen in der Görgülü-Sache selbst hält es<br />

der Strafsenat aber nicht für ausgeschlossen, dass die Richter<br />

später anderer Meinung gewesen sein könnten (s. unten V.)<br />

Das ist nicht konsistent.<br />

111<br />

§ 38 DRiG: „Ich schwöre, das Richteramt getreu dem<br />

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu<br />

dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen<br />

ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit<br />

und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mit Gott helfe.“ Schon<br />

Binding, GS 1904, 18 weist auf den Eid hin. Wer sich an ihn<br />

hält, handelt doch in jedem Fall vorsatzlos.<br />

112<br />

Vgl. dagegen RGZ 89, 11 (s.o.), das noch annahm, ein<br />

unschuldiger Richter werde seines Ansehens wegen den<br />

Mund aufmachen. Jahn, JuS 2009, 81: Nachfrage in der<br />

Hauptverhandlung könne im Einzelfall einen Sinneswandel<br />

bewirken. Ähnl. KG NJW 1997, 69 hielt es bezüglich einer<br />

verweigerten Zustimmung zur Begutachtung für möglich,<br />

dass die Betreffenden ihre Meinung änderten.<br />

113<br />

Den Begriff benutzt auch Jahn, selbst Richter am OLG,<br />

JuS 2009, 81. Mir gegenüber äußerte ein Strafrichter an einem<br />

deutschen Landgericht, er sage immer: „Entscheiden<br />

und Mund halten.“<br />

114<br />

Im Grunde ist jeder der drei durch die beiden anderen<br />

erpressbar; ein außerordentlich hässlicher Gedanke: s. auch<br />

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153


Christoph Mandla<br />

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ihrer Kollegen, würden ihre Straffreiheit für wichtiger halten,<br />

115 als das Vertrauen der Bevölkerung – also der den Gerichten<br />

und damit auch ihnen (!) unterworfenen Bürger – in<br />

eine Justiz, die mit der gleichen Strenge gegen Verstöße in<br />

ihren Reihen vorzugehen hat, wie sie sonst auch andere mutmaßliche<br />

Verbrecher verfolgt. Der Beschluss ist damit – auch<br />

wenn er eine strafrechtliche Verfolgung ausschließt – ein viel<br />

härteres Urteil als es auf den ersten Blick erscheint. Er ist ein<br />

Freispruch dritter Klasse, der mangelnde Eignung für den<br />

Beruf und charakterliche Mängel bestätigt 116 , den Vorwurf<br />

des Eidbruches enthält und strafrechtlich ein Rückfall in die<br />

überwunden geglaubte Art und Weise fehlgeschlagener Aufarbeitung<br />

von Justizunrecht. 117<br />

IV. Fehlerhafte, einseitige Beweiswürdigung<br />

Der Senat würdigt die vorliegenden Beweise und meint, dass<br />

sie den Nachweis der Tat nicht erbringen könnten. Dabei sind<br />

ihm Fehler unterlaufen, die der BGH regelmäßig rügt, wenn<br />

er die Beweiswürdigung in Fällen beanstandet, in denen<br />

Angeklagte freigesprochen worden sind. 118 Ob der Zweifelsgrundsatz<br />

im Zwischenverfahren gilt, 119 erörtert der Senat<br />

nicht einmal. Er hält es für ausgeschlossen, dass jedem einzelnen<br />

der drei Richter sein Abstimmungsverhalten nachgewiesen<br />

werden könne, weil – in dubio pro reo – jeder von<br />

ihnen gegen die Beschlüsse gestimmt haben kann. Um diesen<br />

Grundsatz anzuwenden, betrachtet der Strafsenat jedes Indiz<br />

einzeln, hält es für nicht ausreichend und kommt so zu dem<br />

Ergebnis, dass ein Tatnachweis insgesamt nicht zu erbringen<br />

wäre. Eine nachvollziehbare Gesamtbetrachtung fehlt. Wobei<br />

eine Gesamtwürdigung der Beweise ohnehin aus dem Inbegriff<br />

der Hauptverhandlung erfolgen müsste, zu der auch der<br />

unmittelbare persönliche Eindruck von den Angeklagten<br />

gehört. 120 Die Würdigung der einzelnen Indizien zeigt eben-<br />

Erb, (Fn. 5), S. 34, der das Problem tatsächlicher und behaupteter<br />

Falschbelastungen thematisiert.<br />

115<br />

Was menschlich sehr verständlich ist angesichts der Mindeststrafhöhe<br />

in § 339 StGB und § 24 DRiG i.V.m. § 45<br />

StGB – vgl. dazu unten VI.<br />

116<br />

Dieterich, BJ 2007, 158 (159): „Die einfachste Berufspflicht<br />

wird zur Charakterprobe, wenn sie unseren eigenen<br />

Interessen und Bedürfnissen widerspricht.“<br />

117<br />

Vgl. BGHSt 41, 247 (252). Dass es Unrecht war, hat der<br />

8. Senat des OLG Naumburg ausdrücklich formuliert: Az. 8<br />

UF 84/05, Beschl. v. 15.12.2006, S. 26: „unrechtmäßige(r)<br />

Eingriff des Staates in das Elternrecht des leiblichen Vaters“;<br />

S. 27: „begründetes erhebliches Misstrauen (des Vaters)<br />

gegenüber staatlichen Stellen“.<br />

118<br />

BGH – 1 StR 654/07; 1 StR 582/06 m.w.N.; 5 StR 61/08;<br />

5 StR 257/08; 3 StR 53/08 m.w.N.; 1 StR 326/06.<br />

119<br />

Abl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 59; KG NJW 1997,<br />

69; nur mittelbare Anwendung: OLG Karlsruhe NJW 1974,<br />

806 (807); gegen eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung:<br />

OLG Bamberg NStZ 1991, 252.<br />

120<br />

Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die<br />

Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd.<br />

4, 25. Aufl. 2001,, § 261 Rn. 16: Das gesamte Verhalten der<br />

Verhandlungsteilnehmer „und zwar unabhängig davon, ob<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

154<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

falls, dass der Senat überspannte Anforderungen an den<br />

Nachweis der Täterschaft stellt. Seine Erwägungen sind insgesamt<br />

lückenhaft und vor allem widersprüchlich.<br />

1. Keine abweichende Meinung zu den Akten gelangt<br />

Dass keine abweichende Meinung zu den Akten gelangt ist,<br />

bedeutet, dass keine formuliert und den Akten beigelegt wurde.<br />

Keiner der drei Richter hat also ein sog. Separatvotum<br />

abgegeben, „um vor allem für die Zukunft sein Verhalten<br />

[…] beweisbar zu machen“. 121 Mit einer solchen Erklärung<br />

wäre der Richter, von dem sie stammte – jedenfalls nach<br />

Auffassung des Strafsenats – entlastet, weil er gegen die<br />

(mutmaßliche) Rechtsbeugung gestimmt hätte. Unbeachtlich<br />

ist es aber, dass keine solche Erklärung abgegeben werden<br />

musste, denn das Normative kann, muss aber nicht das Faktische<br />

prägen. Aus dem Nichtvorhandensein einer beigefügten<br />

Erklärung folgt also, dass der (unterstellte) überstimmte<br />

Richter sich nicht schriftlich von der Entscheidung distanziert<br />

hat. Es ist also eine Tatsache, dass keine solche schriftliche<br />

Erklärung abgegeben wurde. Das wiederum ist ein Indiz –<br />

mehr nicht – dass es keine solche abweichende Meinung<br />

gegeben hat. 122 Das Vorhandensein einer solchen Erklärung<br />

einer abweichenden Meinung ergäbe sich nur, wenn man<br />

Tatsachen hinzudächte. Für solche müsste es aber einen Anknüpfungspunkt<br />

geben, 123 wie z.B. im Geschehen, das<br />

BGHSt 26, 92 zugrunde lag. Ein solcher Anknüpfungspunkt<br />

ist nicht zu erkennen. Damit ist das Fehlen einer solchen<br />

beigefügten Erklärung ein Indiz, das sich verstärkt, wenn man<br />

einen weiteren Umstand heranzieht, auf den der Strafsenat<br />

zur Entlastung seiner Kollegen hinweist und damit einen<br />

Widerspruch erzeugt.<br />

2. Kein Vermerk bei der Unterschrift<br />

Der Verweis des Strafsenats auf BGHSt 26, 92 (93) lässt<br />

nämlich das Gegenteil dessen vermuten, was der Senat damit<br />

behaupten will. 124 In der zugrunde liegenden Entscheidung<br />

der Angeklagte von seinem Recht zum Schweigen Gebrauch<br />

macht“; Schoreit, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar<br />

zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 261, Rn. 19:<br />

„ihr im Sitzungssaal zu beobachtendes Verhalten“ Reaktion,<br />

Eindruck auf andere; BGH v. 8.2.1985, 4 StR 44/85; BGH<br />

MDR (Dallinger) 1974, 368; KG NJW 1979, 1668.<br />

121<br />

Kissel/Mayer (Fn. 4), § 193, Rn. 6 m.w.N.<br />

122<br />

Anders Erb (Fn. 5), S. 34, bei Fn. 28, der aber auch mit<br />

der fehlenden Pflicht argumentiert, auf die es nicht ankommt,<br />

siehe BGHSt 26, 92. Wenn es schon den einen unzulässige<br />

Vermerk fertigenden Richter gibt, dann doch um so wahrscheinlicher<br />

den, der ein zulässiges Separatvotum abgibt. Die<br />

von Strecker, BJ 2008, 383 vorgeschlagene Änderung des<br />

§ 196 GVG, die analog § 30 Abs. 2 BVerfGG ein „freiwilliges“<br />

Sondervotum zuließe, würde das Problem somit auch<br />

nicht lösen.<br />

123<br />

Vgl. BGH – 1 StR 3/07; 3 StR 53/08.<br />

124<br />

Ähnlich wie bei dem indirekten Verweis auf RGZ 89, 15:<br />

Auch nach der dort vertretenen Auffassung verhält sich ein


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

hatte einer der beteiligten Richter seiner Unterschrift einen<br />

„Vermerk“ vorangestellt, in dem er bezweifelte, „daß das<br />

Abstimmungsverfahren im Schwurgericht in jedem Fall dem<br />

Gesetz entsprochen habe und daß die schriftlichen Urteilsgründe<br />

mit dem Beratungsgeheimnis übereinstimmten“. Er<br />

hatte jedoch hinzugefügt, dass dieser Vermerk seine Unterschrift<br />

nicht unwirksam mache. Der Strafsenat bezieht sich<br />

also auf einen Fall, in dem ein Richter eine abweichende<br />

Meinung „ausdrücklich“ erklärt hat. Daraus soll zu schließen<br />

sein, dass es im Familiensenat möglicherweise auch eine<br />

solche abweichende Meinung gegeben hat. Das Beispiel lässt<br />

jedoch das Gegenteil wahrscheinlich sein: In dem BGHSt 26,<br />

92 zugrunde liegenden Geschehen konnte mit der abgegebenen<br />

Erklärung der abweichenden Meinung ihre Existenz<br />

bewiesen werden. 125 Angesichts dieser BGH-Entscheidung<br />

ist aber der Umstand, dass keiner der Richter des 14. Senats<br />

bei der Unterschrift einen (für die Entscheidung unwirksamen)<br />

Vorbehalt vermerkt hat, ein weiteres Indiz dafür, dass<br />

es keinen Vorbehalt, sondern eine einstimmige Entscheidung<br />

gegeben hat. Damit hat der Strafsenat bereits zwei (schwache)<br />

Indizien dafür, dass es keine Gegenstimme gegeben hat.<br />

Wohlgemerkt, es sind Indizien – die nur Schlüsse zulassen,<br />

Beweis wäre damit nicht erbracht.<br />

3. „Klarstellender Vermerk […]“ – § 196 Abs. 1 GVG<br />

Nicht nachzuvollziehen sind die Ausführungen der Strafrichter<br />

zu dem vom 14. Senat am 4.1.2005 angefertigten Vermerk,<br />

der drei Seiten lang ist und den der 14. Senat auch an<br />

das BVerfG geschickt hatte, was die Strafrichter aber verschweigen.<br />

126 Den <strong>Inhalt</strong> – und hier kommt es auf die Formulierungen<br />

an – behalten die Strafrichter für sich und entziehen<br />

ihn so der Nachprüfbarkeit. Damit ist ihre Begründung an<br />

dieser Stelle schlicht mangelhaft. Aber auch so kann ihr in<br />

der Sache nicht gefolgt werden.<br />

a) Die Strafrichter schreiben, dass der <strong>Inhalt</strong> des Vermerks<br />

an die Entscheidungsgründe des Beschlusses vom<br />

20.12.04 anknüpfe und diese ergänze. Es sei nicht erkennbar,<br />

heißt es, dass „alle oder einzelne der unterzeichnenden Senatsmitglieder<br />

damit ihre persönliche Auffassung kundtun“.<br />

Der Strafsenat stellt fest, dass sich die Ausführungen als<br />

ergänzende Wiedergabe des Ergebnisses der Beratung darstellten,<br />

weshalb folgerichtig wieder alle daran beteiligten<br />

Richter ihre Unterschrift geleistet hätten. Woher er weiß<br />

(wenn die angeschuldigten Richter doch schweigen), warum<br />

die Unterschriften aller drei Richter „folgerichtig“ geleistet<br />

wurden, erklärt der Senat nicht. Er stellt nicht die nahe liegende<br />

Frage, warum ein OLG-Familiensenat, nachdem die<br />

Wirksamkeit seines Beschlusses vom BVerfG ausgesetzt<br />

wurde, überhaupt noch irgendetwas „klarstellen“ und inhaltlich<br />

„ergänzen“ will, hatte doch das BVerfG den Umgang des<br />

Vaters mit seinem Sohn im Beschluss vom 28.12.2004 gere-<br />

überstimmter Richter genau entgegengesetzt wie der unterstellte<br />

überstimmte OLG-Familienrichter.<br />

125 Sofern man davon ausgeht, dass der Vermerk tatsächlich<br />

die Meinung des Richters wiedergab – woran nicht zu zweifeln<br />

ist – und nicht eine falsche Äußerung enthielt.<br />

126 Sie verschweigen noch mehr: siehe unten Nr. 5.<br />

gelt (vgl. oben Fn. 36). Was, so hätten die Strafrichter fragen<br />

müssen, führt drei derart vom BVerfG gemaßregelte Richter<br />

zusammen, um nach einem aufgehobenen Beschluss diesen<br />

noch zu erläutern, „quasi als ´Erwiderung` auf den gegenteiligen<br />

Beschluss“ des BVerfG, wie der Strafsenat schreibt<br />

(wobei das Wort Erwiderung nur einen Sinn ergibt, wenn<br />

man weiß, dass eben auch das BVerfG diesen Vermerk erhalten<br />

hat.). Es ist nirgendwo vorgesehen, dass OLG-Senate auf<br />

die ihre Entscheidungen aufhebenden Beschlüsse des BVerfG<br />

irgendwelche Erwiderungen schreiben dürften. Welche Unfähigkeit,<br />

zu ertragen, aufgehoben worden zu sein oder welches<br />

schreckliche Rechtfertigungsbedürfnis hinter einer solchen<br />

Verfahrensweise stehen mag, lässt sich hier nicht beantworten.<br />

Die Frage aber, ob nämlich in diesem Vermerk<br />

der Versuch einer Rechtfertigung liegen könnte, hätte der<br />

Strafsenat stellen müssen. Weitere Ausführungen sind hier<br />

allerdings nicht möglich, weil der <strong>Inhalt</strong> des „Vermerks“<br />

nicht mitgeteilt wurde.<br />

Der Strafsenat hält den Vermerk der drei angeklagten<br />

Richter immerhin für „unüblich“. Auch entspreche dieser<br />

Begriff nicht der „üblichen Bedeutung“. Aber auch das führt<br />

die Strafrichter nicht dazu, Überlegungen anzustellen, warum<br />

es diese Erklärung überhaupt gibt. Es ist jedoch haarspalterische<br />

Rabulistik und erzeugt einen weiteren Widerspruch,<br />

wenn die Strafrichter erklären, von einem geschlossenen<br />

Meinungsbild wäre nur auszugehen, wenn die Mitglieder des<br />

14. Senats geschrieben hätten „Wir sind der Auffassung, dass<br />

[…]“. Denn davor und danach erläutert der Strafsenat ja<br />

gerade, dass auch der überstimmte Richter seine Unterschrift<br />

nicht verweigern dürfe. 127 Welcher signifikante Unterschied<br />

aber darin liegen soll, dass es einmal heißen kann „Der Senat<br />

ist der Auffassung“ (und damit der überstimmte Richter mit<br />

seiner abweichenden Meinung nicht zu erkennen ist) oder<br />

eben: „Wir sind der Auffassung“, (wenn dadurch ebenfalls<br />

nur der Senat gemeint sein kann, ohne dass der überstimmte<br />

Richter zu erkennen wäre), erläutert der Strafsenat nicht.<br />

Hinzu kommt, dass er damit der grundsätzlich zutreffenden<br />

These, auch der überstimmte Richter müsse die Entscheidung<br />

mittragen 128 widerspricht. Würden nämlich einstimmig ergangene<br />

Entscheidungen z.B. mit „wir“ formuliert, solche,<br />

denen keine Einstimmigkeit zugrunde liegt, mit „der Senat“,<br />

wäre doch das Zahlenverhältnis mitgeteilt! Schon deshalb<br />

überzeugen diese Überlegungen nicht.<br />

Zusammengefasst folgt aus der Würdigung dieses Vermerks<br />

wiederum: Wenn der Strafsenat erklärt, es gebe keine<br />

Pflicht, eine Erklärung zur abweichenden Meinung ab-<br />

127 Unter Verweis auf Seibert, MDR 1957, 597 und BGH<br />

DRiZ 1976, 319. Beide Verweise sind unsinnig: Seibert berichtet<br />

nämlich davon, dass ein Richter – intern – unter seine<br />

Unterschrift ein c.f. (contra fidem) gesetzt habe, wenn er<br />

überstimmt wurde. Das hat keiner der Familienrichter gemacht.<br />

Die BGH-Entscheidung betraf § 263 Abs. 1 StPO:<br />

Ausdrücklich heißt es: „In einem solchen Fall ist es angezeigt<br />

und geboten, daß Anlaß und Art der Abstimmungen, Reihenfolge<br />

und die Stimmenverhältnisse in die Urteilsgründe aufgenommen<br />

werden.“<br />

128 Meyer-Goßner (Fn. 19), § 195 GVG Rn. 2.<br />

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155


Christoph Mandla<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

zugeben, so dass deren Fehlen keinerlei Beweiswert habe, so<br />

ist ein solcher „unüblicher“, der gebräuchlichen Bedeutung<br />

des Begriffes nicht entsprechender „Vermerk“ mit den Unterschriften<br />

aller drei Richter doch ein um so stärkeres Indiz für<br />

eine gemeinsame Täterschaft.<br />

So windet sich der Strafsenat durch die Beweise: Das<br />

Fehlen einer nicht vorgeschriebenen schriftlichen Erklärung<br />

zur abweichenden Meinung sage nichts über das Nichtvorhandensein<br />

einer abweichenden Meinung überhaupt und das<br />

Vorhandensein einer nicht vorgeschriebenen, von allen drei<br />

Richtern unterschriebenen Erklärung zum Verfassungsgerichtsbeschluss<br />

sage ebenfalls nichts über die Urheber dieser<br />

Erklärung.<br />

Noch fragwürdiger wäre aber das Verhalten des (unterstellten)<br />

überstimmten Richters. Welche rationalen Gründe<br />

(die einem Richter doch zuzubilligen wären!) sollte er haben,<br />

nachdem er seiner Unterschriftspflicht nach der Beschlussfassung<br />

ohne Vorbehaltsvermerk genügt und kein Separatvotum<br />

abgegeben hat – angesichts einer von ihm als rechtswidrig<br />

oder sogar als kriminell erkannten Entscheidung, nun<br />

auch noch an einer rechtlich völlig unerheblichen, unüblichen<br />

und unnötigen Erklärung mitzuwirken? War es falschverstandene<br />

Kollegialität, Gruppenzwang, Ahnungslosigkeit?<br />

Damit unterstellt der Strafsenat dem überstimmten Richter,<br />

der nach seiner Auffassung ja unschuldig ist, u.U. sogar den<br />

Versuch einer Strafvereitelung, § 258 Abs. 4 StGB („geradezu<br />

auffällige Vermeidung von persönlichen Äußerungen“).<br />

Und daraus folgt schließlich die Frage, woher der Strafsenat<br />

den Gedanken nimmt, auch das Zustandekommen dieses<br />

ungesetzlichen und unüblichen „Vermerks“ unterliege den<br />

Vorschriften des § 196 Abs. 1 GVG, so dass der überstimmte<br />

Richter auch hier habe nicht nur unterschreiben müssen,<br />

sondern tatsächlich auch als überstimmter Richter unterschrieben<br />

hat. Angesichts dieser Umstände hätte der Strafsenat<br />

spätestens an dieser Stelle fragen müssen, ob es den überstimmten<br />

Richter tatsächlich gegeben haben kann oder ob<br />

dies nur eine denktheoretische Möglichkeit war, weil aufgrund<br />

dieser Verfahrensweise eher von einem kollektiven<br />

Reinwaschungsversuch auszugehen war, der damit zugleich<br />

ein Schuldeingeständnis ist. Insgesamt stellt der Senat überspannte<br />

Anforderungen an den Nachweis der Täterschaft der<br />

Angeschuldigten.<br />

b) Fasst man alle diese Indizien abschließend in der Gesamtbetrachtung<br />

zusammen: standeswidrige Berufung aller<br />

drei Richter auf das Beratungsgeheimnis, kein Vermerk bei<br />

der Unterschrift, kein zur Akte gereichter Vermerk, jedoch<br />

ein nachträglicher, unüblicher „Vermerk“ mit ergänzenden,<br />

detaillierten rechtlichen Auffassungen als „Erwiderung“ zum<br />

Beschluss des BVerfG, der die Unterschriften aller drei Richter<br />

trägt, und kein standesgemäßes Verhalten des überstimmten<br />

Richters, so spricht mehr für eine gemeinsame Täterschaft<br />

der Richter als dagegen. Anzunehmen, einer der Richter sei<br />

überstimmt worden, setzt voraus, Tatsachen zu unterstellen,<br />

für die es keine Anhaltspunkte gibt, mehr noch, es setzt –<br />

unabhängig von § 136a StPO aber – entgegen §§ 38, 43<br />

DRiG – voraus, dass der vermeintlich unschuldige Richter<br />

eidbrüchig und pflichtwidrig gehandelt hat. Auch ohne die<br />

Einlassung der Angeschuldigten wäre eine Verurteilung –<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

156<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

ohne Verletzung des Zweifelsatzes – wahrscheinlich gewesen.<br />

Ob bewusst oder unbewusst, die Kollegen der Familienrichter<br />

haben bestätigt, was die Literatur seit langem behauptet:<br />

Rechtsbeugung ist ein Mythos und kommt im Rechtsstaat<br />

eigentlich nicht vor. 129<br />

5. Was der Senat sonst noch unberücksichtigt ließ<br />

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der Strafsenat<br />

nicht alles mitgeteilt hat, was im landgerichtlichen Nichtzulassungsbeschluss<br />

noch zu lesen ist: Der Angeschuldigte zu 1<br />

(sicher der Vorsitzende) hat im April 2006 eine zwanzigseitige<br />

Stellungnahme abgegeben, darin den Tatbestand der<br />

Rechtsbeugung nach der objektiven Rechtslage als „reine<br />

Schimäre“ und die verfahrensgegenständlichen Beschlüsse<br />

vom 8. und 20.12.2004 (s.o. Fn. 34, 36, 37) als in verfahrensrechtlicher<br />

und materiell-rechtlicher Hinsicht „nicht zu beanstanden“<br />

bezeichnet und erneut eine damals aktuell in massiver<br />

Form zu befürchtende Kindeswohlgefährdung behauptet<br />

– entgegen den Ausführungen im Beschluss des BVerfG vom<br />

28.12.2004, Rn. 29 (vgl. Fn. 35). Das ist zwar keine Einlassung<br />

zur Tatsache des Abstimmungsverhaltens 130 , wirft aber<br />

erneut die Frage auf, warum ein Richter, der gegen die inkriminierten<br />

Beschlüsse gestimmt haben soll, dies nicht zugibt,<br />

sondern mit solchem Aufwand weiter das inkriminierte Verhalten<br />

verteidigt – sogar gegen das Bundesverfassungsgericht.<br />

Der Angeschuldigte zu 2 hat, anwaltlich vertreten,<br />

darauf hingewiesen, dass sich der Akte nicht entnehmen<br />

lasse, welcher am Beschluss vom 20.12.2004 mitwirkende<br />

Richter gehandelt habe (was zu der kuriosen Vorstellung<br />

zwingt, dass Richter wirken ohne zu handeln.). Es könne<br />

zudem nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschluss mit<br />

einer Gegenstimme zustande gekommen sei. Der Angeschuldigte<br />

zu 3 hat u. a. erklären lassen, die möglicherweise zu<br />

„trotzige“ Behauptung (Hervorhebung im LG-Beschluss) der<br />

richterlichen Unabhängigkeit gegenüber dem EGMR und den<br />

Kammern des BVerfG rechtfertige nie und nimmer den Vorwurf<br />

der Rechtsbeugung. Liest man das, beginnt man zu<br />

ahnen, warum das Landgericht den Beschluss nicht veröffentlicht<br />

und das OLG solche Passagen weglässt. Auch die rechtliche<br />

Würdigung des Landgerichts scheint ein ganz anderes<br />

Verfahren zu betreffen, als die Beschlüsse des BVerfG in der<br />

Görgülü-Sache, wenn es heißt (S. 26): „Die Angeschuldigten<br />

haben nicht einen für den Kindsvater nachteiligen Zustand<br />

verfestigt, sondern das Hauptsacheverfahren zum Umgangsrecht<br />

– mit offenem Ausgang zum Zeitpunkt der Beschlussfassungen<br />

am 20.12.2005 – beschleunigt.“<br />

129<br />

Fischer (Fn. 3), § 339, Rn. 3: „Schattendasein“; ebenso<br />

Erb (Fn. 5), S. 29, 34, Fn. 26; Scholderer (Fn. 3), S. 21<br />

„Schattendasein“; Saliger (Fn. 14), S. 139 „Mythos“; Lamprecht,<br />

myops 2009, 4; Sarstedt (Fn. 60), S. 427; Seebode<br />

(Fn. 14), S. 9 m.w.N.<br />

130<br />

BayOLG MDR 1988, 882: Rechtsausführungen sind keine<br />

Teileinlassung, die den Schluss auf die Täterschaft zulassen.<br />

Hier geht es aber um drei Angeschuldigte; unterstellt man,<br />

der Vorsitzende ist überstimmt worden, so fragt sich, warum<br />

er lang und breit die Tatbestandslosigkeit der Handlung der<br />

Beisitzer erklärt.


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

V. Vernehmung weiterer Richter<br />

Ebenso widersprüchlich ist die Begründung für die Ermittlungen<br />

im Zwischenverfahren. Mit der Feststellung nämlich,<br />

dass sich aufgrund des Schweigens der drei Angeschuldigten<br />

nicht nachweisen lasse, wie jeder einzelne von ihnen gestimmt<br />

habe, als die Beschlüsse gefasst wurden, hätte der<br />

Strafsenat seinen Beschluss beenden können. Es gab keine<br />

alternative Erkenntnisquelle. Wenn nur durch die beteiligten<br />

Richter der Hergang der Abstimmung festzustellen war und<br />

alle Indizien für einen Schluss nicht ausreichten, so verwundert,<br />

dass der Senat nunmehr auf Indiziensuche geht. Die<br />

weiteren Ermittlungen – und theoretischen Ausführungen<br />

zum Beratungsgeheimnis – sind völlig überflüssig und mögen<br />

als Rationalisierung oder Beruhigung des Gewissens der<br />

Strafrichter und der Allgemeinheit dienen. Entscheidend ist<br />

nämlich, dass aus Ergebnissen vorheriger Abstimmungen<br />

nicht auf das Abstimmungsverhalten bei den beiden tatgegenständlichen<br />

Beschlüssen geschlossen werden könne, weil, so<br />

der Strafsenat selbst, damit noch nicht klar sei, „ob […] die<br />

zugrunde liegende Auffassung auch in den über acht Monate<br />

späteren Abstimmungen weiter vertreten sowie entsprechend<br />

abgestimmt“ worden sei. Die Kontrollfrage zur Schlüssigkeit<br />

lautet: Was hätten die Richterinnen aussagen müssen, damit<br />

man daraus auf das Verhalten der Angeschuldigten bei den<br />

späteren Abstimmungen hätte schließen können? Aber auch<br />

hier übersieht der Strafsenat, dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit<br />

besteht, dass jemand, der einmal dem EGMR<br />

getrotzt hat – vgl. die Begründungen der Beschlüsse vom<br />

Juni und Juli 2004 131 – nun auch dem BVerfG trotzen wird.<br />

Hinzu kommt ein weiterer Widerspruch: Die Erklärung, auch<br />

in der Hauptverhandlung zu schweigen und diese Meinung<br />

nicht zu ändern, nimmt der Strafsenat den angeschuldigten<br />

Richtern kommentarlos ab. Kontinuierlich an der einmal<br />

gefassten Meinung in der Sache selbst festgehalten zu haben,<br />

ließe sich hingegen den Familienrichtern nicht unterstellen.<br />

Das verlangt zumindest, begründet zu werden.<br />

Auch über den <strong>Inhalt</strong> der richterlichen Zeugenaussagen<br />

schweigt der Strafsenat; er fasst zusammen, dass sie keine<br />

weiteren Erkenntnisse gebracht hätten.<br />

Nach seiner Feststellung, wie allein der Nachweis der Täterschaft<br />

erbracht werden könnte, waren die weiteren Ermittlungen<br />

des Strafsenats schlichtweg überflüssig, vgl. § 244<br />

Abs. 3 StPO. 132 Ein darauf gerichteter Beweisantrag wäre in<br />

der Hauptverhandlung sogar abzulehnen gewesen.<br />

VI. Von Krähen und Augen – Schutzmechanismen der<br />

Zunft<br />

1. Erneute Rechtsbeugung?<br />

a) Strecker bezweifelt mit guten Gründen, dass es sich beim<br />

1. Strafsenat desselben Oberlandesgerichts um die gesetzlichen<br />

Richter gehandelt habe. 133 Er geht allerdings zu weit<br />

131<br />

S. oben bei Fn. 30 und 31.<br />

132<br />

Meyer-Goßner (Fn. 19), § 244, Rn. 56.<br />

133<br />

Strecker, BJ 2008, 382 sieht den Strafsenat daher als überfordert<br />

an und seine Mitglieder deshalb nicht als gesetzlichen<br />

Richter, weshalb sie sich gem. §§ 24 Abs. 2, 30 StPO hätten<br />

und übersieht zudem erneut das Beweisproblem, wenn er nun<br />

mutmaßt, auch die Strafrichter könnten sich nun ihrerseits<br />

wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht haben und wären<br />

dann als Mittäter anzuklagen. Mit ihrer Entscheidung haben<br />

sie ja gerade die Grundlage geschaffen, warum man ihnen<br />

nichts nachweisen könnte und schon die Hauptverhandlung<br />

entfiele! Auch von ihnen könnte ja einer gegen die Entscheidung<br />

gestimmt haben.<br />

Materiell-rechtlich bestehen aber wohl schon Zweifel an<br />

der Erfüllung des Tatbestandes. In einem Rechtssystem, in<br />

dem die dritte Gewalt sich ausschließlich selbst kontrolliert,<br />

134 nur schwerwiegende Verstöße als Rechtsbeugung<br />

ansieht 135 , selbst aber schwerste Verbrechen in ihren Reihen<br />

nicht in der Lage war aufzuarbeiten 136 und sich auf Privilegien<br />

beruft, um dem Vorwurf des Verbrechens zu begegnen,<br />

fehlt es wohl schlicht an der Tatbestandsmäßigkeit oder jedenfalls<br />

dem Vorsatz. 137 Eine fehlerhafte Beweiswürdigung,<br />

ablehnen sollen. Ähnliche Bedenken hat auch Lamprecht,<br />

NJW 2007, 2745: „Verfahren von Zimmer zu Zimmer“;<br />

ders., myops 2009, 5: „auf keinen Fall unbefangen“. Man<br />

stelle sich vor: Gemeinsame Veranstaltungen, Präsidiumssitzungen,<br />

gelegentliche Begegnungen im Haus: „Guten Tag,<br />

Herr Kollege, nehmen Sie auch einen Kaffee? – Ja, danke –<br />

ich prüfe übrigens gerade, ob die Anklage gegen Sie wegen<br />

eines Verbrechens zuzulassen ist.“ – „Ah ja, Zucker? Milch?“<br />

– „Vielen Dank, einen schönen Tag noch.“<br />

134<br />

Lamprecht, myops 2009, 4: „Freispruch in eigener Sache“,<br />

Saliger (Fn. 14), S. 139: Entscheidungen zur Rechtsbeugung<br />

sind „Entscheidungen in eigener Sache“; Bemmann/Seebode/<br />

Spendel, ZRP 1997, 307 (308): „in eigener Sache“.<br />

135<br />

Schroeder, FAZ v. 3.2.1995: „Wenn ein Arzt sich bei der<br />

Verabfolgung einer Spritze um eine Dezimalstelle nach dem<br />

Komma irrt, wird er wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung<br />

bestraft. Wie läßt es sich da rechtfertigen, daß<br />

Richter […] nur bei schwerwiegenden vorsätzlichen Rechtsverletzungen<br />

strafbar sein sollen?“ Weil es eben so ist: Das<br />

Landgericht Halle, Beschl. v. 20.7.2007, S. 21 f., hält die<br />

vom BVerfG als „nicht mehr nachvollziehbar“ bezeichneten<br />

Ausführungen nur für „zumindest zweifelhaft“ und möglicherweise<br />

„rechtlich angreifbar“, lässt sie aber in den regelmäßig<br />

weiten Beurteilungsspielraum fallen, der Richtern<br />

zuzubilligen sei.<br />

136<br />

S. Fn. 59, Der Görgülü-Fall mag ein Skandal sein, das<br />

Verhalten der Richter gehört aber nicht zu den „schwersten<br />

Verbrechen“.<br />

137<br />

Wenn sie schon nicht bemerkt haben, dass sie möglicherweise<br />

befangen waren, also nicht wussten, dass sie gar nicht<br />

unvoreingenommen sind, wie sollen sie dann vorsätzlich,<br />

also wissentlich gegen das Gesetz zugunsten ihrer Kollegen<br />

entschieden haben? Vgl. auch oben bei Fn. 15 und<br />

Mühl/Fürst/Arndt, Richtergesetz, Kommentar, 1992, § 26<br />

Rn. 28, wo sogar der Verstoß gegen Denkgesetze den Richter<br />

exkulpieren soll: „Aus der Tatsache, daß alle Welt den Fehler<br />

alsbald erkennt, ergibt sich nicht, daß der Betroffene ihn bei<br />

gehöriger Sorgfalt ebenfalls hätte erkennen müssen. Es ist die<br />

Eigenart derartiger Verständnisfehler, daß der Betroffene auf<br />

der Stelle überzeugt ist, so daß sich ihm die Notwendigkeit<br />

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Christoph Mandla<br />

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kollegiale Befangenheit, übergangene andere Ansichten,<br />

unzutreffende Nachweise und eine nicht begründete h.M.<br />

mögen intellektuell ärmlich, juristisch mangelhaft, moralisch<br />

fragwürdig und rechtsstaatlich bedenklich sein. Ein Verbrechen<br />

sind sie nicht. Man muss den Kollegen der angeschuldigten<br />

Richter zugestehen, dass ihr Verhalten außerordentlich<br />

menschlich ist. Und Menschen sind manchmal schwach,<br />

fehlbar und auch parteiisch.<br />

b) Der Beschluss zeigt daher auch die Reformbedürftigkeit<br />

von § 339 StGB. 138 Während überall im Strafrecht nicht<br />

genug differenziert werden kann, gibt es bei § 339 StGB fast<br />

nur „Alles oder nichts“. Man kann aber eben nicht nur töten,<br />

sondern auch verletzen, nicht nur zerstören, sondern auch<br />

beschädigen, und vielfach reichen Gefährdungen oder fahrlässiges<br />

Handeln, um sich strafbar zu machen. Wird bei Richtern<br />

gleich mit Kanonen auf Spatzen geschossen 139 , ist es<br />

nicht verwunderlich, dass die Richterschaft beinahe kollektiv<br />

ausweicht, möglichst so gründlich, dass es niemals Treffer<br />

gibt. Die kleineren Verbiegungen und Beschädigungen des<br />

Rechts, die ärgerlich, lästig, ungerecht und willkürlich sein<br />

können, jedoch kein solches Maß an Unrecht erreichen, dass<br />

Richter als Verbrecher gelten und in der Folge davon ihre<br />

Stellung verlieren müssen, sollten auch sanktioniert werden<br />

können 140 – aber verhältnismäßig. Diesem Problem ist der<br />

1. Strafsenat des OLG Naumburg aber ausgewichen, so dass<br />

es hier nicht erörtert zu werden braucht.<br />

2. Die bessere Lösung<br />

Angesichts der ohnehin richterfreundlichen Rechtsprechung<br />

zur Rechtsbeugung wäre es – unterstellt man den drei Familienrichtern<br />

entsprechende Charakterstärke und einen Hauch<br />

von Berufsehre – insgesamt nicht ausgeschlossen gewesen,<br />

dass sie sich zu den in der Hauptverhandlung erhobenen<br />

Vorwürfe doch geäußert hätten: Dann hätte es ein angemessenes<br />

Forum gegeben, in dem die OLG-Richter öffentlich<br />

hätten darlegen können, worin die Schwierigkeiten gerade<br />

weiterer Prüfung verschließt, abgesehen davon, daß Denkfehler<br />

oft auch den Abschluß eines langen Ringens um eine<br />

brauchbare Lösung bilden.“<br />

138<br />

Bemmann/Seebode/Spendel, ZRP 1997, 307 (308); Sowada,<br />

GA 1998, 175 (196); Lehmann, NStZ 2006, 127 (131);<br />

Schäfer, NJW 2000, 1996; Dallmeyer, GA 2004, 540 (552).<br />

139<br />

Scheffler, NStZ 1996, 67 (70); Doller, NStZ 1988, 219<br />

(220), der wohl auch hier das „Abscheuliche“ vermissen<br />

würde.<br />

140<br />

S. die bei Fn. 37 genannten Autoren; a.A. Fischer (Fn. 3),<br />

§ 339, Rn. 15b; der die Rechtsfriedensfunktion gefährdet<br />

sieht, und es für eine Zumutung für den Bürger und die Legitimität<br />

des Rechts hält, wenn z.B. ein unter Bewährung stehender<br />

Richter entscheidet – als ob der unausgeräumte Verdacht<br />

– wie in diesem Fall – und generell das Wissen um<br />

„bewusst unvertretbare(r) Verfahrensbehandlungen“, die dem<br />

Ansehen und der Autorität des Rechtsstaats abträglich sind –<br />

wie Fischer selbst, a.a.O., Rn. 4, schreibt, keine Zumutung<br />

sind. Für eine restriktive Anwendung auch Scheffler, NStZ<br />

1996, 70, der „Insichsprozesse(n)“ befürchtet und Pressionen<br />

für wirkungslos hält.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

158<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

dieses Falles gelegen haben, was ihre Motivation war, sich<br />

gegen Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof<br />

aufzulehnen, ihnen zu „trotzen“. Sie wären zudem als<br />

Menschen erschienen mit einem Gesicht, mit eigener Meinung,<br />

Motiven und Zweifeln oder eben Uneinsichtigkeit,<br />

Arroganz und Rechthaberei. Vielleicht wäre am Ende herausgekommen,<br />

dass sie lediglich Rechtsfortbildung 141<br />

betreiben wollten, und sich dabei ein bisschen im Ton vergriffen<br />

haben. Vielleicht wäre es auch ein Anlass gewesen,<br />

die Norm des § 339 StGB einer verfassungsgerichtlichen<br />

Prüfung zu unterziehen. 142<br />

3. Sperrwirkung<br />

Ein Gedanke, der schon zur Frage der Gleichbehandlung<br />

gehörte, ist der abschließende Vergleich mit der möglichen<br />

Strafbarkeit der Pflegeeltern. 143 Hätten sie sich mit dem Kind<br />

– wie der 14. Familiensenat vermeintlich immer nur dessen<br />

Wohl schützend 144 – z.B. ins Ausland abgesetzt und Görgülüs<br />

Umgangsrecht vereitelt, hätten sie sich wegen Kindesentziehung<br />

strafbar gemacht. 145 Hier haben drei Richter das Kind<br />

141<br />

Vgl. die Beispiele bei Scheffler, NStZ 1996, 67, 68 zu<br />

Entscheidungen des BGH (BGHSt 2, 317; 6, 394 [396]; 7,<br />

315; 10, 94 [97] und 375; 21, 44 [48]; 25, 10 [11]; 29, 311<br />

[313]); s. auch BGH NStZ 1993, 134 zu BVerfG 2 BvR<br />

1041/88 u. 2 BvR 78/89 mit zust. Anm.. Meurer m.w.N. dort<br />

Fn. 4; Krey, JR 1995, 221; Wolf, NJW 1994, 681 (687).<br />

142<br />

Ein durchaus interessanter Gedanke ist es daher, sich ein<br />

Vorlageverfahren gem. Art. 100 GG vorzustellen oder eine<br />

Revision und anschließend eine Verfassungsbeschwerde der<br />

verurteilten Richter. Vgl. Lamprecht, myops 2009, 7; Sowada,<br />

GA 1998, 196.<br />

143<br />

Dass der Staat ihnen mit amtlichem Größenwahn – unter<br />

Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG, 8 EMRK – also rechtswidrig<br />

– ein Kind zur Adoption angeboten und nach neun Jahren<br />

wieder weggenommen hat, ist ebenfalls höchst unanständig.<br />

Vgl. Verbeet, Spiegel, 24.12.2005, S. 40.<br />

144<br />

Der EGMR hat sehr klar auch einen Konflikt zwischen<br />

den Erwachsenen gesehen: Urt. v. 26.2.2004, Beschwerde-<br />

Nr. 74969/01 = NJW 2004, 3397, § 45: „rights and interests<br />

of the applicant and the rights of Mr and Ms B. and Christopher.“<br />

145<br />

Auch hier zeigen sich historische Parallelen: Der BGH<br />

hob den Freispruch einer Gestapo-Agentin auf, die Dr. Max<br />

Josef Metzger an die Gestapo verraten hatte, BGH NJW<br />

1956, 1486, fast vollständig auch in BGHSt 9, 302 (307 f.),<br />

wo der Satz: „Die Verurteilung des Dr. Ms. und die Vollstreckung<br />

des Todesurteils gegen ihn war daher eine vorsätzliche<br />

rechtswidrige Tötung unter dem Deckmantel der Strafrechtspflege.“<br />

fehlt. Wer Menschen an die Nazijustiz verraten hatte,<br />

konnte wegen Teilnahme am Mord strafbar sein. Einer der<br />

Richter (Kammergerichtsrat Rehse) wurde erst 1967 angeklagt<br />

und vom Kammergericht DRiZ 1967, 390, wegen Beihilfe<br />

zum Mord verurteilt. Der BGH NJW 1968, 1339, hob<br />

zwar auf mit der Begründung, Rehse könne nur Täter sein,<br />

stellte aber so hohe Anforderungen an den Vorsatz, dass das<br />

Kammergericht ihn freisprach. Rehse starb, bevor der BGH<br />

über die erneute Revision entschieden hatte, krit. Rasehorn,


Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

entzogen 146 – es passt sogar der Begriff Schreibtischtäter –<br />

und bleiben gut geschützt hinter der Sperrwirkung des Tatbestandes<br />

der Rechtsbeugung. Dass von den Rechten des Vaters<br />

als Nebenkläger nichts übrig bleibt, lässt ihn erneut in einer<br />

ihm all zu bekannten Rechtlosigkeit zurück.<br />

4. Zusammenfassung – Erosion des Rechtsstaats<br />

Die Kollegen des 1. Senats des OLG Naumburg haben mit<br />

ihrer Entscheidung dem Rechtsstaat einen Bärendienst erwiesen.<br />

Um mit Lamprecht zu sprechen: Der Rechtsstaat hat in<br />

dieser Sache zum wiederholten Mal seine Unschuld verloren,<br />

147 diesmal im Bereich des Strafrechts, wo er diese Unschuld<br />

angesichts des Eingeständnisses der gescheiterten<br />

Aufarbeitung der Nazi-Justiz vielleicht gerade erst erlangt<br />

hatte.<br />

Der Schluss ist einfach zu ziehen: Hat dieser Spruch Bestand,<br />

so kann durch die Justiz selbst – also durch das Handeln<br />

im geheimen Inneren jener Gremien, 148 die Recht sprechen<br />

sollen – verbrecherisches Unrecht begangen werden,<br />

ohne dass es dafür (belangbare) Täter gibt. Die Hüter des<br />

Gesetzes können als Gruppe das Gesetz straflos brechen,<br />

wenn sie danach nur schweigen. Das ist absurd bis zur Irrationalität<br />

149 und kommt einem rechtsstaatlichen Offenbarungseid<br />

gleich, denn nirgendwo ist die Ungerechtigkeit größer<br />

und erschreckender, als dort, wo sie im Gewande der Gerechtigkeit<br />

daherkommt. 150<br />

Um aber nicht so fatalistisch zu enden wie Lamprecht in<br />

seinem ersten Kommentar 151 , gilt es bescheidener gegenüber<br />

dem Rechtsstaat 152 zu sein: Görgülü wurde nicht hingerichtet,<br />

wer diese Skandalverfahren kritisiert, endet in Deutschland<br />

nicht wie eine russische Journalistin oder ein russischer<br />

Rechtsanwalt, und die Weisheit des sterbenden Talbot 153 gilt<br />

wohl in jeder Staatsform und Rechtsordnung. Und vor allem<br />

steht Naumburg nicht für das gesamte deutsche Recht. Schon<br />

das Amtsgericht Wittenberg – dort eine Einzelrichterin – hat<br />

NJW 1969, 457 m.w.N.; ausführlich Klug (Fn. 59), S. 242 ff;<br />

Lamprecht, NJW 1994, 562.<br />

146<br />

BVerfG 28.12.04 (Fn. 36).<br />

147<br />

Lamprecht, myops 2009, 9; ebenso Verbeet, DRiZ 2007,<br />

343; Strecker, BJ 2008, 378; Knapp, Frankfurter Rundschau<br />

– online, 12.01.09.<br />

148<br />

Krit. zur Heimlichkeit Mandla, Die Unterbrechung der<br />

strafrechtlichen Hauptverhandlung, 2005, S. 140 ff.<br />

149<br />

Dieterich, BJ 2007, 159; Schneider, AnwBl. 2004, 333<br />

schildert einen ganzen Katalog von Abwehrmechanismen der<br />

Gerichte.<br />

150<br />

Saliger (Fn. 14), S. 139; Scholderer (Fn. 3), S. 96: „trojanisches<br />

Pferd“.<br />

151<br />

Lamprecht, NJW 2007, 2746: „[…] die Oberlandesrichter<br />

haben irreparablen Schaden angerichtet. Rechts-Ungehorsam<br />

von dieser Qualität entwickelt unweigerlich seine Eigendynamik.<br />

Wer am Rechtsstaat zweifelt, muss heute nur das<br />

Stichwort ‚Naumburg‛ fallen lassen – und schon erstirbt<br />

jedem, der ihn verteidigen will, das Wort im Munde.“<br />

152<br />

Den Schneider, Festschrift für Christian Richter II zum 65.<br />

Geburtstag, 2006, S. 465, 480 im Niedergang begriffen sieht.<br />

153<br />

Schiller, Jungfrau von Orleans, III., 6.<br />

sich nicht der Willkür des 14. Familiensenats gebeugt, sondern<br />

unabhängig und die EGMR-Entscheidung berücksichtigend<br />

das Menschenrecht des Herrn Görgülü und seines Sohnes<br />

geschützt (auch sie wurde nicht abgesetzt).<br />

In einer Hinsicht sind die Naumburger Familienrichter<br />

aber auch ohne strafgerichtliche Verurteilung schon schwer<br />

gestraft: Denkt man sich nämlich ihr Wirken – jenseits aller<br />

strafrechtlichen Erwägungen – hinweg, hätte es kein Unrecht<br />

gegeben. Der 14. Senat war hier schlicht so überflüssig wie<br />

ein DDR-Grenzer ab dem 9.11.1989, die Richter allesamt zu<br />

nichts nutze! Derart über Jahre hinweg seine gesellschaftliche<br />

und staatspolitische Rolle zu verfehlen, ist eine unendliche<br />

Blamage. 154 Wer ermessen will, wie sehr sich die drei Richter<br />

lächerlich gemacht haben, und damit auch ein Stück den<br />

Richterstand und das deutsche Kindschaftsrecht, der möge<br />

die vom BVerfG gescholtenen Umgangsausschluss-Beschlüsse<br />

lesen, laut und mit Betonung und sich dabei vor Augen halten,<br />

dass das „überforderte“ und durch Görgülü „hochgradig<br />

gefährdete“ Kind 155 jetzt bei seinem Vater lebt, wie es das<br />

Grundgesetz, Art. 6 Abs. 1, 2 GG, für jeden normalen Menschen<br />

klar und verständlich formuliert, vorsieht. 156<br />

154<br />

Die das Verhalten im Strafverfahren noch vergrößert:<br />

Hauptberuflich über anderer Leute Familienleben zu bestimmen,<br />

ihnen mit staatlicher Autorität zu sagen, was gut und<br />

recht ist und gelten müsse, letztlich im intimen Bereich<br />

Schicksale festzulegen, aber zu feige zu sein, öffentlich dazu<br />

zu stehen – das muss beschämen, egal was § 136 Abs. 1 S. 2<br />

StPO zulässt.<br />

155<br />

Beschl. v. 9.7.2004, S. 6, 13.<br />

156<br />

Schon etwas komplizierter ausgedrückt: BVerfG – 1 BvR<br />

2275/08, Beschl. v. 20.10.2008, Rn. 15-17, 24.<br />

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159


Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von<br />

Verstößen<br />

Von Wiss. Mitarbeiterin Dr. Silke Hüls, Bielefeld<br />

I. Einleitung<br />

Der Richtervorbehalt wird immer wieder zum Diskussionsthema<br />

in Politik, Rechtsprechung und Literatur. Mehrere<br />

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts seit 2001<br />

rückten die Bedeutung des Richtervorbehalts im strafrechtlichen<br />

Ermittlungsverfahren wieder stärker in den Blickpunkt. 1<br />

Jüngst betonte der BGH in einer Entscheidung zur Verwertbarkeit<br />

von Ergebnissen einer Durchsuchung die Bedeutung<br />

des Richtervorbehalts als vorweggenommener Rechtsschutz<br />

des Beschuldigten und als Sicherung der Grundrechte im<br />

Ermittlungsverfahren. 2 Das BVerfG regte etliche in der Praxis<br />

zu ergreifende Maßnahmen an, die dem Richtervorbehalt<br />

auch zu größerer tatsächlicher Wirksamkeit verhelfen sollten.<br />

3 Gleichzeitig nutzt die Politik Richtervorbehalte als Mittel<br />

zur Gestaltung im Rahmen der Gesetzgebung. Die Erweiterung<br />

von Eingriffsbefugnissen der Ermittlungsbehörden<br />

wird in der Regel durch die Verknüpfung mit dem Richtervorbehalt<br />

abgesichert. Neue Eingriffsrechte für Polizei und<br />

BKA sollen unter den Vorbehalt der Genehmigung durch<br />

einen Richter gestellt werden; diskutiert wird z.B. für das<br />

BKA die Möglichkeit zu eröffnen, mittels sog. Trojaner Online-Durchsuchungen<br />

von Computern durchzuführen. 4<br />

Andererseits wird jedoch seit Jahren die praktische Wirkungslosigkeit<br />

des Richtervorbehalts beklagt. Welche Konsequenzen<br />

sind zu ziehen? Sollte man die praktische Ineffektivität<br />

zum Anlass nehmen, sich von dem bloßen „Palliativum“<br />

Richtervorbehalt konsequent zu verabschieden, Richtervorbehalte<br />

abzuschaffen und andere Formen der Kontrolle<br />

der Ermittlungstätigkeit zu etablieren oder sollte der Richtervorbehalt<br />

in der Praxis so gestärkt und durch spezielle Maßnahmen<br />

flankiert werden, die ihm zu tatsächlicher Durchsetzungskraft<br />

verhelfen könnten? Eine solche Maßnahme könnte<br />

die umfassende Annahme eines Beweisverwertungsverbotes<br />

bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt sein. Während<br />

zumindest die Literatur das Eingreifen des Verwertungsverbotes<br />

bei völligem Fehlen einer richterlichen Anordnung<br />

mehrheitlich befürwortet, steht nach herrschender Ansicht in<br />

Rechtsprechung und Literatur eine fehlerhafte richterliche<br />

Anordnung der Verwertung nicht entgegen. Sollte aber eine<br />

mangelhafte richterliche Anordnung nicht dieselben Konsequenzen<br />

nach sich ziehen wie eine fehlende?<br />

II. Die theoretische Bedeutung der Richtervorbehalte<br />

Richtervorbehalte sind das Mittel des Gesetzgebers, um in<br />

bestimmten, gesetzlich festgelegten Fällen eine vorbeugende<br />

Kontrolle der Ermittlungstätigkeit von Staatsanwaltschaft<br />

und Polizei zu gewährleisten und gelten als „Königsweg des<br />

1<br />

Grundlegend BVerfGE 103, 142; BVerfG NJW 2002, 1333.<br />

2<br />

BGHSt 51, 285 (292).<br />

3<br />

BVerfGE 103, 142 (152 f.).<br />

4<br />

Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der sog. Online-<br />

Durchsuchung s. BVerfG NJW 2008, 822.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

160<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Grundrechtsschutzes im Strafverfahren“. 5 Der Betroffene ist<br />

in der Regel nicht – zumindest nicht rechtzeitig – in der Lage,<br />

Rechtsschutz gegen die Ermittlungsmaßnahmen zu beantragen,<br />

da er aufgrund der Heimlichkeit, die oftmals Voraussetzung<br />

für den Erfolg der Ermittlungen ist, häufig gar nicht<br />

rechtzeitig Kenntnis erlangt. Die effektive Durchführung der<br />

Zwangsmaßnahmen erfordert zumeist ein verdecktes Vorgehen<br />

der Strafverfolgungsbehörden, denn Sachverhaltsermittlung<br />

und Beweissicherung können nur sachgerecht durchgeführt<br />

werden, wenn der Betroffene zuvor nicht gewarnt wurde.<br />

Um zu verhindern, dass belastendes Beweismaterial beseitigt<br />

werden kann, müssen die Strafverfolgungsbehörden<br />

schnell und überraschend einschreiten. Entweder hindert<br />

deshalb das Überraschungsmoment den Betroffenen, eine<br />

richterliche Überprüfung rechtzeitig zu veranlassen, so z.B.<br />

bei der Durchsuchung. Oder dem Beschuldigten bleibt selbst<br />

die Durchführung der Maßnahme verborgen, wie z.B. bei der<br />

Telefonüberwachung. Da zudem in die Rechte der Betroffenen<br />

ohne ausreichende Aufklärung des Sachverhalts und<br />

unter Umständen aufgrund einseitiger Sachdarstellung der<br />

Ermittlungsbehörden eingegriffen werden muss, erhöht sich<br />

dadurch die Gefahr einer Rechtsverletzung. 6 Die von einer<br />

Zwangsmaßnahme Betroffenen haben nur die Möglichkeit,<br />

gegen die Fortdauer oder nach Abschluss der Maßnahme zur<br />

Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit eine richterliche Entscheidung<br />

zu beantragen oder Beschwerde einzulegen, sofern sie<br />

überhaupt Kenntnis von der gegen sie gerichteten Maßnahme<br />

erlangen. Den Eingriff als solchen können sie keinesfalls<br />

mehr verhindern. Dem nachträglich angerufenen Richter<br />

verbleibt nur, die Illegalität der Maßnahme festzustellen. 7<br />

Dieses Rechtsschutzdefizit, das der Effektivität der Ermittlungen<br />

Rechnung trägt, soll durch die Einschaltung eines<br />

Richters vor Anordnung und Durchführung einer Zwangsmaßnahme<br />

ausgeglichen werden. 8<br />

Ein wesentlicher Grund, die Aufgabe der Kontrolle der<br />

Strafverfolgungsorgane dem Richter zu übertragen, liegt in<br />

der richterlichen Unabhängigkeit. Staatsanwaltschaft und<br />

Polizei sind zwar ebenso wie der Richter an das Gesetz gebunden<br />

(Art. 20 Abs. 3 GG), der Richter entscheidet jedoch<br />

frei von äußeren Weisungsmöglichkeiten als neutrale Instanz<br />

5<br />

Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 409; grundsätzlich<br />

zum Richtervorbehalt: Rabe von Kühlewein, Der<br />

Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozessrecht, 2001;<br />

Brüning, Der Richtervorbehalt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren,<br />

2005.<br />

6<br />

Eppinger, Die gerichtliche Überprüfbarkeit strafprozessualer<br />

Zwangsmaßnahmen, S. 9.<br />

7<br />

Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe,<br />

S. 13, 32; Hilger, in: Geppert (Hrsg.), Gedächtnisschrift<br />

für Karlheinz Meyer, S. 209, 221.<br />

8<br />

Ausführlich zur Entwicklung des Richtervorbehalts Hüls,<br />

Polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungstätigkeit,<br />

S. 282 ff.


Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

über einen von außen an ihn herangetragenen Sachverhalt,<br />

d.h. der Richter darf grundsätzlich nicht aus eigener Initiative<br />

tätig werden. Dieses Initiativverbot soll die Unparteilichkeit<br />

und Neutralität des Richters sicherstellen. 9 Insbesondere im<br />

strafprozessualen Ermittlungsverfahren ist anzunehmen, dass<br />

die Polizei und Staatsanwaltschaft – trotz ihrer strikten Bindung<br />

an das Gesetz – aufgrund des psychologischen Drucks,<br />

einen Täter präsentieren zu müssen, dazu verleitet werden,<br />

eher belastendes als entlastendes Material zu suchen. 10 Schon<br />

aufgrund ihres Antrags, eine Maßnahme gegen einen Verdächtigen<br />

durchzuführen, wird der Anschein der Parteilichkeit<br />

erweckt. Von den ermittlungsführenden Organen kann<br />

daher keine strikte Neutralität erwartet werden. 11 Auch praktisch<br />

erscheint es schwer vorstellbar, als Polizeibeamter oder<br />

Staatsanwalt den selbst erarbeiteten eigenen Tatverdacht auch<br />

selbst wieder in Frage zu stellen. Im Gegensatz dazu ist der<br />

Ermittlungsrichter nicht unmittelbar an der Aufklärung des<br />

Falles interessiert und kann daher neutral über einen Antrag<br />

entscheiden. Eine vorbeugende Kontrolle, um der „Gefahr<br />

eines selbstherrlichen Machtmissbrauchs der Ermittlungsbehörden“<br />

12 zu begegnen, ist mithin am besten durch den unabhängigen<br />

Richter gewährleistet.<br />

Auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellt<br />

der Richtervorbehalt eine Form vorweggenommenen Rechtsschutzes<br />

dar: „Der Richtervorbehalt zielt auf Kontrolle durch<br />

eine unabhängige und neutrale Instanz, der das Grundgesetz<br />

aufgrund ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit<br />

und strikter Unterwerfung unter das Gesetz zuschreibt, die<br />

Rechte des Betroffenen am besten wahren zu können.“ 13<br />

Deutlich betonte das Gericht diese Bedeutung des Richtervorbehalts<br />

auch im Urteil vom 8.4.2004 und führte ergänzend<br />

aus: „Das Grundgesetz geht davon aus, dass Richter aufgrund<br />

ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit und ihrer<br />

strikten Unterwerfung unter das Gesetz die Rechte der Betroffenen<br />

im Einzelfall am besten und sichersten wahren<br />

können. Wird die Durchsuchung regelmäßig ohne vorherige<br />

Anhörung des Betroffenen angeordnet, so soll die Einschaltung<br />

des Richters auch dafür sorgen, dass die Interessen des<br />

Betroffenen angemessen berücksichtigt werden (vgl. BVerfGE<br />

103, 142 [151]). Dies setzt eine eigenverantwortliche richterliche<br />

Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen voraus. Die richterliche<br />

Durchsuchungsanordnung ist keine bloße Formsache<br />

(vgl. BVerfGE 57, 346 [355]).“ 14<br />

Nicht zu verkennen ist aber auch, wie der Gesetzgeber das<br />

Instrument „Richtervorbehalt“ im Rahmen der Gesetzgebung<br />

einsetzt. Hier gewinnt der Richtervorbehalt noch eine spezielle<br />

weitere Bedeutung. Der effektivste Schutz des Betroffenen<br />

läge nämlich gewiss darin, den geplanten staatlichen Eingriff<br />

in seine Rechte zu unterlassen. Deshalb erhöht der Richter-<br />

9<br />

Volk, Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2008, § 6 Rn. 7.<br />

10<br />

Prechtel, Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft zum Ermittlungsrichter,<br />

S. 131.<br />

11<br />

BVerfGE 103, 142 (154).<br />

12<br />

Amelung, zitiert bei Asbrock, KritV 1997, 255 (256).<br />

13<br />

BVerfG NJW 2002, 1333; BVerfGE 103, 142 (151) (zum<br />

Richtervorbehalt bei der Durchsuchung).<br />

14<br />

BVerfG StV 2005, 643 (643 f.).<br />

vorbehalt nicht nur die Effektivität des Schutzes der Bürgerrechte,<br />

sondern zugleich die Effektivität des staatlichen Eingriffsinstrumentariums:<br />

Maßnahmen, die andernfalls möglicherweise<br />

unzulässig wären, können mit der „Sicherung“<br />

durch einen Richtervorbehalt dennoch vorgenommen werden.<br />

15<br />

III. Richtervorbehalte in der Praxis<br />

Im krassen Widerspruch zu dieser dem Richtervorbehalt auch<br />

von der Rechtsprechung zugewiesenen Bedeutung steht seine<br />

praktische Wirkungslosigkeit, die bereits seit Jahrzehnten<br />

beklagt wird. Eine wesentliche, seit Jahren in der Literatur<br />

gerügte Schwachstelle ist die extensive Nutzung der sog.<br />

Eilkompetenzen durch Staatsanwaltschaft und Polizei; insbesondere<br />

bei der Anordnung von Durchsuchungen. Eine effektive<br />

Strafverfolgung erfordert in bestimmten Fällen schnelle<br />

Entscheidungen, bei denen der Staatsanwaltschaft nicht ausreichend<br />

Zeit bleibt, die Eingriffserlaubnis eines Ermittlungsrichters<br />

einzuholen. Diesem Problem wird dadurch Rechnung<br />

getragen, dass Staatsanwaltschaft und zum Teil die Polizei<br />

auch bei dem Richter vorbehaltenen Zwangsmaßnahmen<br />

ermächtigt sind, bei Gefahr im Verzug ohne richterliche<br />

Anordnung einzugreifen. Die Voraussetzungen dieser Ausnahmekompetenz<br />

sind dann erfüllt, wenn die durch eine<br />

vorherige Richtereinschaltung bedingte Verzögerung den<br />

Zweck der Eingriffsmaßnahme vereiteln könnte. 16 Systembedingt<br />

entscheiden dabei die Strafverfolgungsbehörden selbst<br />

über ihre eigene Zuständigkeit und mithin über die Durchbrechung<br />

der primären Anordnungskompetenz des Richters.<br />

Anders gesagt: Das zu kontrollierende Organ entscheidet<br />

über das Eingreifen der Kontrollinstanz. 17 Konsequenz einer<br />

Inanspruchnahme der Eilkompetenz durch die Strafverfolgungsorgane<br />

ist, dass die Prüfung durch einen unabhängigen<br />

Richter vor Anordnung der Maßnahme und damit die Kontrolle<br />

der Staatsanwaltschaft und Polizei entfällt. 18 Eine erste<br />

rechtstatsächliche Untersuchung kam in den 1970er Jahren zu<br />

dem Ergebnis, dass Durchsuchungen zum überwiegenden<br />

Teil durch Staatsanwaltschaft und Polizei aufgrund ihrer<br />

Eilkompetenz angeordnet wurden und so das gesetzlich vorgesehene<br />

Regel-Ausnahme-Verhältnis in der Praxis ins Gegenteil<br />

verkehrt wird. Weitere Untersuchungen bestätigten<br />

dieses Resultat ebenso wie Berichte aus der Praxis. Die Einräumung<br />

einer Eilkompetenz für Staatsanwaltschaft und<br />

Polizei erweist sich daher als Achillesferse des Grundrechtsschutzes.<br />

Unter Betonung der Bedeutung des Richtervorbehalts<br />

mahnte das BVerfG im Jahre 2001 an, die Einhaltung des<br />

gesetzlich vorgesehenen Regelfalles der richterlichen Anordnung<br />

auch in der Praxis zu gewährleisten. Mit seiner grund-<br />

15 Gusy, JZ 1998, 167 (169).<br />

16 Vgl. BVerfGE 51, 97 (111); BVerwGE 28, 285 (291);<br />

Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland,<br />

Kommentar, 10. Aufl. 2009, Art. 13 Rn. 9; Herzog, in:<br />

Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 53. Aufl. 2009,<br />

Art 13 Rn. 14.<br />

17 Hüls (Fn. 8), S. 267.<br />

18 Hüls (Fn. 8), S. 267.<br />

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161


Silke Hüls<br />

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legenden Entscheidung 2001 wandte sich das BVerfG gegen<br />

die Ausschaltung des Richters als Kontrollinstanz im Ermittlungsverfahren.<br />

19 Es mahnt eine Umkehr der bereits seit den<br />

1970er Jahren in der Literatur beklagten Tendenz an, durch<br />

extensiven Gebrauch der Ausnahmekompetenzen den Richtervorbehalt<br />

zu untergraben. Die Überprüfung, ob die Voraussetzungen<br />

für eine Durchsuchung gegeben sind, beschränkt<br />

sich bei Annahme von Gefahr im Verzug auf die<br />

Kontrolle durch die Polizei, eventuell auch durch die Staatsanwaltschaft.<br />

Polizei und Staatsanwaltschaft genießen aber<br />

keine richterliche Unabhängigkeit, und von ihnen kann – im<br />

Hinblick auf ihre Aufgabe, beim Verdacht von Straftaten den<br />

Sachverhalt zu erforschen – auch nicht, wie bereits erläutert,<br />

strikte Neutralität erwartet werden. 20 Wortlaut und Systematik<br />

des Art. 13 Abs. 2 GG, der Prüfungsmaßstab der Entscheidung<br />

des Bundesverfassungsgerichts war, belegen, so<br />

das Gericht, dass die richterliche Durchsuchungsanordnung<br />

die Regel und die nichtrichterliche die Ausnahme sein soll. 21<br />

Damit auch in der Masse der Alltagsfälle sichergestellt<br />

ist, dass die „Verteilung der Gewichte“ 22 , nämlich die Regelzuständigkeit<br />

des Richters, gewahrt bleibt, sind nach Ansicht<br />

des Bundesverfassungsgerichts besondere tatsächliche Vorkehrungen<br />

notwendig. Kernpunkt der Entscheidung ist, dass<br />

das Bundesverfassungsgericht 2001 einen Schlussstrich unter<br />

die über 100jährige herrschende Annahme der Rechtsprechung<br />

zog, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme der<br />

Eilkompetenz, die Gefahr im Verzug, sei nachträglich nicht<br />

zu überprüfen, da den anordnenden Strafverfolgungsbehörden<br />

ein Beurteilungsspielraum zustünde. 23 Ein unüberprüfbarer<br />

Beurteilungsspielraum 24 widerspricht nach Ansicht des<br />

Bundesverfassungsgerichts dem Sinn des Richtervorbehalts<br />

als präventives Rechtsschutz- und Kontrollinstrument. Ist<br />

trotz organisatorischer Vorkehrungen die Einschaltung des<br />

Richters vor der Durchsuchungsanordnung nicht möglich, so<br />

obliegt es dem eingreifenden Organ, durch ausreichende<br />

Dokumentation in den Akten eine nachträgliche Überprüfbarkeit<br />

sicherzustellen. 25 Diese Entscheidung hat die Praxis<br />

der Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte hinsichtlich Organisation<br />

und Durchführung von Bereitschaftsdiensten tiefgreifend<br />

verändert.<br />

In der Folge wurden Eildienste an Gerichten verstärkt<br />

eingerichtet und insgesamt die organisatorische Situation<br />

verbessert. Allerdings entstand in der Folgezeit ein neues<br />

Problem: das Problem des „unwilligen Richters“. Z.T. erklärten<br />

Richter vor Beginn gegenüber dem diensthabenden<br />

Staatsanwalt, er solle im Falle einer Ermittlungsmaßnahme<br />

seine Eilkompetenz nutzen und ihn nicht vorher kontaktieren,<br />

19 BVerfGE 103, 142.<br />

20 BVerfGE 103, 142 (154).<br />

21 BVerfGE 103, 142 (151).<br />

22 BVerfGE 95, 1 (15).<br />

23 So grundlegend RGSt 33, 334.<br />

24 Vgl. auch BVerfG NStZ 2003, 319.<br />

25 So auch BGH NStZ 2003, 273.<br />

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162<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

da er sich außer Stande sähe, ohne Akten und ohne Sekretärin<br />

einen ordnungsgemäßen Beschluss zu erlassen. 26<br />

Aber auch in den Fällen, in denen Richter vor Anordnung<br />

und Durchführung der Ermittlungsmaßnahmen eingeschaltet<br />

wurden, erwies sich der theoretisch vorgesehene Grundrechtsschutz<br />

als defizitär. 27<br />

IV. Das Beweisverwertungsverbot als Konsequenz fehlender<br />

richterlicher Beteiligung vor der Durchsuchung<br />

Offen blieb auch nach der wegweisenden Entscheidung des<br />

BVerfG aus dem Jahre 2001, welche Konsequenzen ein Verstoß<br />

gegen die Vorgaben des Richtervorbehalts haben sollte.<br />

In der Literatur haben sich zu der allgemeinen Frage, ob<br />

prozessuale Fehler bei der Beweisgewinnung und -erhebung<br />

zu einem Verwertungsverbot für die aufgefundenen Beweismittel<br />

führen, verschiedene Lehren entwickelt. Die Vertreter<br />

der sog. Schutzzwecklehren entscheiden nach der ratio legis<br />

der verletzten Norm; bei einer Verletzung von Vorschriften<br />

gerade zum Schutz des Beschuldigten bestehe ein Verwertungsverbot.<br />

28 Nach Ansicht der Vertreter der modernen<br />

Abwägungslehren, insbesondere in der Ausprägung der<br />

„normativen Fehlerfolgenlehre“ 29 , müssen für verschiedene<br />

Fallgruppen Abwägungskriterien entwickelt werden. 30 Dabei<br />

soll nach der normativen Fehlerfolgenlehre das Eingreifen<br />

eines Verwertungsverbotes im Wesentlichen von der Folgenschwere,<br />

von der durch den Fehler verursachten Interessenverletzung<br />

und der Notwendigkeit einer prozessualen Fehlerkorrektur<br />

in Gestalt gerade eines Verwertungsverbotes abhängen.<br />

31<br />

Die Rechtsprechung geht prinzipiell davon aus, dass dem<br />

Strafverfahrensrecht ein allgemein geltender Grundsatz, dass<br />

jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales<br />

Verwertungsverbot nach sich zieht, fremd ist.<br />

Vielmehr sei die Frage jeweils nach den Umständen des<br />

Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem<br />

Gewicht des Verstoßes, unter Abwägung der widerstreiten-<br />

26<br />

Zum Streit ausführlich Beichel/Kieninger, NStZ 2003, 10;<br />

Krehl, NStZ 2003, 461; Hofmann, NStZ 2003, 230.<br />

27<br />

Zwei rechtstatsächliche Untersuchungen der letzten Jahre<br />

zeigten erhebliche Mängel der richterlichen Beschlüsse, die<br />

auf eine unzureichende richterliche Kontrolle schließen lassen:<br />

Backes/Gusy, Wer kontrolliert die Telefonüberwachung?,<br />

2003; Albrecht/Dorsch/Krüpe, Rechtswirklichkeit<br />

und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation,<br />

2003. Ausführlicher hierzu unter V.2.<br />

28<br />

Vgl. die Übersicht bei Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen<br />

Juristentag, C 54 ff; Beulke, ZStW 103 (1991), 657<br />

(663 f.).<br />

29<br />

Rogall, JZ 1996, 944; sowie klarstellend zu Jahn, Gutachten<br />

C für den 67. Deutschen Juristentag; Rogall, JZ 2008, 818<br />

(820 f., 824).<br />

30<br />

Vgl. die Übersicht bei Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen<br />

Juristentag, C 58 ff.<br />

31<br />

Rogall, JZ 2008, 818 (824).


Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

den Interessen zu entscheiden. 32 Dieser von Jahn als „Vielfaktorenmodell“<br />

33 bezeichneter Ansatz, der sich mittlerweile<br />

unabhängig von den in Literatur vertretenen Abwägungslehren<br />

entwickelt, 34 birgt die Gefahr, dass einzelne Abwägungsgesichtspunkte<br />

„in zum Teil willkürlich anmutender Weise“<br />

ein- und ausgeblendet werden können. 35 Nach Amelung bietet<br />

dieses Modell „eine Lizenz für den Richter, in freiem Umgang<br />

mit dem Gesetz nach seinen […] Überzeugungen zu<br />

entscheiden, wessen Nutzen und wie viel davon maßgeblich<br />

sein soll“. 36<br />

Als Reaktion auf dieses von ihm kritisierte Vorgehen der<br />

Rechtsprechung schlägt Jahn in seinem Gutachten für den 67.<br />

Deutschen Juristentag vor, die allgemein für Fragen der Beweisverwertung<br />

von der Rechtsprechung genutzte Abwägung<br />

der Interessen zu systematisieren und von der Grundannahme<br />

auszugehen, dass nicht die Unverwertbarkeit eines Beweismittels<br />

begründungsbedürftig sei. 37 Seiner Ansicht nach<br />

zwinge vielmehr der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts dazu,<br />

für die Beweisverwertung eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage<br />

vorzuweisen. Nur wenn eine solche existiere und<br />

die Verwertung im konkreten Fall von der Norm gedeckt sei,<br />

sei eine Verwertung zulässig. Als Ermächtigungsgrundlage<br />

sieht Jahn § 244 Abs. 2 StPO; die Frage der Verwertbarkeit<br />

soll auf der Rechtsfolgenseite des § 244 Abs. 2 StPO im<br />

Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gelöst werden. 38<br />

Verdient sein Ansatz, nicht die Unverwertbarkeit, sondern<br />

die Verwertbarkeit eines Beweismittels bedürfe der Rechtfertigung,<br />

auch grundsätzlich Zustimmung, 39 so bleibt die Abwägung<br />

der Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

bestehen; er verlagert letztendlich die Probleme der<br />

Abwägung nur auf die Rechtsfolgenseite. Allein die stärkere<br />

Systematisierung vermag aber das Grundproblem des Abwägungserfordernisses<br />

nicht zu lösen. 40 Denn jegliche Interessenabwägung<br />

als Voraussetzung des Verwertungsverbots<br />

führt nämlich dazu, die Entscheidung des Gesetzgebers, der<br />

als Ergebnis einer abstrakten Abwägung der gegenläufigen<br />

Interessen die gesetzlichen Voraussetzungen der Eingriffsrechte<br />

festgelegt hat, zu einem „bloßen Verhaltensvorschlag“<br />

zurückzustufen. 41<br />

Hinsichtlich der Folgen von Verstößen gegen den Richtervorbehalt<br />

bei der Durchsuchung stellte die ursprünglich<br />

herrschende Ansicht der Rechtsprechung allein die materiellen<br />

Voraussetzungen der Durchsuchung in den Vordergrund<br />

32<br />

BVerfG NJW 2006, 2684 (2686); BVerfG NStZ 2006, 46<br />

(47); BGHSt 51, 285; BGHSt 243, 249; OLG Hamburg NJW<br />

2008, 2597 (2599).<br />

33<br />

Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, C 45.<br />

34<br />

Trüg/Habetha, NStZ 2008, 481 (486).<br />

35<br />

Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, C 14.<br />

36<br />

Amelung, in: Schulz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Günter<br />

Bemmann zum 70. Geburtstag, 1997, S. 522.<br />

37<br />

Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, C 66.<br />

38<br />

Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, C 71.<br />

39<br />

So auch König/Harrendorf, AnwBl. 2008, 566 (568).<br />

40<br />

König/Harrendorf, AnwBl. 2008, 566 (568).<br />

41<br />

Wohlers, StV 2008, 434 (435); Fezer, Grundfragen der<br />

Beweisverwertungsverbote, S. 21, 30 f.<br />

und fragte danach, ob der Richter bei rechtzeitiger Einschaltung<br />

die Durchsuchung angeordnet hätte – in diesem Fall<br />

käme ein Verwertungsverbot für die im Rahmen der Durchsuchung<br />

erlangten Beweise nicht in Betracht, da lediglich ein<br />

unbeachtlicher Formfehler vorläge. 42 Die fehlende richterliche<br />

Anordnung führe jedenfalls dann nicht zu einem Beweisverwertungsverbot,<br />

„wenn dem Erlass der Durchsuchungsanordnung<br />

rechtliche Hindernisse nicht entgegengestanden<br />

hätten und die tatsächlich sichergestellten Gegenstände als<br />

solche der Verwertung als Beweismittel zugänglich waren“. 43<br />

Dieses Abstellen auf den hypothetischen Ermittlungsverlauf<br />

führt jedoch in jedem Fall dazu, dass der Richtervorbehalt<br />

generell zu einer – unerheblichen – Formalie herabsinkt und<br />

seine Nichtbeachtung nicht sanktionierbar ist. Ausnahmen<br />

wollte die Rechtsprechung nur dann anerkennen, wenn der<br />

Richter vor Anordnung der Durchsuchung bewusst und gezielt<br />

umgangen wurde; so stellte der BGH 2003 fest, dass ein<br />

Verwertungsverbot jedenfalls dann nicht in Betracht komme,<br />

wenn nicht willkürlich gehandelt worden sei. 44<br />

In der Literatur sind sowohl die Notwendigkeit eines Beweisverwertungsverbots<br />

bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt<br />

als auch Umfang und theoretische Grundlage eines<br />

solchen Verbots umstritten. Traditionell Ablehnung erfährt<br />

die Ansicht, die das Beweisverwertungsverbot aus Gründen<br />

der Disziplinierung fordert (sog. Disziplinierungstheorie).<br />

Diese Theorie sieht in einem Verwertungsverbot ein angemessenes<br />

Mittel, einen Angehörigen des Strafverfolgungsapparats<br />

zu bestrafen, wenn er bei den Ermittlungen schuldhaft<br />

eine Verfahrensnorm verletzt. 45 Nach vorherrschender Ansicht<br />

widerspricht diese Theorie deutscher Rechtstradition.<br />

Kritik ruft besonders hervor, dass Fehler der Strafverfolgungsbehörden<br />

im Ermittlungsverfahren hinsichtlich des<br />

konkreten Einzelfalles zu Lasten der Allgemeinheit gingen,<br />

wenn aufgrund eines Verwertungsverbots ein Schuldiger<br />

freizusprechen wäre. Profitieren von diesem Verwertungsverbot<br />

würden also letztendlich nur Schuldige – ein Wertungswiderspruch.<br />

46<br />

Nach Ansicht von Amelung/Mittag ist die „Alles-odernichts“-Lösung<br />

eines Beweisverwertungsverbots der Situation<br />

bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt nicht angemessen.<br />

Sinnvoller wäre es ihrer Ansicht nach, das Risiko der<br />

Verwertung nach Beweislastregeln zu verteilen. 47 Ausgehend<br />

42<br />

Vgl. BGH NJW 1989, 1741 (1744). Dies galt zumindest für<br />

diejenigen Ermittlungsmaßen, die eine Eilzuständigkeit der<br />

Polizei vorsahen; nicht z.B. für §§ 100a, 100b Abs. 1 StPO.<br />

43<br />

BGH NStZ 1989, 375 (376).<br />

44<br />

BGHR StPO § 105 Abs. 1 Durchsuchung 4.<br />

45<br />

Dazu Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozess, S. 52 ff;<br />

Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß,<br />

S. 17 ff; zum amerikanischen Recht Herrmann, in: Vogler<br />

u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70.<br />

Geburtstag, Bd. 2, 1985, S. 1291 (1297 ff.); Schmid, Strafverfahren<br />

und Strafrecht in den Vereinigten Staaten, S. 119.<br />

46<br />

Zur Kritik an der Disziplinierungstheorie Dencker (Fn. 45),<br />

S. 52 ff.<br />

47<br />

Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 (616 f.). Diese Konzeption<br />

sollte die Lücke im Schutzbereich, die bei Missachtung<br />

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163


Silke Hüls<br />

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von der Prämisse, dass die Strafverfolgungsbehörden vor<br />

Durchführung der Durchsuchung einem Ermittlungsrichter<br />

alle Fakten vortragen müssen, die die Ermächtigungstatbestände<br />

der §§ 102, 103 StPO verlangen und sie somit die<br />

Beweislast für das Vorliegen dieser Tatsachen tragen, könne<br />

die Tatsache, dass sie ohne vorherige richterliche Genehmigung<br />

die Wohnung eines Bürgers durchsuchten, sie nicht von<br />

der Pflicht entbinden, das Vorliegen der materiellen Durchsuchungsvoraussetzungen<br />

zu beweisen. Wendet sich also ein<br />

Angeklagter in der Hauptverhandlung gegen die Verwertung<br />

der ohne richterliche Genehmigung gewonnenen Beweismittel,<br />

müsse nun die Staatsanwaltschaft beweisen, dass die<br />

Durchsuchung den materiellen Anforderungen entsprach. 48<br />

Mehrheitlich wird jedoch in der Literatur das Fehlen einer<br />

erforderlichen richterlichen Anordnung als schwerwiegender<br />

Verstoß eingestuft, der ein striktes Verwertungsverbot nach<br />

sich ziehen muss. 49<br />

Einen überzeugenden Begründungsansatz für die Konsequenz<br />

des Verwertungsverbots bei rechtswidriger Nichteinschaltung<br />

des Richters vor der Durchsuchung wählte nun der<br />

BGH im April 2007. Die Verwertung von Beweismitteln, die<br />

durch eine ohne richterliche Anordnung rechtswidrig durchgeführte<br />

Durchsuchung gewonnen worden waren, ist deshalb<br />

untersagt, weil der Staat aus rechtswidrigem Handeln seiner<br />

Organe keine Vorteile ziehen darf. 50 Ein auf den Schutz des<br />

Rechts verpflichtetes Gemeinwesen widerspricht sich selbst,<br />

wenn seine Repräsentanten auf einen Rechtsbruch mit einem<br />

Rechtsbruch reagieren und es sich ein derartiges Vorgehen<br />

seiner Amtswalter nutzbar macht. 51 Zwar beschränkt der<br />

BGH dieses Verwertungsverbot explizit auf „Sonderfälle<br />

schwerwiegender Rechtsverletzungen“ 52 , diese Einschränkung<br />

kann aber keine Bedeutung gewinnen. 53 Entscheidend<br />

ist ausschließlich, dass die Rechtsgrundlagen der Beweiserhebung<br />

nicht eingehalten wurden, die Beweisgewinnung also<br />

ein rechtswidriges Verhalten der Ermittlungsorgane darstellt<br />

– ob der Verstoß gegen die Rechtsgrundlage schwerwiegend<br />

ist oder nicht, hat keinen Einfluss auf die Rechtswidrigkeit<br />

als solche.<br />

Folge dieser Begründung ist dann aber auch, dass ein<br />

Beweisverwertungsverbot nicht auf Fälle der willkürlichen<br />

Umgehung bzw. sonstiger besonders schwerer Verstöße<br />

gegen die Einschaltung des Richters beschränkt sein kann,<br />

des Richtervorbehalts bei der von Amelung begründeten<br />

Lehre von den Informationsrechten (Fn. 45) bestand, schließen;<br />

Amelung, JR 2008, 327.<br />

48 Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 (616).<br />

49 Wohlers, StV 2008, 434 (436); Fezer, StV 1989, 290 (295);<br />

Jahn/Dallmeyer, NStZ 2005, 297 (303); Ransiek, StV 2002,<br />

565 (567 ff.); Krehl, JR 2001, 491 (494); Asbrock, StV 2001,<br />

322 (324); Krekeler, NStZ 1993, 263 (264); Nelles, Kompetenzen<br />

und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung,<br />

1980, S. 260.<br />

50 BGHSt 51, 285 (291).<br />

51 So schon Amelung (Fn. 45), S. 20 ff. Vgl. auch Roxin,<br />

Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 24 Rn. 46.<br />

52 BGHSt 51, 285 (291).<br />

53 So zutreffend Ransiek, JR 2007, 436 (437 f.).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

164<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

sondern jeden Verstoß gegen diese formale Voraussetzung<br />

erfassen muss. Denn für jeden Verstoß gegen die Anforderungen<br />

des Richtervorbehalts gilt, dass sich die staatliche<br />

Strafverfolgung andernfalls auf rechtswidriges Handeln ihrer<br />

Amtswalter stützte. 54 Diese Konsequenz ziehen dem Urteil<br />

folgende gerichtliche Entscheidungen jedoch nicht. Obwohl,<br />

wie Prittwitz hervorhebt, besonders bemerkenswert an dieser<br />

Entscheidung des BGH ist, dass der BGH ein gängiger Praxis<br />

durchaus entsprechendes Verhalten der Strafverfolger als<br />

„bewusste Missachtung des Richtervorbehalts“ subsumiert 55<br />

und damit die Grenzen des Beweisverwertungsverbots weit<br />

steckt, zeigen die in der Folge ergangenen Entscheidungen<br />

die Tendenz, deutlich zwischen Rechtswidrigkeit der Beweisgewinnung<br />

und der Frage der Verwertbarkeit dieser<br />

Beweise zu differenzieren und für die Entscheidung über die<br />

Verwertbarkeit am Kriterium der Abwägung bei nicht offensichtlich<br />

grober Missachtung des Richtervorbehalts festzuhalten.<br />

56<br />

Dem Gedanken, aus rechtswidrigen Handlungen – soweit<br />

sie die Rechte der Informationsbeherrschung im Rahmen der<br />

Beweiserhebung betreffen 57 – dürften im Strafverfahren keine<br />

nachteiligen Konsequenzen für den Angeklagten folgen,<br />

wird dann aber auch die von Amelung/Mittag favorisierte<br />

Lösung über eine Beweislastverteilung 58 nicht gerecht. Steht<br />

fest, dass der Richter hätte eingeschaltet werden müssen,<br />

kann es gar nicht mehr auf die materiellen Voraussetzungen –<br />

und damit auch nicht auf ihre Beweisbarkeit ankommen – da<br />

ansonsten die Ausschaltung des Richters wiederum durch<br />

Vorliegen der materiellen Voraussetzungen „geheilt“ und so<br />

zu einer bloßen Formalie degradiert würde.<br />

Die vom BGH (in BGHSt 51, 285) gewählte Begründung<br />

steht auch mit der von Gesetzgeber und Rechtsprechung dem<br />

Richtervorbehalt zugemessenen Bedeutung in Einklang.<br />

Betont man die herausragende Rolle des Richtervorbehalts<br />

als vorbeugenden Rechtsschutz zur Grundrechtssicherung im<br />

Ermittlungsverfahren, so ist es nur konsequent, Verstöße<br />

durch den Verlust des Beweismittels zu sanktionieren. Dabei<br />

zielt die Sanktionierung nicht auf eine Bestrafung oder Disziplinierung<br />

der ermittelnden Beamten – dafür könnten disziplinarrechtliche,<br />

aber auch strafrechtliche oder zivilrechtliche<br />

Sanktionen eher geeignet sein 59 – sondern auf die Sicherung<br />

des in GG und StPO verankerten Aufgaben- und Kontrollsystems,<br />

auf dessen Interessenabwägung die Legitimation<br />

des Strafverfahrens gründet. 60<br />

54<br />

Ausführlich Ransiek, JR 2007, 436 (437 f.).<br />

55<br />

Prittwitz, StV 2008, 486 (491).<br />

56<br />

BGH StV 2008, 121 (123); OLG Hamburg, StraFo 2008,<br />

158 (161). Überblick zur Rechtsprechung bei Nichtbeachtung<br />

des Richtervorbehalts bei Wohlers, StV 2008, 434 (436 ff.).<br />

57<br />

Dies gilt daher z.B. nicht für § 81a StPO bei Eingriffsvornahme<br />

durch einen Nichtarzt.<br />

58<br />

Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614.<br />

59<br />

Vgl. Ransiek, StV 2002, 565 (567 f.).<br />

60<br />

Ausführlich zum Legitimationszusammenhang von Strafrechtstheorie<br />

und Strafverfahren Müssig, GA 1999, 119,<br />

insbes. 121 ff.


Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Die in GG und StPO aufgestellten formellen und materiellen<br />

Anforderungen an die Beweiserhebung im Strafverfahren<br />

grenzen den Untersuchungsgrundsatz ein und sichern<br />

die verfahrensrechtliche Stellung der Prozessbeteiligten,<br />

indem sie ihnen Informationsverfügungsrechte gewähren. 61<br />

Werden Beweismittel unter Verstoß gegen diese Anforderungen<br />

gewonnen, verletzt dies das Informationsverfügungsrecht<br />

des Betroffenen. Ausschlaggebend für die Annahme eines<br />

Beweisverwertungsverbots ist die auf das Verfahren bezogene<br />

Kontrollfunktion des Richtervorbehalts. Der Richtervorbehalt<br />

dient dem Schutz des Beschuldigten in seinem verfahrensrechtlichen<br />

Status, denn „Aufgabe gerade der strafprozessualen<br />

Richtervorbehalte ist es, der generellen Gefahr<br />

vorzubeugen, dass – insbesondere bei ‚Überraschungsangriffen’<br />

– Grundrechtspositionen durch verspäteten Schutz entwertet<br />

werden. Der Richter wird hier – im Rahmen seiner<br />

Anordnungskompetenz – zum Garanten der verfahrensrechtlichen<br />

Stellung des Betroffenen: es geht um präventiven<br />

Rechtsschutz – der auch durch nachträgliche Verlaufshypothesen<br />

nicht ersetzt werden kann.“ 62 Aufgrund dieser besonderen<br />

Funktion des Richtervorbehalts lässt auch ein Verstoß<br />

gegen diese Formvorschrift eine rechtswidrige Lage entstehen,<br />

die das Recht des Beschuldigten auf Beseitigung der<br />

Folgen begründet.<br />

V. Erweiterung des Beweisverwertungsverbots auf sonstige<br />

Verstöße gegen die gesetzlichen Voraussetzungen des<br />

Richtervorbehalts – fehlende richterliche Prüfung und<br />

fehlerhafte Beschlüsse<br />

Die Umgehung des Richters durch Staatsanwaltschaft und<br />

Polizei vor der Durchführung der Durchsuchung stellt, wie<br />

bereits unter III. angedeutet, nicht die einzige Schwachstelle<br />

des Systems „Richtervorbehalt“ dar. Weitere Problempunkte<br />

sind die unzureichende richterliche Prüfung vor Erlass des<br />

Beschlusses sowie mangelhafte Begründungen desselben.<br />

Anders als die fehlende, aber notwendige richterliche Anordnung<br />

soll nach h.M. aber die „nur“ fehlerhafte kein Verwertungsverbot<br />

auslösen. 63 Diese Differenzierung überzeugt<br />

nicht.<br />

Zwei empirische Studien aus dem Jahr 2003 zur Telefonüberwachung<br />

lassen vermuten, dass auch bei vorheriger Beteiligung<br />

eines Richters der Richtervorbehalt tatsächlich die<br />

ihm zugedachte Kontrollfunktion nicht erfüllt. Fehlerhafte<br />

und unvollständige Beschlüsse sind die Indizien, die auf eine<br />

nicht erfolgte Kontrolle hinweisen. 64<br />

Die Studie des Max Planck Instituts (Albrecht u.a.)<br />

kommt zu dem Ergebnis, dass die Begründungen der richterlichen<br />

Anordnungsbeschlüsse abhängig von der inhaltlichen<br />

Qualität der vorhergegangenen Entscheidung sind. Diese<br />

Abhängigkeit war „im Guten wie im Schlechten“ festzustellen.<br />

Ein Beschluss wurde besonders dann entsprechend dem<br />

61<br />

Müssig, GA 1999, 119 (130 f.).<br />

62<br />

Müssig, GA 1999, 119 (134).<br />

63<br />

BGH wistra 1997, 107 (108); Amelung, NJW 1991, 2533<br />

(2537); Schoreit, NStZ 1999, 173 (174 f.).<br />

64<br />

Vgl. hierzu die rechtstatsächlichen Untersuchungen von<br />

Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 27) und Backes/Gusy (Fn. 27).<br />

Antrag ausgefertigt, wenn die Staatsanwaltschaft ihren Antrag<br />

substantiell begründet hatte. 65 Die Verf. dieser Studie<br />

weisen deutlich darauf hin, dass der <strong>Inhalt</strong> einer Begründung<br />

keine Aussage über die Vornahme und Tiefe einer tatsächlichen<br />

Kontrolle treffen kann. Jedoch entfalteten diese Erkenntnisse<br />

eine gewisse Indizwirkung, wenn man auch Äußerungen<br />

befragter Ermittlungsrichter zugrunde lege, die nahezu<br />

einstimmig auf ihre Arbeitsbelastung verwiesen und eine<br />

Prioritätensetzung zugunsten „schwerwiegenderer Eingriffe“<br />

erläuterten. 66<br />

Auch Backes und Gusy (Universität Bielefeld) stellen in<br />

ihrer Untersuchung fest, dass Richter unvollständige Antragsbegründungen<br />

der Staatsanwaltschaft in ihre Beschlüsse<br />

übernehmen, anstatt sie zu vervollständigen. In den meisten<br />

Fällen, in denen die Antragsbegründungen zum Beispiel<br />

unzureichende Ausführungen zum Tatverdacht enthielten,<br />

wiesen auch die richterlichen Beschlüsse dieses Defizit auf. 67<br />

Legte die Staatsanwaltschaft ihrem Antrag einen Beschlussentwurf<br />

bei, wurde dieser lediglich unterzeichnet. Von 65<br />

Fällen, in denen der Staatsanwalt einen Beschlussentwurf<br />

seinem Antrag beigefügt hat, hat der Richter in 60 Fällen den<br />

Antrag ohne Änderung unterschrieben. Dies sehen Backes<br />

und Gusy vor allem deshalb als Indiz für eine mangelhafte<br />

Kontrolle durch den Richter, weil diese Beschlussentwürfe<br />

überdurchschnittlich fehlerhaft waren. Nur 11,8 % waren<br />

vollständig, enthielten also Ausführungen zu allen gesetzlich<br />

vorgeschriebenen Tatbestandsmerkmalen. 68 Werden in der<br />

üblichen Form gefasste staatsanwaltliche Anträge auch weit<br />

weniger häufig vom Richter wörtlich übernommen, so zeigte<br />

sich aber auch hier eine Abhängigkeit der Qualität des richterlichen<br />

Beschlusses von der Vollständigkeit des staatsanwaltlichen<br />

Antrags. 69<br />

Grundsätzlich ist in diesen Fällen die Form gewahrt, der<br />

Richter wurde rechtzeitig eingeschaltet. Fände aber tatsächlich<br />

keine inhaltliche Prüfung durch den Richter statt, würde<br />

der Richter zum bloßen „Staatsnotar“, der lediglich die Anträge<br />

der Staatsanwaltschaft „ausfertigt“ oder die praktischer<br />

Weise schon in Beschlussform formulierten Eingaben unterschreibt.<br />

Dem Sinn und Zweck des Richtervorbehalts als<br />

vorbeugender Rechtsschutz durch ein unabhängiges Organ<br />

wird ein solches Vorgehen dann ebenso wenig gerecht wie<br />

die komplette Ausschaltung des Richters. Deshalb ist es entscheidend,<br />

dass das BVerfG zusätzlich besondere Anforderungen<br />

an richterliche Durchsuchungsbeschlüsse formuliert<br />

hat, die sicherstellen sollen, dass der Beschluss seine Begrenzungsfunktion<br />

im Rahmen der Durchsuchung erfüllen kann,<br />

die aber auch die eigene Auseinandersetzung des Richters mit<br />

den zugrunde liegenden Tatsachen erkennen lassen müssen. 70<br />

65<br />

Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 27), S. 244 f.<br />

66<br />

Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 27), S. 446.<br />

67<br />

Backes/Gusy (Fn. 27), S. 123 ff.<br />

68<br />

Backes/Gusy (Fn. 27), S. 47 f.<br />

69<br />

Backes/Gusy (Fn. 27), S. 49.<br />

70<br />

BVerfGE 103, 142; BVerfG, Beschl. v. 5.5.2008 – 2 BvR<br />

1801/06, Rn. 16. Ausführlich zu den Anforderungen an den<br />

richterlichen Beschluss Schäfer, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/Hilger/Ignor<br />

(Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die<br />

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Silke Hüls<br />

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Bislang geht die h.M. in Rechtsprechung und Literatur<br />

aber dennoch davon aus, dass Beweismittel, die bei Durchsuchungen<br />

aufgefunden wurden, denen ein unvollständiger oder<br />

fehlerhafter Durchsuchungsbeschluss zugrunde lag, verwertbar<br />

sind. 71<br />

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu<br />

rechtswidrigen Durchsuchungsbeschlüssen beantworten ausschließlich<br />

Fragen der Grundrechtsverstöße; etwaige sonstige<br />

Folgen – wie insbesondere das Eingreifen eines Verwertungsverbots<br />

– bleiben grundsätzlich offen, da sie nicht in<br />

den Aufgabenbereich des Bundesverfassungsgerichts fallen.<br />

Am Rande hat das BVerfG allerdings festgestellt, der Beschlagnahme<br />

stehe regelmäßig nicht entgegen, dass der Gegenstand<br />

aufgrund einer rechtsfehlerhaften Durchsuchung<br />

erlangt worden sei, außer bei einem „besonders schwer wiegenden<br />

Verstoß“. 72<br />

Wie auch in Fällen fehlender Einschaltung des Richters<br />

vor der Durchsuchung prüft der BGH grundsätzlich hypothetisch,<br />

ob der Durchsuchungsanordnung rechtliche Hindernisse<br />

entgegengestanden hätten. Zudem geht der BGH davon<br />

aus, dass Formfehler der Durchsuchungsanordnung im Beschwerdeverfahren<br />

dadurch kompensiert werden können,<br />

dass die Durchsuchungsanordnung im Wege der Abhilfe<br />

aufgehoben wird und den rechtlich selbständigen Entscheidungen<br />

über die Beschlagnahme ein neuer, vollständiger<br />

Beschluss zugrunde gelegt wird. 73<br />

Auf „völliges Unverständnis“ – so Schoreit – müssten<br />

Forderungen stoßen, bei anscheinend unvollständig formulierten<br />

bzw. begründeten Durchsuchungsanordnungen Beweisverwertungsverbote<br />

hinsichtlich der aufgefundenen Beweismittel<br />

anzunehmen. 74 Erweise sich die Maßnahme im<br />

Ergebnis als berechtigt, weil nämlich Beweismittel gefunden<br />

wurden, und liegen ordentliche Beschlagnahmebeschlüsse<br />

vor, sei der Fehler geheilt. 75 Man müsse sich vergegenwärtigen,<br />

dass Fälle unberechtigter Annahme von Verwertungsverboten<br />

das allgemeine Rechtsempfinden zutiefst verunsicherten,<br />

zumal sie mit dem Gebot der Gleichbehandlung<br />

vergleichbarer Fälle nicht vereinbar seien. 76<br />

Jedoch ist ein Richter, der den Sachverhalt nicht eigenständig<br />

prüft, genauso ineffektiv für den Grundrechtsschutz<br />

wie ein Richter, der von Staatsanwaltschaft und Polizei durch<br />

Nutzung ihrer Eilkompetenz gar nicht beteiligt wird. Deshalb<br />

ist eine fehlende inhaltliche Prüfung ebenso rechtswidrig wie<br />

eine gänzlich entfallende. Nur durch eine richterliche Begründung<br />

des Beschlusses kann die richterliche Prüfung<br />

selbst dokumentiert und überprüfbar werden. Mängel der<br />

Begründung und einfache Abzeichnung staatsanwaltlicher<br />

Anträge müssen daher ebenso zu einem Beweisverwertungs-<br />

Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 3,<br />

25. Aufl. 2004, § 105 Rn. 37 ff.<br />

71<br />

BGH wistra 1997, 107 (108); Amelung, NJW 1991, 2533<br />

(2537); Schoreit, NStZ 1999, 173 (174 f.).<br />

72<br />

BVerfG, Beschl. v. 15.7.1998 – 2 BvR 446/98.<br />

73<br />

BGH StV 2002, 113.<br />

74<br />

Schoreit, NStZ 1999, 173 (176).<br />

75<br />

Schoreit, NStZ 1999, 173 (176).<br />

76<br />

Schoreit, NStZ 1999, 173 (176).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

166<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

verbot führen wie die komplette Ausschaltung des Richters.<br />

Zutreffend betont daher Krekeler, dass ein schwerwiegender<br />

Grundrechtsverstoß in Form fehlender Bestimmtheit des<br />

Durchsuchungsbeschlusses nicht durch die weitere Verwertung<br />

der infolge des fehlerhaften Beschlusses erlangten Beweismittel<br />

aufrechterhalten werden darf. 77<br />

Insbesondere die Feststellung des Tatverdachts verlangt<br />

eine Begründung, der zu entnehmen ist, warum der Richter<br />

die Grenze des Anfangsverdachts als überschritten ansah, da<br />

feststehende allgemeingültige Kriterien für die Annahme des<br />

Verdachts nicht existieren. Denn der für die Anordnung einer<br />

Durchsuchung erforderliche Tatverdacht lässt sich zu bloßen<br />

Vermutungen nicht scharf abgrenzen. 78 Es liegt gerade in der<br />

Natur eines Verdachts, dass die Umstände, die ihn begründen,<br />

ihn nach Abschluss des Verfahrens möglicherweise<br />

nicht mehr bestätigen. Eine Entscheidung über den Tatverdacht<br />

nach abstrakten, exakten Kriterien ist daher kaum möglich;<br />

die Verdachtsgewinnung kann sich immer nur auf eine<br />

Beurteilung im Einzelfall stützen. 79<br />

Diese Beurteilung der Verdachtsvoraussetzungen durch<br />

ein unabhängiges Organ erlangt deshalb entscheidende Bedeutung<br />

für den präventiven Grundrechtsschutz. Da aber<br />

auch dem Richter als unabhängigem Organ exakte Kriterien<br />

zur Abgrenzung des Tatverdachts von unverdächtigem Verhalten<br />

fehlen, kann allein seine Begründung ausschlaggebend<br />

sein; sie verleiht seiner Beurteilung Plausibilität. Die richterliche<br />

Entscheidung muss durch Abwägung aller für und wider<br />

einen Verdacht sprechenden Gründe nachvollziehbar<br />

werden. Deshalb ist die Begründung eben keine bloße Formalie,<br />

denn nur durch sie kann sichergestellt werden, dass eine<br />

Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Ermittlungseingriffs<br />

stattgefunden hat und der Eingriff durch die<br />

Festlegungen im Beschluss begrenzt wird. 80<br />

Eine eigenständige Bewertung und Begründung durch<br />

den Richter erfordert auch das Kriterium der Verhältnismäßigkeit.<br />

Die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit setzt voraus,<br />

dass der Richter besondere Kenntnisse von und die notwendige<br />

Erfahrung mit der Ermittlungstätigkeit hat, um eigenverantwortlich<br />

Alternativen prüfen zu können.<br />

Da nur durch die richterliche Begründung dokumentiert<br />

werden kann, dass der Richter seiner Kontrollfunktion durch<br />

Abwägung aller Gesichtspunkte gerecht geworden ist, ist<br />

diese Begründung auch nicht in der Abhilfeentscheidung oder<br />

der Entscheidung des Beschwerdegerichts nachholbar; dies<br />

würde dem Sinn der präventiven Kontrolle widersprechen. 81<br />

77<br />

Krekeler, NStZ 1993, 263 (263, 265).<br />

78<br />

BGHSt 41, 30.<br />

79<br />

Ausführlich Ransiek, StV 2002, 565 (569).<br />

80<br />

Ransiek, StV 2002, 565 (570). Vgl. jetzt auch BVerfG,<br />

Beschl. v. 5.5.2008 – 2 BvR 1801/06, Absatz-Nr. 16: „Dass<br />

der Ermittlungsrichter diese Eingriffsvoraussetzungen eigenverantwortlich<br />

[…] geprüft hat, muss in dem Beschluss zum<br />

Ausdruck kommen. Es ist zu verlangen, dass ein dem Beschuldigten<br />

angelastetes Verhalten geschildert wird, das den<br />

Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt.“<br />

81<br />

BVerfG NJW 2004, 3171; BVerfG StV 2000, 465; LG<br />

Halle wistra 2008, 280; LG Magdeburg, Urt. v. 2.8.2007 –


Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Aufgrund dieser entscheidenden Bedeutung der richterlichen<br />

Begründung ist die Ausdehnung des Verwertungsverbots<br />

auf Fälle fehlender oder fehlerhafter Beschlussbegründung<br />

konsequent und geboten. Die Überwindung der Vorstellung<br />

von der richterlichen Begründung als bloßer Formalie<br />

und die Flankierung mittels Beweisverwertungsverbots als<br />

Folge der beschriebenen Verstöße bietet eine Möglichkeit,<br />

die Effektivität des Richtervorbehalts in der Praxis zu vergrößern,<br />

was angesichts seiner theoretischen Bedeutung dringend<br />

geboten ist – zumal echte Alternativen bislang nicht<br />

existieren.<br />

VI. Erweiterung des Beweisverwertungsverbots auf sonstige<br />

Richtervorbehalte<br />

Greift ein Beweisverwertungsverbot daher bei allen – nicht<br />

gänzlich unerheblichen – Fehlern des Durchsuchungsbeschlusses<br />

ein, so stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die<br />

Konsequenz des Beweisverwertungsverbots nur für den verfassungsrechtlich<br />

geregelten Richtervorbehalt im Rahmen der<br />

Durchsuchung (Art. 13 Abs. 2 GG) gilt, oder ob diese Grundsätze<br />

auch auf sonstige, einfach gesetzlich geregelte Richtervorbehalte<br />

übertragen werden können. Dass nur die Richtervorbehalte<br />

vor Anordnung einer Durchsuchung und einer<br />

Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) in die Verfassung<br />

aufgenommen worden sind, hat historische Gründe. Aufgrund<br />

der Erfahrungen insbesondere während der NS-Zeit<br />

haben die Väter des Grundgesetzes Richtervorbehalte für die<br />

Durchsuchung und die Freiheitsentziehung festgeschrieben. 82<br />

Später geschaffene oder erst später an praktischer Relevanz<br />

gewonnene Eingriffsrechte, die unter Richtervorbehalt stehen,<br />

wurden einfachgesetzlich in der StPO geregelt. Diesen<br />

kommt aber keine geringere Bedeutung zu; die durch diese<br />

Richtervorbehalte abgesicherten Eingriffsrechte können mitunter<br />

schwerwiegendere Eingriffe in Grundrechte darstellen<br />

als die zwar i.d.R. überraschende, aber doch offene Hausdurchsuchung.<br />

Zu denken ist z.B. an die heimliche Telefonüberwachung,<br />

Datenspeicherungen, DNA-Untersuchungen.<br />

Die Möglichkeiten des Einsatzes technischer Überwachungsmaßnahmen<br />

sowie des Missbrauchs dieser Maßnahmen<br />

waren zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Verfassung<br />

noch nicht abzusehen. Ein qualitativer Unterschied<br />

hinsichtlich der Schwere des Grundrechtseingriffs besteht<br />

24 Qs 19/07; LG Berlin wistra 2004, 319; vgl. auch Ransiek,<br />

StV 2002, 565 (570). Vgl. auch BVerfG, Urt. v. 31.10.2007 –<br />

2 BvR 1346/07, Rn. 15 zur Dokumentation von Gefahr im<br />

Verzug: „Auch die fehlende Dokumentation der Gründe für<br />

die Annahme der Gefährdung des Untersuchungszwecks bei<br />

der Annordnung von Zwangsmitteln durch Polizei oder<br />

Staatsanwaltschaft darf nicht durch das zur Überprüfung<br />

berufene Gericht durch Verwendung einer ihm erst nachträglich<br />

zugänglich gemachten Stellungnahme der Ermittlungsbehörden<br />

ersetzt werden, da dies eine Nachbesserung der zu<br />

kontrollierenden hoheitlichen Akte darstellte, welche die<br />

präventive Funktion des Richtervorbehalts leerlaufen ließe.“<br />

82 Ostendorf/Brüning, JuS 2001, 1063 (1065).<br />

daher zwischen diesen einzelnen Richtervorbehalten nicht. 83<br />

Auch den einfachgesetzlich geregelten Richtervorbehalten<br />

kommt dieselbe grundrechtssichernde Kontrollaufgabe zu<br />

wie den Richtervorbehalten des Art. 13 Abs. 2 GG und<br />

Art. 104 Abs. 2 GG. Dienen diese Richtervorbehalte also<br />

demselben Zweck wie die verfassungsrechtlich normierten,<br />

muss auch für sie derselbe Maßstab gelten. 84 Die Erwägung,<br />

dass der Staat aus rechtswidrigem Handeln seiner Organe<br />

keinen Nutzen ziehen darf, 85 trifft auf die einfachgesetzlich<br />

geregelten Richtervorbehalte ebenso zu. Deshalb muss auch<br />

in diesen Fällen ein Verstoß gegen die Vorschriften des Richtervorbehalts<br />

ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen.<br />

VII. Zur Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots<br />

Die Begründung des Beweisverwertungsverbots, der Staat<br />

dürfe aus rechtswidrigem Verhalten von Staatsanwaltschaft<br />

und Polizei keinen Nutzen ziehen, hat aber noch weitere<br />

Konsequenzen. Denn mit dieser Begründung muss eine<br />

Missachtung des Richtervorbehalts oder ein sonstiger Verstoß<br />

gegen dessen gesetzliche Voraussetzungen dazu führen,<br />

dass die im Rahmen der rechtswidrigen Durchsuchung gewonnenen<br />

Informationen in gar keiner Weise im Strafverfahren<br />

genutzt werden dürfen. 86 Dies schließt dann auch z.B.<br />

solche Beweismittel ein, die erst aufgrund von Hinweisen im<br />

Rahmen der Durchsuchung gefunden wurden. Das Beweisverwertungsverbot<br />

entfaltet also eine Fernwirkung. 87<br />

Die Anerkennung einer Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten<br />

ist in Deutschland seit jeher umstritten. 88 Diejenigen,<br />

die eine Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten<br />

ablehnen, verweisen vor allem auf die kriminalpolitischen<br />

Folgen. Es liege ihrer Ansicht nach im öffentlichen Interesse,<br />

eine möglichst vollständige Wahrheitserforschung im Strafprozess<br />

zu gewährleisten. 89 Die Effektivität der Strafrechts-<br />

83<br />

Brüning, HRRS 2007, 250 (255); Amelung, NStZ 2001,<br />

337 (342).<br />

84<br />

Talaska, Der Richtervorbehalt, S. 134. Das BVerfG geht in<br />

seinem Urt. v. 28.7.2008 – 2 BvR 784/08, Rn 10, von der<br />

Gleichwertigkeit des Richtervorbehalts in § 81a StPO mit<br />

dem verfassungsrechtlich geregelten Richtervorbehalt bei der<br />

Durchsuchung aus; vgl. auch OLG Stuttgart NStZ 2008, 238.<br />

Ausführlich zum Richtervorbehalt bei § 81a StPO Prittwitz,<br />

StV 2008, 486 sowie speziell zur Frage der Eilkompetenz bei<br />

Blutentnahmen nach Trunkenheitsfahrten Heß, NJW-Spezial<br />

2008, 297; Fickenscher/Dingelstadt, NStZ 2009, 124; dagegen<br />

Gefahr im Verzug grds. in diesen Fällen bejahend Brocke/Herb,<br />

StraFo 2009, 46.<br />

85<br />

BGHSt. 51, 285 (291).<br />

86<br />

Ransiek, JR 2007, 436 (438).<br />

87<br />

Ransiek, JR 2007, 436 (438).<br />

88<br />

Ausführlich zum Problem der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten<br />

im Strafverfahren Mergner, Fernwirkung<br />

von Beweisverwertungsverboten, 2005; Neuhaus, NJW<br />

1990, 1221 f.; Reineke, Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten,<br />

1990.<br />

89<br />

Überblick bei Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen<br />

Juristentag, C 92 ff; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung,<br />

Kommentar, 51 Aufl. 2009, Einl. Rn. 57 m.w.N.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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167


Silke Hüls<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

pflege würde zudem über Gebühr eingeschränkt. 90 Auch sieht<br />

man den allgemeinen Rechtsgüterschutz in Gefahr, denn<br />

sowohl unter spezial- als auch unter generalpräventiven Aspekten<br />

erschiene eine Nichtverurteilung aufgrund eines Verfahrensfehlers<br />

als verfehlt. Außerdem sei es praktisch nahezu<br />

unmöglich, tatsächlich vorhandenes Wissen nicht zu nutzen.<br />

91 Überdies sei die Überprüfung der Kausalität, wenn<br />

festgestellt werden müsste, ob das mittelbar erlangte Beweismittel<br />

wirklich aufgrund des Hinweises gefunden worden<br />

sei, der aus der unzulässigen Beweiserhebung resultierte,<br />

schwierig. 92 Stützte man die Fernwirkung zudem auf den<br />

Gedanken der Disziplinierung der Ermittlungsbehörden, so<br />

wird dagegen – wie auch schon bei der Frage der Entstehung<br />

eines Beweisverwertungsverbots – eingewandt, dass diese<br />

Disziplinierungsform nicht dem deutschen Recht entspreche;<br />

im Übrigen bestehe auch kein innerer Zusammenhang zwischen<br />

dem Unrecht des Beschuldigten und dem Unrecht der<br />

Verfolgungsbehörden. Das Beamtenrecht enthalte zur Disziplinierung<br />

genügend Rechtsbehelfe. 93<br />

Der BGH hat bislang eine Fernwirkung abgelehnt, da es<br />

zum einen nicht hinnehmbar sei, dass durch einen Verfahrensfehler<br />

„das gesamte Strafverfahren lahm gelegt wird“;<br />

zum anderen sei „eine solche Begrenzung der Auswirkung<br />

eines Verfahrensfehlers [...] zu einer wirksamen Verbrechensbekämpfung<br />

auch deshalb erforderlich, weil sich kaum<br />

jemals feststellen lässt, ob die Polizei den Zeugen ohne den<br />

Verstoß nicht auch gefunden hätte“. 94<br />

Für die Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots<br />

spricht aber, dass ansonsten der Zweck des Beweisverwertungsverbots,<br />

im Widerspruch zur StPO erlangte Informationen<br />

nicht in den Strafprozess einzuführen, vereitelt würde.<br />

Urteilssprüche dürfen nach zutreffender Ansicht nicht mit<br />

dem Makel belastet sein, die Überführung des Beschuldigten<br />

sei nur durch rechtswidrige Maßnahmen möglich gewesen. 95<br />

Nichts stellt ein Staatswesen stärker in Frage als eine Pflichtverletzung<br />

bei der Befolgung der eigenen Gesetze. 96 Letztlich<br />

könnten Verfahrensvorschriften, deren Verletzung aufgrund<br />

der möglichen mittelbaren Verwertung der gewonnenen Informationen<br />

keine Folgen nach sich zögen, konsequenterweise<br />

gestrichen werden. Damit im Einklang steht die Forderung<br />

des BGH, der Staat dürfe seine Urteile nicht auf rechtswidrig<br />

gewonnene Informationen stützen. Dies kann sich dann aber<br />

nicht nur auf das unmittelbar gewonnene Beweismittel beschränken,<br />

sondern muss alle in diesem Zusammenhang<br />

gewonnenen Informationen betreffen.<br />

Für eine Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots bei<br />

Umgehung des Richtervorbehalts spricht auch die Einordnung<br />

der Beweisverwertungsverbote als Sicherung der Informationsverfügungsrechte<br />

der Prozessbeteiligten. In jeder<br />

90 Kramer, Jura 1988, 520 (524).<br />

91 Baumann, Diskussionsbeitrag, Diskussion des 46. DJT –<br />

Bd. 2, Sitzungsberichte,1966, F 108-F 112.<br />

92 Neuhaus, NJW 1990, 1221 (1222).<br />

93 Zusammenfassend m.w.N. Mergner (Fn. 88), S. 51 f.<br />

94 BGHSt 34, 365; vgl. auch BGHSt 51, 1 (8).<br />

95 Amelung, NJW 1991, 2533 (2538 f.).<br />

96 Nüse, JR 1966, 281 (284).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

168<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

prozessualen Nutzung des unrechtmäßig erlangten Beweismittels<br />

realisiert sich die Beeinträchtigung des Informationsverfügungsrechts.<br />

97 Beruhen die Verwertungsverbote auf<br />

dem Prinzip der Folgenbeseitigung, ergibt sich eine Fernwirkung,<br />

weil der Beschuldigte so zu stellen ist, wie er stünde,<br />

wenn nicht rechtswidrig in sein Informationsbeherrschungsrecht<br />

eingegriffen worden wäre. 98 Die Grenzen des Beweisverwertungsverbots<br />

lassen sich nach Müssig nach den Kriterien<br />

der objektiven Zurechnung bestimmen: „Entscheidend<br />

ist, ob sich in der prozessualen Verwertung des mittelbaren<br />

Beweismittels dasjenige für die Verfahrensstellung des Betroffenen<br />

relevante – unerlaubte Risiko – verwirklicht, das<br />

durch die unmittelbare Beweiserhebung bzw. -verwertung<br />

geschaffen wurde, [...] also der Weg zum mittelbaren Beweismittel<br />

sich auf Informationen stützte, die sämtlich dem<br />

Verwertungsverbot unterfielen.“ 99<br />

Schließlich ist den bisher nicht quantifizierbaren kriminalpolitischen<br />

Bedenken entgegenzuhalten, dass Verwertungsverbote<br />

lediglich zum Ausschluss einzelner Beweis(-ketten)<br />

und nicht zu einem allgemeinen Verfahrenshindernis<br />

führen. 100<br />

VIII. Konsequenzen für das Strafverfahren und Einschränkungen<br />

des Beweisverwertungsverbots<br />

Wesentliche Befürchtung bei Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots<br />

als Konsequenz des Verstoßes gegen die<br />

Vorgaben des Richtervorbehalts und insbesondere bei weitergehender<br />

Anerkennung der Fernwirkung dieses Verstoßes<br />

ist das Risiko, einen Schuldigen freisprechen zu müssen, weil<br />

aufgrund eines Fehlers zu Beginn des Ermittlungsverfahrens<br />

keine verwertbaren Beweise existieren. Dieses Risiko besteht.<br />

Häufig wird es allerdings nicht so sein, dass allein die<br />

z.B. im Rahmen einer rechtswidrigen Durchsuchung gewonnenen<br />

Beweise ausschließlich prozessentscheidend sind.<br />

Zukünftig mag die Rechtsfolge des Beweisverwertungsverbotes<br />

zudem tatsächlich disziplinierend auf die beteiligten Ermittlungsorgane<br />

wirken und die Rechtsstaatlichkeit im Ermittlungsverfahren<br />

stärken. Und schließlich folgt die Einschränkung<br />

der Ermittlungsmöglichkeiten bereits aus der<br />

Entscheidung des Gesetzgebers, Ermittlungseingriffe durch<br />

strikte Formalien zu begrenzen. Letztendlich ist dies eine<br />

Folge und Notwendigkeit der Stärkung freiheitssichernder<br />

Kontrollmechanismen im Ermittlungsverfahren. 101<br />

Dennoch sind gewisse Ausnahmen vom Beweisverwertungsverbot<br />

und seiner Fernwirkung zu machen. Eine Ausnahme<br />

sollte z.B. für den Fall gelten, dass sicher feststeht,<br />

dass die Ermittlungsbeamten das Beweismittel völlig unabhängig<br />

von dem Verfahrensfehler auf jeden Fall gewonnen<br />

hätten. 102 Zu diesem Ergebnis gelangt man auch über die<br />

97<br />

Müssig, GA 1999, 119 (137).<br />

98<br />

Amelung, NJW 1991, 2533 (2538).<br />

99<br />

Müssig, GA 1999, 119 (137).<br />

100<br />

Müssig, GA 1999, 119 (137), Fn. 65.<br />

101<br />

Ausführlich zur Kontrolle der Ermittlungstätigkeit Hüls<br />

(Fn. 8).<br />

102<br />

Beispiel zum Fall „Weimar“ bei Beulke, ZStW 103 (1991),<br />

657 (675).


Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Kriterien der objektiven Zurechnung, da sich in einer solchen<br />

Verwertung gerade nicht das durch die fehlerhafte Beweisgewinnung<br />

geschaffene Risiko verwirklicht. 103 Ferner ist eine<br />

erneute richterliche Kontrolle entbehrlich, wenn bereits eine<br />

richterliche Entscheidung vorliegt und sich die tatsächlichen<br />

Gegebenheiten nicht geändert haben. Eine Verwertung ist<br />

also z.B. möglich, wenn eine richterlich angeordnete Durchsuchung<br />

unterbrochen und ohne erneuten richterlichen Beschluss<br />

fortgesetzt wurde, sofern zwischenzeitlich keine<br />

Änderung der Sachlage eingetreten ist. 104 Eine weitere Ausnahme<br />

gilt für den Fall, dass die einzige rechtmäßige Entscheidung<br />

des Richters der Erlass des Beschlusses gewesen<br />

wäre, sein Entscheidungsspielraum also auf Null reduziert<br />

war. Nur in diesem Fall ist die richterliche Prüfungskompetenz<br />

bedeutungslos, daher sind ausnahmsweise allein die<br />

materiellen Anforderungen ausschlaggebend. 105<br />

IX. Fazit<br />

Die Bedeutung des Richtervorbehalts als vorweggenommener<br />

Rechtsschutz im Ermittlungsverfahren verbietet es, Verstöße<br />

gegen diese formale Voraussetzung vieler Ermittlungsmaßnahmen<br />

folgenlos zu lassen. Daher ist der Entscheidung des<br />

BGH vom 18.4.2007 uneingeschränkt zuzustimmen, in der<br />

ein Beweisverwertungsverbot für den Fall eines schwerwiegenden<br />

Verstoßes gegen die Vorschriften des Richtervorbehalts<br />

bei der Durchsuchung angenommen wird. Darüber<br />

hinaus muss aber grundsätzlich jeder Verstoß gegen die Voraussetzungen<br />

des Richtervorbehalts ein Beweisverwertungsverbot<br />

auslösen, weil das Urteil ansonsten immer auf rechtswidrigem<br />

Handeln staatlicher Organe fußte. 106 Eine Abwägung<br />

ist nicht mehr durchzuführen, da diese Abwägung bereits<br />

durch den Gesetzgeber erfolgt ist, der das Eingriffsrecht<br />

an bestimmte formale Voraussetzungen geknüpft hat. Eine<br />

Abwägung, die an die Schwere des Deliktsvorwurfs anknüpfte,<br />

führte zudem zu dem Ergebnis, dass im Bereich der<br />

Schwerstkriminalität Verstöße gegen die Anforderungen an<br />

die Beweiserhebung immer folgenlos blieben – für diesen<br />

Bereich könnten daher faktisch die Grenzen der Beweiserhebungsrechte<br />

der StPO außer Kraft gesetzt werden. 107<br />

Wünschenswert wäre aber eine Systematisierung der Eingriffsrechte<br />

der StPO und ihrer formalen Anforderungen, die<br />

auch der Praxis eine rechtmäßige Anwendung erleichterte.<br />

Eingriffsrechte und dazugehörige Richtervorbehalte sollten<br />

einer kritischen Überprüfung durch den Gesetzgeber unterzo-<br />

103<br />

Vgl. oben VII.<br />

104<br />

Ransiek, StV 2002, 565 (570).<br />

105<br />

Ransiek, StV 2002, 565 (570).<br />

106<br />

Zu den wenigen Ausnahmen s.o. unter VIII. Anders jedoch<br />

die Rechtsprechung, die an der Differenzierung zwischen<br />

Rechtswidrigkeit der Beweisgewinnung und der Frage<br />

des Verwertungsverbots bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt<br />

festhält, vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.7.2008 – 2 BvR<br />

784/08 m.w.N.<br />

107<br />

So auch Müssig, GA 1999, 119 (142). Vgl. auch Amelung<br />

(Fn. 45), S. 9; Amelung (Fn. 36), S. 522. A.A. Rogall, JZ<br />

2008, 818 (820).<br />

gen werden, insbesondere bevor über neue – unter Richtervorbehalt<br />

zu stellende – Eingriffsrechte nachgedacht wird.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

169


Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

170<br />

B u c h r e z e n s i o n<br />

Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten,<br />

Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007, 400 S., € 84,-<br />

Arndt Sinn, mittlerweile Inhaber eines Lehrstuhl an der Universität<br />

Osnabrück, verfolgt mit seiner 2007 erschienenen,<br />

exakt 400 Seiten starken Habilitationsschrift „Straffreistellung<br />

aufgrund von Drittverhalten“ das Ziel, den „Grundstein<br />

für eine machttheoretische Verbrechenstheorie zu legen“<br />

(Vorwort). Während in anderen Wissenschaftsdisziplinen wie<br />

etwa der Philosophie oder der Soziologie bereits zahlreiche<br />

machttheoretische Untersuchungen und Analysen betrieben<br />

wurden, waren in der Strafrechtslehre bislang allenfalls „Spuren<br />

der Macht“ (vgl. S. 143) erkennbar: Zum einen stößt man<br />

bei aufmerksamer Lektüre der Vorschriften des Strafgesetzbuchs<br />

vereinzelt auf den Begriff „Macht“ (vgl. vor allem<br />

§§ 93 ff.) und die Rechtsprechung griff zur Darstellung oder<br />

Begründung von Über- und Unterordnungsverhältnissen<br />

bisweilen auf ihn zurück. Zum anderen wurde der Terminus<br />

in der Lehre nicht selten zur Bestimmung der Täterschaft<br />

herangezogen und einige namhafte Strafrechtswissenschaftler,<br />

wie etwa Roxin, Bottke und Schlösser, stellten im Rahmen<br />

ihrer Beteiligungskonzeptionen unverkennbar einen<br />

engen Bezug zwischen Täterschaft und Macht her. Auf diese<br />

Aspekte weist Sinn im Vorfeld der Begründung seiner machttheoretischen<br />

Konzeption auch ausdrücklich hin (S. 45-51<br />

und S. 143-164). Dennoch bleibt festzuhalten, dass dem Faktor<br />

„Macht“ bisher von niemandem eine eigenständige oder<br />

gar universelle Bedeutung im Rahmen der Strafrechtsdoktrin<br />

beigemessen wurde. Betrachtet man die Zielsetzung Sinns<br />

vor diesem Hintergrund, wird deutlich, welch bemerkenswert<br />

kühnem Vorhaben er sich verschrieben hat.<br />

Als Ausgangspunkt für seine Untersuchung wählt Sinn<br />

diejenigen Fälle, bei denen das Eingreifen eines Dritten in<br />

das tatbestandsmäßige Geschehen einen Strafbarkeitsausschluss<br />

oder eine Strafmilderung des „Täters“ zur Folge hat<br />

(vgl. S. 5-24). Zugleich dienen ihm diese sogenannten Drittbeteiligungsfälle<br />

am Ende seiner Arbeit als Prüfstein für die<br />

Leistungsfähigkeit seiner machttheoretischen Konzeption<br />

(S. 321-372). In struktureller Hinsicht zeichnen sie sich durch<br />

ein Verhältnis der Über- und Unterordnung zwischen dem<br />

Dritten und dem „Täter“ aus (vgl. S. 25 f.). Sinn unterscheidet<br />

zwischen „interindividuellen“ Freistellungsfällen, bei<br />

denen die Überlegenheit des Dritten aus der jeweiligen Situation<br />

resultiert und daher instabil ist, und „transindividuellen“<br />

Freistellungsfällen, bei denen von Anfang an ein latentes,<br />

aber stabiles Über-/Unterordnungsverhältnis besteht, weil der<br />

Dritte eine institutionelle Rolle einnimmt (z. B. Befehlsgeber<br />

bei der Bundeswehr, Angestellter einer staatlichen Genehmigungsbehörde)<br />

und sein Handeln daher als das einer Institution<br />

wahrgenommen wird (S. 26-28). Unabhängig von der<br />

Zugehörigkeit zu einer dieser beiden Untergruppen ist für<br />

nahezu alle Drittbeteiligungsfälle kennzeichnend, dass der<br />

Dritte ein Strafbarkeitsdefizit beim „Täter“ hervorruft oder<br />

ausnutzt und daher als mittelbarer Täter bestraft werden kann.<br />

Ferner ist in der Regel völlig unstreitig, dass der „Täter“ nicht<br />

vollumfänglich zur Verantwortung gezogen werden kann.<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Umstritten ist allenfalls bei bestimmten Konstellationen,<br />

welcher Straffreistellungs- oder -milderungsgrund zu seinen<br />

Gunsten eingreift, so beispielsweise wenn er im Nötigungsnotstand<br />

oder auf Grundlage eines rechtswidrigen (verbindlichen)<br />

Befehls handelt. Im Ergebnis herrscht jedoch über die<br />

strafrechtliche Bewertung der Drittbeteiligungsfälle weitestgehend<br />

Einigkeit.<br />

Dennoch hält Sinn den Status quo der wissenschaftlichen<br />

Diskussion in diesem Bereich für unbefriedigend: Er vermisst<br />

– jenseits der einzelnen Freistellungsgründe (z.B. §§ 34, 35<br />

StGB) – ein grundlegendes, für alle Drittbeteiligungsfälle<br />

gültiges Freistellungsprinzip. Als solches begreifen einige<br />

Autoren, wie etwa Hassemer, das Autonomieprinzip. 1 Sinn<br />

widerspricht dieser Sichtweise. Jedenfalls im Hinblick auf<br />

zwei Aspekte verdient seine Kritik Zustimmung: Zum einen<br />

ist der Begriff „Autonomie“ wertungsoffen und somit äußerst<br />

variabel und dehnbar (vgl. S. 36 und S. 38). Zum anderen<br />

lassen sich mit Hilfe des Autonomieprinzips nicht sämtliche<br />

Drittbeteiligungsfälle zufriedenstellend lösen, weshalb es<br />

keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann (vgl. S. 40-<br />

42). Namentlich bei jenen Fällen, die – in der Terminologie<br />

Sinns – durch transindividuelle Beziehungen zwischen den<br />

Beteiligten gekennzeichnet sind, fehlt es nicht selten an einer<br />

Fremdbestimmung des „Täters“ durch den Dritten, sodass der<br />

Verzicht auf Strafe nicht mit einem Autonomieverlust begründet<br />

werden kann.<br />

Trotz seiner Kritik hält Sinn den Autonomiegedanken jedoch<br />

nicht für völlig unbrauchbar; die Autonomieverhältnisse<br />

sind für ihn allerdings lediglich die Folge bestimmter Machtverhältnisse.<br />

Zentrale freistellungs- und zugleich zurechnungsbegründende<br />

Größe ist nach seiner Überzeugung die<br />

Macht. Dass dies im Hinblick auf die Drittbeteiligungsfälle<br />

bisher niemand erkannt habe, sei zum einen auf das „hohe<br />

Abstraktionsniveau der anerkannten Freistellungsgründe“,<br />

zum anderen auf die „gedankliche Trennung der miteinander<br />

agierenden Personen bei der Fallprüfung“ zurückzuführen<br />

(S. 5 f.).<br />

Ehe Sinn erläutert, wie „Macht“ seiner Ansicht nach im<br />

strafrechtlichen Kontext verstanden werden muss, um als<br />

freistellungs- und zurechnungsrelevante Größe dienen zu<br />

können, analysiert er eine Vielzahl unterschiedlicher Machttheorien<br />

aus anderen Wissenschaftszweigen. Näher beleuchtet<br />

werden insbesondere die soziologische Konzeption von<br />

Peter Koller, das auf der Triebhaftigkeit des menschlichen<br />

Wesens basierende Machtverständnis von Bertrand Russel,<br />

die idealistische Machttheorie von Niklas Luhmann und das<br />

auf die historische Entwicklung der Macht fokussierte, handlungstheoretische<br />

Modell von Michel Foucault (S. 65-128).<br />

Ausgangspunkt für die Analyse der verschiedenen Machtthe-<br />

1 M. K. Meyer, Ausschluss der Autonomie durch Irrtum,<br />

1984; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige<br />

Beteiligung, 1997 und letztlich auch Schumann, Strafrechtliches<br />

Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung<br />

der Anderen, 1986, stützen ihre Beteiligungslehre auf<br />

das Autonomieprinzip. Auch mit diesen Konzeptionen befasst<br />

sich Sinn (S. 33-38).


Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

orien ist die Erkenntnis, dass Macht aus zwei unterschiedlichen<br />

Perspektiven betrachtet werden kann: Die gesamtgesellschaftliche<br />

Dimension der Macht verdeutlicht Sinn anhand<br />

der Konzeptionen von Thomas Hobbes und Hannah Arendt;<br />

die individuelle Dimension wird mit Hilfe der Machtdefinition<br />

von Max Weber veranschaulicht (S. 56-62). Im strafrechtlichen<br />

Kontext steht nach Überzeugung Sinns die individuelle<br />

Dimension der Macht im Vordergrund, da die Straftat immer<br />

eine Machtentscheidung des Täters gegen einen anderen<br />

beziehungsweise gegen die Allgemeinverbindlichkeit des<br />

Rechts sei. Allerdings prophezeit Sinn der gesellschaftlichen<br />

Dimension einen Bedeutungszuwachs, da Machtprozesse in<br />

der Gesellschaft immer mehr anonymisiert würden. Durch<br />

die Verrechtlichung und die administrative Regelung des<br />

sozialen Lebens werde die Macht in immer stärkerem Maße<br />

institutionalisiert – ein Befund, dem niemand ernsthaft widersprechen<br />

kann (S. 63 f.).<br />

Obgleich sich die unterschiedlichen Machttheorien insbesondere<br />

hinsichtlich ihrer Grundlagen und ihrer Zielsetzung<br />

deutlich voneinander unterscheiden, gelingt es Sinn, zwei<br />

Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, die für den weiteren Verlauf<br />

seiner Arbeit von grundlegender Bedeutung sind (S. 128-<br />

132): Zum einen ist allen von ihm analysierten Machtmodellen<br />

gemein, dass sie die Existenz von Machtquellen als Ursprung<br />

von Macht anerkennen: Unverkennbar trifft dies auf<br />

die sogenannten ressourcenorientierten Machttheorien zu,<br />

deren wichtigstes Verdienst nach Auffassung von Sinn darin<br />

besteht, „‚Macht’ aus der Grauzone der Unbestimmtheit<br />

herauszuführen und als sozial wirkendes Phänomen anschaulich<br />

und greifbar zu machen“ (S. 133). Aber auch im Rahmen<br />

jener Machtmodelle, welche die strukturelle Eingebundenheit<br />

der Person in die Gesellschaft stärker betonen und Macht aus<br />

der Relation von Personen untereinander ableiten, ist die<br />

Verfügbarkeit von Machtressourcen von Bedeutung. Die<br />

zweite wichtige Gemeinsamkeit, welche sämtliche Machttheorien<br />

verbindet, die Sinn im Rahmen seiner Arbeit näher<br />

beleuchtet, betrifft die Wirkung der Macht: Übereinstimmend<br />

wird Macht als verhaltenssteuerndes Phänomen, also als<br />

Mittel der Verhaltenssteuerung und -beeinflussung begriffen.<br />

Daraus zieht Sinn den Schluss, dass Macht auch eine geeignete<br />

Größe der Verhaltenszurechnung darstelle und somit<br />

„für das Strafrecht als Grundbegriff brauchbar“ sei (S. 131).<br />

Ausgehend von den aufgezeigten Gemeinsamkeiten zwischen<br />

den verschiedenen Machttheorien benennt Sinn im<br />

weiteren Verlauf der Arbeit Berührungspunkte zwischen<br />

diesen Theorien und der gegenwärtigen Strafrechtsdogmatik:<br />

Zunächst führt er dem Leser anschaulich vor Augen, dass die<br />

innerhalb der verschiedenen Machtkonzeptionen beschriebenen<br />

Machtquellen in den Tatbestandsbeschreibungen des<br />

Strafgesetzbuchs und in der strafrechtlichen Zurechnungslehre<br />

bereits als Topoi verwendet werden (S. 133-143). So sei es<br />

beispielsweise möglich, die „Macht der Mehrheit“ als Grundlage<br />

der Bandendelikte zu verstehen oder die Amtsträgerdelikte<br />

im Zusammenhang mit der „Macht der Funktion“ zu<br />

sehen. Sodann weist Sinn – wie eingangs bereits erwähnt –<br />

„Spuren der Macht“ in der Täterschaftsdogmatik nach, namentlich<br />

in den Beteiligungslehren von Roxin und Bottke<br />

(S. 143-169). Erstgenannter betrachtet bekanntlich die Tat-<br />

herrschaft als maßgebliches Täterschaftskriterium, Letzterer<br />

die Gestaltungsherrschaft. Schließlich zeigt Sinn Berührungspunkte<br />

zwischen den Machttheorien und dem strafrechtlichen<br />

Freiheits- und Gewaltbegriff auf (S. 171-182) und<br />

stellt klar, dass die Kausalität auch bei Zugrundelegung eines<br />

machttheoretischen Verbrechensbegriffs weiterhin Grundlage<br />

für die Zurechnung einer Straftat sein könne (S. 183-189).<br />

Im Rahmen dieser Ausführungen kritisiert Sinn das in der<br />

aktuellen Strafrechtslehre seiner Ansicht nach vorherrschende<br />

„Dogma von Freiheit und Unfreiheit im Sinne einer Nullsummenkonzeption“<br />

(S. 172 f.; vgl. auch S. 192). Von einem<br />

Freiheitsverlust auf Seiten des Opfers werde allgemein auf<br />

eine beherrschende Stellung des Täters geschlossen, anstatt<br />

zu fragen, was „den Täter zum Täter macht“. Mit Hilfe einer<br />

machtfundierten Verbrechenstheorie könne dieses Manko<br />

überwunden werden.<br />

Dass dieser Vorwurf von Sinn nicht völlig aus der Luft<br />

gegriffen ist, wird klar, wenn man bedenkt, welch große<br />

Schwierigkeiten bis heute die strafrechtliche Beurteilung<br />

jener Fälle bereitet, bei denen der Vordermann im vermeidbaren<br />

Verbotsirrtum (so etwa beim berühmten Katzenkönigfall<br />

2 ) oder als untergeordnetes Mitglied eines organisatorischen<br />

Machtapparats handelt. Umgekehrt zeigt die Tatsache,<br />

dass eine mittelbare Täterschaft in diesen Konstellationen<br />

mittlerweile trotz voller strafrechtlicher Verantwortlichkeit<br />

des Vordermanns überwiegend anerkannt ist, dass Sinns<br />

Kritik nur teils berechtigt ist.<br />

Wie eingangs bereits angedeutet, verfolgt Sinn mit seiner<br />

Habilitationsschrift nach eigenem Bekunden das Ziel, die in<br />

der gegenwärtigen Strafrechtslehre bekannten Begriffe und<br />

Zurechnungsmomente auf eine machttheoretische Grundlage<br />

zu stellen und zugleich das Machtkonzept in die gegenwärtige<br />

Zurechnungsdogmatik zu integrieren (S. 195). Gemessen<br />

an dieser Zielsetzung erscheinen die bisher im Rahmen dieser<br />

Rezension bruchstückhaft geschilderten und in aller Kürze<br />

gewürdigten <strong>Inhalt</strong>e seines Werks lediglich als – freilich<br />

unverzichtbare – Prolegomena. Der eigentlichen Aufgabe,<br />

nämlich der Entwicklung eines wirklichkeitsnahen, leistungs-<br />

und funktionsfähigen strafrechtlichen Machtbegriffs wendet<br />

sich Sinn erst in der zweiten Hälfte seiner Arbeit zu<br />

(S. 190 ff.):<br />

In Anlehnung an die klassischen ressourcenorientierten<br />

Machtmodelle definiert er „Macht“ auch im strafrechtlichen<br />

Kontext als „Verhaltenssteuerung aufgrund bestimmter<br />

Machtquellen“ (S. 203). Dabei sei Macht nicht ausschließlich<br />

als Zwangsmittel, sondern auch als Kommunikationsmedium<br />

zu verstehen (S. 200). Ein ressourcenorientiertes Machtmodell<br />

könne trotz des handlungstheoretischen Bezugsrahmens<br />

des Strafrechts als Vorbild für einen strafrechtlichen Machtbegriff<br />

dienen, da auch die strafrechtliche Handlung als<br />

Machtäußerung zu verstehen sei und daher Machtressourcen<br />

voraussetze (S. 203-207, S. 223). Große Bedeutung misst<br />

Sinn der Unterscheidung zwischen (manifester oder latenter)<br />

aktueller Macht und potentieller Macht bei: Aktuelle Macht<br />

definiert er als „Mobilisierung von Machtressourcen, die<br />

aufgrund einer Machthandlung zu einer Machtwirkung führt“<br />

2 BGHSt 35, 347.<br />

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171


Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

(S. 215). Unter potentieller Macht versteht er die Möglichkeit<br />

der Aktualisierung bestimmter, verfügbarer Machtressourcen<br />

(vgl. S. 216). Beide Formen der Macht sind nach seiner Überzeugung<br />

in den strafrechtlichen Machtbegriff einzubeziehen.<br />

Bestätigt sieht er sich in dieser Entscheidung durch die<br />

Tatsache, dass die „Möglichkeit der Voraussicht des Subjekts“<br />

kraft besonderen Wissens (S. 213) auch in der gegenwärtigen<br />

Zurechnungslehre bei einigen Autoren, wie etwa<br />

Larenz, eine maßgebliche Rolle spielt. Ferner gibt er zu bedenken,<br />

dass einige Tatbestände allein die Verfügbarkeit<br />

gefährlicher Gegenstände unter Strafe stellen (z.B. §§ 51, 52<br />

WaffG; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG). Schließlich betont Sinn,<br />

dass der strafrechtliche Machtbegriff ein relationaler Begriff<br />

sei, dessen Bedeutung nur in einem bestimmten sozialen<br />

Kontext, also unter Berücksichtigung der sozialen Beziehungen<br />

zwischen den beteiligten Personen oder Institutionen<br />

deutlich werde (S. 218-221).<br />

Eine neue Verbrechenstheorie kann nicht begründet werden,<br />

ohne sich intensiv mit den Merkmalen auseinanderzusetzen,<br />

die bisher ganz überwiegend als verbrechenskonstituierend<br />

angesehen werden. Ehe er seinen machtfundierten<br />

Verbrechensbegriff vorstellt (S. 271 ff.), der in erheblichem<br />

Maße von der Zurechnungslehre Hegels beeinflusst ist (vgl.<br />

S. 277-288), 3 befasst sich Sinn folgerichtig im vierten Teil<br />

seiner Arbeit zunächst mit dem gegenwärtig weitgehend<br />

anerkannten Verständnis der Straftat (S. 225-270) und kritisiert<br />

dieses namentlich im Hinblick auf zwei, eng miteinander<br />

verknüpfte Aspekte:<br />

An der klassischen Verbrechenslehre, für die insbesondere<br />

die Namen Ernst Beling und Franz von Liszt stehen und<br />

die bis heute in Form des gängigen Fallprüfungsschemas<br />

fortlebt, bemängelt Sinn die Doppelfunktion des (kausalen)<br />

Handlungsbegriffs und die Beziehungslosigkeit der einzelnen<br />

Verbrechensmerkmale (vgl. S. 254 ff.): Einerseits gilt das<br />

Vorliegen einer Handlung bekanntlich allgemein als Grundvoraussetzung<br />

einer Straftat; andererseits beschreibt die<br />

Handlung jedoch auch das Verbrechen selbst, das seinerseits<br />

die Eigenschaften tatbestandsmäßig, rechtswidrig und<br />

schuldhaft in sich vereinigt. Sinn moniert, dass die einzelnen<br />

Bausteine von den Anhängern des klassischen Verbrechensbegriffs<br />

meist zur Straftat zusammengefügt würden, ohne<br />

dass eine innere Verbindung erkennbar sei (vgl. S. 259). Den<br />

Verfechtern einer finalen Handlungslehre, wie etwa Welzel,<br />

bescheinigt Sinn zwar die „methodische Anlehnung an strukturell<br />

in der Gesellschaft vorhandene und allgegenwärtige<br />

Machtverhältnisse“ (S. 263); allerdings würden sie die „gesellschaftliche<br />

Determination des Einzelnen“, also die Eingebundenheit<br />

seiner Handlungen in die Gesellschaft, zu wenig<br />

berücksichtigen (S. 264). Um diesen Schwachpunkten der<br />

klassischen und der finalen Lehre angemessen zu begegnen,<br />

empfiehlt Sinn unter Berufung auf Hegel und in Anlehnung<br />

an Dahms und Schaffstein, „das Verbrechen als soziales Phänomen<br />

in seiner Ganzheit zu begreifen“ (S. 276). Da die<br />

3<br />

Sinn erläutert nicht nur die Zurechnungslehre Hegels<br />

(S. 235-243), sondern geht darüber hinaus auch ausführlich<br />

auf andere Zurechnungslehren, wie etwa die Imputationslehre<br />

Feuerbachs, ein (S. 229-234).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

172<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

bloße Häufung sinnfremder Einzelteile naturgemäß kein<br />

sinnvolles Ganzes ergebe, sei es unerlässlich, die Straftat „als<br />

Einheit und als Ganzheit“ zu betrachten (S. 274). Methodisch<br />

könne dies – wie die Verbrechenskonzeption Schilds zeige –<br />

durch ein „Denken in Momenten“ gelingen: Die einzelnen,<br />

unselbständigen Momente der strafrechtlichen Zurechnung<br />

müssten zu einer sinnvollen Einheit, dem Verbrechen, zusammengeschlossen<br />

werden.<br />

Der zweite Hauptkritikpunkt Sinns an der herrschenden<br />

Strafrechtsdogmatik betrifft die Trennung von (objektivem)<br />

Unrecht und (subjektiver) Schuld, für die es nach seiner Auffassung<br />

nur zwei (wenig überzeugende) Gründe gibt: erstens<br />

den „Einfluss des Zivilrechts […] auf das Strafrecht“; zweitens<br />

den „Drang nach Systematisierung des Verbrechens in<br />

seine Bestandteile und die naturwissenschaftliche Erfassung<br />

menschlichen Verhaltens“ (S. 271). Mit Hilfe einer dogmengeschichtlichen<br />

Analyse (S. 244-254) sowie einer Untersuchung<br />

der gegenwärtigen Strafrechtstheorie anhand der Konzeptionen<br />

von Roxin und Jakobs (S. 264-270) versucht Sinn<br />

nachzuweisen, dass der heute so selbstverständliche Deliktsaufbau<br />

nicht zwingend ist. Der Unrechtsbegriff des Strafrechts<br />

unterscheide sich von dem des Zivilrechts in funktionaler<br />

Hinsicht, da mit der Bestrafung des Täters die spezifisch<br />

strafrechtliche Aufgabe verfolgt werde, die Unverbrüchlichkeit<br />

der Norm kenntlich zu machen. Die Rechtsfolge<br />

Strafe – so Sinn unter erneuter Bezugnahme auf Hegel – sei<br />

jedoch nur zu rechtfertigen, wenn man das Handlungssubjekt<br />

in die Unrechtsbestimmung einbezieht; andernfalls würde<br />

man dem binären Schematismus von Recht und Unrecht<br />

widersprechen, dessen Bedeutung Sinn anhand der rechtsphilosophischen<br />

Überlegungen Luhmanns verdeutlicht (vgl.<br />

S. 271 ff.).<br />

Seine zentralen Ziele, nämlich die ganzheitliche Betrachtung<br />

der Straftat und die Überwindung der Trennung von<br />

Unrecht und Schuld, glaubt Sinn erreichen zu können, indem<br />

er den Faktor „Macht“, verstanden als verhaltenssteuerndes,<br />

soziales Phänomen, ins Zentrum der strafrechtlichen Betrachtung<br />

rückt und das Verbrechen als Machtmissbrauch begreift<br />

(vgl. S. 288-294). Unter „Machtmissbrauch“ versteht Sinn<br />

dabei den „Missbrauch eigener Freiheitsfähigkeit, der sich im<br />

Verbrechen objektiviert“ (S. 289).<br />

Auf der Handlungsebene würden aus machttheoretischer<br />

Sicht jene Verhaltensweisen ausgeschieden, bei denen die<br />

betreffende Person nicht zu einer Machtäußerung fähig sei,<br />

weil sie nicht auf die anthropologisch grundsätzlich jedem<br />

Menschen gegebenen Machtgrundlagen zurückgreifen könne<br />

(S. 307 f.).<br />

Der objektive Tatbestand eines Delikts beschreibt nach<br />

Ansicht Sinns einen gesellschaftsplanwidrigen und daher<br />

gefährlichen Machtgebrauch. Bei der Verwirklichung eines<br />

Tatbestands werde durch eine konkrete Machtäußerung ein<br />

bestimmtes Machtverhältnis begründet. In der Regel sei die<br />

Aktualisierung einer bestimmten Machtquelle erforderlich;<br />

nur ausnahmsweise – nämlich bei sehr großer Wahrscheinlichkeit<br />

einer solchen Aktualisierung – genüge bereits die<br />

Verfügbarkeit einer Machtressource (S. 290, 309 ff.).<br />

Dementsprechend besteht der Normbruch bei den Unterlassungsdelikten<br />

nach Auffassung Sinns in der nicht erfüllten


Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Erwartung, der Täter werde seine Macht aktualisieren und so<br />

den Taterfolg verhindern (S. 304 f.).<br />

Im Rahmen der Vorsatzdelikte misst Sinn der Machtquelle<br />

„Wissen“ eine besondere Bedeutung bei: Über die erforderliche<br />

Normverletzungsmacht verfüge nur derjenige, dessen<br />

Wissen sich zum einen auf die im objektiven Tatbestand<br />

beschriebene Machtäußerung und deren Folgen, zum anderen<br />

auf die Normwidrigkeit dieser Machtäußerung beziehe. Die<br />

herrschende Lehre von der Doppelfunktion des Vorsatzes als<br />

Verhaltensform einerseits und Schuldtypus andererseits lehnt<br />

Sinn also ab (S. 290, 311 ff.; 316 f.). Dem Vorsatztäter ist<br />

nach Auffassung Sinns der Vorwurf zu machen, dass er sich<br />

nicht zu gesellschaftsverträglichem Verhalten motiviert hat,<br />

obgleich er die Folgen seines Machtgebrauchs kannte. Dem<br />

fahrlässig Handelnden sei hingegen vorzuwerfen, dass er die<br />

Möglichkeit, über die Folgen seiner Machtäußerung Kenntnis<br />

zu erlangen, infolge eines Organisationsdefizits nicht genutzt<br />

habe. (S. 299-304). Als maßgebliches Kriterium der Abgrenzung<br />

zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit betrachtet Sinn<br />

also das Wissen, während er dem Wollen eine geringe Bedeutung<br />

beimisst (vgl. S. 304). Dies halte ich nicht für richtig,<br />

den der weitgehende Verzicht auf ein voluntatives Element<br />

erschwert die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz<br />

und bewusster Fahrlässigkeit. Der Handelnde kann den Eintritt<br />

eines tatbestandlichen Erfolgs zwar für möglich oder gar<br />

für wahrscheinlich halten, aber dennoch fest darauf vertrauen,<br />

dass er ausbleibt. Ihn dann wegen vorsätzlicher Tatbegehung<br />

zu bestrafen, erscheint nur wenig sinnvoll. Gerade die derzeitige<br />

Diskussion um den unangemessen weiten Anwendungsbereich<br />

des Untreuetatbestandes 4 zeigt, dass auf einschränkende<br />

Mechanismen, die von der Rechtsprechung bekanntermaßen<br />

allenfalls im subjektiven Bereich gesucht werden, 5<br />

nicht verzichtet werden kann. Die Tatsache, dass eine Vermögensschädigung<br />

offensichtlich nicht gewollt war, erweist<br />

sich hier nicht selten als letzter Rettungsanker für die in den<br />

Fokus der Strafverfolgungsorgane geratenen Entscheidungsträger<br />

in der Wirtschaft. Aus Furcht davor, sich strafbar zu<br />

machen, verzichten diese schon heute häufig auf den Abschluss<br />

von Geschäften, die sich zwar einerseits durch ein<br />

gewisses Risiko, andererseits aber auch durch enorme Chancen<br />

auszeichnen – eine im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit<br />

unserer Wirtschaft fatale Entwicklung.<br />

Den Rechtfertigungsgründen kommt nach der Konzeption<br />

Sinns die Aufgabe zu, dem Einzelnen Gestaltungsbefugnisse<br />

zu verleihen und so bestimmte Verhaltensweisen dem Vorwurf<br />

des Machtmissbrauchs zu entziehen (S. 291, 313 f.).<br />

Gegenstand des Schuldvorwurfs sei, „dass der Täter seine<br />

individuelle Macht missbraucht und deshalb Recht gebrochen<br />

– also unrecht gehandelt hat“ (S. 314). Die Schuld ist demnach<br />

kein Merkmal neben oder außerhalb des Unrechts, sondern<br />

integrativer Bestandteil desselben. Die „Schuldhaftig-<br />

4<br />

Vgl. dazu Beulke, in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift<br />

für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009,<br />

S. 245.<br />

5<br />

In diesem Sinne etwa BGHSt 51, 100 (121) (Fall Kanther/Weyrauch);<br />

BGH NStZ 2007, 704; krit. dazu jedoch<br />

BGH JR 2008, 426 mit krit. Anm. Beulke/Witzigmann.<br />

keit“ des Machtmissbrauchs, also die konstitutionelle Möglichkeit,<br />

das Recht in Frage zustellen, sowie die individuelle<br />

Zumutbarkeit werden von Sinn als ein Moment des Unrechts<br />

gedeutet (S. 314 ff.).<br />

Die einzelnen Unrechtsmomente „vereinen in sich den<br />

Machtmissbrauch einer Person und bilden damit in ihrer<br />

Gesamtheit den das strafrechtliche Unrecht konstituierenden<br />

Verbrechensbegriff“ (S. 317).<br />

Abschließend überträgt Sinn diesen machttheoretischen<br />

Verbrechensbegriff auf die eingangs bereits erläuterten Drittbeteiligungsfälle<br />

(S. 319-372). Zunächst beleuchtet er eine<br />

Reihe konkreter Fälle, die durch interindividuelle Machtverhältnisse<br />

gekennzeichnet sind (S. 322-337). Dabei zeigt sich<br />

einerseits, dass die Ergebnisse, zu denen die ganz herrschende<br />

Meinung bei derartigen Konstellationen gelangt, vielfach<br />

durchaus machttheoretisch begründet werden können. Einleuchtend<br />

ist beispielsweise, dass die mittelbare Täterschaft<br />

in Fällen eines vorsatzlos handelnden Tatmittlers auf das<br />

Auseinanderfallen von aktualisierter Handlungsmacht beim<br />

Vordermann und Folgenkenntnis beim Hintermann zurückgeführt<br />

werden kann (vgl. S. 313, 326). Andererseits wird aber<br />

auch deutlich, wo die Grenzen eines machtfundierten Verbrechensbegriffs<br />

liegen: Die Frage, ob das tatbestandsmäßige<br />

Verhalten eines im Nötigungsnotstand Handelnden gerechtfertigt<br />

oder aber entschuldigt ist, kann – wie Sinn selbst einräumt<br />

– nicht anhand machttheoretischer Erwägungen beantwortet<br />

werden, da insofern nicht allein das Machtverhältnis<br />

zwischen „Täter“ und Drittem ausschlaggebend ist, sondern<br />

auch die Schutzbedürftigkeit des Opfers berücksichtigt werden<br />

muss (S. 332-336). Wie bereits erwähnt, kritisiert Sinn an<br />

anderer Stelle, dass bei der Täterbestimmung gegenwärtig<br />

häufig einseitig darauf abgestellt werde, ob beim Opfer ein<br />

Freiheitsverlust eingetreten sei (vgl. S. 171 f.). Hier zeigt sich<br />

nun, dass seine Konzeption umgekehrt die Gefahr birgt, die<br />

Schutzwürdigkeit des Opfers nicht ausreichend zu berücksichtigen.<br />

Um die Leistungsfähigkeit seiner machttheoretischen<br />

Verbrechenslehre auch anhand derjenigen Fälle nachweisen<br />

zu können, bei denen zwischen den Beteiligten transindividuelle<br />

Machtverhältnisse herrschen, ist Sinn zunächst gezwungen,<br />

sich grundlegende Gedanken über die Beziehung<br />

von Macht und Recht zu machen. Anknüpfend an die Überlegungen<br />

von Luhmann und Habermas versucht er, das Verhältnis<br />

von Macht und Recht auf eine wechselseitige Legitimität<br />

erzeugende, kommunikationstheoretische Basis zu<br />

stellen (S. 338-361). Dabei begreift er das Recht vor allem als<br />

einen „Code der Macht“ (S. 349 ff.). Dieses Verständnis<br />

erlaubt es ihm, bei transindividuellen Machtverhältnissen<br />

eine Freistellung des „Täters“ aufgrund fehlender Gestaltungsmöglichkeiten<br />

anzunehmen; sein Verhalten also als<br />

gerechtfertigt anzusehen, so etwa in den Fällen der Verwaltungsakzessorietät<br />

oder der behördlichen Genehmigung i.S.v.<br />

§ 331 Abs. 3 StGB.<br />

Insgesamt ist festzuhalten, dass Sinn ein äußerst beeindruckendes<br />

Werk geschaffen hat. Die Kühnheit seiner Zielsetzung,<br />

der Tiefgang seiner rechtstheoretischen und -<br />

philosophischen Gedankengänge und die Akribie seiner Argumentation<br />

verdienen höchste Anerkennung. Da der konkre-<br />

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173


Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

te Untersuchungsgegenstand auf die sogenannten Drittbeteiligungsfälle<br />

begrenzt ist, lässt sich freilich noch nicht absehen,<br />

inwiefern der im Bereich des Strafrechts völlig neue und<br />

daher ungewohnte machttheoretische Ansatz tatsächlich<br />

universelle Gültigkeit beanspruchen kann. Meine diesbezüglichen<br />

Bedenken habe ich in den vorangegangenen Zeilen<br />

schon hin und wieder durchblicken lassen. Ferner bleiben<br />

Zweifel, ob der Begriff der „Macht“ wirklich hinreichend<br />

bestimmt ist, um als zentraler Freistellungs- und Zurechnungsbegriff<br />

dienen zu können, und ob er im Bereich der<br />

Beteiligungsdogmatik dem gegenwärtig vorherrschenden und<br />

auch von mir favorisierten Begriff der „Tatherrschaft“ überlegen<br />

ist. Unabhängig davon stellt Sinns Habilitationsschrift<br />

aber jedenfalls einen überaus wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen<br />

Diskussion dar, der dazu einlädt, auch längst als<br />

selbstverständlich geltende Dogmen, wie etwa die Trennung<br />

von Unrecht und Schuld, neu zu hinterfragen.<br />

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174<br />

Prof. Dr. Werner Beulke, Passau<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009


Lothar Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen Veh<br />

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B u c h r e z e n s i o n<br />

Lothar Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von<br />

Strafgesetzen, C.F. Müller Verlag, Heidelberg 2006, 112 S.,<br />

€ 34.-<br />

Noch ein Werk zur verfassungskonformen Auslegung? Wer<br />

so fragt kann im Literaturverzeichnis zur anzuzeigenden<br />

Studie von Kuhlen ausreichend Belege dafür finden, dass sich<br />

– gerade auch in jüngster Zeit – eine Vielzahl von Veröffentlichungen<br />

mit Fragen der verfassungskonformen Auslegung,<br />

namentlich auch der von Strafgesetzen, befasst hat.<br />

Was könnte den Leser also dazu bestimmen, gerade die<br />

Studie von Kuhlen zur Hand zu nehmen, die sich – so verrät<br />

es das Vorwort – als der Ertrag eines Forschungsfreisemesters<br />

des Inhabers des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie,<br />

Wirtschafts- und Umweltstrafrecht an der Universität<br />

Mannheim darstellt?<br />

Der Klappentext spricht davon, die Untersuchung wolle<br />

einen „induktiven Beitrag“ zur Lösung methodischer, verfassungsrechtlicher<br />

und strafrechtlicher Probleme leisten, die die<br />

verfassungskonforme Auslegung bzw. Korrektur von Strafgesetzen<br />

aufwirft.<br />

Was heißt das konkret? Kuhlen klärt zunächst den Begriff<br />

der verfassungskonformen Auslegung (etwa in Abgrenzung<br />

zu einer verfassungsorientierten Auslegung) und benennt in<br />

Übereinstimmung mit Rechtsprechung und überwiegendem<br />

Schrifttum sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die<br />

Fachgerichte als Subjekte verfassungskonformer Auslegung.<br />

Als Hauptprobleme sieht Kuhlen die Unbestimmtheit verfassungsrechtlicher<br />

Maßstäbe und die ungeklärte Grenze zwischen<br />

zulässiger richterlicher Gesetzesauslegung und unzulässigem<br />

richterlichem Eingriff in die dem Gesetzgeber vorbehaltene<br />

Normsetzungsbefugnis, aber auch Kompetenzkonflikte<br />

zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit. Diese<br />

Problembenennungen sind, wie auch Kuhlen sieht, keineswegs<br />

neu und auf abstrakter Ebene vielfach erörtert worden,<br />

ebenso wie vielfach einzelne Entscheidungen zur verfassungskonformen<br />

Auslegung von Strafgesetzen in diesem<br />

Kontext kommentiert worden sind.<br />

Kuhlen will Kriterien für eine vernünftige Handhabung<br />

verfassungskonformer Gesetzesauslegung finden, die unterhalb<br />

des bisher berücksichtigten Abstraktionsniveaus liegen.<br />

Er geht induktiv vor, indem er wichtige Entscheidungen des<br />

BVerfG und des BGH darstellt und analysiert. Diese Vorgehensweise<br />

hat ihren Charme, fördert sie doch die Entdeckung<br />

und systematische Ordnung wiederkehrender Konstellationen<br />

und wiederkehrender Begründungstopoi und lädt in vergleichender<br />

Analyse unterschiedlicher Lösungen vermeintlich<br />

gleich oder ähnlich gelagerter Konstellationen zur Diskussion<br />

in Betracht kommender Differenzierungen ein. Ein Beispiel:<br />

Kuhlen zeigt aufgrund seines Rechtsprechungsüberblicks<br />

welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe bei der verfassungskonformen<br />

Auslegung eine Rolle spielen, um einzelne<br />

Auslegungsvarianten als verfassungswidrig anzusehen und<br />

deshalb anderen, verfassungskonformen Auslegungen den<br />

Vorzug zu geben. Er ordnet diese Maßstäbe nach den Prüfungskategorien<br />

materieller Verfassungsmäßigkeit von Ge-<br />

setzesauslegungen (Verstößt die in der angefochtenen Entscheidung<br />

vertretene Rechtsauffassung – als Gesetz gedacht –<br />

gegen das Grundgesetz?) und der formellen Verfassungsmäßigkeit<br />

von Gesetzesauslegungen (Ist es mit dem Grundgesetz<br />

vereinbar, ein bestimmtes Ergebnis gerade durch richterliche<br />

Entscheidung herbeizuführen? Beispiel: Verstoß gegen<br />

das Analogieverbot zur Begründung eines Ergebnisses, welches,<br />

würde es tatsächlich durch den Gesetzgeber normativ<br />

vorgegeben, verfassungsrechtlich keinen Einwänden ausgesetzt<br />

wäre).<br />

Besonders eingehend erörtert Kuhlen die Entscheidungen<br />

des BVerfG zur Geldwäsche durch Strafverteidiger (BVerf-<br />

GE 110, 226) und des BGH zur Vorteilsannahme durch Einwerben<br />

von Wahlkampfspenden (BGHSt 49, 275). Der Intention<br />

der Arbeit gemäß geht es ihm jeweils nicht um die Beurteilung<br />

der Verwerfung einzelner Deutungen als verfassungswidrig,<br />

sondern um die jeweils intendierten „Auslegungs-<br />

“ und Kompetenzfragen.<br />

In Auseinandersetzung mit BVerfGE 110 226 schließt<br />

sich Kuhlen manch grundsätzlicher Kritik an einer „Auslegung“,<br />

die eine nach ihrem nahe liegenden Sinngehalt verfassungswidrige<br />

Norm unter Zugrundlegung eines fern liegenden,<br />

aber verfassungsgemäßen Normgehalts erhält, nicht an.<br />

Das der Praxis entsprechende Gebot richterlicher Gesetzesbindung<br />

sei nur dann verletzt, wenn sich der Richter über den<br />

Wortsinn des Gesetzes und eine klar erkennbare, auf das<br />

spezifische Problem bezogene Entscheidung des Gesetzgebers<br />

hinwegsetze oder der Norm keinen sinnvollen Anwendungsbereich<br />

mehr lasse. Dabei sei dem BVerfG Rechtsfortbildung<br />

ebenso wenig verwehrt wie den Fachgerichten.<br />

An der Entscheidung des BGH zur Einwerbung von<br />

Wahlkampfspenden (BGHSt 49, 275) kritisiert Kuhlen die<br />

verfassungsrechtliche Überhöhung strafrechtlicher Sachargumentation.<br />

Nicht ohne Grund sieht er Verfassungs- und<br />

Fachgerichtsbarkeit in unterschiedlicher Weise legitimiert:<br />

Verfassungsgerichte primär zur Verwerfung bestimmter<br />

Normverständnisse. Fachgerichte primär zur Auswahl unter<br />

mehreren verfassungsgemäßen Deutungen. Zurückhaltung<br />

fordert Kuhlen demgegenüber vom Verfassungsgericht bei<br />

der Vorgabe einer bestimmten Auslegung (nur, wenn dies die<br />

einzige verfassungsgemäße Interpretationsmöglichkeit sei),<br />

von den Fachgerichten dagegen bei der Verwerfung eines<br />

bestimmten Normverständnisses als verfassungswidrig.<br />

Schließlich nimmt Kuhlen zwei Entscheidungen (BVerf-<br />

GE 105, 135 und BGH NStZ 2005, 105) in den Blick, die<br />

sich durch die Verwerfung strafgesetzlicher Normen wegen<br />

ihrer Unbestimmtheit auszeichnen. Vor dem Hintergrund<br />

seiner umfassenden Darstellung von Entscheidungen zur<br />

verfassungskonformen Auslegung zeigt sich gerade hier der<br />

Vorteil seiner induktiven Vorgehensweise. Kuhlen stellt<br />

unterschiedliche Anforderungen an Gesetzesbindung und an<br />

die Bestimmtheit einer Regelung fest, je nachdem ob es um<br />

die Verwerfung eines Gesetzes als zu unbestimmt oder einer<br />

Gesetzesinterpretation als auslegungsüberschreitend oder um<br />

die Akzeptanz normerhaltender Interpretationen geht, an<br />

deren Bestimmtheit und Akzeptanz im Lichte des Gebotes<br />

der Gesetzesbindung weit geringere Anforderungen gestellt<br />

werden. Zu Recht akzeptiert Kuhlen entsprechende Unter-<br />

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Lothar Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen Veh<br />

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schiede, soweit es einerseits um Analogie zu Lasten des Bürgers,<br />

andererseits um Wortlautüberschreitung zugunsten des<br />

Bürgers geht. Ebenso überzeugend fordert Kuhlen dagegen<br />

identische Bestimmtheitsanforderungen.<br />

Insgesamt ist Kuhlen eine gut lesbare, verständliche Studie<br />

gelungen, die ihren Pragmatismus nicht hinter Theoriefloskeln<br />

versteckt. Kuhlen gibt weniger theoretische Steine<br />

als praktisches Brot. Mit seinem induktiven Ansatz erfasst er<br />

allerdings nur Fragestellungen, die im bisherigen Fallmaterial<br />

und der bisherigen Begründungspraxis der Gerichte angelegt<br />

sind.<br />

Die Begrenztheit eines Forschungsfreisemesters lässt aber<br />

auch insoweit noch viele Fragen offen, deren Diskurs der<br />

Autor – nicht immer überzeugend – unter Hinweis auf den<br />

begrenzten Rahmen der Arbeit abbricht. Beispiel: Durchaus<br />

nicht unzweifelhaft erscheint die These des Autors, fern liegende<br />

Gesetzesverständnisse könnten einem strengeren materiellen<br />

verfassungsrechtlichen Maßstab unterliegen als nahe<br />

liegende, weil der richterlichen Gesetzesinterpretation nicht<br />

der gleiche materielle Entscheidungsspielraum zustehe wie<br />

dem Gesetzgeber selbst. Dagegen wäre einzuwenden, dass<br />

das BVerfG, jenseits der Feststellung einer Verletzung des<br />

Analogieverbots, nicht über die Richtigkeit einer Gesetzesauslegung<br />

zu befinden, sondern diese zu akzeptieren und –<br />

als fachrichterliche Erkenntnis der Rechtslage und damit auch<br />

der gesetzgeberischen Entscheidung – seiner verfassungsrechtlichen<br />

Überprüfung zugrunde zu legen hat. Kuhlen eröffnet<br />

dagegen Spielräume, aus Sicht des BVerfG weniger<br />

überzeugende, aber doch immerhin mögliche Normverständnisse<br />

dadurch abzustrafen, dass man sie einem veränderten<br />

materiellen Prüfungsmaßstab unterwirft und einen Norminhalt,<br />

den der Gesetzgeber verabschieden dürfte, nur deshalb<br />

nicht akzeptiert, weil man ihn als Werk des Richters, nicht<br />

des Gesetzgebers interpretiert. Das eröffnet dem Verfassungsgericht<br />

durchaus weitreichende Argumentationslinien in<br />

Richtung einer „Superrevisionsinstanz“. Einem intensiveren<br />

Diskurs zu derartigen Fragen entzieht sich der Autor unter<br />

Hinweis auf den begrenzten Rahmen der Arbeit.<br />

Nichtsdestotrotz: Eine lesenswerte Studie, deren Autor<br />

Appetit macht auf weitere Beiträge und vertiefte Antworten.<br />

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Präsident des Landgerichts Dr. Herbert Veh, Augsburg<br />

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Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

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Buchrezension<br />

Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision)<br />

Minderjähriger als verfassungs- und sozialrechtliches<br />

Problem, dissertation.de – Verlag im Internet GmbH, Berlin<br />

2008, 132 S., € 39,-<br />

I. Es gibt unterschiedliche Gründe, eine Monografie zu besprechen.<br />

Erstens kann es sich um ein Thema handeln, worüber<br />

zu berichten sich lohnt. Dies trifft im vorliegenden Fall<br />

zu. Denn für die rechtliche Problematik der Zirkumzision an<br />

nicht einwilligungsfähigen Jungen hat sich die Rechtswissenschaft<br />

lange Zeit überhaupt nicht interessiert. Inzwischen ist<br />

das Thema fast schon en vogue: Seit Anfang des Jahres 2008<br />

sind mehrere Aufsätze dazu erschienen. 1 Ende Oktober 2008<br />

hat Jochen Schneider das hier im Mittelpunkt stehende Buch<br />

veröffentlicht, 2 worin er sich auf 132 Seiten der verfassungs-<br />

und sozialrechtlichen Problematik widmet. Ein zweiter möglicher<br />

Grund, sich einer Publikation zu widmen, kann sein,<br />

dass die darin enthaltenen Thesen Widerspruch provozieren<br />

und Vertreter der Gegenmeinung auf den Plan rufen. Sie<br />

nutzen eine Rezension, um alte Argumente zu erneuern und<br />

neue vorzutragen – bis hin zu einem Verriss. Das von<br />

Schneider bearbeitete Thema bietet dafür reichlich Gelegenheit.<br />

Immerhin geht es nicht um abstrakte, lebensfremde<br />

Materie, sondern um religiöses Verhalten, das von Juden und<br />

Muslimen praktiziert wird. Dieser Aspekt ist indessen nicht<br />

der Grund für die vorliegenden Anmerkungen, denn mit der<br />

veröffentlichten Meinung des Rezensenten stimmen die von<br />

Schneider gefundenen Ergebnisse voll und ganz überein.<br />

Bleibt ein drittes mögliches Rezensionsmotiv: Es kann sich<br />

um eine vorzügliche Arbeit handeln, weshalb es lohnt, sie<br />

einer breiten Leserschaft vorzustellen und darauf hinzuweisen.<br />

In solchen Besprechungen sind viel Lob und das übliche<br />

Maß an Kritik zu finden. Um es vorwegzunehmen: Lob wird<br />

es hier kaum geben, dafür umso mehr Kritik. Und der totale<br />

Verfall wissenschaftlicher Standards ist es, der die Kritik<br />

nicht gerade zimperlich ausfallen lässt. Jeder, der ehrliches<br />

Interesse für die Problematik aufbringt, weiß, dass es sich um<br />

ein reizvolles Thema handelt. Es derart schlampig behandelt<br />

zu sehen, ist enttäuschend.<br />

Manche werden sich vielleicht fragen, warum der Rezensent<br />

derart gründlich zu Werke geht, zuerst mit Blick auf die<br />

Formalien (II.) und dann bei der inhaltlichen Kritik (III.).<br />

Ganz einfach: Wer ein Buch lobt, ist frei von jeder Nachweispflicht;<br />

wer hingegen Kritik übt, trägt die Beweislast. So<br />

etwas lässt sich nicht mit wenigen Sätzen erledigen. Und<br />

möglicherweise hat diese Besprechung das an Seiten und<br />

1<br />

Vgl. etwa (in der Reihenfolge des Erscheinens) Putzke, in:<br />

ders. u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum<br />

70. Geburtstag, 2008, S. 669; Jerouschek, NStZ 2008, 313;<br />

Schwarz, JZ 2008, 1125; Herzberg, JZ 2009, 332.<br />

2<br />

Es lag der Juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität<br />

Frankfurt am Main im Jahr 2007 als Dissertation<br />

vor (Erstgutachter: Prof. Dr. Ingwer Ebsen, Zweitgutachterin:<br />

Prof. Dr. Ute Sacksofsky).<br />

Genauigkeit zu viel, was der Arbeit von Schneider schon im<br />

Ansatz fehlt.<br />

II. Eine Arbeit verdient nur dann den Zusatz „wissenschaftlich“,<br />

wenn bestimmte Anforderungen eingehalten<br />

werden. Am Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann<br />

Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main regelt dies<br />

§ 2 Abs. 2 der Promotionsordnung, worin geschrieben steht:<br />

„Die Dissertation muß wissenschaftlichen Ansprüchen genügen<br />

und einen Beitrag zum Fortschritt der rechtswissenschaftlichen<br />

Erkenntnis liefern.“ Dazu zählt auf jeden Fall der Umgang<br />

mit wissenschaftlichen Quellen, aber auch eine klare<br />

und fehlerfreie sprachliche Gestaltung gehört dazu. Die Arbeit<br />

von Schneider missachtet schon diese formalen Aspekte<br />

gründlich.<br />

Im Einzelnen: Die Gliederung ist uneinheitlich und unvollständig.<br />

So gliedert Schneider die erste Ebene unterhalb<br />

eines Kapitels im 1. Kapitel mit arabischen Ziffern, in allen<br />

anderen Kapiteln aber mit Großbuchstaben. Zudem gibt es an<br />

drei Stellen keine Gegenpositionen (etwa im 4. Kapitel unter<br />

A, im 7. Kapitel unter C. II. und im 12. Kapitel unter B.).<br />

Das Literaturverzeichnis spielt normalerweise bei Rezensionen<br />

keine große Rolle. Bei der Arbeit von Schneider provozieren<br />

die vielen offensichtlichen Fehler aber einen genaueren<br />

Blick. Was dann zutage tritt, ist erschreckend. Von 98<br />

Einträgen sind knapp 40 fehlerhaft. Etwa scheint sich Schneider<br />

bei Namenszusätzen und akademischen Graden nicht<br />

ganz sicher zu sein: Den Strafrechtskommentar von<br />

Lackner/Kühl zitiert er mit „Lackner, Dr., Karl/ Kühl, Dr. Dr.<br />

Kristian“. Der Doktortitel findet sich auch noch an diversen<br />

anderen Stellen (etwa bei Ebsen, Jauernig und Larsen). Beim<br />

Namenszusatz „von“ heißt es mal „Mangold [sic!], Hermann<br />

v.“, mal „Münch, Ingo, von“ und auch einmal korrekt „v.<br />

Münch, Ingo“. Ob ein Eintrag mit einem richtigen und vollständigen<br />

Namen angegeben wird, scheint auch eher zufallsabhängig<br />

zu sein. Bei manchen Einträgen ist ein falscher<br />

Name zu finden (Peter Antes statt Günter Mayer), teilweise<br />

fehlen Mitautoren bzw. -herausgeber (etwa Jutta Bernhard<br />

und Hubert Mohr beim Eintrag „Auffahrt“; Heinrich de Wall<br />

bei „v. Campenhausen“; Burkhard Ubrig u.a. bei „Roth“;<br />

Astrid Stadler bei „Rüthers“ sowie Niels M. Bleese und Ulrich<br />

Mommsen bei „Schumpelick“).<br />

Zufallsabhängig scheint auch zu sein, ob Autoren bzw.<br />

Herausgeber überhaupt einen Vornamen erhalten („v. Campenhausen“,<br />

„Dietlein“) oder er nicht ausgeschrieben wird –<br />

mal mit, mal ohne Punkt („Doenicke, A“, „Dreher, E.“, „Häring,<br />

R/Zilch, H.“). Auf den Zusatz „Begr.“ oder „Hrsg.“ wird<br />

ebenfalls teilweise verzichtet („v. Mangoldt/Klein/Starck“,<br />

„Palandt“, „Schmidt-Bleibtreu/Klein“, „Schönke/Schröder“).<br />

Auch bei den Titeln nimmt es Schneider nicht so genau:<br />

Aus „Handbuch des Staatsrechts“ wird „Handbuch des<br />

Staatsrechtes“ (S. VII) 3 , aus „Die Lehre von den grundrechtlichen<br />

Schutzpflichten“ macht Schneider „Lehre der grundrechtlichen<br />

Schutzpflichten“ (S. III) und beim Titel „Die<br />

rechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der weiblichen<br />

3<br />

Auf Stellen der hier besprochenen Arbeit wird im Folgenden<br />

mit eingeklammerten Seitenzahlen verwiesen.<br />

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Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

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Verstümmlung“ (Fn. 3) hätte es „Genitalverstümmelung“<br />

heißen müssen.<br />

Besonders auffällig ist die Tatsache, dass Schneider veraltete<br />

Auflagen verwendet, und zwar in ungefähr 70 Prozent<br />

der Fälle. 4 Wohlgemerkt legt der Rezensent keinen kleinlichen<br />

Maßstab an, sondern geht vom Jahr 2006 aus (Schneider<br />

hat seine Arbeit 2007 der Fakultät vorgelegt und Ende 2008<br />

veröffentlicht). Zu den alten Auflagen gesellen sich fehlerhafte<br />

Angaben: Das Strafrechtslehrbuch von Kühl zum Allgemeinen<br />

Teil wird angegeben mit „25. Auflage, München<br />

2004“. Korrekt gewesen wäre „5. Auflage, München 2005“,<br />

das Werk von Wessels/Beulke wird nicht in München verlegt,<br />

sondern in Heidelberg, und der von Rudolf Wassermann<br />

herausgegebene Alternativkommentar zum GG ist nicht in<br />

„n.n.“ erschienen, sondern in Neuwied/Darmstadt.<br />

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Zitierweise. Schneider<br />

gibt im Literaturverzeichnis bei jedem Eintrag an, wie er ihn<br />

zu zitieren gedenkt. An manches muss man sich gewöhnen.<br />

Etwa daran, dass Aufsätze (z.B. von Erichsen, Jura 1997,<br />

S. 85 ff. oder Hassemer, wistra 1995, S. 41 ff.) von Schneider<br />

in den Fußnoten wie folgt zitiert werden: „Erichsen:<br />

Schtzpfl., Seite“ bzw. „Hassemer, Professionelle Adäquanz/1,<br />

Seite“. Das ist zumindest unüblich. Der Zusatz „zitiert:<br />

…“ wäre allerdings auch gänzlich überflüssig gewesen.<br />

Zum einen hat er generell keinerlei Nutzen, wenn es um das<br />

Auffinden der zitierten Fundstellen geht. 5 Zum andern hält<br />

Schneider sich nicht einmal an seine eigenen Angaben. Etwa<br />

gibt er die Zitierweise für den Eintrag „Coenen, Theologisches<br />

Begriffslexikon zum Neuen Testament“ an mit „Coenen<br />

u.a., Bearb. …“. Später in den Fußnoten heißt es dann:<br />

„Hahn und Avemarie in ‚Theolog. Begriffslexikon zum NT’<br />

…“ (Fn. 42). Ein einziges Mal abzuweichen, scheint Schneider<br />

offenbar aber nicht zu reichen. Als Zitierweise für den<br />

Kommentar zum Strafgesetzbuch von Tröndle/Fischer gibt<br />

der Autor an „T/F, §, Rndnr.“ (S. XVI). In den Fußnoten sind<br />

später vier verschiedene Versionen zu finden. 6 Fünf sind es<br />

bei dem Kommentar zum Grundgesetz von Sachs. 7 Manchmal<br />

wird es auch redundant, etwa in Fn. 113: „Fichte in Erlenkämper/Fichte,<br />

SR, Bearb.: Fichte, S. 339“. Das soll genügen<br />

– die Liste ließe sich erweitern.<br />

4<br />

Siehe die Bücher von Brodag, v. Campenhausen/de Wall,<br />

Dietlein, Erlenkämper/Fichte, Fichtner/Wenzel, Frei/Jonmarker/Werner,<br />

Gropp, Häring/Zilch, Ipsen, Jarass/Pieroth,<br />

Katz, Larsen usw.<br />

5<br />

Vgl. Putzke, Juristische Arbeiten erfolgreich schreiben,<br />

2. Aufl. 2009, Rn. 222.<br />

6<br />

„Tröndle in Tröndle/Fischer“ (Fn. 464); „Tröndle/Fischer“<br />

(Fn. 465); „Tröndle/Fischer, StrR-Komm“ (Fn. 490) und<br />

„Tröndle in Tröndle/Fischer, StGB-Komm“ (Fn. 494).<br />

7<br />

Angegeben im Literaturverzeichnis mit „Sachs, GG-Komm,<br />

Bearb.: Art. , Rndnr.“. Spätere Varianten: „Murswiek in<br />

Sachs, GG-Komm., Art. 2, Rndnr. 34“ (Fn. 385); „Murswiek<br />

in ‚Sachs: GG-Komm.’, Art. 2 GG, Rndnr. 30“ (Fn. 249, 251,<br />

397); „Höfling in Sachs, GR-Komm, Art. 1, Rndnr. 28“ (Fn.<br />

407); „Kokott in Sachs, Art. 4 Rndnr. 17“ (Fn. 267) und<br />

„Murswiek in, GG-Komm, Art. 2, Rndnr. 34“ (Fn. 217).<br />

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Wenn man sich bei Schneider auf etwas verlassen kann,<br />

dann ist es die Uneinheitlichkeit. Seitenzahlen in den Fußnoten<br />

werden manchmal mit Komma (siehe etwa Fn. 136, 263,<br />

521), manchmal mit Klammern (etwa Fn. 236, 254, 516)<br />

getrennt. Im Text heißt es teilweise „BVerfG“ (etwa S. 86,<br />

90, 96, 105, 107), teilweise „Bundesverfassungsgericht“<br />

(etwa S. 61, 77). Gänzlich uneinheitlich handhabt Schneider<br />

das Setzen von Punkten bei Abkürzungen. 8 Nicht anders bei<br />

Kommata: Mal setzt er vor die Abkürzung „u.a.“ ein Komma,<br />

etwa bei Eckhoff, Häring, Erlenkämper, mal (korrekterweise)<br />

keines (etwa bei Bleckmann und Ebner). Auch der Schrägstrich<br />

wird uneinheitlich verwendet: Mal heißt es „Fichtner/Wenzel“,<br />

mal „Eicher/ Spellbrink“ (Fn.124) und ein<br />

anders Mal „Fichtner /Wenzel“ (Fn. 117). Leerzeichen werden<br />

manchmal gesetzt, oft aber auch nicht (besonders plastisch<br />

in Fn. 459, 462 und 463). Punkte bei Ordnungsnummern<br />

sind ebenfalls nicht immer vorhanden (S. 62: „18 Jahrhundert“,<br />

S. XI: „45 Erg.-Lieferung“, S. XVI: „2 Auflage“).<br />

Zu solchen Uneinheitlichkeiten gesellen sich Fehler und<br />

Ungenauigkeiten in den Fußnoten. 9<br />

Besonders fällt ins Gewicht, dass Schneider nicht gerade<br />

wenige Fundstellen (etwa 35) zwar in den Fußnoten erwähnt,<br />

sie aber nicht im Literaturverzeichnis aufführt. 10 Aber mögli-<br />

8<br />

„DVBl“ oder „DVBl.“ (S. IV, jeweils bei Ebsen); „Art“<br />

(S. 61, 64, 71, 91, 97; Fn. 375, 378) oder „Art.“ (etwa S. 97,<br />

Fn. 380); „S“ (etwa Fn. 384) oder „S.“ (etwa Fn. 387).<br />

„Rndnr“ (etwa Fn. 386) oder „Rndnr.“ (etwa Fn. 134), „etc“<br />

(S. 39) oder „etc.“ (S. 29).<br />

9<br />

Beispielhaft: „Darauf weist P. Heine in @ einfügen’, S. 123<br />

hin.“ (Fn. 84); „So Frank in Leth in ‚Wenig Gründe für die<br />

Beschneidung’ in FNP“ (Fn. 91); „Gleicher Ansicht ist P.<br />

Heine in ‚einfügen’, S. 122“ (Fn. 96); „Fichte in Erlenkämper/Fichte,<br />

SR, Bearb.: Fichte, S. 339“ (Fn. 113); „BverWG“<br />

(Fn. 118); Fn. 125 ist leer; „Dies wurde erstmals in der<br />

BVerfGE 29.07.68 - 24, 119= NJW 68/223-entschieden …“<br />

(Fn. 147); „BVerGE“ (Fn. 151); „BVerG“ (Fn. 210, 365,<br />

366); „BVergG“ (Fn. 231 und Fn. 345); „Muckel W 2000,<br />

698“ (Fn. 270); „BVerwG in JW 2002, S. 3344“ (Fn. 284,<br />

siehe auch Fn. 455); „BVerfG W 1995, 2477“ (Fn. 291);<br />

„BVerwG 1995, 2477, 2478“ (Fn. 292); „BVerFGE“ (Fn.<br />

338, 339, 340); „Loschfelder in Loschfelder u. Redner …“<br />

(Fn. 342); „S.§ 30, Rndnr. 751“ (Fn. 353); „BVERWG“<br />

(Fn. 374); „BVerfG 2001, 594; BVerfG 2001, 2957“<br />

(Fn. 399); „Kühl in La, § 223 …“ (Fn. 464); „Haro, StrR …“<br />

und „Haro, § 14 …“ (Fn. 531, 532). Mit „Haro“ meint<br />

Schneider übrigens den renommierten Strafrechtler Harro<br />

Otto.<br />

10<br />

Etwa Rosenke (Fn. 3, 418), Abu-Salieh (Fn. 8), Jacobs und<br />

Westermann (Fn. 15), Ramadan (Fn. 18), Spiegel (Fn. 22),<br />

Antes (Fn. 27), Pschyrembel (Fn. 43), Palitzsch (Fn. 81),<br />

Wiemer/Willmann (Fn. 93), Heine (Fn. 96), Krasney und<br />

Schulin (Fn. 109), Eicher/Spellbrink (Fn. 124 und 126), Staudinger<br />

(Fn. 142), Gereuter (Fn. 147), Kern (Fn. 205), Isensee<br />

und Murswiek (Fn. 213), Stern (Fn. 221), Steinberg<br />

(Fn. 223), Enders, Schütz und Abel (Fn. 262), Alpmann<br />

Brockhaus (Fn. 253), Sacksofsky (Fn. 274), Badura (Fn. 313),<br />

Siedhoff/Scherer (Fn. 324), Eberbach (Fn. 327), Perschel


Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

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cherweise hätten das manche der betroffenen Autoren gar<br />

nicht gewollt, denn man sieht seinen Namen ungern verfälscht.<br />

So heißt es etwa bei Schneider: Loschfelder statt<br />

Loschelder (S. X, Fn. 357), Lübbe-Wolf statt Lübbe-Wolff<br />

(S. X et passim), Mangold statt Mangoldt (S. X et passim),<br />

Weigand statt Weigend (S. VIII, Fn. 492, 493, 520), Kreise<br />

statt Kreiser (S. IX), Peter statt Peters (S. XII), Schmidt-<br />

Kammler statt Schmitt-Kammler (Fn. 149, 294, 316, 320),<br />

Callies statt Calliess (Fn. 218, 235), Kallmeyer statt Kallmayer<br />

(S. II), Haro statt Otto (Fn. 531/532), Siekman statt<br />

Siekmann (Fn. 271), Hillgrüber statt Hillgruber (Fn. 354),<br />

Abu Sahlieh statt Abu Salieh (Fn. 372), Bleckman statt<br />

Bleckmann (Fn. 404) sowie Campenhausen statt von Campenhausen<br />

(etwa Fn. 264, 272, 273).<br />

Nicht nur die Einhaltung solcher wissenschaftlichen Standards<br />

ist unverzichtbar. Zu einer Grundbedingung wissenschaftlichen<br />

Arbeitens gehört auch und vor allem die Sprache.<br />

Schneider ist weit davon entfernt, die deutsche Sprache<br />

fehlerfrei und verständlich zu gebrauchen, von Schönheit im<br />

Ausdruck nicht zu reden.<br />

Fehlende Satzzeichen sind dabei noch relativ harmlos<br />

(siehe etwa S. 40, 54, 70, 111). Die geradezu massenhaft<br />

auftretenden Rechtschreibfehler (allein in der Danksagung<br />

sind es deren drei, z.B. „Denkanstösse“) stören gewaltig.<br />

Besonders eigenwillige Beispiele sind: „Heildelberg“<br />

(S. XVII) und „omnimodo factorus“ (Fn. 219). Aus der rheinland-pfälzischen<br />

Stadt Mülheim-Kärlich macht Schneider<br />

„Mühlheim-Klärlich“ (S. 124) und aus einem Zirkumzidierten<br />

gar einen „Zirkumzisionierten“ (S. 68 und S. 116: „eines<br />

zirkumzisionierten Gliedes“). Manche Aussagen sind auch<br />

schlicht unverständlich: „Bzgl. der staatlichen Neutralität vgl<br />

die ‚Kruzifix-Entscheidung’ entschieden“ (Fn. 391). Weitere<br />

verunstaltete Sätze sprechen für sich selbst: „Auch der Vorwurf<br />

anderer Aktivisten […] bleiben Einzelfälle“ (S. 2 bei<br />

Fn. 6 im Text); „Erschreckender Weise werden neben dem<br />

Hygieneargument auch die Gründe aufgeführt, […] die ihren<br />

Ursprung eher in moralischen als tatsächlich religiösen Motivation<br />

finden lassen“ (S. 8); „Ausnahmen davon stellt Kanada<br />

dar […]“ (S. 15 in Fn. 61); „Die Beschneidung tangiert<br />

zum einen mit dem Selbstbestimmungsrecht“ (S. 91); „Die<br />

Beschneidung im Judentum […] versteht die Zirkumzision<br />

jedoch als ein Schlüsselzeichen […]“ (S. 112); „Der Erfolg<br />

beruht kausal […]“ (S. 110); „Unabhängig der Notwendigkeit<br />

von Schmerzempfindungen […]“ (S. 110); „Durch ihre Tatbestandsmäßigkeit<br />

und dem Fehlen eines darüber hinaus<br />

gehenden Zweckes […]“ (S. 117); „Jedoch unterliegen auch<br />

Erziehungsziele, hier z.B. zu einem bestimmten Glauben oder<br />

einer bestimmten Kultur dem Grundgesetz und damit den<br />

Rechten des Kindes, als Korrektiv“ (S. 125); „Unabhängig<br />

der Frage, ob […], entschuldigt dies demnach keine Strafbarkeit<br />

nach § 223 StGB“ (S. 127). – Wie gesagt, das sind nur<br />

einige (wenige) Beispiele.<br />

Nur am Rande sei erwähnt, dass die Arbeit von Schneider<br />

mit 132 Seiten nicht lang ist. Und sie wäre wahrlich noch viel<br />

kürzer, wenn man berücksichtigt, dass Schneider auf einigen<br />

(Fn. 351), Dörr und Schöbener (Fn. 460), Streinz (Fn. 461),<br />

Krey (Fn. 469), Tiedemann (Fn. 504), Beulke (Fn. 522).<br />

Seiten nahezu sämtliche Sätze als Absätze formatiert hat<br />

(etwa S. 2, 4, 14), dass jede Menge textfreier Platz und Leerseiten<br />

vorhanden sind (S. 12, 15, 16, 24, 36, 40, 44, 60, 87,<br />

88, 94, 104, 108, 129, 130), ganze Textpassagen nahezu<br />

wörtlich wiederholt werden (vgl. S. 58 mit 86), dass Silbentrennung<br />

nicht vorkommt (was zu hässlichen Lücken im Text<br />

führt, siehe S. 25, 26, 39, 65, 131) sowie ein sehr breiter<br />

Seitenrand und ein 1,5-facher Zeilenabstand gewählt wurde.<br />

Nun ist allein der Umfang einer Arbeit kein geeigneter Maßstab,<br />

um auf deren Qualität und das wissenschaftliche Niveau<br />

zu schließen. Zieht man jedoch in Erwägung, dass Schneider<br />

ein Thema bearbeitet hat, das bis zur Abgabe seiner Dissertation<br />

von Seiten der Rechtswissenschaft keine Aufmerksamkeit<br />

erfahren hatte, das neben schwierigen strafrechtlichen<br />

auch komplexe verfassungsrechtliche Aspekte enthält, dann<br />

können zumindest Zweifel aufkommen, ob sich ein solches<br />

Thema angemessen auf knapp 100 realen Seiten bearbeiten<br />

lässt.<br />

III. Nun soll der <strong>Inhalt</strong> der Arbeit vorgestellt und beleuchtet<br />

werden. Dabei wird sich klären, ob Schneider wenigstens<br />

insoweit die Voraussetzungen von § 2 Abs. 2 der Promotionsordnung<br />

des Fachbereichs, der ihn promoviert hat, erfüllt.<br />

Die Erfahrung lehrt, dass man in der Regel von einer schlechten<br />

Form auf den <strong>Inhalt</strong> schließen kann. Wer es mit den Formalien<br />

nicht so genau nimmt, dem fehlt meist auch bei der<br />

Auseinandersetzung mit der Sache die nötige Sorgfalt. Um es<br />

vorwegzunehmen: Schneider bestätigt diese Beobachtung.<br />

Im ersten Kapitel geht der Autor auf die „Ausgangsituation<br />

und Motivation der Beschneidung“ ein (S. 1-12). Er erwähnt,<br />

dass Zirkumzisionen in anderen Ländern, etwa den<br />

USA, mehr oder weniger routinemäßig vorgenommen werden,<br />

sich aber auch eine breite Gegenbewegung gebildet<br />

hat. 11 Gleichzeitig bemängelt er die Datenlage in Deutschland,<br />

was ihn feststellen lässt: „Sie [die medizinisch nicht<br />

indizierten Beschneidungen, (H. P.)] befinden sich damit in<br />

einem unüberprüfbaren, scheinbar rechtsfreien Raum“ (S. 3).<br />

Diese Schlussfolgerung ist nicht plausibel, denn die statistische<br />

Erfassung bzw. Nichterfassung eines Phänomens sagt<br />

rein gar nichts darüber aus, wie mit diesem Phänomen umgegangen<br />

wird und umzugehen ist. Ein Beispiel mag das verdeutlichen:<br />

Die Tatsache, dass Straftaten deutscher Staatsbürger<br />

mit Migrationshintergrund statistisch nicht ausdrücklich<br />

als solche ausgewiesen und separat erfasst werden, macht<br />

das Verhalten noch lange nicht „unüberprüfbar“ und diese<br />

Personen bewegen sich auch nicht in einem „scheinbar<br />

rechtsfreien Raum“. Der dürftigen Datenlage begegnet<br />

Schneider mit einer eigenen Erhebung, wobei er Daten vom<br />

Universitätsklinikum Frankfurt am Main aus den Jahren 2000<br />

bis 2004 vorlegt. Obwohl die Aussagekraft der Zahlen beschränkt<br />

sein dürfte (weil die Erfassung, etwa mit Blick auf<br />

das Alter der Bezugsgruppe, anscheinend fragmentarisch ist),<br />

zeigt sich, dass pro Jahr durchschnittlich etwa 20 medizinisch<br />

11<br />

Ob allerdings die Angabe von Adressen und Telefonnummern<br />

(Fn. 9-12) der betreffenden Organisationen in einer<br />

wissenschaftlichen Ausarbeitung am Platze ist, darf bezweifelt<br />

werden. Schließlich handelt es sich nicht um eine Broschüre<br />

für Hilfe suchende Betroffene.<br />

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179


Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

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nicht indizierte Zirkumzisionen an nicht einwilligungsfähigen<br />

Kindern durchgeführt werden. Bedenkt man, dass es sich<br />

dabei nur um Zahlen eines einzigen Krankenhauses handelt,<br />

wird zum einen die Verbreitung des Phänomens deutlich,<br />

zum andern die Notwendigkeit, Ärzten Rechtssicherheit zu<br />

verschaffen. 12<br />

Nachdem Schneider die Ausgangssituation umschrieben<br />

und mit Fallzahlen veranschaulicht hat, 13 befasst er sich mit<br />

der Motivation für die Vornahme von Beschneidungen und<br />

sagt, die Motive seien „nach einhelliger Auffassung unterschiedlicher<br />

Natur und teilweise nicht klar abzugrenzen,<br />

übergreifend“. Zum einen ist der Satz verworren und es bleibt<br />

im Dunkeln, warum Schneider etwas Banales mit einer „einhelligen<br />

Auffassung“ flankiert. Zum andern stimmt die Aussage<br />

im zweiten Teil des Satzes nicht. Ob jemand einen medizinischen,<br />

hygienischen, ästhetischen, kulturellen, rituellen<br />

oder religiösen Grund hat, lässt sich sehr wohl abgrenzen.<br />

Gerade bei einer religiös motivierten Beschneidung ist allein<br />

der religiöse Aspekt handlungsleitend. Abgesehen davon gibt<br />

es gar keine Notwendigkeit der Abgrenzung. Die Frage ist<br />

vielmehr, ob einzelne Aspekte (Hygiene, Ästhetik, Religion<br />

etc.) den Eingriff zu rechtfertigen vermögen. Wäre dies zu<br />

bejahen (etwa mit Blick auf Art. 4 und 6 GG), stünden weitere<br />

Gründe, also ein Motivbündel, einer Rechtfertigung nicht<br />

entgegen.<br />

Unbestritten ist der Eingriff gerechtfertigt, wenn er medizinisch<br />

motiviert, genauer indiziert ist. Schneider nimmt<br />

insoweit eine einseitige Differenzierung vor. Abzugrenzen sei<br />

„zwischen sogenannten Heilbehandlungen nach § 11 I S. 1<br />

SGB V […] und vorbeugenden Maßnahmen nach § 11 I S. 2<br />

SGB V“ (S. 10). Abgesehen davon, dass § 11 Abs. 1 SGB V<br />

aus nur einem einzigen Satz besteht, dafür aber aus fünf<br />

Nummern, ist die Differenzierung zwar wichtig für die Frage,<br />

ob ein Versicherter einen Leistungsanspruch hat, hilft jedoch<br />

überhaupt nicht weiter für die Frage einer rechtlich relevanten<br />

Rechtfertigung des Eingriffs. Anders als Schneider annimmt,<br />

ist insoweit nicht „abzugrenzen“, sondern „einzugrenzen“,<br />

d.h. es ist zu klären, ob Aspekte der Vorbeugung<br />

unter „Heilbehandlung“ zu subsumieren sind und also eine<br />

medizinische Indikation vorliegt. Behandelt wird dieser wichtige<br />

Aspekt allerdings kaum (S. 10/11, 21/22, 27/28). 14 Insoweit<br />

fällt auf, dass ein Standardwerk fehlt: Es handelt sich um<br />

das Buch von David L. Gollaher, Das verletzte Geschlecht.<br />

Die Geschichte der Beschneidung, 2002. Darin werden Vorbeugungsmaßnahmen<br />

und ihre Relevanz ausführlich thematisiert.<br />

Zudem hat Schneider die übrige Literatur offenbar nicht<br />

ausgewertet, sonst hätte er auf einschlägige medizinische<br />

Beiträge zum Thema der Zirkumzision stoßen und sie auswerten<br />

müssen. 15 Das gilt umso mehr, als das Argument der<br />

12<br />

Dazu Stehr/Putzke/Dietz, Deutsches Ärzteblatt 2008, A 1778.<br />

13<br />

Die Fundstellenangaben (Fn. 9, 13 und 14) genügen wissenschaftlichen<br />

Standards allerdings nicht. So heißt es etwa<br />

in Fn. 14: „Zahlen der British Medical Assoziation, London“.<br />

14<br />

Eingehend Putzke (Fn. 1), S. 669 (688).<br />

15<br />

Siehe nur Ehreth/King, in: Thüroff/Schulte-Wissermann<br />

(Hrsg.), Kinderurologie in Klinik und Praxis, 2. Aufl. 2000,<br />

S. 506; Riccabona, in: Steffens/Langen (Hrsg.), Komplikati-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

180<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Vorbeugung für die sozialrechtliche Problematik, die Schneider<br />

im Titel seiner Dissertation ausdrücklich nennt, unverzichtbar<br />

ist. Wer auch nur flüchtig einen Blick auf den Diskussionsstand<br />

wirft, weiß, dass sich dieser Punkt nicht mit 18<br />

Sätzen erledigen lässt (S. 26-28).<br />

Noch kürzer ist das „Kapitel 2: Die historische Entwicklung<br />

der Beschneidung“ (S. 13-15). Zutage tritt ein krasses<br />

Missverhältnis, wenn man das einschlägige („Die Geschichte<br />

der Beschneidung“), 314 Seiten umfassende Werk von Gollaher<br />

den 14 Sätzen von Schneider gegenüberstellt. Der<br />

Grund für das Missverhältnis ist ganz sicher nicht bei Gollaher<br />

zu suchen! Nun ist es keine Schande, eine wissenschaftliche<br />

Arbeit „schlank“ zu gestalten und zielstrebig die Probleme<br />

zu lösen, ohne historische oder sonstige Entwicklungen<br />

nachzuzeichnen. Genauso wenig ist es tadelnswert, eine<br />

Problematik mit solchen Gesichtspunkten zu flankieren. 14<br />

Sätze indes sind weder „Fisch noch Fleisch“ und verdienen<br />

nicht, „Kapitel“ genannt zu werden! Aber auch die wenigen<br />

Sätze sind mangelhaft. Schneider schreibt: „Die Beschneidung<br />

– medizinisch bei Männern auch Zirkumzision und<br />

Klitoridektomie bei Frauen genannt – […]“ (S. 14 am Anfang).<br />

Die weibliche Beschneidung auf die Klitoridektomie<br />

zu beschränken, ist falsch. Es handelt sich dabei lediglich um<br />

eine spezielle Form der Beschneidung. 16 Unterhalb wissenschaftlicher<br />

Standards bewegt sich auch die Quellenarbeit des<br />

Autors. Etwa hätte die Aussage „Noch heute ist [in, (H. P.)]<br />

einigen Gottesstaaten die Beschneidung gesetzlich vorgeschrieben“<br />

untermauert werden müssen, abgesehen von dem<br />

unklaren Gebrauch des Begriffs „Gottesstaat“. Schließlich<br />

behauptet Schneider: „Neben der fast überall anerkannten<br />

und praktizierten Beschneidung als medizinischen Heilbehandlung,<br />

ist kein Ort ausfindig zu machen, bei dem es nicht<br />

auch religiös praktizierte Beschneidung, sei es legal oder<br />

illegal, gibt“ (S. 15). In der Fußnote zu „Heilbehandlung“<br />

heißt es: „Ausnahmen davon stellt Kanada dar, wo zunächst<br />

versucht wird, durch Salben und Dehnungsmaßnahmen der<br />

Phimose zu begegnen“ (Fn. 61). Vom sprachlichen Missgriff<br />

abgesehen, sind beide Aussagen problematisch. Einerseits<br />

bietet Schneider für die behauptete Verbreitung („ist kein Ort<br />

ausfindig zu machen“) weder einen Beleg noch ließe sich für<br />

eine solche Behauptung ein empirisch belastbarer Nachweis<br />

führen. Andererseits findet die Salbenbehandlung als weniger<br />

intensiver Eingriff im Vergleich zur Zirkumzision z. B. auch<br />

in Deutschland statt. 17<br />

Den historischen Ausführungen folgt das 3. Kapitel, überschrieben<br />

mit „Die medizinische Betrachtung der Beschneidung“<br />

(S. 17-24). Zu Recht weist Schneider auf die Risiken<br />

hin, die bei jedem medizinischen Eingriff bestehen. 18 Abge-<br />

onen in der Urologie 2, 2005, S. 318; Stehr/Schuster/Dietz/<br />

Joppich, Klinische Pädiatrie 2001 (Nr. 213), 50.<br />

16<br />

Siehe dazu nur Kentenich/Utz-Billing, Deutsches Ärzteblatt<br />

2006, A 842; Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824.<br />

17<br />

Dazu Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde<br />

2008, 783 (786 in Fn. 19) m.w.N.<br />

18<br />

Der Autor hätte noch die Gefahr einer Verengung der<br />

Harnröhrenmündung (Meatusstenose) erwähnen können, die<br />

bei Neugeborenen in bis zu 32 Prozent der Fälle berichtet


Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sehen von dem richtigen Hinweis als solchem sind die sonstigen<br />

Ausführungen von Schneider laienhaft. Zunächst ist<br />

dem Autor offenbar der Unterschied zwischen „ambulant“<br />

und „Krankenhausaufenthalt“ nicht geläufig. Er schreibt: „Es<br />

sind jedoch gerade die ängstlichen Kinder, die aufgrund ihres<br />

renitenten Verhaltens nicht ambulant beschnitten werden<br />

können und wegen der Möglichkeit einer Vollnarkose ins<br />

Krankenhaus geschickt werden“ (S. 18). Erstens: Die sog.<br />

Allgemeinanästhesie ist nicht allein Krankenhäusern vorbehalten.<br />

Vielmehr gibt es jede Menge Arztpraxen, in denen die<br />

Möglichkeit besteht, Patienten in ein pharmakologisch induziertes,<br />

reversibles Koma (= Vollnarkose) zu versetzen.<br />

Zweitens: Selbst wenn Patienten zwecks einer Zirkumzision<br />

in einem Krankenhaus eine Vollnarkose erhalten, kann es<br />

sich um eine ambulante Beschneidung handeln. Das ist der<br />

Fall bei sog. tageschirurgischen Patienten, die nach dem<br />

Eingriff entlassen werden, also nicht über Nacht bleiben (das<br />

hieße dann „stationär“). Drittens: Als Quelle sich auf eine<br />

Fernsehreportage zu berufen (Fn. 64), ist nicht gerade überzeugend,<br />

geschweige denn wissenschaftlich.<br />

Unmittelbar im Anschluss hieran schreibt Schneider:<br />

„Um den unteren Eichelring wird dann der zweite Schnitt<br />

[…] vorgenommen“ (S. 18). Was der Autor wohl meint, ist<br />

die sog. Kranzfurche – einen „unteren Eichelring“ gibt es<br />

nicht. Wenig später ist zu lesen: „Schon die Narkose selbst ist<br />

mit erheblichen Risiken verbunden […]“ Auch hier muss der<br />

Autor sich vorwerfen lassen, keine Quelle anzugeben, ganz<br />

zu schweigen, dass er eine Erklärung dafür schuldig bleibt,<br />

wann ein Risiko erheblich ist. Eine Seite später (S. 19) wird<br />

es nicht besser: „Das Risiko einer Narkose wird nach neueren<br />

Erkenntnissen bei 1-2 Fällen auf 10000 Narkosen angenommen<br />

[…]“ Erstens: Welches Risiko? Zweitens: Neuere Erkenntnisse?<br />

Schneider zitiert eine Quelle von 1999. Das ist in<br />

der Medizin alles andere als „neu“. Noch „aktueller“ ist die<br />

Fundstelle in Fußnote 74 – das zitierte Buch stammt aus dem<br />

Jahr 1992. Auch der Satz, den die Fußnote ziert, ist falsch:<br />

Die Gefahr von Nachblutungen sei so hoch, „dass Chirurgen<br />

grds. eine Übernachtbehandlung bei der Beschneidung indiziert<br />

scheint“. Die deutschen Krankenhäuser würden aus<br />

allen Nähten platzen, wenn bei Eingriffen mit einprozentigem<br />

Nachblutungsrisiko allein ein stationärer Aufenthalt lege artis<br />

wäre. Das Gegenteil ist richtig: Die meisten kinderchirurgischen<br />

Zirkumzisionen werden ambulant durchgeführt. 19 Dazu<br />

im Widerspruch steht auch die Behauptung auf S. 25: „Ambulante<br />

Beschneidungen sind zwar möglich, werden aber [...]<br />

selten durchgeführt“ (S. 25). Riccabona schreibt dazu, dass<br />

Zirkumzisionen „häufig ambulant in den Praxen der niedergelassenen<br />

Kollegen durchgeführt“ werden. 20 Es bedarf aber<br />

auch gar keines Rückgriffs auf die Erfahrungen eines namhaften<br />

Kinderchirurgen, weil es Schneider selbst ist, der seine<br />

Aussage widerlegt, indem er auf S. 42 schreibt, dass die Be-<br />

wird (siehe Riccabona, in: Steffens/Langen [Fn. 15], S. 219,<br />

320: „eine der häufigsten Komplikationen“; Stehr/Schuster/<br />

Dietz/Joppich, Klinische Pädiatrie 2001, 50).<br />

19 Siehe nur Albrecht/Hoffmann, in: Nürnberger/Hasse/Pommer<br />

(Hrsg.), Klinikleitfaden Chirurgie, 4. Aufl. 2006, 225 (245).<br />

20 In: Steffens/Langen (Fn. 15), S. 318.<br />

schneidung bei „Juden durch einen Rabbi […] oder durch<br />

niedergelassene Ärzte“ vorgenommen wird.<br />

Geradezu abenteuerlich sind die Ausführungen auf S. 20.<br />

Schneider konstatiert mit Blick auf die Uniklinik Frankfurt<br />

und die von ihm dort erhobenen Zahlen, dass es in einem<br />

Zeitraum der letzten drei Jahre statistisch von 1.000 Operierten<br />

4,35 Kinder mit Nachblutungen und 2,175 Kinder mit<br />

Narbenbildung und Wundheilungsstörungen gab. Wenn man<br />

nun bedenkt, dass, so Schneider, „bis zu einem Viertel der<br />

Beschneidungen an männlichen Kleinkindern ohne medizinische<br />

Indikation vorgenommen wurden“, dann hätten „diesem<br />

Viertel beschnittener Jungen solch erhebliche Komplikationen<br />

[…] erspart werden können“. Dabei übersieht Schneider,<br />

dass man von einer statistischen Wahrscheinlichkeit (es handelt<br />

sich um ein Komplikationsrisiko) nicht auf tatsächliche<br />

Fälle schließen darf (was sich möglicherweise mit der latent<br />

vorhandenen Dramatisierungstendenz 21 erklären lässt). Auch<br />

mutet es seltsam an, das Risiko von Kastrationsängsten im<br />

gleichen Atemzug mit lymphatischen Ödemen (also einfachen<br />

Schwellungen) zu nennen (S. 20).<br />

Wenig später wird der Leser erneut Zeuge des wissenschaftlichen<br />

Tiefstandes. Schneider führt „einige Studien“ an,<br />

die zu dem Ergebnis gekommen sind, dass „sich beschnittene<br />

Männer seltener mit HIV infizieren als unbeschnittene“. Ein<br />

Beleg dafür ist nicht zu finden. Stattdessen behauptet Schneider<br />

einfach, dass „solche Studien häufig nicht ausreichend<br />

oder fehlerhaft“ sind. Ein solcher Vorwurf wiegt schwer – die<br />

an den Studien beteiligten Wissenschaftler und die sich auf<br />

die Ergebnisse berufende Weltgesundheitsorganisation werden<br />

begeistert sein, vor allem wenn sie realisieren, aus welcher<br />

Quelle die Schneidersche Kritik entspringt: aus zwei<br />

Zeitungsartikeln der Frankfurter Neuen Presse, genauer aus<br />

der Lokalausgabe „Höchster Kreisblatt“ (siehe Fn. 90 und<br />

91). Welchen Wert solche Verweise wissenschaftlich haben,<br />

muss man nicht kommentieren. 22<br />

Dass Schneider wenig davon hält, sich klar und richtig<br />

auszudrücken, wird auch auf S. 23 deutlich. Dort schreibt er<br />

zunächst: „Kritisch werden des Weiteren die möglichen<br />

Traumata der Kleinkinder betrachtet, die bis zu einer Hirnschädigung<br />

führen können“. Ungeklärt lässt er, um welche<br />

Traumata es geht: um medizinische (in Form einer Schädigung<br />

des Körpers, die durch Gewalt von außen entsteht) oder<br />

um Psychotraumata? Ein Blick in die angegebene Quelle<br />

(Fn. 93: ein Zeitungsartikel …) offenbart, dass es um<br />

Schmerzen geht. Darauf musste man erst einmal kommen:<br />

Einen Satz vorher werden Schmerzen ausdrücklich genannt<br />

und die Wendung „des Weiteren“ im nächsten ließ Neues<br />

vermuten. Wenig später widmet er sich der Eichel, „die von<br />

Natur aus als inneres Organ […] angelegt“ sei. Ob die Eichel<br />

ein Organ ist, darüber mag man streiten, ein inneres ist sie<br />

21<br />

Von einer „erheblichen Komplikation“ kann man etwa bei<br />

Auftreten einer Harnröhrenfistel sprechen (siehe Stark, in:<br />

Steffens/Langen [Fn. 15], S. 343 f.), nicht aber bei Nachblutungen<br />

oder Wundheilungsstörungen.<br />

22<br />

Ausführlich (und mit Nachweisen) zu den Studien und den<br />

Gründen, warum die Ergebnisse für die Rechtslage in Deutschland<br />

nicht relevant sind: Putzke (Fn. 1), S. 669 (689 ff.).<br />

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Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

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ganz sicher nicht. Schließlich (mit Blick auf S. 23) hat<br />

Schneider sich noch einen Nachteil ausgedacht (das muss<br />

man so sagen, weil für die folgende Behauptung keine Fundstelle<br />

angegeben ist): „Zudem entfällt die Abroll- und Gleitfunktion,<br />

damit wird in aller Regel der Einsatz von Gleitmitteln<br />

bei Masturbation und Verkehr notwendig“. Dass mit<br />

einem zirkumzidierten Penis der Gebrauch von Gleitmitteln<br />

die Regel sein soll, ist – mit Verlaub – grober Unfug.<br />

Nicht überzeugend sind auch die Ausführungen zu den<br />

„ethischen Aspekten“ (S. 23/24). Was Schneider dort an<br />

Bedenken vorträgt, lässt sich generell auf jeden medizinischen<br />

Eingriff übertragen, in den Eltern anstelle ihres nicht<br />

einwilligungsfähigen Kindes willigen. Auch dort wird der<br />

Eingriff „fremdbestimmt vorgenommen“, weshalb er nach<br />

Schneider mit „dem Grundsatz der besonders schutzwürdigen<br />

Nähebeziehung zwischen Patient und Arzt“ unvereinbar sei.<br />

Der sozialrechtlichen Problematik widmet Schneider sich<br />

in Kapitel 4 auf insgesamt fünfeinhalb Seiten (S. 25-30). Dort<br />

schildert er die aktuelle Rechtslage. Worin aber genau die<br />

sozialrechtlichen Probleme liegen sollen, erfährt der Leser<br />

allenfalls mittelbar: „Dennoch hat sich damit das Problem,<br />

dass die männliche Beschneidung durch Zutun des Staates<br />

unterstützt oder gar erst ermöglicht wird, nicht erledigt.“ Es<br />

lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass Schneider die<br />

männliche Beschneidung und damit zusammenhängende<br />

Leistungen der öffentlichen Hand zum Problem an sich erklärt,<br />

ehe er auch nur ein Wort dazu verloren hat, ob und<br />

warum es sich überhaupt um ein Problem handelt.<br />

Um welche Probleme es sich handeln könnte, erfährt der<br />

Leser ausdrücklich erstmals im 5. Kapitel: „Übersicht der<br />

juristisch relevanten Probleme der Beschneidung“ (S. 31-36).<br />

Dort wird die Klärung folgender Aspekte in Aussicht gestellt:<br />

Grundrechtseingriffe am Kind, konkret die Würde des Menschen,<br />

die körperliche Unversehrtheit, die Religionsfreiheit,<br />

das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die allgemeine<br />

Handlungsfreiheit. 23 Sodann will Schneider verfassungsrechtlichen<br />

Rechtfertigungen nachgehen, insbesondere mit Blick<br />

auf das elterliche Recht auf ungestörte Religionsausübung<br />

(Art. 4 Abs. 1, 2 GG) und die Bestimmung der Religion des<br />

Kindes. 24 Schließlich soll untersucht werden, ob sich ein<br />

Recht der Eltern zur Beschneidung ihres Kindes aus Art. 6<br />

Abs. 1, 2 GG ergibt und inwieweit Ärzte sich strafbar machen,<br />

wenn sie eine solche Operation durchführen.<br />

Schneider hätte gut daran getan, das gesamte 5. Kapitel an<br />

den Anfang seiner Arbeit zu setzen. Denn wer sofort klare<br />

Fragen formuliert, gerät nicht in Gefahr, über etwas zu<br />

schreiben, das die Klärung der eigentlichen Fragestellung<br />

nicht voranbringt. Dieses Vorgehen hätte den ersten 30 Seiten<br />

(möglicherweise) eine inhaltliche Struktur verschafft, und der<br />

23<br />

Ohne erkennbaren Grund hält Schneider sich an die im<br />

5. Kapitel vorgestellte Reihenfolge später allerdings nicht<br />

mehr.<br />

24<br />

Dass mit der Abkürzung „RKEG“ das „Gesetz über die<br />

religiöse Kindererziehung“ vom 15. 7. 1921 gemeint ist, setzt<br />

Schneider einfach als bekannt voraus. Es gibt in der gesamten<br />

Arbeit kein Verzeichnis der Abkürzungen, obwohl der Autor<br />

davon nicht gerade wenige verwendet.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

182<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Leser wüsste nach dem Studium von knapp einem Viertel der<br />

Arbeit, worum es eigentlich geht. Auch bleibt unklar, ob<br />

Schneiders Ausführungen sämtliche Zirkumzisionen (also<br />

auch die hygienisch, kosmetisch, ästhetisch oder sozial motivierten)<br />

erfassen oder allein oder hauptsächlich auf religiöse<br />

Beschneidungen zielen. Auch insoweit wäre eine Differenzierung<br />

und Klarstellung dringend vonnöten gewesen. 25<br />

Im 6. Kapitel beschäftigt Schneider sich mit „Grundrechtsverletzungen<br />

an Minderjährigen“ (S. 37-40). Zunächst<br />

stellt er fest, dass Minderjährige im Jahr 2000 einen Anteil<br />

von 19 Prozent an der Gesamtbevölkerung einnahmen. Er<br />

fährt fort: „Damit sind 15.642.023 Personen unter 18 Jahren,<br />

davon 20% – 8.029.885 Personen – männlich“. Man muss<br />

nicht viel von Statistik verstehen, um zu erkennen, dass die<br />

Zahlenangaben nicht stimmen. Im nächsten Satz stellt der<br />

Autor fest, dass 15,7 Prozent jünger als 14 Jahre alt seien.<br />

Anschließend ist zu lesen: „In Zahlen sind das 12.897.014,<br />

davon 16,5 %, also 6.619.145 Personen männlich“. Auch hier<br />

bleibt rätselhaft, wie Schneider zu dieser Prozentaussage<br />

kommt. Leider hilft auch ein Blick in die genannten Belege<br />

(Fn. 144, 145) nicht weiter, denn die Angabe „Auskunft des<br />

statistischen Bundesamtes, Stand 2000“ verrät weder etwas<br />

über den (üblicherweise anzugebenden) Stichtag noch die<br />

genaue Fundstelle. Bei aller Kritik an der Darstellung und<br />

den Quellenangaben ist die Frage nach dem Sinn der Auflistung,<br />

wie viele Minderjährige in Deutschland unter 14 Jahre<br />

alt sind, noch gar nicht gestellt.<br />

Im Anschluss daran greift Schneider auf die Zahlen kein<br />

einziges Mal zurück, leitet vielmehr über zur Grundrechtsfähigkeit<br />

und -mündigkeit. Er schließt sich der – angeblich nur<br />

„herrschenden“ – Meinung an, die auch Kindern die Fähigkeit<br />

zuspricht, Träger von Grundrechten zu sein (S. 37). Abrupt<br />

leitet er sodann über zur Einwilligungsfähigkeit bei ärztlichen<br />

Eingriffen, um die Frage aufzuwerfen, „ob eine Operation<br />

wie die Beschneidung einen Eingriff in die Grundrechte<br />

des Kindes darstellen kann und inwieweit die Eltern durch<br />

Einwilligung diesen gestatten können.“ (S. 38). Schneider<br />

begeht den gleichen Fehler, dem auch Schwarz 26 kürzlich<br />

erlegen ist. In seiner Erwiderung auf Schwarz hat Herzberg 27<br />

die Sache klargestellt: „Nach einer Legitimierung kann man<br />

sinnvollerweise nur fragen, wenn etwas ihrer bedürftig ist.<br />

25 Mit Blick auf den wissenschaftlichen Anspruch ist auch im<br />

5. Kapitel die Frage zu stellen, warum zwingend zu belegende<br />

Aussagen ohne Fundstelle vorkommen: „Die Messung der<br />

Cortisonwerte während und nach der Beschneidung hat gezeigt,<br />

dass der Patient trotz Betäubung Schmerz empfindet.<br />

Dieser dauert […] noch mindestens zwei Wochen an, bis die<br />

Wunde verheilt ist“ (S. 32, ähnlich auf S. 110). Im Übrigen<br />

hätte dieser durchaus wichtige Aspekt bereits im 3. Kapitel<br />

(„Die medizinische Betrachtung der Beschneidung“) erwähnt<br />

werden können und sollen. Dort ist lediglich ganz allgemein<br />

die Rede von Schmerzen (S. 23), wobei Schneider wiederum<br />

keinerlei Belege liefert (einschlägig und leicht zu finden wäre<br />

etwa der Aufsatz von Kropp gewesen; in: Monatsschrift Kinderheilkunde<br />

2003, 1075).<br />

26 In: JZ 2008, 1125.<br />

27 In: JZ 2009, 332.


Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Manche rituelle Einwirkung auf einen menschlichen Körper<br />

ist das nicht, weil sie außerhalb aller rechtlichen Relevanz<br />

liegt. Etwa das Ausgießen geweihten Wassers auf den Kopf<br />

des Täuflings oder der ‚Wangenstreich’, der zum Sakrament<br />

der Firmung gehört […] Solche Taten ‚verfassungsrechtlich<br />

legitimieren’ zu wollen, hieße auf Spatzen mit der Kanone<br />

schießen. Die juristische Frage […] erledigt sich mit der<br />

Feststellung, dass die Einwirkung den Körper nicht ‚misshandelt’<br />

(§ 223 StGB) und nicht ‚verletzt’ (§ 823 BGB), also<br />

unterhalb der tatbestandlichen Erheblichkeitsschwelle bleibt<br />

und deshalb keiner ‚Legitimierung’ bedarf.“<br />

Schneider sieht diesen Zusammenhang nicht, benennt aber,<br />

was die Einwilligungsproblematik betrifft, den richtigen<br />

Ansatz: Auszugehen ist nämlich vom Kindeswohl, zu finden<br />

in § 1627 S. 1 BGB (Schneider nennt fälschlich § 1626 BGB<br />

[siehe S. 39 und 98]). Insoweit weist er darauf hin, dass ein<br />

medizinisch indizierter Eingriff stets dem Kindeswohl entspreche.<br />

In einem solchen Fall müssen die Eltern 28 , so<br />

Schneider, in einen entsprechenden operativen Eingriff sogar<br />

willigen (S. 39). Dass dies nicht stimmt, zeigen sämtliche<br />

Beispiele, bei denen ein Eingriff medizinisch indiziert ist, es<br />

den Eltern gleichwohl freisteht, sich dagegen zu entscheiden<br />

(etwa bei Impfungen) 29 . Nach derzeitiger Rechtslage käme<br />

niemand auf die Idee, den Eltern in solchen Fällen einen<br />

Beurteilungsspielraum abzusprechen und eine Einwilligungspflicht<br />

aufzuerlegen. Anschließend ist zu lesen, dass „im<br />

Umkehrschluss“ die Eltern „medizinisch nicht-indizierte<br />

Eingriffe initiieren oder in diese einwilligen“ dürfen. Das<br />

Gegenteil ist richtig. Wer das Kindeswohl an eine medizinische<br />

Indikation knüpft, 30 der verwehrt den Personensorgeberechtigten<br />

gerade, dass sie bei fehlender Indikation operative<br />

Eingriffe „initiieren oder in diese einwilligen“ dürfen.<br />

Schneider erwähnt sodann eine „andere Auffassung“, die<br />

Ausnahmen zulasse. Einen Beleg für diese Auffassung sucht<br />

man vergebens. Auch stellt Schneider eine gewagte These<br />

auf: Es sei „wohl herrschende Meinung“, dass die rituelle<br />

Beschneidung unter den Begriff „Schönheitsoperation“ falle<br />

(S. 39/40, 54 und 73). In der betreffenden Fußnote (160)<br />

nennt er ein Urteil des Landgerichts Frankenthal und des<br />

OVG Lüneburg 31 . Von „Schönheitsoperation“ ist in der Entscheidung<br />

des OVG freilich nichts zu lesen. Und auch die<br />

Berufung auf das Landgericht Frankenthal hält einer Über-<br />

28<br />

Warum Schneider die Problematik auf die Eltern beschränkt,<br />

ist nicht erkennbar. Dafür gibt es sachlich auch<br />

keinen Grund. Die von Schneider aufgeworfenen Fragen<br />

stellen sich bei sämtlichen Fällen der Personensorge (näher<br />

Putzke [Fn. 1], S. 669 [683 in Fn. 72]).<br />

29<br />

Dazu Putzke (Fn. 1), S. 669 (692).<br />

30<br />

So etwa Kern, NJW 1994, 753 (756).<br />

31<br />

Nur am Rande sei erwähnt, dass Schneider das OVG mal<br />

als „OVG Lüneburg“ (etwa Fn. 19 und 194), mal als „Niedersächsisches<br />

OVG“ (siehe Fn. 160, 201, 227 und 383)<br />

bezeichnet. Beides ist richtig, weshalb man zwar Einheitlichkeit<br />

vermissen, die unterschiedlichen Namen aber hinnehmen<br />

mag. Weniger schön ist, dass Schneider den zitierten Beschluss<br />

des OVG vom 23.7.2002 (NJW 2003, 3290) auch als<br />

„Urteil“ bezeichnet (so etwa in Fn. 19, 119, 194 und 204).<br />

prüfung nicht stand. In der zitierten Entscheidung heißt es:<br />

„Nach dem Personensorgerecht haben Eltern nicht die Befugnis,<br />

unvernünftige Entschlüsse zum Nachteil ihrer Kinder<br />

zu treffen, weshalb ihre Entscheidungsfreiheit in aller Regel<br />

auf medizinisch indizierte Eingriffe beschränkt ist und<br />

Schönheitsoperationen nur ganz ausnahmsweise zulässig<br />

sind“ 32 . Aus dem Textzusammenhang wird deutlich, dass das<br />

Gericht Schönheitsoperationen beispielhaft für medizinisch<br />

nicht indizierte Eingriffe nennt, es aber mitnichten rituelle<br />

Beschneidungen dieser Fallgruppe zuordnet.<br />

Im Zusammenhang mit der Grundrechtsmündigkeit ist eine<br />

weitere Angabe des Autors zu korrigieren. Er schreibt:<br />

„Die Beschneidung wird häufig direkt nach der Geburt<br />

durchgeführt […]“ (S. 38). Die gleiche Bemerkung findet<br />

sich schon früher: „Die Beschneidung wird in der Regel<br />

stationär im Krankenhaus vorgenommen, häufig direkt im<br />

Anschluss an die Geburt“ (S. 25). – Wie muss man sich das<br />

vorstellen? Übergibt die Hebamme das Kind direkt dem Chirurgen,<br />

der nicht nur die Nabelschnur durchtrennt, sondern<br />

auch die Vorhaut? Welchen Arzt man in Deutschland auch<br />

fragt – niemand vermag von solchen Fällen zu berichten.<br />

Wahrscheinlich meint Schneider Zirkumzisionen an Neugeborenen,<br />

also innerhalb der ersten vier Wochen – aber das ist<br />

etwas ganz anderes als „direkt im Anschluss an die Geburt“.<br />

Am Ende des 6. Kapitels kommt Schneider zu dem Ergebnis,<br />

dass eine Beschneidung ohne medizinische Indikation<br />

nicht ohne weiteres dem Kindeswohl entspreche, vielmehr<br />

das Kind in seinen Grundrechten verletzt sein könne.<br />

Er leitet damit über zum „Kapitel 7: Schutz durch Eingriffsabwehr,<br />

Drittwirkung oder Schutzpflichtenlehre?“<br />

(S. 41-60). Eingangs umschreibt er die Problematik: Der<br />

Staat habe einen Handlungsauftrag, die Beschneidung zu<br />

unterbinden, wenn „die Verletzungshandlung durch den Staat<br />

vorgenommen wird, diesem zugerechnet wird oder er sie aus<br />

einer Fürsorgepflicht heraus nicht mehr dulden darf“. Eine<br />

unmittelbare staatliche Beteiligung an Beschneidungen verneint<br />

Schneider, auch für staatliche Krankenhäuser, weil dort<br />

privatrechtliche Behandlungsverträge geschlossen würden<br />

(S. 42, 43). 33 Sodann widmet er sich der Zurechnungsfrage<br />

und formuliert folgende Prämisse: „Die Duldung der Beschneidung<br />

dem Staat als ein Unterlassen zuzurechnen, wäre<br />

jedoch nur möglich, wenn das Grundrecht den Staat zur<br />

Erbringung von Leistungen verpflichtet, also über den reinen<br />

Abwehrcharakter hinausgeht.“ (S. 43, 44). An dieser Stelle<br />

wird erneut sichtbar, dass Schneider das Pferd beim Schwanz<br />

aufzäumt. Ob staatliche Organe eine Handlungspflicht haben,<br />

ergibt sich zunächst einmal aus den geltenden Gesetzen.<br />

Dazu zählt § 223 StGB. Wenn nun die religiöse Beschnei-<br />

32<br />

MedR 2005, 243 (244).<br />

33<br />

Das „Zwischenergebnis“ irritiert allerdings schon wieder.<br />

Dort heißt es: „Ein unmittelbarer staatlicher Eingriff liegt<br />

mangels hoheitlicher Anordnung der Beschneidung bzw. der<br />

Einwilligung nicht vor“. Was meint Schneider mit „hoheitlicher<br />

Anordnung der Einwilligung“? Auch die andere Lesart<br />

(„Ein unmittelbarer staatlicher Eingriff liegt mangels der<br />

Einwilligung nicht vor.“) ergibt keinen Sinn.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

183


Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

dung generell tatbestandlich eine Körperverletzung 34 darstellt<br />

und speziell bei Minderjährigen eine Einwilligung von Personensorgeberechtigten<br />

nicht rechtfertigend wirkt, 35 dann<br />

sind die Staatsanwaltschaften verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen<br />

und, soweit hinreichender Tatverdacht gegeben ist,<br />

Anklage zu erheben. Es bedarf in diesem Fall gar keines<br />

Umweges über Grundrechte. Die Handlungspflicht des Staates<br />

ist somit keine Konsequenz der Schutzpflichtenlehre,<br />

sondern ergibt sich schlicht und einfach aus dem Legalitätsprinzip,<br />

also dem einfachgesetzlichen Recht. Gäbe es § 223<br />

StGB nicht oder ließe sich die religiöse Beschneidung nicht<br />

subsumieren, bestünde für die von Schneider angestellten<br />

Überlegungen ein Bedürfnis. Schneider sieht auch diesen<br />

Zusammenhang nicht, verneint vielmehr die Zurechnung,<br />

weil es an einer sich direkt aus Grundrechten ergebenden<br />

Handlungspflicht des Staates fehle (S. 44).<br />

Auch die Beantwortung der Frage, ob eine eingriffsähnliche<br />

Beeinträchtigung aufgrund der Drittwirkung von Grundrechten<br />

gegeben ist (S. 45-49), hätte Schneider sich einfacher<br />

machen können. Denn es geht ja darum zu klären, ob etwa<br />

ein Behandlungsvertrag gültig ist oder Sozialleistungen für<br />

religiöse Beschneidungen zu gewähren sind. 36 Beides wäre<br />

ganz klar zu verneinen, wenn es sich bei religiösen Beschneidungen<br />

um Unrecht nach § 223 StGB handeln würde. Dass<br />

dies so ist, bejaht Schneider – allerdings erst im zwölften und<br />

damit letzten Kapitel.<br />

Spätestens die Beschäftigung mit der Schutzpflichtenlehre<br />

(S. 50-60) hätte Schneider nachdenklich stimmen müssen.<br />

Dort zitiert er das Bundesverfassungsgericht, das zu den<br />

verfassungsrechtlichen Schutzpflichten folgendes ausgeführt<br />

34<br />

H.M., siehe nur Brodag, Strafrecht, Besonderer Teil,<br />

9. Aufl. 2004, S. 151 in Fn. 26; Fischer, Strafgesetzbuch und<br />

Nebengesetze, Kommentar, 56. Aufl. 2009, § 223 Rn. 6b;<br />

Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2001, 6/231;<br />

Herzberg, JZ 2009, 332 f.; Jerouschek, NStZ 2008, 313 (317<br />

f.); Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 8. Aufl.<br />

2009, § 223 Rn. 22a; Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/<br />

ders. (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl.<br />

2005, § 223 Rn. 17; Putzke, MedR 2008, 268 (269); Rohe, JZ<br />

2007, 801 (802) in Fn. 7; Scheinfeld, in: Putzke u.a. (Fn. 1),<br />

S. 843 (859); Sternberg-Lieben, in: Böse u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />

für Knut Amelung zum 70. Geburtstag, 2009, 325<br />

(352, 353); a.A. Haft, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 8.<br />

Aufl. 2005, S. 145; Tröndle, in: Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch,<br />

Kommentar, 49. Aufl. 1999, § 223 Rn. 16a; wohl auch<br />

Schwarz, JZ 2008, 1125 (1128).<br />

35<br />

So Herzberg, JZ 2009, 332 (334 ff.); Jerouschek, NStZ<br />

2008, 313 (319); Putzke (Fn. 1), 707; Scheinfeld (Fn. 36), S.<br />

843 (859); Stehr/Putzke/Dietz, Deutsches Ärzteblatt 2008,<br />

A 1778, A 1780; Sternberg-Lieben (Fn. 34), 325 (352, 353);<br />

a.A. Gropp (Fn. 34), 6/231; Rohe, Alltagskonflikte und Lösungen,<br />

2. Aufl. 2001, S. 208; wohl auch Fischer (Fn. 34),<br />

§ 223 Rn. 6b; Joecks (Fn. 34), § 223 Rn. 22a; schwammig,<br />

im Ergebnis sich aber gegen eine Rechtsverletzung aussprechend<br />

Schwarz, JZ 2008, 1125 (1129).<br />

36<br />

Dazu LG Frankenthal MedR 2005, 243 (245) bzw. OVG<br />

Lüneburg NJW 2003, 3290.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

184<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

hat: „Ob, wann und mit welchem <strong>Inhalt</strong> sich eine solche<br />

Ausgestaltung von Verfassungs wegen gebietet, hängt von<br />

der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der<br />

Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten<br />

Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen<br />

ab.“ 37 Klarer kann man es nicht formulieren: Bevor Schutzpflichten<br />

ins Spiel kommen, sind die „schon vorhandenen<br />

Regelungen“ in den Blick zu nehmen. Weil Schneider die<br />

Frage der Strafbarkeit offenbar für nachrangig befindet, ist er<br />

gezwungen, im Abschnitt „Qualität der bereits vorhandenen<br />

Regelungen“ bei dem Satz „Die Beschneidung erfüllt den<br />

Straftatbestand der Körperverletzung“ (S. 58) nach hinten,<br />

auf das 12. Kapitel zu verweisen (ebenso auf S. 86). Spätestens<br />

an dieser Stelle hätten Schneider Zweifel an dem von<br />

ihm gewählten Aufbau seiner Arbeit kommen müssen. Stringenter<br />

wäre es gewesen, zuerst vorhandene Regelungen zu<br />

untersuchen (§ 223 StGB), sodann deren Effektivität zu prüfen<br />

(Praxis bei den Strafverfolgungsorganen, Verhalten der<br />

Gerichte und anderer staatlicher Institutionen etc.) und anschließend,<br />

falls Handlungsbedarf besteht, auf mögliche<br />

Schutzpflichten des Staates einzugehen. Wohlgemerkt: Der<br />

Aufbau, den Schneider gewählt hat, ist nicht falsch – er ist<br />

aber suboptimal. 38<br />

Nicht ideal sind auch die Widersprüche im 7. Kapitel. Auf<br />

Seite 58 ist zu lesen: „Allein das Vorliegen von Verstößen<br />

gegen eine solch allgemeine Strafrechtsnorm, indiziert noch<br />

keinen Anspruch gegenüber dem Staat auf weitergehende<br />

Schutzmaßnahmen.“ Im übernächsten Satz heißt es hingegen:<br />

„Allerdings besteht auch bei Vorliegen einer Schutznorm die<br />

Verpflichtung für den Staat, die Eingriffsverbote effektiv<br />

durchzusetzen, die die Integrität der Schutzgüter sicherstellen.“<br />

Abgesehen davon, dass die Aussage des zuerst zitierten<br />

Satzes höchst fraglich ist, handelt es sich um das genaue<br />

Gegenteil zum zweiten Satz. Ein solcher Widerspruch muss<br />

ins Auge fallen! Warum er es trotzdem schafft, in einer Dissertation<br />

veröffentlicht zu werden, ist dem Rezensenten ein<br />

Rätsel. Versteckter ist der zweite Widerspruch, wenige Zeilen<br />

später: Dort konstatiert Schneider, dass der Staat medizinisch<br />

nicht indizierte Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen<br />

Kindern nicht verfolge, sie vielmehr sogar dulde. Es folgt<br />

37<br />

BVerfGE 49, 89 (142).<br />

38<br />

Im Übrigen ist die Behandlung der Schutzpflichtenlehre<br />

bemerkenswert kurz. Wo andere sich mit Zweifeln plagen,<br />

macht Schneider die Sache auf zweieinhalb Seiten mal soeben<br />

klar. Flankiert wird alles mit ein paar Entscheidungen<br />

des Bundesverfassungsgerichts sowie mit einer Hand voll<br />

Literaturhinweisen. Andere einschlägige Abhandlungen sind<br />

nicht zu finden, etwa Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit<br />

des Grundgesetzes, 2006, S. 607 ff.; Cremer,<br />

Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 228 ff., 267 ff.; Dolderer, Objektive<br />

Grundrechtsgehalte, 2000, S. 354 ff.; Krings, Grund<br />

und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003; Preu,<br />

Subjektivrechtliche Grundlagen des öffentlichrechtlichen<br />

Drittschutzes, 1992, S. 120 ff.; Reiling, Zu individuellen<br />

Rechten im deutschen und im Gemeinschaftsrecht, 2004;<br />

Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten,<br />

1996; siehe auch Klein, NJW 1989, 1633.


Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

der Satz: „Deutlich wird dies an den hohen Zahlen der medizinisch<br />

nicht indizierten Beschneidungen, den offenen Anfragen<br />

bei Krankenkassen nach Übernahme der Kosten, wenn<br />

kein medizinischer Heilanspruch der Zirkumzision vorliegt,<br />

sowie den eindeutig geführten Akten der Kliniken, die als<br />

Beschneidungsgrund ‚Beschneidungswunsch der Eltern’<br />

angeben und keine medizinische Indikation eines Heileingriffes<br />

vorweisen können“ (S. 58). 55 Seiten zuvor (auf S. 3)<br />

hieß es noch: Während „Zahlen über Operationen aufgrund<br />

medizinischer Notwendigkeit vorliegen […], fehlen entsprechende<br />

Daten über die medizinisch nicht indizierten Beschneidungen<br />

völlig“. Woher kommen also plötzlich die<br />

„hohen Zahlen“? Auch von der Tatsache „offener Anfragen<br />

bei Krankenkassen“ berichtet Schneider zum ersten Mal. Erst<br />

recht wundert man sich über die Aktenführung der „Kliniken“,<br />

wo der Autor doch lediglich von einer einzigen Klinik<br />

Informationen eingeholt hat. All das hat mit Wissenschaft<br />

wenig zu tun.<br />

Bei aller Kritik darf und soll nicht vergessen werden, dass<br />

Schneider intuitiv die meines Erachtens richtigen Ergebnisse<br />

gefunden hat: Religiöse Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen<br />

Jungen erfüllen den Straftatbestand der Körperverletzung<br />

(S. 58). Der Staat hat die Pflicht, dieses Verhalten<br />

als Straftat zu verfolgen. Bislang kommt er diesem<br />

Schutzauftrag nicht nach (S. 60). – Freilich steckt der Teufel<br />

wieder im Detail: Zwar ist es richtig, dass den Staat eine<br />

Schutzpflicht trifft. Aber allein aus dem Erfülltsein eines<br />

Straftatbestandes kann sich keine Verfolgungs- oder gar<br />

Schutzpflicht ergeben. Andernfalls müsste der Staat einen<br />

Räuber vor dem Notwehr übenden Bankangestellten schützen.<br />

Schneider hätte nicht nur auf den Straftatbestand abstellen<br />

dürfen, sondern auf das Unrecht. Erneut rächt sich der<br />

unglückliche Aufbau.<br />

Ohne Überleitung widmet sich Schneider im 8. Kapitel<br />

der Frage „Verletzung von Art. 4 GG durch die Beschneidung?“<br />

(S. 61-87). Was der Leser anfangs sucht, ist eine<br />

Hilfestellung, worum es als nächstes geht. Er muss sich selbst<br />

klarmachen, dass anscheinend die vom Bundesverfassungsgericht<br />

aufgestellten Voraussetzungen (Art, Nähe und Ausmaß<br />

der Gefahren, vorhandene Regelungen, Rang des verfassungsrechtlich<br />

geschützten Rechtsguts) abgearbeitet werden<br />

und als nächstes geprüft wird, aus welchem verfassungsrechtlich<br />

geschützten Rechtsgut sich eine Schutzpflicht ergeben<br />

könnte und welchen Rang dieses Rechtsgut (unter Berücksichtigung<br />

kollidierender Grundrechtspositionen Dritter)<br />

hat. 39<br />

In diesem Zusammenhang bejaht Schneider die Eröffnung<br />

des Schutzbereiches von Art. 4 GG, weil die religiöse Be-<br />

39<br />

Ins Grübeln gerät man allerdings auf S. 85. Plötzlich geht<br />

es wieder um das „Bestehen einer Schutzpflicht“, die „Qualität<br />

des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgutes“ sowie<br />

die „Qualität der bereits vorhandenen Regelungen“. Der<br />

Leser sieht sich zurückgeworfen auf einen Punkt, den er<br />

längst überwunden glaubte, zumal die Ausführungen teilweise<br />

wörtlich mit bereits Gesagtem übereinstimmen (vgl. S. 86<br />

mit S. 58), ohne dass die spätere Passage als Zusammenfassung<br />

gedacht wäre.<br />

schneidung als irreversibler Eingriff die passiv-negative<br />

Glaubensfreiheit betrifft. Dem Kind werde nämlich „das<br />

irreversible Merkmal eines Bekenntnisses aufgezwungen“<br />

(S. 66); es gebe keinerlei Ausweichmöglichkeit (S. 67), der<br />

Eingriff habe sogar „zwangsmissionarische Züge“, weshalb<br />

es sich nicht nur um eine „bloße Belästigung“, sondern um<br />

eine „massive Störung der Grundrechtsposition aus Art. 4<br />

GG“ handele (S. 70). Schneider wählt die richtigen Worte,<br />

um die religiöse Beschneidung als das zu beschreiben, was<br />

sie ist: ein blutiges Ritual im Interesse der Eltern und ihrer<br />

Religion.<br />

Nicht plausibel ist hingegen, dass der Autor im Rahmen<br />

von Art. 4 GG auch noch nicht religiös, sondern hygienisch<br />

oder sozial begründete Zirkumzisionen problematisiert und<br />

prüft, ob sie der religiösen Beschneidung gleichzustellen<br />

sind. Er begründet dies damit, dass „die sozial motivierte<br />

Beschneidung […] faktisch dem Eingriff einer religiös motivierten<br />

Beschneidung“ gleicht. Aber was ist das für ein Ansatz?<br />

Der Gottesdienst in einem Theaterstück hat doch nicht<br />

deshalb etwas mit Religionsausübung zu tun, weil er „faktisch“<br />

einer katholischen Messe gleicht. Nichts anderes gilt<br />

für evident nicht religiös motivierte Zirkumzisionen. Erwartungsgemäß<br />

verneint Schneider eine Verletzung von Art. 4<br />

GG (S. 69).<br />

Im Anschluss an diese Feststellungen geht Schneider auf<br />

mögliche kollidierende Grundrechtspositionen ein, zunächst<br />

das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 GG. Ihm stellt er die<br />

Operationsrisiken und die Irreversibilität des Eingriffs gegenüber,<br />

weshalb die rituelle Beschneidung nicht über Art. 6<br />

GG gerechtfertigt sei (S. 70-75). Gestützt werde dieses Ergebnis<br />

durch die Aufschiebbarkeit des Eingriffs bis zu dem<br />

Zeitpunkt, an dem das Kind selbst fähig ist, wirksam einzuwilligen.<br />

Schon an dieser Stelle hätte der Autor auf die Problematik<br />

eingehen müssen, dass es im Judentum mit dem achten<br />

Tag nach der Geburt einen im Alten Testament festgelegten<br />

Zeitpunkt gibt, an dem die religiöse Beschneidung vorgenommen<br />

werden solle, der Islam hingegen keine solche Vorgabe<br />

macht (darauf geht Schneider erst ein auf den S. 78, 79<br />

bei der elterlichen Religionsausübung). Aber auch dieser<br />

Gesichtspunkt gibt den Eltern nicht das Recht, in den Eingriff<br />

zu willigen. Herzberg hat klar herausgearbeitet, dass religiöse<br />

Aspekte bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen für die<br />

Beurteilung des Kindeswohls außer Betracht bleiben müssen,<br />

sie kindeswohlneutral sind. 40 Dass Schneider auf diese Problematik<br />

erst eingeht, wenn er die elterliche Grundrechtsposition<br />

aus Art. 4 GG derjenigen des Kindes gegenüberstellt,<br />

zeigt erneut, dass seiner Arbeit eine innere Struktur fehlt.<br />

Deutlich zutage tritt dieser Umstand auch, weil Schneider<br />

dem auf Seiten des Kindes von ihm für verletzt gehaltenen<br />

Art. 4 GG sowohl das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6<br />

GG gegenüberstellt als auch das Recht der Eltern auf ungestörte<br />

Religionsausübung aus Art. 4 GG. Nicht ein einziges<br />

Mal erwähnt der Autor in diesem Zusammenhang das Grundrecht<br />

des Kindes auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2<br />

GG. Natürlich ist es ein gangbarer Weg, eine selektive Gegenüberstellung<br />

zu wählen, wenn sich bereits daraus ergibt,<br />

40 In: JZ 2009, 332 (335 f.).<br />

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Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

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dass die Abwägung zugunsten des Kindes ausfällt. Effektiv<br />

ist ein solches Herangehen indes nicht.<br />

Verblüfft zu werden, ist der Leser nach der Lektüre der<br />

bisher besprochenen Kapitel einigermaßen gewohnt. Schneider<br />

lässt aber nicht locker, die Sache immer wieder auf die<br />

Spitze zu treiben. Bei der rituellen Beschneidung sei nämlich<br />

zu differenzieren nach der „Durchführung und Beiwohnung<br />

an der Beschneidung“ (S. 75). Die Beiwohnung sei vom<br />

elterlichen Recht der religiösen Erziehung gedeckt (S. 76),<br />

die Durchführung müsse sich der Knabe allerdings nicht<br />

gefallen lassen (S. 82). Schneider spaltet nicht nur die Persönlichkeit,<br />

sondern auch die Haare. Wenn er mit seinen<br />

Ausführungen allerdings anspielt auf die passive Teilnahme<br />

an Beschneidungen Dritter, etwa der Geschwister, dann produziert<br />

er Probleme, die es vor ihm nicht gab. Was der Argumentation<br />

von Schneider, wo es darauf ankäme, sonst an<br />

Tiefe fehlt, kompensiert er woanders mit abenteuerlichen und<br />

überflüssigen Ausschweifungen. So widmet er sich auf anderthalb<br />

Seiten der Frage, ob die religiöse Beschneidung<br />

vergleichbar ist mit anderen religiösen Handlungen, etwa<br />

Taufe, Konfirmation oder Kommunion (S. 82, 83). Sicher,<br />

diesen Punkt muss man erörtern, weil selbst die Richter eines<br />

Oberverwaltungsgerichts Unterschiede nicht erkennen wollten.<br />

41 Allemal überflüssig ist aber, dafür Art. 3 GG zu bemühen<br />

und lehrbuchartig Allgemeinplätze abzuliefern („Der<br />

Gleichheitsgedanke gilt für alle Menschen, nicht nur für<br />

Deutsche.“ oder: „Er enthält ein subjektiv-öffentliches Recht<br />

auf Gleichbehandlung […]“ oder: „Dennoch bleibt ein weiter<br />

Entscheidungs- und Ermessensspielraum für den Gesetzgeber.“).<br />

Was die Abwägung der Grundrechtspositionen von Kind<br />

und Eltern angeht, kommt Schneider schließlich zu folgendem<br />

Ergebnis: „Die Gewährleistungen des Art. 4 GG für die<br />

Eltern haben also keinen Vorrang vor den Verbürgungen des<br />

Art. 4 GG für das Kind.“ (S. 78). Wer nun glaubt, damit sei<br />

die Sache ausgestanden, wird enttäuscht. Denn zwei Sätze<br />

später ist zu lesen: „Auf keinen Fall darf die Festsetzung des<br />

Schutzbereiches der beliebigen Interpretation des Grundrechtsträgers<br />

anheim gestellt werden.“ (S. 78). Das stiftet<br />

mehr Verwirrung als es Klarheit schafft. War nicht soeben<br />

die Rede davon, dass es keinen Vorrang gebe? Erneut sieht<br />

der Leser sich zurückversetzt an einen Punkt, den er glaubte,<br />

überwunden zu haben. Natürlich ist es richtig, dass Schneider<br />

sich mit der Verbindlichkeit der religiösen Beschneidung im<br />

Islam und Judentum beschäftigt. Geschehen müssen hätte<br />

dies – wie oben bereits gesagt – aber schon bei der Frage<br />

nach der Aufschiebbarkeit.<br />

Im 9. Kapitel fragt Schneider: „Verletzung der Menschenwürde<br />

durch die Beschneidung?“ (S. 89-94). Leider<br />

folgt eine Floskel der nächsten, ohne dass die Frage ihrer<br />

Klärung spürbar näher kommt. In der Sache bejaht Schneider<br />

eine Verletzung der Menschenwürde und eine daraus folgende<br />

Schutzpflicht des Staates. Es schließen sich zwei Kapitel<br />

an, worin der Autor den Fragen nachgeht: „Eingriff in die<br />

körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG durch die<br />

Beschneidung?“ (S. 95-103) und „Eingriff in das allgemeine<br />

41 So OVG Lüneburg NJW 2003, 3290.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

186<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Persönlichkeitsrecht gem. Art. 1 I GG i.V.m. 2 I GG; die allg.<br />

Handlungsfreiheit und EMRK durch die Beschneidung?“. Zu<br />

Recht weist Schneider darauf hin, dass Art. 2 GG der Vorrang<br />

gebührt vor dem elterlichen Erziehungsrecht. Das gelte<br />

sowohl bei religiösen, sozial und hygienisch motivierten<br />

Beschneidungen. Der von Schneider gewählte Aufbau bringt<br />

es mit sich, dass sich viele Aspekte wiederholen.<br />

Im 12. und letzten Kapitel geht Schneider schließlich auf<br />

die „Beschneidung als Körperverletzung“ ein (S. 109-130).<br />

Sein wie in einem Fallgutachten formulierter Obersatz enthält<br />

folgende Normenkette: 㤤 223 I, 224 I Nr. 2, 5, 226 I Nr. 2<br />

StGB“. Bereits an dieser Stelle muss man stutzen. Will<br />

Schneider ernsthaft erwägen, in der Zirkumzision eine „das<br />

Leben gefährdende Behandlung“ (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB)<br />

zu sehen und die Vorhaut als „wichtiges Glied“ (§ 226 Abs. 1<br />

Nr. 2 StGB) einzustufen? Trotz fehlender Sympathie für<br />

religiöse Beschneidungen – man sollte Synagogen und Moscheen<br />

im Dorf lassen. Abgesehen davon taucht in der späteren<br />

Prüfung § 224 StGB nur noch kurz und § 226 StGB gar<br />

nicht mehr auf. Schneider schreibt dazu: „Da der Grundtatbestand<br />

weder in Versuch noch Vollendung vorliegt, scheiden<br />

auch Qualifikation und Regelbeispiel aus.“ Es sei dazu lediglich<br />

angemerkt, dass es bei den Körperverletzungsdelikten<br />

keine Regelbeispiele gibt. 42<br />

Die weitere Prüfung der Tatbestandsmerkmale erwartet<br />

man allenfalls in Klausuren oder Hausarbeiten von Studienanfängern:<br />

„Dazu müsste er zunächst tatbestandlich handeln.<br />

Für ein vorsätzliches, vollendetes Begehungsdelikt bedeutet<br />

dies die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes.“ Das<br />

ist banal und bringt die Sache keinen Schritt voran.<br />

Wie planlos der Autor vorgeht, zeigt sich auch dort, wo er<br />

zweimal die Kausalität und objektive Zurechnung bejaht<br />

(S. 110 und 111). Der zweite Satz lautet: „An der Kausalität<br />

und der objektiven Zurechnung der Operation zum Beschneidungserfolg,<br />

also daran, dass sie diesen begünstigt, bestehen<br />

keinerlei Zweifel.“ Diese Beschreibung ist laienhaft. Weder<br />

Kausalität noch objektive Zurechnung lassen sich durch das<br />

Kriterium des Begünstigens erklären. Dass Schneider strafrechtsdogmatisch<br />

nicht sattelfest ist, zeigt sich an anderer<br />

Stelle noch deutlicher. Der bejahten objektiven Zurechnung<br />

lässt er die Frage nach der Sozialadäquanz folgen. Diesen<br />

Punkt zu problematisieren, ist richtig und wichtig. Wer sich<br />

aber sozialadäquat verhält, der schafft schon kein unerlaubtes<br />

Risiko, weshalb ihm der Erfolg objektiv nicht zurechenbar<br />

ist. Im Ergebnis verneint Schneider die Sozialadäquanz, wobei<br />

seine Argumentation nicht in die Tiefe dringt. 43 Auf der<br />

Ebene der Rechtswidrigkeit beschäftigt der Autor sich mit der<br />

42 Zudem hätte Schneider wenigstens prüfen müssen, ob das<br />

Unrecht des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vorliegt (dazu Putzke<br />

[Fn. 1], S. 669 [681, 682]), weil dies ggf. für Anstiftung oder<br />

Beihilfe wichtig sein könnte. Auch hängt von der Intensität<br />

des Unrechts die Höhe der Anorderungen an eine Rechtfertigung<br />

ab. Nicht zuletzt ist das von ihm gefundene Ergebnis<br />

(unvermeidbarer Verbotsirrtum) lediglich eine Momentaufnahme.<br />

43 Eingehend Herzberg, JZ 2009, 332 f.; siehe auch Putzke<br />

(Fn. 1), S. 669 (675 ff.).


Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Einwilligung. Sie wirksam zu erteilen, wird zu Recht sowohl<br />

für das Kind als auch für die Eltern verneint (S. 118, 119). 44<br />

Auf der Ebene der Schuld bejaht Schneider allerdings einen<br />

unvermeidbaren Verbotsirrtum für den Operateur und die<br />

einwilligenden Personensorgeberechtigten, weil der Staat<br />

zum einen religiöse Beschneidungen dulde, zum andern sie<br />

sogar unterstütze (S. 121). An dieser Stelle zeigt sich, dass<br />

Schneider gute Gründe gehabt hätte, seine Dissertation vor<br />

ihrer Veröffentlichung auf den neuesten Stand zu bringen.<br />

Wer für seine Arbeit das Publikationsverfahren „Book-on-<br />

Demand“ wählt und sie erst Ende Oktober 2008 veröffentlicht,<br />

der hätte allemal die Möglichkeit gehabt, den aktuellen<br />

Stand der Wissenschaft zu berücksichtigen. Die Unvermeidbarkeit<br />

eines Verbotsirrtums hätte sich unter Berücksichtigung<br />

der neuen Entwicklungen nämlich nicht mehr en passant<br />

begründen lassen. Erst recht verbietet sich zum jetzigen<br />

Zeitpunkt ein Rückgriff auf § 17 StGB. Unter Ärzten ist das<br />

Strafbarkeitsrisiko inzwischen bekannt, nicht zuletzt, weil auf<br />

Fortbildungsveranstaltungen darüber kontrovers diskutiert<br />

wird.<br />

IV. Das hier Geschilderte macht eines deutlich: Diese<br />

Dissertation erfüllt nicht einmal im Ansatz die Standards,<br />

denen eine wissenschaftliche Arbeit genügen muss. Neben<br />

den formalen Fehlern und Merkwürdigkeiten fehlt es ihr über<br />

weite Strecken an Plausibilität und flächendeckend an wissenschaftlicher<br />

Akribie – von rhetorischem Schwung ganz zu<br />

schweigen. Wohlgemerkt: Niemand ist gefeit davor, Fehler<br />

zu machen – sie finden sich nahezu in jeder Arbeit. Und kein<br />

redlicher Rezensent wird sich an verstreuten Formatierungs-<br />

oder Rechtschreibfehlern ergötzen. Aber Schneider hat die<br />

Toleranzgrenze allzu weit überschritten.<br />

Wiss. Assistent Dr. Holm Putzke, LL.M., Bochum<br />

44<br />

An dieser Stelle wären Ausführungen am Platze gewesen,<br />

ab welchem Alter die Einwilligungsfähigkeit gegeben ist<br />

(ausführlich dazu Putzke, NJW 2008, 1568, speziell 1570: „in<br />

der Regel zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr“).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

187


Stefan van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts Gärditz<br />

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188<br />

B u c h r e z e n s i o n<br />

Stefan van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen<br />

Völkerstrafrechts. Von den ad hoc Tribunalen der Vereinten<br />

Nationen zum ständigen Internationalen Strafgerichtshof<br />

unter besonderer Berücksichtigung des Ermittlungsverfahrens,<br />

Schriften zum Völkerrecht, Band 168, Duncker & Humblot-<br />

Verlag, Berlin 2006, 758 S., € 98,-<br />

Seit der Einrichtung der Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige<br />

Jugoslawien und für Ruanda durch Beschlüsse des UN-<br />

Sicherheitsrats und vor allem seit der Schaffung eines selbstständigen<br />

Internationalen Strafgerichtshofs durch das Römische-Statut<br />

genießt auch das Völkerstrafrecht eine wissenschaftliche<br />

Renaissance. Im Vordergrund des akademischen<br />

Interesses stand hierbei vor allem das materielle Völkerstrafrecht.<br />

Das Völkerstrafverfahrensrecht führte demgegenüber<br />

lange Zeit eher ein kümmerliches Dasein, bis von Christoph<br />

Safferling eine eingehende Untersuchung veröffentlicht wurde<br />

(Towards an International Criminal Procedure, Oxford/<br />

New York, 2001), die bis heute unübertroffene Maßstäbe<br />

gesetzt hat. Stefan van Heeck legt nunmehr mit der hier besprochenen<br />

Untersuchung erstmals auch ein deutschsprachiges<br />

Kompendium zum formellen Völkerstrafrecht vor, unter<br />

das er zum einen das Gerichtsverfassungs-, zum anderen das<br />

Strafprozessrecht fasst. <strong>Inhalt</strong>lich beschränkt der Verfasser<br />

das Thema im Wesentlichen auf das Recht des Ermittlungsverfahrens,<br />

da ihm dieses nachvollziehbar als Schlüssel zur<br />

Durchsetzung des Völkerstrafrechts erscheint (vgl. S. 24 f.).<br />

Die Untersuchung beruht auf einer Bochumer Dissertation<br />

aus dem Jahr 2005, die von Knut Ipsen betreut wurde, also<br />

ihrer Herkunft nach völkerrechtlich und nicht strafrechtlich<br />

ist (was im Übrigen auch für die von Bruno Simma betreute<br />

Dissertation von Safferling gilt).<br />

Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt in der Darstellung<br />

des positiven Rechts, das nach organisations- und verfahrensrechtlichen<br />

Gesichtspunkten systematisiert wird. Der<br />

Sache nach ist das Buch vor allem eine systematische Kommentierung<br />

der Statute und Verfahrensregeln der internationalen<br />

Strafgerichtsbarkeit, wobei der Verf. die Regelungen<br />

der Ad-hoc-Tribunale einerseits und des Internationalen<br />

Strafgerichtshofs andererseits jeweils gegenüberstellt. Insgesamt<br />

behält die Arbeit einen überwiegend deskriptiven Stil<br />

bei. Der Verf. beschreibt also den <strong>Inhalt</strong> des geltenden Gerichtsorganisations-<br />

und Prozessrechts vor allem rechtsanwendungsbezogen<br />

und wohl auch, soweit dies hier beurteilt<br />

werden kann, praxisnah. Die klare und griffige Strukturierung<br />

des Rechtsstoffes vermag zu überzeugen.<br />

Der erste Teil der Arbeit fasst „(g)rundlegende Aspekte<br />

des Völkerstrafrechts“ zusammen. Damit meint der Verf.<br />

weniger theoretische oder ideelle Aspekte, die einen (im<br />

Einzelnen durchaus umstrittenen) Grund für ein Strafrecht<br />

auf völkerrechtlichem Fundament legen. So wird etwa die<br />

theoretische Kontroverse in der Strafrechtswissenschaft über<br />

Grund und Berechtigung des Völkerstrafrechts, die namentlich<br />

durch eine Fundamentalkritik von Günther Jakobs angestoßen<br />

wurde, ebenso wenig aufgegriffen wie die völkerrechtspolitische<br />

Kritik am Völkerstrafrecht, die gerade im<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

internationalen Diskurs ungeachtet der Fortentwicklung des<br />

positiven Völkervertragsrechts aus gutem Grund auch heute<br />

noch fortgeführt wird. Dem Verf. geht es im ersten Kapitel<br />

vielmehr darum, den Untersuchungsgegenstand zu definieren<br />

und dies am positiv-rechtlichen Gerüst des formellen Völkerstrafrechts<br />

anzubinden. Historische Bezüge des Völkerstrafrechts,<br />

die möglicherweise zur Freilegung eines ideellen<br />

Substrats hätten beitragen können, werden eher kursorisch<br />

behandelt (S. 56-61), ohne auf die wenig erforschten und<br />

gerade im vorliegenden Kontext potentiell ergiebigen spezifisch<br />

prozessrechtlichen Konzepte von Vorläuferinstitutionen<br />

der modernen Völkerstrafgerichtsbarkeit näher einzugehen.<br />

Auf den ersten Blick ergiebiger erscheint der zweite Teil<br />

(„Strafverfahren und Gerichtsorganisation im modernen<br />

Völkerstrafrecht“; vgl. aber auch die abweichende Überschrift<br />

„Gerichtsorganisation“ auf S. 98), der sich dem Gerichtsverfassungsrecht<br />

zuwendet. Das Organisationsrecht ist<br />

bislang wissenschaftlich eher am Rande behandelt worden,<br />

sodass der Arbeit hier fraglos für die weitere Diskussion sehr<br />

hilfreiche Beschreibungen zu entnehmen sind. Zu vermissen<br />

ist freilich eine kritische und durch Rechtsvergleichung informierte<br />

Auseinandersetzung mit den inhärenten (nicht zuletzt<br />

auch rechtskulturellen) Konflikten, die gerade in das<br />

Organisationsrecht hineingetragen wurden. Beispielsweise<br />

Funktion und Status der Anklagebehörde sind bis heute sehr<br />

umstritten geblieben. Etwa die (nicht ganz von der Hand zu<br />

weisende) Besorgnis, eine unabhängige Staatsanwaltschaft<br />

könne in den Händen eines politischen ‚Aktivisten’ zu einer<br />

Gefahr für die internationalen Beziehungen mutieren, wurde<br />

durch das Statut des Strafgerichtshofs gerade nicht ausgeräumt.<br />

Die eher spärlichen Beschreibungen der Anklagebehörden<br />

(S. 107 f. bzw. S. 116 f.) werden der Brisanz der<br />

organisationsrechtlichen Fragen kaum gerecht, zumal es<br />

angesichts der Schwerpunktsetzung der Arbeit auf das Ermittlungsverfahren<br />

nahe gelegen hätte, sich gerade den dortigen<br />

Hauptakteuren etwas problemsensibler zu nähern.<br />

Der dritte Teil behandelt die „Einleitung des Ermittlungsverfahrens“.<br />

Hier werden präzise und mit beachtlicher Detailkenntnis<br />

die prozessualen Voraussetzungen einer Strafverfolgung<br />

durch die Anklagebehörde ausgebreitet, die es dem<br />

Benutzer des Buches ermöglichen, die relevanten Prüfungspunkte<br />

‚abzuarbeiten’. Die Arbeit enthält hier zahlreiche<br />

wertvolle Auslegungshinweise, aber auch kenntnisreiche<br />

Facetten praxisrelevanter Regelungen des Ermittlungsverfahrens.<br />

Etwa das Kapitel über „Untersuchungen an Ort und<br />

Stelle“ (S. 238 ff.) erfasst anschaulich die rechtlichen<br />

Schwierigkeiten internationaler Strafverfolgungsbehörden,<br />

die insbesondere zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen<br />

auf die Rechtshilfe der nationalen Stellen angewiesen bleiben.<br />

Gleichermaßen anschaulich und detailliert fallen die<br />

Teile 4 und 5 aus, die sich der „Durchführung des Ermittlungsverfahrens“<br />

und der „Beendigung des Ermittlungsverfahrens“<br />

zuwenden. Die staatliche Kooperation mit den internationalen<br />

Strafgerichten (S. 213-238) nimmt in der Justizpraxis<br />

sicherlich einen zentralen Stellenwert ein, da die Gerichtshöfe<br />

von der Durchsetzungsbereitschaft und -fähigkeit<br />

nationaler Behörden abhängig sind. Dass hierbei die grundlegende<br />

Monographie von Jörg Meißner (Die Zusammenarbeit


Stefan van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts Gärditz<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

mit dem Internationalen Strafgerichtshof nach dem Römischen<br />

Statut, 2003) nicht berücksichtigt wird, verwundert.<br />

Auch über das Beweisrecht als Herzstück des Ermittlungsverfahrens<br />

ließe sich sicherlich mehr diskutieren, als dies auf<br />

sechs Seiten (S. 269-274) möglich ist. Eine Gesamtdarstellung<br />

des formellen Völkerstrafrechts, wie sie van Heeck<br />

vorgelegt hat, kann selbstverständlich nicht zugleich auch<br />

eine fundierte Aufarbeitung aller kardinalen Einzelprobleme<br />

des Prozessrechts leisten. Jedoch provoziert dies die Frage,<br />

ob solche holistisch angelegten Untersuchungen überhaupt<br />

noch eine angemessene wissenschaftliche Durchdringung<br />

eines Sachgebiets ermöglichen oder ob nicht angesichts der<br />

noch unzureichenden Aufarbeitung des Themas vielmehr die<br />

Konzentration auf überschaubare Probleme (z.B. Rolle der<br />

Anklagebehörde, Beweisverwertungsverbote, Schweigerecht)<br />

sinnvoller wäre. Ungeachtet dessen hat die Vorgehensweise<br />

des Verf. freilich den unbestreitbaren Vorzug, aus dem wenig<br />

durchdrungenen Geflecht des Völkerstrafprozessrechts überhaupt<br />

erst einmal Strukturen herauszuschälen, auf die dann<br />

künftige Detailuntersuchungen dankbar zurückgreifen können.<br />

Der 6. Teil der Untersuchung („Zusammenfassung und<br />

Bewertung“) liefert die wohl interessantesten wissenschaftlichen<br />

Erträge der Arbeit. Hier führt der Verf. die Ergebnisse<br />

seiner Analyse vor allem unter vergleichenden Gesichtspunkten<br />

zusammen, indem nach den Unterschieden zwischen dem<br />

formellen Recht der Ad-hoc-Tribunale und des Internationalen<br />

Strafgerichtshofs gefragt wird. Der Verf. zeigt hier unterschiedliche<br />

Entwicklungspfade auf, die das formelle Völkerstrafrecht<br />

seit der Tribunaleinsetzung 1993/94 genommen<br />

hat. Mit Gespür für das Detail werden relevante Divergenzen<br />

aufgespürt und jeweils kompakten Bewertungen unterzogen.<br />

Die Arbeit enthält schließlich Anhänge mit den einschlägigen<br />

Statuten und Verfahrensregeln der beiden Tribunale<br />

sowie des Internationalen Strafgerichtshofs. Zusammen machen<br />

die Anhänge 350 Seiten aus, was ziemlich genau dem<br />

Umfang des wissenschaftlichen Teils entspricht. Der Käufer<br />

erwirbt daher zugleich eine (nicht ganz billige) Textausgabe<br />

zum internationalen Strafprozessrecht. War dies wirklich<br />

notwendig? Die verschiedenen Quellen sind immerhin alle<br />

durch das Internet bestens verfügbar. Der Anhang unterstreicht<br />

jedenfalls im Zusammenspiel mit der systematischen<br />

Struktur des Buches dessen praktischen Handbuchcharakter,<br />

was zumindest den Nutzwert für die (wenigen deutschsprachigen)<br />

Praktiker des Völkerstrafprozessrechts erhöhen dürfte.<br />

Resümierend lässt sich festhalten: An der ambivalenten<br />

Arbeit van Heecks werden sich absehbar die Geister scheiden:<br />

Wer eine kritisch-distanzierte Auseinandersetzung mit<br />

den theoretischen, historischen und politischen Grundlagenkonflikten<br />

erwartet, die auch das formale Völkerstrafrecht<br />

durchziehen und bislang (im Kontrast zum materiellen Recht)<br />

noch kaum ergründet sind, wird von der Arbeit eher enttäuscht<br />

sein. Doch solche spezifisch akademischen Erkenntnisinteressen<br />

verfolgte van Heeck mit seiner praxisorientierten<br />

Untersuchung ersichtlich von vornherein nicht. Der Verf.<br />

liefert vielmehr einen soliden, klar strukturierten und kompakt<br />

gefassten Kurzkommentar zum Völkerstrafprozessrecht.<br />

Wer einen solchen sucht, dem kann die Anschaffung des<br />

Buches vorbehaltlos nahegelegt werden.<br />

Privatdozent Dr. Klaus Gärditz, Bayreuth/Bonn<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

189


Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur Neumann<br />

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190<br />

B u c h r e z e n s i o n<br />

Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur.<br />

Zur Ausübung hoheitlicher Gewalt durch Staatsanwaltschaft<br />

und erkennendes Gericht im deutschen Strafverfahren,<br />

Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2008, 508 S., € 109,-<br />

Die Struktur des heutigen deutschen Strafverfahrens ist mit<br />

der Verfassung der Bundesrepublik nicht vereinbar – das ist<br />

die provozierende These der Tübinger Habilitationsschrift<br />

von Volker Haas. Verantwortlich für den Verfassungsverstoß<br />

sind nach Haas Strukturelemente, die dem Gericht eine aktiv<br />

strafverfolgende Rolle zuweisen, wie insbesondere der Untersuchungsgrundsatz<br />

(Inquisitionsmaxime, § 244 Abs. 2 StPO).<br />

In Hinblick auf die darin und in anderen Elementen des geltenden<br />

Strafverfahrensrechts zum Ausdruck kommende Aufgabe<br />

der Strafverfolgung müsse die Tätigkeit des Strafrichters<br />

im System der Gewaltenteilung (nicht der Judikative,<br />

sondern) der Exekutive zugeordnet werden. Es handle sich<br />

also nicht um Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG.<br />

Darin liege zwar kein Verstoß gegen Art. 92 GG, dem zufolge<br />

die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist.<br />

Wohl aber sei Art 19 Abs. 4 GG verletzt, der dem Betroffenen<br />

bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt den<br />

Rechtsweg garantiert. Denn unabhängig von der umstrittenen<br />

Frage, ob Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz grundsätzlich auch<br />

gegen richterliche Akte garantiere: Jedenfalls dann, wenn die<br />

Tätigkeit des Richters materiell eine Maßnahme der Exekutive<br />

darstelle, müsse der Weg zu einem Gericht eröffnet sein,<br />

dessen Tätigkeit Rechtsprechung im materiellen Sinne darstelle.<br />

Das aber sei bei den Strafgerichten (auch der höheren<br />

Instanzen) nicht der Fall – siehe oben.<br />

Die zentrale These lautet also, dass nach der gegenwärtigen<br />

Struktur des deutschen Strafverfahrens das Strafgericht<br />

nicht Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG ausübe, sondern<br />

als Exekutivorgan tätig werde. Zur Begründung dieser<br />

These ist zweierlei erforderlich. Zum einen müssen die strukturellen<br />

Voraussetzungen herausgearbeitet werden, unter<br />

denen eine gerichtliche Tätigkeit als Ausübung von „Rechtsprechung“<br />

erscheint. Zum andern muss in einer Analyse der<br />

Struktur des deutschen Strafverfahrens gezeigt werden, dass<br />

diese Voraussetzungen nach den gegenwärtig geltenden<br />

strafprozessualen Regeln nicht erfüllt sind. Mit der ersteren<br />

Aufgabe befasst sich Haas zu Beginn des fünften und letzten<br />

Kapitels der Arbeit, wo der von ihm zugrunde gelegte Rechtsprechungsbegriff<br />

herausgearbeitet wird. Einer detaillierten,<br />

die historische Entwicklung mit einbeziehenden Strukturanalyse<br />

des deutschen Strafverfahrens sind die ersten vier Kapitel<br />

der Arbeit gewidmet, deren Ergebnisse im zweiten Teil<br />

des fünften Kapitels aufgenommen und zur These der Verfassungswidrigkeit<br />

des gegenwärtigen Strafverfahrens verdichtet<br />

werden. Dabei steht bei der Analyse des Strafverfahrens<br />

durchgehend der Gesichtspunkt im Hintergrund, dass die<br />

aktive, inquirierende Funktion des Strafgerichts nicht mit der<br />

Ausübung von „Rechtsprechung“ vereinbar sei, die nach der<br />

Ansicht von Haas einen als unbeteiligter Dritter urteilenden,<br />

einem „Passivitätsgebot“ unterliegenden Richter voraussetzt.<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Diese Voraussetzung eines als unbeteiligter Dritter agierenden<br />

Richters wird idealtypisch im System des strafprozessualen<br />

Parteiprozesses verwirklicht, in dem der Richter nicht<br />

über den Angeklagten, sondern über die Berechtigung der<br />

Anklage zu urteilen hat und das Beweismaterial nicht sammelt,<br />

sondern lediglich bewertet. Im Mittelpunkt des ersten<br />

Kapitels steht deshalb die Frage, ob sich das deutsche Strafverfahren<br />

angesichts seiner Ausgestaltung als Anklageprozess<br />

als Parteiprozess einordnen lässt, in dem die Staatsanwaltschaft<br />

als Partei dem Angeklagten bzw. der Verteidigung<br />

als der anderen Partei gegenüber steht. Die Frage wird in<br />

Hinblick auf die Aufgabenverteilung zwischen Gericht und<br />

Staatsanwaltschaft verneint. Maßgeblich ist für Haas insofern,<br />

dass die Verfahrensherrschaft mit Beginn des Hauptverfahrens<br />

auf das Gericht übergeht, dass dem Gericht die Aufklärung<br />

des Sachverhalts obliegt (§ 244 Abs. 2 StPO) und<br />

dass das Gericht nicht an den Strafantrag des Staatsanwalts<br />

gebunden ist (zusammenfassend S. 63).<br />

Weiter ausgeführt und historisch vertieft wird diese Analyse<br />

im zweiten Kapitel, das sich mit dem Einfluss des<br />

Staatsverständnisses auf die Ausgestaltung des reformierten<br />

deutschen Strafverfahrens befasst. Die Halbherzigkeit der<br />

Reform, die das Inquisitionsprinzip zwar als Prinzip der Einleitung<br />

des Verfahrens durch den Anklagegrundsatz (und die<br />

Einrichtung einer zur Anklageerhebung berufenen Staatsanwaltschaft)<br />

ersetzte, aber als Untersuchungsgrundsatz (Instruktionsmaxime)<br />

beibehielt, wird überzeugend in einen<br />

Zusammenhang mit der „inneren Widersprüchlichkeit der<br />

konstitutionellen Monarchie“ (S. 65) gestellt, in der die<br />

Strafgerichte einerseits unabhängig urteilen, andererseits aber<br />

doch die Strafgerichtsbarkeit im Namen des Monarchen ausüben<br />

sollten. Der aktiven Stellung des Gerichts in diesem<br />

Verfahrensmodell entspricht, dass die Staatsanwaltschaft<br />

zwar die Anklage erhebt, diese aber nach Eröffnung des<br />

Hauptverfahrens nicht mehr zurücknehmen kann (§ 156<br />

StPO). Der Anklagegrundsatz ist insofern nur formell verwirklicht,<br />

er ist als Anklageform, nicht aber als Anklageprinzip<br />

ausgestaltet (zu dieser Unterscheidung mit Verweis auf<br />

die zeitgenössische Diskussion näher S. 107 ff.).<br />

Haas sieht die Instruktionsmaxime des geltenden Strafverfahrensrechts<br />

aber nicht nur in der Staatstheorie der konstitutionellen<br />

Monarchie, sondern auch in der „absoluten“<br />

Straftheorie des deutschen Idealismus verwurzelt. Diesem<br />

Zusammenhang geht das dritte Kapitel nach, das dem „Einfluss<br />

des Strafbegriffs auf die Ausgestaltung des deutschen<br />

Strafverfahrens“ gewidmet ist. Haas bezieht sich hier auf die<br />

Renaissance absoluter Straftheorien Ende des 18. und Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts, für die insbesondere Kant und Hegel<br />

stehen. Entgegen neueren Kant-Deutungen, die versuchen,<br />

Kant in erster Linie als Anhänger einer relativen Straftheorie<br />

zu erweisen, besteht Haas mit Recht darauf, dass sich zentrale<br />

Texte von Kant zur Notwendigkeit staatlichen Strafens nur<br />

unter der Voraussetzung eines primär präventiv orientierten<br />

Strafverständnisses sinnvoll interpretieren lassen (vgl. etwa<br />

S. 191 zum Insel-Beispiel). Das schließt freilich die Annahme<br />

präventiver Elemente im Strafverständnis von Kant<br />

(S. 191) ebenso wenig aus wie in der Straftheorie Hegels,<br />

deren „absolute“ Ausrichtung Haas gleichfalls akzentuiert.


Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur Neumann<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Jedenfalls ideengeschichtlich überzeugend erscheint auch der<br />

Zusammenhang, den Haas zwischen der Renaissance absoluter<br />

Straftheorien und dem Festhalten an der Inquisitionsmaxime<br />

herstellt: Hat der Staat dafür zu sorgen, dass durch die<br />

Bestrafung des Schuldigen Gerechtigkeit geschehe, dann ist<br />

das staatliche Gericht, das den Urteilsspruch zu fällen hat,<br />

notwendiger Weise für die Voraussetzungen eines gerechten<br />

Urteils, also auch für die korrekte Ermittlung des Sachverhalts,<br />

verantwortlich. Es kann die Beschaffung des Beweismaterials,<br />

das zur Überführung des schuldigen Angeklagten<br />

dienen soll, dann nicht einer anderen Institution (der Staatsanwaltschaft)<br />

überlassen.<br />

Im Anschluss an die institutionengeschichtlichen und ideengeschichtlichen<br />

Ausführungen des zweiten und dritten<br />

Kapitels versichert sich der Autor im vierten Kapitel der<br />

„gegenwärtigen Validität der für die Struktur des Strafprozesses<br />

verantwortlichen historischen Legitimationsgründe“. Im<br />

Zentrum stehen dabei Überlegungen zu „Wesen und Zweck“<br />

staatlicher Strafe nach den liberal-rechtstaatlichen Vorgaben<br />

des Grundgesetzes. Haas wendet sich hier zunächst klar<br />

gegen eine Rechtfertigung der Strafe über transzendente<br />

Gerechtigkeitskriterien nach dem Muster der absoluten Straftheorien<br />

(S. 237). Der Kritik verfallen insbesondere die<br />

Strafkonzeptionen, die in den Schriften von Ernst Amadeus<br />

Wolff und Michael Köhler sowie in den früheren Arbeiten<br />

von Arthur Kaufmann entwickelt werden. Haas sieht aber<br />

auch bei dem heute verbreitet akzeptierten Verständnis der<br />

Strafe als Tadel, als sozialethische Missbilligung, Elemente<br />

einer absoluten Straftheorie am Werk. Der Begriff der sozialethischen<br />

Missbilligung wird dabei, m. E. verfehlt, in einen<br />

Zusammenhang mit einer im Namen der Sittlichkeit oder der<br />

Religion ausgeübten Strafgewalt gestellt. Zulässig sei allein<br />

ein rechtlicher Tadel; auf den Begriff der sozialethischen<br />

Missbilligung solle verzichtet werden (S. 259).<br />

Diese strikte Ablehnung der absoluten wie der ihnen,<br />

nach Ansicht des Autors, verdächtig nahestehenden Straftheorien<br />

bedeutet nicht, dass Haas bei der Festlegung der Strafzwecke<br />

auf das Element der Vergeltung verzichten würde.<br />

Ansatzpunkt für die Verteidigung der vergeltenden Komponente<br />

staatlicher Strafe ist die prominent von Arthur Kaufmann<br />

vorgetragene Erwägung, dass das Schuldprinzip als<br />

strafbegrenzendes Prinzip nur dann überzeugend gerechtfertigt<br />

werden kann, wenn Schuld Strafe zugleich in einem normativ<br />

relevanten Sinne begründet (S. 260 ff.). Positiv begründet<br />

wird die mit dem „Schuldausgleich“ identifizierte<br />

Vergeltung unter dem Gesichtspunkt eines „berechtigten (!)<br />

Genugtuungsbedürfnisses der Allgemeinheit“ (S. 263). Durch<br />

die Auferlegung des Strafübels werde der „distributive Verhaltensvorteil“,<br />

den sich der Täter durch seine rechtswidrige<br />

Tat auf Kosten der Rechtsgemeinschaft verschafft habe,<br />

kompensiert. Auf diese Weise werde das Überordnungsverhältnis,<br />

das sich der Täter gegenüber der Rechtsgemeinschaft<br />

angemaßt habe, symbolisch aufgehoben (S. 262/263). In<br />

diesem Sinne bekennt sich der Verf. ausdrücklich zu einer<br />

„Vergeltungstheorie“ (S. 268). Die Lehre von der positiven<br />

Generalprävention wird demgegenüber als eigenständige<br />

Strafzwecktheorie ausdrücklich abgelehnt; sie beschreibe<br />

lediglich einen (wichtigen) tatsächlichen Effekt, der durch die<br />

als Mittel des Schuldausgleichs (aber auch: der Abschreckung)<br />

verstandene Strafe ausgelöst werde (S. 274).<br />

Das Problem dieser Strafkonzeption dürfte bei der Annahme<br />

eines „berechtigten“ Genugtuungsbedürfnisses der<br />

Allgemeinheit liegen. Dass dieses Genugtuungsbedürfnis<br />

nicht nur als sozialpsychologisches Phänomen existent, sondern<br />

auch legitim sein soll, wird nicht begründet. Zwar ist<br />

richtig, dass man den Gesichtspunkt des gerechten Ausgleichs<br />

durch Strafe auf den „distributiven Verhaltensvorteil“<br />

beziehen kann, den sich der Täter im Vergleich zu den<br />

rechtstreuen Bürgern durch die Straftat (jedenfalls in vielen<br />

Fällen) verschafft oder verschaffen will. Aber ganz abgesehen<br />

davon, dass dann detailliert zu begründen wäre, weshalb<br />

der Gerechtigkeit nicht durch den bloßen Entzug der angemaßten<br />

Vorteile Genüge geschehen kann: wie sich dieser<br />

Gesichtspunkt zu dem Aspekt des „berechtigten“ Genugtuungsbedürfnisses<br />

verhält, bleibt unklar. In diesem Teil lässt<br />

die Arbeit die sonstige Klarheit der Gedankenführung vermissen.<br />

Das gilt nicht für die in diesen Abschnitt integrierten Ausführungen<br />

zu den unterschiedlichen Modellen der Strafzumessung<br />

(Spielraumtheorie, Theorie der Punktstrafe, Stellenwerttheorie,<br />

Theorie der tatproportionalen Strafzumessung).<br />

Gleichgültig, ob man dem Verf. bei seiner Verteidigung<br />

der Spielraumtheorie im Ergebnis folgt oder nicht: die<br />

Argumente pro und contra werden scharfsinnig erörtert, und<br />

jedenfalls de lege lata dürfte in Hinblick auf die Regelung des<br />

§ 46 StGB ein anderes Modell als Theorie des positiven<br />

Rechts kaum in Betracht kommen.<br />

Das fünfte Kapitel, dem die Aufgabe zukommt, die These<br />

der Verfassungswidrigkeit des heutigen deutschen Strafverfahrens<br />

zu entfalten und zu belegen, konzentriert sich zunächst<br />

auf die Frage, „ob die Funktion, die der Richter im<br />

deutschen Strafprozess ausübt, den Kriterien der Rechtsprechung<br />

im Sinne von Art. 92 GG genügt“ (S. 305). Die Antwort<br />

darauf hängt natürlich maßgeblich von dem in Art. 92<br />

GG zugrunde gelegten Rechtsprechungsbegriff ab, mit dem<br />

sich der Verf. im Folgenden ausführlich beschäftigt. Im Streit<br />

zwischen einem formellen und einem materiellen Rechtsprechungsbegriff<br />

optiert er überzeugend für den letzteren. In der<br />

Tat würde ein formeller Rechtsprechungsbegriff (dem zufolge<br />

Rechtsprechung als die Tätigkeit der Gerichte zu definieren<br />

wäre) Art. 92 GG zu einer tautologischen und damit inhaltsleeren<br />

Norm degradieren (S. 308). <strong>Inhalt</strong>lich wird Rechtsprechung<br />

in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen<br />

im Schrifttum als „Entscheidung über das Bestehen<br />

eines Rechtsverhältnisses durch einen unbeteiligten Dritten“<br />

definiert (S. 339). Voraussetzung für eine Entscheidung als<br />

unbeteiligter Dritter ist dabei nicht nur Objektivität, wie sie<br />

auch von einer Verwaltungsbehörde verlangt wird (S. 338),<br />

sondern auch Neutralität im Sinne der Abwesenheit eines<br />

eigenen Interesses an dem Ergebnis der Entscheidung. Neutralität<br />

setze „schon begrifflich als spezifische Einstellung des<br />

gerichtlichen Organs die Existenz mehrerer Rechtssubjekte<br />

voraus, über deren Rechtsverhältnis durch den Prozess<br />

rechtskräftig entschieden wird“ (S. 339). Die für den derzeitigen<br />

Strafprozess schicksalhafte Frage heißt dann, ob diese<br />

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191


Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur Neumann<br />

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Voraussetzungen in Bezug auf die richterliche Entscheidungstätigkeit<br />

im deutschen Strafverfahren gegeben sind.<br />

Diese Frage wird im anschließenden zweiten Abschnitt<br />

des fünften Kapitels, der teilweise auf die vorhergehenden<br />

Kapitel Bezug nimmt, verneint. Das erkennende Gericht<br />

fungiere nicht als unbeteiligter Dritter, sondern als „Sachwalter<br />

des staatlichen Strafrechts“ und gehöre deshalb funktionell<br />

zur Exekutive (S. 349). Besonders herausgestellt wird die<br />

aktiv gestaltende Rolle, die dem Gericht bei der Strafzumessung<br />

zukomme: Strafzumessung sei ein Willensakt (S. 389<br />

u.ö.), dessen (auch) präventive Orientierung der Strafzumessung<br />

eine kriminalpolitische Dimension verleihe (S. 396).<br />

Auch bei gerichtlichen Entscheidungen im Rahmen der<br />

§§ 153, 153a StPO handele es sich nicht um Erkenntnis-,<br />

sondern um Willensakte (S. 400). Schließlich sei die aktive<br />

Rolle, die das Gericht derzeit bei strafprozessualen Absprachen<br />

in der Hauptverhandlung spiele, mit der Stellung eines<br />

neutralen Dritten nicht vereinbar (S. 403).<br />

Dieser Befund führt, wie schon eingangs festgestellt, noch<br />

nicht zur Diagnose der Verfassungswidrigkeit des Strafverfahrens<br />

in der Ausgestaltung durch die geltende Strafprozessordnung.<br />

Denn Art. 92 GG schließt, wie Haas richtig sieht,<br />

die Zuweisung exekutiver Aufgaben an die Gerichte nicht<br />

aus. Wohl aber liege ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG<br />

vor, weil gegen das Strafurteil als Maßnahme der Exekutive<br />

nicht der Weg zu Gerichten gegeben sei, die Rechtsprechung<br />

im materiellen Sinne ausübten. Als Ergebnis wird daher festgehalten,<br />

dass „im Bereich der Strafgerichtsbarkeit der durch<br />

Art. 19 IV GG gewährte Anspruch auf materielle Rechtsprechung<br />

bis heute nicht eingelöst worden ist, weil der Strafrichter<br />

nicht als unbeteiligter Dritter über ein fremdes [subjektives,<br />

U. N.] Strafrecht urteilt“ (S. 421). Die Verfahrensänderungen,<br />

die nach dieser Diagnose erforderlich wären, um den<br />

Strafprozess verfassungskonform auszugestalten werden am<br />

Ende der Arbeit explizit in Form einer „Skizze“ präsentiert.<br />

Vorgeschlagen wird ein zweiteiliges, in ein Eingriffs- und ein<br />

Rechtsschutzverfahren gestuftes Verfahren, in dem das<br />

Rechtsschutzverfahren als Parteiprozess ausgestaltet werden<br />

und damit der Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG entsprechen<br />

soll. Der Untersuchungsgrundsatz soll nur für die Tätigkeit<br />

des Staatsanwalts gelten, der Richter bei der Strafzumessung<br />

an den Strafantrag des Staatsanwalts gebunden sein. Da das<br />

Gericht nach dem von Haas vorgeschlagenen Modell auf die<br />

Überprüfung des Handelns der Staatsanwaltschaft beschränkt<br />

ist, also nicht selbst die Verantwortung für den in der Strafverhängung<br />

liegenden Grundrechtseingriff übernimmt, stellt<br />

sich bei Freiheitsstrafen das Problem ihrer Vereinbarkeit mit<br />

Art. 104 Abs. 2 GG, dem zufolge über die Zulässigkeit einer<br />

Freiheitsentziehung nur der Richter zu entscheiden hat. Der<br />

Verf. hält dieses Problem aber auch de constitutione lata für<br />

lösbar (S. 426).<br />

Der Verf. hat eine hochinteressante, materialreiche und in<br />

vielen Punkten (z.B. zur Geschichte des reformierten Strafverfahrens,<br />

zur Strafzumessung und zur Theorie der unbestimmten<br />

Rechtsbegriffe [S. 398 ff.]) auch unabhängig von<br />

der spezifischen Stoßrichtung der Arbeit weiterführende<br />

Untersuchung vorgelegt. Dass man an vielen Punkten mit<br />

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192<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

guten Gründen anderer Meinung sein kann, versteht sich bei<br />

einer Arbeit, die es unternimmt, eine höchst eigenwillige<br />

These zu begründen, von selbst. So überzeugt mich etwa das<br />

für Haas zentrale Argument, der Untersuchungsgrundsatz sei<br />

mit der Stellung des Richters als unbeteiligter Dritter im<br />

Sinne (seiner Interpretation) des Art. 92 GG unvereinbar<br />

(S. 354 u.ö.), nicht. Denn die Verpflichtung des Gerichts auf<br />

Wahrheit (als Voraussetzung der Gerechtigkeit), die sich in<br />

diesem Prinzip widerspiegelt, impliziert noch nicht die Ausübung<br />

eines Strafverfolgungsinteresses, sondern dient in<br />

gleicher Weise dem Schutz des unschuldig Angeklagten vor<br />

einer ungerechtfertigten Verurteilung. Wenn der Verf. demgegenüber<br />

auf die Unschuldsvermutung verweist und aus<br />

dieser ableitet, dass die gerichtliche Untersuchung nur den<br />

Zweck haben könne, den Angeklagten zu überführen<br />

(S. 420), so überzeugt das nicht. Denn die Unschuldsvermutung<br />

steht funktional im Kontext eines Verfahrens, das der<br />

Klärung der Schuldfrage und insofern der Ermittlung der<br />

Wahrheit dient, und wäre außerhalb dieses Kontextes nicht<br />

lebensfähig. Man kann also nicht, wie von Haas nahe gelegt,<br />

argumentieren, ohne Untersuchungsgrundsatz müsste das<br />

Gericht den Angeklagten aufgrund der Unschuldsvermutung<br />

sowieso freisprechen, so dass die gerichtliche Untersuchung<br />

nur der strafrechtlichen Verfolgung dienen könne. Aber diese<br />

und andere Fragen sollten in einer ausführlichen wissenschaftlichen<br />

Diskussion geklärt werden, die der beeindruckenden<br />

Arbeit von Haas zu wünschen und zu prophezeien<br />

ist.<br />

Prof. Dr. Ulfrid Neumann, Frankfurt am Main


Klaus Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess Pühringer<br />

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B u c h r e z e n s i o n<br />

Klaus Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess, C.F.<br />

Müller Verlag, Heidelberg 2005, 338 S., € 39,-<br />

Die verstärkte Einbeziehung des Opfers in den Strafprozess<br />

begann in Deutschland Mitte der 80er Jahre. Für diese Entwicklung<br />

waren neben Initiativen der Opferschutzorganisationen<br />

und Erkenntnissen der jungen Viktimologie insbesondere<br />

auch zahlreiche internationale Rechtsakte der Vereinten<br />

Nationen und des Europarats verantwortlich. Den Höhepunkt<br />

dieser internationalen Entwicklung setzte der Rahmenbeschluss<br />

des Rates der europäischen Union vom 15.3.2001<br />

über die Stellung des Opfers im Strafverfahren. Aufgrund der<br />

damit verbundenen Umsetzungsverpflichtung war auch in<br />

Deutschland eine umfassende Reform der Opferrechte notwendig<br />

geworden, die mit dem Opferrechtsreformgesetz<br />

2004 erfolgte. Spätestens seit der mit dem Opferrechtsreformgesetz<br />

einhergehenden Aufwertung des Opfers kommt<br />

der im Strafverfahren tätige Verteidiger nicht mehr umhin,<br />

sich mit der Rolle des Opfers als Subjekt im Verfahren auseinanderzusetzen,<br />

wofür sich das vorliegende Werk besonders<br />

eignet. Neben der entsprechend dem Titel zu erwartenden<br />

Darstellung der Rechte des Opfers im Strafprozess fügen sich<br />

praktische und auch taktische Hinweise zu einem für den<br />

Rechtsanwender besonders wertvollen Konglomerat.<br />

Nach einem knappen Überblick über die Entwicklung der<br />

Opferrechte folgt eine kurze Begriffsklärung der involvierten<br />

Verfahrensbeteiligten, wobei naturgemäß der Begriff des<br />

Verletzten an dieser Stelle keiner abschließenden Klärung<br />

zugeführt werden kann. Für die Rolle des Verteidigers sicherlich<br />

von besonderem Interesse ist das daran anschließende<br />

Kapitel über die Vorgehensweise von der Mandatsübernahme<br />

bis zur Einleitung des Strafverfahrens. Gerade in diesem<br />

Stadium erfolgt die wesentliche Weichenstellung für das<br />

gesamte Verfahren. Die Einhaltung aller notwendigen Schritte<br />

wird durch eine im Anhang abgedruckte „Checkliste“<br />

erleichtert. Da dem Opfer nach wie vor eine wichtige Rolle<br />

als Zeuge im Verfahren zukommt, befasst sich der Autor in<br />

einem der ersten Kapitel mit den Rechten des Opferzeugen<br />

und des anwaltlichen Zeugenbeistands und insbesondere mit<br />

den Regelungen über die Vernehmung des Opferzeugen.<br />

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass der Autor<br />

auch auf die zu beachtende Ambivalenz bezüglich des Einsatzes<br />

von Videotechnik näher eingeht, und die Problematik<br />

für den Rechtsanwender verständlich aufzeigt. Im Umfang<br />

erheblich kürzer werden die allgemeinen Rechte des Verletzten<br />

dargestellt. Sehr ausführlich befasst sich der Autor hingegen<br />

mit den rechtlichen Rahmenbedingungen für den Täter-<br />

Opfer-Ausgleich (TOA), wobei sogleich in der Einleitung die<br />

Vor- und Nachteile für den Beschuldigten und das Opfer, und<br />

die generell vor Einleitung eines TOA anzustellenden Überlegungen<br />

genannt werden. Die vielfältigen Anwendungsbereiche<br />

des TOA werden systematisch dargestellt und erleichtern<br />

somit den Einstieg in dieses Rechtsinstrument erheblich.<br />

Den Schwerpunkt des vorliegenden Werkes bilden eindeutig<br />

die unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten (Klageerzwingungsverfahren,<br />

Nebenklage, Adhäsionsverfahren, Pri-<br />

vatklage), die dem Opfer einer Straftat je nach Sachlage offen<br />

stehen, wobei sich der Autor nicht auf die Darstellung der<br />

Rechte des Verletzten beschränkt, sondern auch Empfehlungen<br />

zu praktischen und taktischen Vorgehensweise gibt. Je<br />

nach Art der Teilnahme des Verletzten am Verfahren werden<br />

die zu setzenden Verfahrenshandlungen Schritt für Schritt<br />

und unter Einbeziehung der Rechtsprechung erklärt und auf<br />

ihre Bedeutung hin analysiert, wobei auch die Vor- und<br />

Nachteile einzelner Verfahrensschritte für das Opfer genannt<br />

und gegeneinander abgewogen werden. Der Autor begnügt<br />

sich dabei nicht mit bloßen Ausführungen über die einzelnen<br />

Rechten des Opfers; vielmehr finden sich zahlreiche Hinweise<br />

zur Behandlung und Einbeziehung des Verletzten bei den<br />

einzelnen Verfahrensschritten und praktische Empfehlungen<br />

an den Verteidiger, wie er die dem Opfer eingeräumten Rechte<br />

effektiv im Verfahren einsetzen kann, um den gewünschten<br />

Erfolg zu erreichen. Dies geht mitunter soweit, dass sich<br />

neben den Ausführungen zu den formellen Anforderungen an<br />

bestimmte Schriftsätze Hinweise zu den empfohlenen Eintragungen<br />

in den Fristenkalender finden. Jede Beteiligungsmöglichkeit<br />

des Verletzten wird auch in Bezug auf die Kosten des<br />

Verfahrens und der Rechtsanwaltsvergütung im Besonderen<br />

untersucht; ist doch dieser Punkt sowohl für den Verteidiger<br />

als auch für den Verletzten selbst von großer Bedeutung.<br />

Daneben finden sich auch vereinzelt kritische Anmerkungen<br />

zur derzeitigen Rechtslage (z.B. zum TOA), sowie Ausführungen<br />

zu den praktischen Schwierigkeiten in der Umsetzung<br />

(Stichwort: Klageerzwingungsverfahren) mit denen sich ein<br />

Verteidiger eines Opfers konfrontiert sieht.<br />

Erwähnenswert ist zudem, dass der Autor in seinem letzten<br />

Kapitel über den eigentlichen Titel des Werks hinausgeht<br />

und in einem Exkurs neben den Möglichkeiten der staatlichen<br />

Opferentschädigung noch weitere Rechte des Opfers außerhalb<br />

des Strafprozesses beleuchtet, wie beispielsweise den<br />

sehr wichtigen und in mehrere Rechtsbereiche hineinragenden<br />

Opferschutz bei häuslicher Gewalt, und somit eine umfassende<br />

Information über das Strafverfahren hinaus ermöglicht.<br />

Ganz allgemein ist als positiv hervorzuheben, dass der<br />

Autor auch versucht, die Interessen des Beschuldigten im<br />

Auge zu behalten und kontinuierlich auf die Bedeutung des in<br />

der Praxis notwendigen Interessensausgleichs hinweist.<br />

Aufgrund der klaren und verständlichen Formulierung ist<br />

dieses Werk auch für Mitarbeiter von Opferschutzeinrichtungen<br />

und Beratungsstellen geeignet, um sich mit den einschlägigen<br />

Regelungen vertraut zu machen. Die sehr detaillierte<br />

Gliederung der einzelnen Kapitel ermöglicht ein rasches<br />

Auffinden der benötigten Informationen. Weiters finden sich<br />

an den jeweils passenden Stellen Verweise auf die im Anhang<br />

abgedruckten Muster; diese werden sich in der Praxis<br />

als besonders hilfreich erweisen.<br />

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass das vorliegende<br />

Werk nicht zuletzt den Opfern von Straftaten eine wertvolle<br />

Hilfe leistet, hängt doch die mit dem Gang des Verfahrens<br />

verbundene und unter allen Umständen zu verhindernde<br />

Sekundärviktimisierung eng mit der Qualität der Vertretung<br />

des Opfers im Verfahren zusammen.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

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Klaus Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess Pühringer<br />

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Es bleibt zu hoffen, dass ein Werk mit einer derart kompakten<br />

Darstellung der Rechte von Opfern im Strafverfahren<br />

kombiniert mit praxisrelevanten Informationen alsbald auch<br />

in die österreichische Literatur Eingang findet.<br />

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194<br />

Mag. Lisa Pühringer, Wien<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009

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