Inhalt AUFSÄTZE BUCHREZENSIONEN - ZIS
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<strong>Inhalt</strong><br />
<strong>AUFSÄTZE</strong><br />
Völkerstrafrecht<br />
Der Präsident und sein Gericht<br />
Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs<br />
über den Erlass eines Haftbefehls gegen Al Bashir<br />
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Boris Burghardt,<br />
Wiss. Mitarbeiterin Julia Geneuss, Berlin 126<br />
Strafrecht<br />
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos<br />
Recht beugen<br />
Über ein degeneriertes „natürliches Recht“, richterliche<br />
Willkür, Geheimjustiz, Gleichheit vor dem Gesetz und<br />
historische Parallelen<br />
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Christoph Mandla, Halle-Wittenberg 143<br />
Strafprozessrecht<br />
Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das<br />
Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />
Von Wiss. Mitarbeiterin Dr. Silke Hüls, Bielefeld 160<br />
<strong>BUCHREZENSIONEN</strong><br />
Strafrecht<br />
Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten,<br />
2007<br />
(Prof. Dr. Werner Beulke, Passau) 170<br />
Lothar Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung<br />
von Strafgesetzen, 2006<br />
(Präsident des Landgerichts Dr. Herbert Veh, Augsburg) 175<br />
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung<br />
(Zirkumzision) Minderjähriger als verfassungs- und<br />
sozialrechtliches Problem, 2008<br />
(Wiss. Assistent Dr. Holm Putzke, LL.M., Bochum) 177<br />
Völkerstrafrecht<br />
Stefan van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen<br />
Völkerstrafrechts, 2006<br />
(Privatdozent Dr. Klaus Gärditz, Bayreuth/Bonn) 188<br />
Strafprozessrecht<br />
Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und<br />
Prozessstruktur, 2008<br />
(Prof. Dr. Ulfrid Neumann, Frankfurt a.M.) 190<br />
Klaus Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess,<br />
2005<br />
(Mag. Lisa Pühringer, Wien) 193
Der Präsident und sein Gericht<br />
Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs über den Erlass eines Haftbefehls gegen Al<br />
Bashir<br />
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Boris Burghardt, Wiss. Mitarbeiterin Julia Geneuss*<br />
I. Einleitung<br />
Als der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs<br />
(IStGH), Luís Moreno Ocampo, am 14.7.2008 einen Antrag<br />
auf Erlass eines Haftbefehls gegen den Präsidenten des Sudan,<br />
Omar Al Bashir, wegen der Verbrechen in Darfur stellte,<br />
ging ein Raunen durch die Weltgemeinschaft. Erstmals sollten<br />
sich die Strafverfolgungsbemühungen des IStGH gegen<br />
ein amtierendes Staatsoberhaupt richten. Schnell waren,<br />
selbst aus höchsten Kreisen der Vereinten Nationen, kritische<br />
Stimmen zu vernehmen, die zu bedenken gaben, die Strafverfolgungsaktivitäten<br />
des IStGH würden internationale Friedensbemühungen<br />
in Darfur erschweren.<br />
Am 4.3.2009 hat die Vorverfahrenskammer I des IStGH<br />
über den Antrag entschieden und Haftbefehl gegen Al Bashir<br />
wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
erlassen. 1 Dagegen hat sie hinreichende Verdachtsgründe<br />
für das Vorliegen von Völkermord abgelehnt. Die<br />
Kammer ist damit in einem in seiner symbolischen Bedeutung<br />
kaum zu überschätzenden Punkt von dem Antrag des<br />
Anklägers abgewichen.<br />
Der vorliegende Beitrag fasst die Entscheidung zusammen<br />
und nimmt eine Bewertung der rechtlichen Ausführungen<br />
der Vorverfahrenskammer vor. Dabei ist es hilfreich, sich<br />
zunächst die Hintergründe des Darfur-Konflikts vor Augen<br />
zu führen und zu erläutern, wie der IStGH dazu kam, sich mit<br />
der Situation in Darfur zu befassen (dazu II.). Sodann werden<br />
die prozessualen und materiellrechtlichen Aspekte der Entscheidung<br />
analysiert (unter III.), wobei insbesondere Fragen<br />
nach der Immunität Al Bashirs (unter 1. und 4.), der Auslegung<br />
des Tatbestands der Kriegsverbrechen (2. a) aa) und der<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit (2. a) bb) sowie nach<br />
der individuellen Verantwortlichkeit Al Bashirs (2. b) vertieft<br />
werden. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf den Ausführungen<br />
zum Völkermordtatbestand (2. a) cc), insbesondere<br />
dem Erfordernis eines Kontextelements (1) und dem prozessualen<br />
Beweismaßstab bei der Zerstörungsabsicht (3). In<br />
einem abschließenden Fazit werden die wichtigsten Punkte<br />
der Entscheidung zusammengefasst und der Versuch eines<br />
Ausblicks unternommen (unter IV.).<br />
* Dr. Boris Burghardt ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für<br />
deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht<br />
und Juristische Zeitgeschichte, Julia Geneuss ist Wiss. Mitarbeiterin<br />
an der Lichtenberg-Professur für Internationales<br />
Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, beide Humboldt-<br />
Universität zu Berlin. Prof. Dr. Gerhard Werle und Prof. Dr.<br />
Florian Jeßberger danken wir für wertvolle Anregungen.<br />
1<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009 (Al Bashir, Pre-Trial Chamber<br />
I). Die Entscheidung ist abrufbar unter www.icccpi.int/iccdocs/doc/doc639096.pdf,<br />
der Haftbefehl unter<br />
www.icc-cpi.int/iccdocs/doc/doc639078.pdf (10.4.2009).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
126<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
II. Die Vorgeschichte: Der IStGH und Darfur<br />
1. Der Darfur-Konflikt<br />
Darfur bezeichnet eine Region im Westen Sudans. 2 Die Bevölkerung<br />
Darfurs setzt sich aus einer Vielzahl verschiedener<br />
Stämme zusammen, die alle sunnitische Muslime sind. 3 Anhand<br />
ihrer Lebensweise kann die Bevölkerung in zwei Gruppen<br />
unterteilt werden: Zum einen in nomadische Viehzüchter,<br />
in der Regel arabische Stämme, deren Existenz auf Einwanderungsbewegungen<br />
im 13. und Mitte des 18. Jahrhunderts<br />
zurückgehen; zum anderen in zumeist afrikanisch-stämmige,<br />
sesshafte Ackerbauern. Zu letzteren zählen auch die Stämme<br />
der Fur, Masalit und Zaghawa.<br />
Konflikte innerhalb dieses ethnisch komplexen Gefüges<br />
gab es schon lange; gewöhnlich ging es dabei um den Zugang<br />
zu Land und Wasser. Die Konkurrenz um knappe Ressourcen<br />
verschärfte sich mit der Zeit jedoch zusehends. Es kam, bedingt<br />
durch lang anhaltende Dürreperioden, zum Rückgang<br />
von Anbauflächen, Weideland und Wasserstellen, was zu<br />
schweren Hungersnöten führte. Es folgten Wanderbewegungen<br />
in die niederschlagsreicheren Gebiete. Die nomadisch<br />
lebenden arabischen Stämme griffen zunehmend auf das<br />
Weideland der sesshaften afrikanischen Bauern zu. Diese<br />
wiederum versuchten, die Nomaden von dem fruchtbareren<br />
Land auszusperren. Dadurch kam es zu immer gewalttätigeren<br />
Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen<br />
Gruppen, die durch traditionelle Streitschlichtungsmechanismen<br />
nicht mehr aufzulösen waren. 4 Die Kontrahenten dieser<br />
Konflikte waren demnach zwar durchaus ethnisch zu unterscheiden,<br />
die ethnische Diversität war jedoch nicht die Ursache<br />
der Auseinandersetzungen. 5<br />
Erst im Laufe der Zeit wurden die Auseinandersetzungen<br />
ethnisch aufgeladen. Die wirtschaftliche und politische Marginalisierung<br />
durch die Zentralregierung führte zur ökonomischen<br />
und sozialen Unterentwicklung Darfurs. 6 Durch Arabisierungsbestrebungen<br />
der sudanesischen Regierung und politische<br />
Benachteiligung der afrikanischen Stämme wurde das<br />
2 Der Name stammt aus dem Arabischen und bedeutet<br />
„Land/Heimat/Haus der Fur“. Die Region Darfur erstreckt<br />
sich über ein Gebiet, das etwa der Größe Frankreichs entspricht,<br />
und umfasst drei der 26 sudanesischen Bundesstaaten.<br />
Vgl. Elliesie, Verfassung und Recht in Übersee 2007,<br />
199 (200).<br />
3 El Ouazghari, Grund zur Hoffnung? Die Afrikanische Union<br />
und der Darfur Konflikt, HSFK-Report 14/2007, S. 16.<br />
4 Siehe hierzu Strube-Edelmann, Der Darfur-Konflikt – Genese<br />
und Verlauf, Wissenschaftliche Dienste – Deutscher<br />
Bundestag, 2006, S. 10; Khalafalla, Aus Politik und Zeitgeschichte<br />
4/2005, 40 (43).<br />
5 Khalafalla, Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2005, 41;<br />
Elliesie, Verfassung und Recht in Übersee 2007, 201 f.<br />
6 El Ouazghari (Fn. 3), S. 17.
Der Präsident und sein Gericht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
zwischen den Gruppen bestehende Konfliktpotenzial von der<br />
Politik ausgenutzt, um eigene Interessen durchzusetzen und<br />
Macht und Einfluss zu gewinnen. 7 In dieser Situation bildeten<br />
sich verschiedene bewaffnete Widerstandsbewegungen in<br />
Darfur, deren Mitglieder zum größten Teil den Stämmen der<br />
Fur, Masalit oder Zaghawa angehören. Als die größten und<br />
einflussreichsten dieser Rebellengruppen sind die Sudan<br />
Liberation Army (SLA) und das Justice and Equality Movement<br />
(JEM) zu nennen; doch besteht daneben eine Vielzahl<br />
von Splittergruppen. Die Rebellengruppen fordern eine gerechtere<br />
Verteilung finanzieller Ressourcen und politischer<br />
Macht, sind untereinander jedoch teilweise zerstritten und<br />
bekämpfen sich gegenseitig.<br />
Die gegenwärtige Phase des Konflikts begann Anfang<br />
2003 mit Angriffen der Rebellen auf El Fasher, die Hauptstadt<br />
des Bundesstaates Nord-Darfur. Bei diesen Angriffen<br />
wurden unter anderem der Flughafen und militärisches Gerät<br />
zerstört und zahlreiche Regierungssoldaten getötet. 8 Die<br />
Zentralregierung in Khartum antwortete ihrerseits mit massiver<br />
militärischer Gewalt. Bei der Bekämpfung der Rebellen<br />
bediente sie sich nicht nur der bewaffneten Streitkräfte, der<br />
Polizei und des Geheimdienstes, sondern auch der sogenannten<br />
Janjaweed-Milizen. Dabei handelt es sich um berittene<br />
und bewaffnete, gut organisierte arabische Gruppen, die sich<br />
in einer „Grauzone zwischen Banditentum und regierungsnahen<br />
Schlägertruppen“ 9 bewegen und bereits Ende der 80er<br />
Jahre zum ersten Mal in Erscheinung traten. Die Regierungsseite<br />
beschränkte sich nicht auf gezielte Aktionen gegen die<br />
Rebellen, sondern richtete ihre Angriffe vor allem gegen die<br />
Zivilbevölkerung. 10 Die Angriffe liefen in der Regel nach<br />
einem einheitlichen Muster ab: Die Armee führte zunächst<br />
großflächige Bombardements aus der Luft durch. Nach den<br />
Luftangriffen rückten die Janjaweed an, umstellen die Dörfer,<br />
plünderten und brannten die Häuser nieder, vergewaltigten<br />
und töteten die fliehenden Dorfbewohner. 11<br />
7 Auswärtiges Amt, Hintergrund und Entwicklung des Darfur-Konflikts<br />
bis 2007, abrufbar unter www.auswaertigesamt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/Afrik<br />
a/SudanDarfurHi-Gru.html (10.4.2009). Die politischen Ambitionen<br />
der Konfliktparteien hängen unter anderem auch mit<br />
der damit einhergehenden Kontrolle über die Erdölvorkommen<br />
und andere Bodenschätze in Darfur zusammen, vgl.<br />
Strube-Edelmann (Fn. 4), S. 12 f., 24.<br />
8 Beck, Zeitschrift für Genozidforschung 2004, 52 (54); El<br />
Ouazghari (Fn. 3), S. 17.<br />
9 Prunier, Darfur. Der „uneindeutige“ Genozid, 2007, S. 129.<br />
Die Milizen rekrutieren sich aus Straßenräubern, entlassenen<br />
Soldaten, Arbeitslosen. Die Regierung des Sudan bestreitet<br />
zwar eine Kooperation mit den Janjaweed, doch lässt sich<br />
dies in Anbetracht der zahlreichen Beweise kaum bezweifeln;<br />
vgl. Beck, Zeitschrift für Genozidforschung 2004, 56; El<br />
Ouazghari (Fn. 3), S. 18.<br />
10 Auswärtiges Amt (Fn. 7); vgl. auch Welzer, Klimakriege,<br />
2008, S. 98.<br />
11 Vgl. Prunier (Fn. 9), S. 132 ff.; Beck, Zeitschrift für Geno-<br />
zidforschung 2004, 56 f.<br />
Allein bis zum Februar 2005 wurden in dieser Weise etwa<br />
75% der Dörfer in Darfur niedergebrannt. 12 Nach Schätzungen<br />
hat der Konflikt bislang zwischen 200.000 und 500.000<br />
Tote gefordert. 13 Etwa 2,5 Millionen Menschen wurden zur<br />
Flucht gezwungen. 14 Sie leben und sterben in behelfsmäßigen<br />
Flüchtlingslagern im Grenzgebiet zum Tschad unter katastrophalen<br />
Bedingungen.<br />
Obgleich die Intensität der Angriffe inzwischen abgenommen<br />
hat, kommt es bis heute immer wieder zu den beschriebenen<br />
Attacken auf Siedlungen und Flüchtlingslager.<br />
Auch den Rebellengruppen wird vorgeworfen, humanitäres<br />
Völkerrecht in massiver Weise zu missachten. Verschiedene<br />
Waffenstillstands- und Friedensabkommen zwischen den<br />
Rebellengruppen und der Regierung, unter anderem durch<br />
Vermittlung des Tschad und der Afrikanischen Union, wurden<br />
bis in die jüngste Vergangenheit stets innerhalb kurzer<br />
Zeit von beiden Konfliktparteien gebrochen. 15<br />
2. Die „Situation Darfur“ vor dem IStGH<br />
Als sich die Eskalation der Gewalt und das Ausmaß der humanitären<br />
Katastrophe in Darfur immer deutlicher abzeichneten,<br />
beauftragte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im<br />
Jahr 2004 eine unabhängige Expertenkommission mit der<br />
Untersuchung der Situation in Darfur unter völkerstrafrechtlichen<br />
Gesichtspunkten. 16 In ihrem Bericht kam die Kommission<br />
zu dem Schluss, dass von der Regierung des Sudan und<br />
den Janjaweed Verbrechen gegen die Menschlichkeit und<br />
Kriegsverbrechen begangen werden. Eine Völkermordpolitik<br />
werde seitens der Regierung des Sudan jedoch nicht verfolgt.<br />
Weiter stellte die Kommission fest, dass das sudanesische<br />
Justizsystem weder bereit noch in der Lage sei, die begangenen<br />
Verbrechen selbst zu verfolgen. 17<br />
Der Empfehlung der Expertenkommission folgend, überwies<br />
der Sicherheitsrat die „Situation Darfur“ 18 gemäß Kapi-<br />
12<br />
Cohen/O’Neill, 62 Bulletin of the Atomic Scientists<br />
(2006), 51 (54), zitiert nach El Ouazghari (Fn. 3), S. 18.<br />
13<br />
Welzer (Fn. 10), S. 96.<br />
14<br />
Auswärtiges Amt (Fn. 7).<br />
15<br />
Vgl. hierzu auch Welzer (Fn. 10), S. 98 f.<br />
16<br />
UN-Sicherheitsrat, Resolution 1564 vom 18.9.2004, UN Doc.<br />
S/RES/1564 (2004), abrufbar unter http://daccessdds.<br />
un.org/doc/UNDOC/GEN/N04/515/47/PDF/N0451547.pdf?Open<br />
Element (10.4.2009).<br />
17<br />
Report of the International Commission of Inquiry on Darfur<br />
to the United Nations Secretary-General of 25 January 2005,<br />
UN Doc. S/2005/60. Der Bericht der Kommission, die von dem<br />
ehemaligen Präsident des Jugoslawien-Strafgerichtshofs Antonio<br />
Cassese geleitet wurde, ist abrufbar unter<br />
www.un.org/News/dh/sudan/com_inq_darfur.pdf (10.4.2009).<br />
Zu dem Bericht siehe Fletcher/Ohlin, 3 Journal of International<br />
Criminal Justice (2005), 539; Kreß, 3 Journal of International<br />
Criminal Justice (2005), 562; Schabas, 18 Leiden Journal of<br />
International Law (2005), 871.<br />
18<br />
Der Begriff der „Situation“ ist hier im prozessualen Sinne<br />
zu verstehen (vgl. Art. 13, 14 IStGH-Statut): Er umfasst den<br />
gesamten Konflikt, in dem möglicherweise Völkerrechtsverbrechen<br />
begangen werden, und steht damit in Abgrenzung<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
127
Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
tel VII der UN-Charta durch Resolution 1593 vom 31.3.2005<br />
an den IStGH. 19 Am 6.6.2005 leitete der Ankläger des IStGH<br />
gemäß Art. 53 Abs. 1 IStGH-Statut ein förmliches Ermittlungsverfahren<br />
ein. Ende April 2007 erließ der Gerichtshof<br />
auf Antrag des Anklägers gegen den ehemaligen sudanesischen<br />
Innenminister Ahmad Harun sowie den Janjaweed-<br />
Führer Ali Kushayb Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen und<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 20 Am 14.7.2008 beantragte<br />
der Ankläger bei der Vorverfahrenskammer I gemäß<br />
Art. 58 IStGH-Statut den Erlass eines Haftbefehls gegen Al<br />
Bashir wegen des Verdachts von Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord. 21<br />
III. Die Entscheidung der Vorverfahrenskammer<br />
Die Vorverfahrenskammer hat dem Antrag des Anklägers auf<br />
Erlass eines Haftbefehls gegen Al Bashir stattgegeben. Die<br />
erforderlichen Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls<br />
hat die Kammer in drei Schritten untersucht. Zunächst<br />
prüft sie, ob der Fall grundsätzlich der Gerichtsbarkeit (jurisdiction)<br />
des IStGH unterfällt und die Ausübung der Gerichtsbarkeit<br />
zulässig (admissible) ist (siehe dazu 1.). Im zweiten<br />
Schritt wird untersucht, ob nach dem vom Ankläger präsentierten<br />
Beweismaterial begründeter Verdacht besteht, dass Al<br />
Bashir für mindestens ein der Jurisdiktion des IStGH unterfallendes<br />
Verbrechen strafrechtlich verantwortlich ist (dazu<br />
2.). Schließlich prüft die Kammer, ob der Haftbefehl als prozessuales<br />
Instrument erforderlich ist (dazu 3.). Darüber hinaus<br />
trifft sie bestimmte Begleitverfügungen zum Haftbefehl<br />
(dazu 4.).<br />
1. Gerichtsbarkeit und Zulässigkeit<br />
a) Gerichtsbarkeit in örtlicher, zeitlicher, sachlicher und<br />
persönlicher Hinsicht<br />
Die Begründung der Gerichtsbarkeit des IStGH in örtlicher,<br />
zeitlicher und sachlicher Hinsicht bereitet der Vorverfahrens-<br />
zu einem konkreten Fall (case) im Sinne des Art. 17 IStGH-<br />
Statut, der sich bereits auf bestimmte Personen oder Taten<br />
bezieht. Siehe hierzu Olásolo, 20 Leiden Journal of International<br />
Law (2007), 193.<br />
19<br />
UN-Sicherheitsrat, Resolution 1593 vom 31.3.2005,<br />
UN Doc. S/RES/1593 (2005), abrufbar unter http://daccessdds.<br />
un.org/doc/UNDOC/GEN/N05/292/73/PDF/N0529273.pdf?Ope<br />
nElement (10.4.2009). Die dem IStGH als Institution zumindest<br />
skeptisch gegenüber eingestellten ständigen Sicherheitsratsmitglieder<br />
China, Russland und USA ermöglichten diesen<br />
Beschluss, indem sie sich ihrer Stimme enthielten. Zu der<br />
Resolution 1593 siehe Condorelli/Ciampi, 3 Journal of International<br />
Criminal Justice (2005), 590.<br />
20<br />
IStGH, Beschl. v. 27.4.2007 (Ahmad Harun and Ali Kushayb,<br />
Pre-Trial Chamber I). Die Haftbefehle sind abrufbar<br />
unter www2.icc-cpi.int/Menus/ICC/Situations+and+Cases/Situations/Situation+ICC+0205/<br />
(10.4.2009).<br />
21<br />
Verschiedene rechtliche Gesichtspunkte des Antrags des<br />
Anklägers werden in den Editorial Comments von Cayley,<br />
Gosnell, Jeßberger/Geneuss, Sluiter und Ciampi, 6 Journal of<br />
International Criminal Justice (2008), 829-897, vertieft.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
128<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
kammer keine Schwierigkeiten. Ratione loci und ratione<br />
temporis ergibt sich die Gerichtsbarkeit aus Art. 13 lit. b<br />
IStGH-Statut kraft Zuweisung durch Beschluss des UN-<br />
Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN-Charta. 22 Dass der<br />
Sudan kein Vertragsstaat des IStGH-Statuts ist, hindert die<br />
Gerichtsbarkeit des IStGH nicht. Art. 12 Abs. 2 IStGH-<br />
Statut, der bestimmt, dass der Gerichtshof grundsätzlich nur<br />
über Taten urteilt, die entweder auf dem Territorium oder von<br />
Staatsangehörigen eines Vertragsstaates begangen wurden,<br />
findet in Fällen der Überweisung einer Situation durch den<br />
Sicherheitsrat keine Anwendung. 23 In sachlicher Hinsicht<br />
betreffen die Vorwürfe des Anklägers Kriegsverbrechen,<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, so<br />
dass auch an der Gerichtsbarkeit des IStGH ratione materiae<br />
gemäß Art. 5 Abs. 1 IStGH-Statut kein Zweifel besteht. 24<br />
Etwas größeren Begründungsaufwand widmet die Kammer<br />
hingegen der Gerichtsbarkeit ratione personae. 25 Hier<br />
stellt sich die Frage der Immunität Al Bashirs angesichts<br />
seiner amtlichen Eigenschaft als Staatsoberhaupt des Sudan.<br />
Zwar regelt Art. 27 IStGH-Statut, dass die amtliche Eigenschaft<br />
einer Person weder einen Ausschlussgrund für die<br />
strafrechtliche Verantwortlichkeit bildet (Abs. 1) noch prozessuale<br />
Verfolgungshindernisse begründen kann (Abs. 2).<br />
Im vorliegenden Fall war jedoch zu berücksichtigen, dass der<br />
Sudan kein Vertragsstaat zum IStGH-Statut ist. Zu prüfen<br />
war daher, ob Art. 27 IStGH-Statut dennoch Anwendung<br />
findet oder ob auf die Immunitätsregelungen des Völkerrechts<br />
zurückgegriffen werden muss. Ob auch nach diesen<br />
Regeln eine Immunität Al Bashirs ausscheidet, ist zweifelhaft.<br />
26<br />
22<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 37 ff.<br />
23<br />
Das ergibt sich im Umkehrschluss aus Art. 12 Abs. 2<br />
IStGH-Statut. Vgl. hierzu Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl.<br />
2007, Rn. 232. Abgeleitet wird die Gerichtsbarkeit des IStGH<br />
in diesen Fällen unmittelbar vom UN-Sicherheitsrat, der nach<br />
Kapitel VII der UN Charta völkerrechtlich verbindliche<br />
Maßnahmen zur Friedenssicherung gegenüber allen Mitgliedstaaten<br />
der UN treffen kann. Auf dieser Grundlage wurden<br />
1993 der Jugoslawien- (JStGH) und 1995 der Ruanda-<br />
Strafgerichtshof (RStGH) errichtet.<br />
24<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 39.<br />
25<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 40 ff.<br />
26<br />
Völkerrechtlich genießt ein enger Kreis von hochrangigen<br />
Staatsbediensteten für die Dauer ihrer Amtszeit grundsätzlich<br />
Immunität ratione personae. Hierunter fallen Staats- und<br />
Regierungschefs, Diplomaten und nach dem Urteil des Internationalen<br />
Gerichtshofs (IGH) im Haftbefehlsfall auch Außenminister.<br />
Nach Auffassung des IGH gilt dies selbst im<br />
Fall des Verdachts eines Völkerrechtsverbrechens. Siehe<br />
IGH, Urt. v. 14.2.2002 (Arrest Warrant of 11 April 2000<br />
[Democratic Republic of the Congo v. Belgium]). Zum Ganzen<br />
ausführlich Kreicker, Völkerrechtliche Exemtionen,<br />
2007; ders., Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften<br />
2008, S. 157; Kreß, GA 2003, 25; Ipsen, Völkerrecht,<br />
5. Aufl. 2004, § 26 Rn. 41. Umstritten ist jedoch, ob der persönliche<br />
Immunitätsschutz völkergewohnheitsrechtlich nur<br />
vor staatlichen oder auch vor internationalen Gerichten gilt.
Der Präsident und sein Gericht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Die Vorverfahrenskammer ist der Ansicht, die Funktion Al<br />
Bashirs als amtierender Präsident des Sudan schließe die<br />
Kompetenz des IStGH ratione personae nicht aus. Zur Begründung<br />
macht sie im Wesentlichen folgende Überlegung<br />
geltend: Mit der Übertragung der Darfur-Situation durch den<br />
UN-Sicherheitsrat sei das gesamte Regelungsinstrumentarium<br />
des IStGH anwendbar geworden. Aus dem IStGH-Statut<br />
ergebe sich aber die Unbeachtlichkeit der amtlichen Eigenschaft<br />
als Staatsoberhaupt und der Ausschluss sämtlicher<br />
Immunitätsregeln. Dabei bezieht sich die Kammer neben<br />
Art. 27 IStGH-Statut auch auf die Präambel, nach der übergeordnetes<br />
Ziel des Gerichtshofs ist, Straflosigkeit von Völkerrechtsverbrechern<br />
zu vermeiden. 27 Angesichts dieser klaren<br />
Grundentscheidung des Statuts zur Frage der Immunität<br />
komme auch ein Rückgriff auf die allgemeinen Regeln des<br />
Völkerrechts nicht in Betracht, da es an der für einen solchen<br />
Rückgriff gemäß Art. 21 Abs. 1 lit. a und b IStGH-Statut<br />
erforderlichen Regelungslücke fehle. Diese Argumentation<br />
vermag freilich nur dann zu überzeugen, wenn man zwei<br />
implizite Annahmen der Vorverfahrenskammer teilt: Erstens,<br />
dass der UN-Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel<br />
VII der UN-Charta rechtsschöpferisch tätig werden kann. Nur<br />
dann lässt sich begründen, warum mit der Übertragung der<br />
Situation Darfur auf den IStGH die Vorschriften des IStGH-<br />
Statuts ungeachtet ihrer Geltung als Völkergewohnheitsrecht<br />
anwendbar sein sollen. Und zweitens muss die Prämisse<br />
überzeugen, dass in der Übertragung einer Situation an den<br />
IStGH tatsächlich die Erklärung zu sehen ist, jede Einzelregel<br />
des IStGH-Statuts solle anwendbar sein. 28<br />
b) Zulässigkeit (admissibility)<br />
Grundsätzlich umfasst die Zulässigkeitsprüfung nach Art. 17<br />
IStGH-Statut Fragen des Vorrangs nationaler Strafverfahren<br />
(Komplementaritätsprinzip) und der Erheblichkeit (gravity)<br />
der Sache. 29 Ob der Grundsatz der Komplementarität auch<br />
dann Anwendung findet, wenn der IStGH aufgrund der Übertragung<br />
einer Situation zur Untersuchung durch Beschluss<br />
des Sicherheitsrats tätig wird, wird nicht einheitlich beur-<br />
Für den völkergewohnheitsrechtlichen Ausschluss des Immunitätsschutzes<br />
ratione personae vor internationalen Gerichten<br />
Werle (Fn. 23), Rn. 616; Kreicker, Exemtionen,<br />
a.a.O., S. 759 ff.; Steinberger-Frauenhofer, Internationaler<br />
Strafgerichtshof und Drittstaaten, 2008, S. 202 ff. In diese<br />
Richtung weist auch ein obiter dictum des IGH im Haftbefehlsfall:<br />
Eine Strafverfolgung amtierender Amtsträger vor<br />
einem zuständigen internationalen Strafgerichtshof käme<br />
durchaus in Betracht; dabei nimmt der IGH u.a. ausdrücklich<br />
auf Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut Bezug; IGH, a.a.O, para. 61;<br />
siehe auch Kreß, a.a.O., 37 ff. Zur Immunität ratione personae<br />
gegenüber staatlicher Gerichtsbarkeit siehe unten III. 4.<br />
27<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 42 ff.<br />
28<br />
Dass diese Prämissen nicht selbstverständlich sind, zeigen<br />
beispielhaft Bock/Preis, Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften<br />
2007, S. 148.<br />
29<br />
Zur Zulässigkeitsprüfung vgl. Cárdenas, Die Zulässigkeitsprüfung<br />
vor dem Internationalen Strafgerichtshof, 2005.<br />
teilt. 30 Die Kammer stellt insoweit fest, dass eine Prüfung der<br />
Zulässigkeit gemäß Art. 19 Abs. 1, 2 IStGH-Statut in ihrem<br />
Ermessen liege. Im vorliegenden Fall verzichtet sie vorerst<br />
auf eine genaue Prüfung, da zum einen der Antrag des Anklägers<br />
auf Erlass des Haftbefehls ex parte und vertraulich<br />
eingereicht wurde und zum anderen keine Tatsachen vorlägen,<br />
die der Kammer Anlass geben, an der Zulässigkeit zu<br />
zweifeln. Insbesondere seien keine Anhaltspunkte ersichtlich,<br />
dass im Sudan ein Verfahren gegen Al Bashir für die hier in<br />
Frage stehenden Taten durchgeführt werde oder die Taten<br />
unter der in Art. 17 Abs. 1 lit. d IStGH-Statut aufgestellten<br />
Erheblichkeitsschwelle zurück blieben. 31<br />
2. Bestehen eines begründeten Verdachts gegen Al Bashir<br />
Der Erlass eines Haftbefehls kommt nach Art. 58 Abs. 1<br />
IStGH-Statut nur dann in Betracht, wenn nach Auffassung<br />
der Vorverfahrenskammer angesichts des vom Ankläger<br />
vorgetragenen Beweismaterials der „begründete Verdacht“<br />
(reasonable grounds to believe) besteht, dass die betreffende<br />
Person die ihr vorgeworfenen Verbrechen begangen hat.<br />
Entsprechend der bei den ad hoc-Strafgerichtshöfen wie dem<br />
IStGH üblichen Systematisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen<br />
32 erfolgt die Untersuchung in zwei Hauptschritten: Im<br />
ersten Schritt prüft die Vorverfahrenskammer, ob begründeter<br />
Verdacht besteht, dass überhaupt Völkerrechtsverbrechen<br />
gemäß Art. 5 IStGH-Statut in Darfur begangen wurden (hierzu<br />
a). 33 Dabei fragt die Kammer zunächst jeweils nach dem<br />
sogenannten Kontextelement, also dem Kontext organisierter<br />
Gewalt, welcher der Einzeltat ihr spezifisches völkerstrafrechtliches<br />
Gepräge gibt, 34 sodann nach dem Einzelverbrechen.<br />
Im zweiten Schritt untersucht die Kammer, ob begründeter<br />
Verdacht besteht, dass Al Bashir für ein solches<br />
Verbrechen strafrechtlich verantwortlich ist (dazu unter b). 35<br />
a) Völkerrechtsverbrechen in Darfur<br />
Die Vorverfahrenskammer gelangt zu dem Ergebnis, dass<br />
begründeter Verdacht hinsichtlich der Begehung von Kriegsverbrechen<br />
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliege.<br />
Dagegen verneint sie ausreichende Verdachtsgründe für<br />
Völkermord.<br />
30 Nach Werle (Fn. 23), Rn. 245, finden die Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />
nach Art. 17 in diesem Fall keine Anwendung;<br />
a.A. Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 8<br />
Rn. 10; Meißner, Die Zusammenarbeit mit dem Internationalen<br />
Strafgerichtshof nach dem Römischen Statut, 2003,<br />
S. 104 ff.; Kleffner, Complementarity in the Rome Statute<br />
and National Criminal Jurisdictions, 2008, S. 165 m.w.N.<br />
31 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 46 ff.<br />
32 Siehe dazu näher Burghardt, Die Vorgesetztenverantwortlichkeit<br />
im völkerrechtlichen Straftatsystem, 2008, S. 265 ff.<br />
Vgl. auch Zahar/Sluiter, International Criminal Law, 2008,<br />
S. 220.<br />
33 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 52 ff.<br />
34 Siehe dazu Werle (Fn. 23), Rn. 332.<br />
35 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 209 ff.<br />
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129
Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
aa) Kriegsverbrechen<br />
Die Kammer stellt fest, dass begründeter Verdacht hinsichtlich<br />
der Begehung von Kriegsverbrechen in Darfur vorliege.<br />
Jedenfalls zwischen März 2003 und Juli 2008 habe ein nichtinternationaler<br />
bewaffneter Konflikt zwischen der sudanesischen<br />
Regierung in Khartum und ihren Streitkräften, einschließlich<br />
der Janjaweed-Milizen, auf der einen Seite und<br />
den Rebellen, insbesondere der SLA und der JEM, auf der<br />
anderen Seite bestanden. 36<br />
Nach Art. 8 Abs. 2 lit. f IStGH-Statut ist der nichtinternationale<br />
bewaffnete Konflikt insbesondere von inneren<br />
Unruhen und Spannungen (internal disturbances and tensions)<br />
abzugrenzen. Die Kriegsverbrechenstatbestände finden<br />
daher nur auf solche bewaffneten Auseinandersetzungen<br />
Anwendung, die „lang anhaltend“ (protracted) sind. Was<br />
„lang anhaltend“ meint, hat dieselbe Kammer bereits in ihrer<br />
Entscheidung zur Bestätigung der Anklage (confirmation of<br />
charges) gemäß Art. 61 IStGH-Statut im Verfahren gegen<br />
Thomas Lubanga Dyilo näher bestimmt. Danach bezeichnet<br />
„lang anhaltend“ nicht nur eine zeitliche Ausdehnung der<br />
Auseinandersetzung, sondern auch einen bestimmten Grad an<br />
Intensität der Gewaltanwendung. 37 Die Kammer hat angesichts<br />
der umfangreichen Militäroperationen der beiden Konfliktparteien<br />
keinen Zweifel daran, dass die Ereignisse einen<br />
entsprechenden „lang anhaltenden“ Charakter aufweisen. 38<br />
Es bestehe überdies der begründete Verdacht, dass im<br />
Rahmen dieses Konfliktes Kriegsverbrechen begangen wurden,<br />
nämlich das Kriegsverbrechen des vorsätzlichen Angriffs<br />
auf die Zivilbevölkerung als solche oder auf einzelne<br />
Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar<br />
teilnehmen (Art. 8 Abs. 2 lit. e, i IStGH-Statut) und das<br />
Kriegsverbrechen der Plünderung (Art. 8 Abs. 2 lit. e, v<br />
IStGH-Statut). 39 In diesem Zusammenhang spricht die Kammer<br />
von hunderten von Angriffen der Regierungskräfte auf<br />
die Zivilbevölkerung der Fur, Masalit und Zaghawa und<br />
nennt beispielhaft eine Reihe von Angriffen auf bestimmte<br />
Siedlungen, Dörfer und Städte. 40<br />
bb) Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
Die Kammer bejaht darüber hinaus das Vorliegen begründeten<br />
Verdachts hinsichtlich verschiedener Verbrechen gegen<br />
die Menschlichkeit gemäß Art. 7 IStGH-Statut. Seitens der<br />
Regierungstruppen habe es in Darfur einen ausgedehnten und<br />
systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung im Sinne<br />
von Art. 7 Abs. 2 IStGH-Statut gegeben. Dörfer und Städte<br />
insbesondere der Fur, Masalit und Zaghawa seien über fünf<br />
Jahre immer wieder nach demselben Muster angegriffen<br />
worden. Es bestehe der begründete Verdacht, dass es im<br />
Rahmen dieser Angriffe zu vorsätzlichen Tötungen (Art. 7<br />
36 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 70.<br />
37 Vgl. IStGH, Beschl. v. 29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-<br />
Trial I), paras. 234, 235, im Anschluss an JStGH, Beschl. v.<br />
2.10.1995 (Tadic, Appeals Chamber), para. 70.<br />
38 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 60 ff.<br />
39 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 78.<br />
40 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 72 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
130<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
Abs. 1 lit. a IStGH-Statut), Ausrottung (Art. 7 Abs. 1 lit. b<br />
IStGH-Statut), zwangsweiser Überführung der Bevölkerung<br />
(Art. 7 Abs. 1 lit. d IStGH-Statut), Folter (Art. 7 Abs. 1 lit. f<br />
IStGH-Statut) und Vergewaltigungen (Art. 7 Abs. 1 lit. g<br />
IStGH-Statut) gekommen sei. 41<br />
Eine Konkretisierung dieser Tatbestände erfolgt nur für<br />
die Ausrottung und die vorsätzliche Tötung. Während sich<br />
die nähere Bestimmung des Ausrottungstatbestands in den<br />
Pfaden der Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale bewegt, 42<br />
findet sich bei der Prüfung vorsätzlicher Tötungen ein interessanter<br />
Gedanke. Diesbezüglich stellt die Vorverfahrenskammer<br />
klar, dass im vorliegenden Fall nur solche vorsätzlichen<br />
Tötungen den Verbrechenstatbestand gemäß Art. 7<br />
Abs. 1 lit. a IStGH-Statut erfüllen, die nach den Regeln des<br />
humanitären Völkerrechts verboten sind. 43 Damit schneidet<br />
sie – wenngleich lediglich beiläufig – eine komplexe und<br />
bislang wenig behandelte Rechtsfrage an, die das Verhältnis<br />
der völkerrechtlichen Verbrechenstatbestände zueinander<br />
bzw. ihre Beeinflussung durch die Regeln des humanitären<br />
Völkerrechts betrifft. Zwar zwingt das Recht der bewaffneten<br />
Konflikte grundsätzlich zu der Unterscheidung militärischer<br />
und nichtmilitärischer Ziele (principle of distinction) und<br />
untersagt prinzipiell Angriffe gegen Zivilisten und zivile<br />
Objekte. Es gibt es jedoch Ausnahmen. Nicht jede vorsätzliche<br />
Tötung eines Zivilisten ist nach den Regeln des humanitären<br />
Völkerrechts verboten. 44 Andererseits können Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit nach allgemeiner Auffassung<br />
auch (und gerade) im Rahmen bewaffneter Konflikt begangen<br />
werden. 45<br />
Wird eine Ausstrahlungswirkung des humanitären Völkerrechts<br />
auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verneint,<br />
stellt sich daher das Problem, dass die Tötung einer<br />
Person nach dem Recht der bewaffneten Konflikte zulässig<br />
sein kann, während sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
als strafbares Verhalten bewertet werden würde. 46 In<br />
41<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 109.<br />
42<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 96 ff. Zur Rechtsprechung<br />
der ad hoc-Strafgerichtshöfe siehe zuletzt zusammenfassend<br />
RStGH, Urt. v. 12.3.2008 (Seromba, Appeals<br />
Chamber), para. 189; RStGH, Urt. v. 18.12.2008 (Bagosora<br />
u.a., Trial Chamber), paras. 2191 ff.<br />
43<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 92.<br />
44<br />
Zum principle of distinction als Grundsatz im Recht der<br />
bewaffneten Konflikte sowie zu Situationen, in denen die<br />
vorsätzliche Tötung oder Verletzung von Zivilisten nicht<br />
gegen das Recht der bewaffneten Konflikte verstößt, siehe<br />
ausführlich Olásolo, Unlawful Attacks in Combat Situations.<br />
From the ICTY’s Case Law to the Rome Statute, 2008, S. 13 ff.<br />
45<br />
Vgl. nur Art. 6 lit.c IMG-Statut, Art. 5 lit. c IMGFO-Statut<br />
und Art. 5 JStGH-Statut, die jeweils noch verlangen, das<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit müsse im Zusammenhang<br />
mit einem bewaffneten Konflikt verübt werden. Zu<br />
dieser inzwischen auch als Jurisdiktionserfordernis überwundenen<br />
Voraussetzungen siehe Werle (Fn. 23), Rn. 744 ff.<br />
46<br />
Parallele Probleme sind auch im Verhältnis von humanitärem<br />
Völkerrecht und dem Völkermordtatbestand denkbar.<br />
Vgl. dazu Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener
Der Präsident und sein Gericht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
der Konsequenz liefe dies auf eine zusätzliche Limitierung<br />
der völkerrechtlich zulässigen Kampfhandlungen hinaus. Es<br />
entstünde eine zweite, versteckte Spur des humanitären Völkerrechts,<br />
ein Ergebnis, das den Zweck eines ius in bello<br />
konterkariert und daher nicht überzeugen kann. Sofern ein<br />
Verhalten oder die Herbeiführung eines Erfolges im Rahmen<br />
eines bewaffneten Konflikts nach den Regeln des humanitären<br />
Völkerrechts erlaubt ist, scheidet auch eine Strafbarkeit<br />
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus. Dies kann<br />
sowohl im Wege einer teleologischen Reduktion des Verbrechenstatbestands<br />
als auch unter Heranziehung eines unbenannten<br />
Strafausschließungsgrunds (ground for excluding<br />
criminal responsibility) gemäß Art. 31 Abs. 3 IStGH-Statut<br />
erreicht werden. 47 Der um eine Harmonisierung der Regeln<br />
des humanitären Völkerrechts und der Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit bemühte Standpunkt der Kammer ist also<br />
durchaus begrüßenswert. Zweifelhaft bleibt allerdings, ob sie<br />
zum jetzigen Verfahrensstand Stellung zu dieser grundsätzlichen<br />
Rechtsfrage beziehen musste. 48<br />
cc) Völkermord<br />
Die bei weitem ausführlichsten Ausführungen betreffen den<br />
begründeten Verdacht für das Vorliegen von Völkermord in<br />
Darfur. Im Ergebnis hat die Vorverfahrenskammer einen<br />
solchen Verdacht in einer Mehrheitsentscheidung verneint.<br />
Nach Ansicht der aus der Vorsitzenden Richterin Kuenyehia<br />
und der Richterin Steiner bestehenden Mehrheit der Kammer<br />
fehlt es an tragfähigen Hinweisen auf die für das Verbrechen<br />
des Völkermords kennzeichnende Zerstörungsabsicht (intent<br />
to destroy). 49 Zu einem anderen Ergebnis gelangt dagegen die<br />
Richterin Usacka in einem abweichenden Sondervotum. 50<br />
(1) Kontextelement des Völkermords<br />
Die Vorverfahrenskammer unternimmt zunächst einige<br />
grundsätzliche Rechtsausführungen zum Kontextelement des<br />
Völkermordtatbestands. 51 Das ist bemerkenswert, weil es sich<br />
nicht um entscheidungstragende Überlegungen handelt. Die<br />
Kammer verzichtet insoweit sogar gänzlich auf eine fallbezogene<br />
Subsumtion. Noch überraschender sind diese Ausfüh-<br />
Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 6/2 (im Erscheinen<br />
2009), § 6 VStGB Rn. 92 f.<br />
47 Im Ergebnis ebenso Akhavan, 6 Journal of International<br />
Criminal Justice (2008), 21; Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst,<br />
An Introduction to International Criminal Law and<br />
Procedure, 2007, S. 193 f.; Fenrick, Crimes in Combat: The<br />
Relationship Between Crimes Against Humanity and War<br />
Crimes, S. 11 ff., abrufbar unter www2.icc-cpi.int/NR/<br />
rdonlyres/E7C759C8-C5A4-4AD3-8AB5-EF6ED68AC1D4<br />
/0/Fenrick.pdf (10.4.2009). Ähnlich auch Special Court for<br />
Sierra Leone, Urt. v. 28.5.2008 (Fofana and Kondewa, Appeals<br />
Chamber), paras. 250 ff.<br />
48 Siehe dazu unter III. 2. a) cc) (1) (c) (cc).<br />
49 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 205, 206.<br />
50 Vgl. Abweichendes Sondervotum Richterin Usacka zu<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 84 ff.<br />
51 IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 117 ff.<br />
rungen, weil sie einen strafrechtsdogmatischen Paukenschlag<br />
beinhalten, mit dem der IStGH mit der bisherigen Rechtsprechung<br />
der ad hoc-Tribunale zum Völkermord bricht.<br />
(a) Problemaufriss<br />
Erforderlich ist nach Ansicht der Kammer, dass das von der<br />
Zerstörungsabsicht getragene Verhalten für den Fortbestand<br />
der angegriffenen Gruppe eine konkrete Bedrohung (a concrete<br />
threat) darstellt. 52 Der Bestimmung des Völkermords in<br />
Art. 6 IStGH-Statut ist ein solches Merkmal nicht zu entnehmen.<br />
Danach ist stets nur das Begehen einer in Art. 6 lit. a-e<br />
IStGH-Statut genannten Einzeltat mit der für den Völkermord<br />
charakteristischen Zerstörungsabsicht erforderlich. Ein Kontextelement<br />
wie der systematische oder ausgedehnte Angriff<br />
auf eine Zivilbevölkerung bei den Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit oder der bewaffnete Konflikt bei den Kriegsverbrechen<br />
findet sich nicht. Das gilt auch für die weitgehend<br />
wortgleichen Bestimmungen des Völkermords in Art. II der<br />
Völkermord-Konvention von 1948, in Art. 4 Abs. 2 JStGH-<br />
Statut und Art. 2 Abs. 2 RStGH-Statut. 53 Dementsprechend<br />
haben sowohl der JStGH als auch der RStGH festgestellt,<br />
dass es nicht eines die Tat des Einzelnen umfassenden Völkermordgeschehens,<br />
eines kollektiven genozidalen Handlungszusammenhangs<br />
oder einer genozidalen Politik bedürfe.<br />
Es komme auch nicht darauf an, ob das Einzelverbrechen<br />
tatsächlich zur Zerstörung der geschützten Gruppe oder eines<br />
Teils der Gruppe führe. 54<br />
Allerdings sehen die Verbrechenselemente (Elements of<br />
Crimes) zu Art. 6 IStGH-Statut, anders als das IStGH-Statut<br />
selbst, ein solches Kontextelement vor. Dort heißt es: „The<br />
conduct took place in the context of a manifest pattern of<br />
similar conduct directed against that group or was conduct<br />
that could itself effect such destruction.“ 55<br />
Wie mit diesem Befund umzugehen ist, ist seit der Staatenkonferenz<br />
in Rom umstritten. Möglich ist es, Art. 6<br />
IStGH-Statut im Licht der gefestigten Rechtsprechung der ad<br />
hoc-Tribunale zu lesen und die Verbrechenselemente als dem<br />
IStGH-Statut widersprechend gemäß Art. 9 Abs. 3 IStGH-<br />
52<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 124.<br />
53<br />
Dem entsprechend fehlt ein solches Kontextelement auch<br />
in der eng an der völkerrechtlichen „Mutternorm“ orientierten<br />
§ 6 VStGB.<br />
54<br />
Vgl. JStGH, Urt. v. 5.7.2001 (Jelisic, Appeals Chamber),<br />
para. 48; JStGH, Urt. v. 19.4.2004 (Krstic, Appeals Chamber),<br />
paras. 223 ff.; RStGH, Urt. v. 20.5.2005 (Semanza,<br />
Appeals Chamber), para. 260; RStGH, Urt. v. 27.11.2007<br />
(Simba, Appeals Chamber), para. 260. Allerdings haben die<br />
ad hoc-Strafgerichtshöfe zugleich stets betont, dass es kaum<br />
denkbar sei, individuelle Zerstörungsabsicht nachzuweisen,<br />
wenn der Täter in seinem Handeln nicht in einem genozidalen<br />
Kontext stehe; vgl. nur JStGH, Urt. v. 5.7.2001 (Jelisic,<br />
Appeals Chamber), para. 48.<br />
55<br />
Vgl. Verbrechenselemente zu Art. 6 lit. a IStGH-Statut,<br />
Nummer 4; Art. 6 lit. c, d, Nummer 5, Art. 6 lit. e, Nummer<br />
7.<br />
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Statut zu übergehen. 56 Möglich ist es aber auch, das Kontextelement<br />
unter Berücksichtigung teleologischer Überlegungen<br />
bereits der Verbrechensdefinition zu entnehmen. Bei dieser<br />
Lesart sprechen die Verbrechenselemente lediglich ausdrücklich<br />
aus, was bereits Art. 6 IStGH-Statut – wie auch alle<br />
anderen völkerrechtlichen Regelungen des Völkermords<br />
zuvor – bei richtiger Auslegung enthält. 57 Eine vermittelnde<br />
Lösung erkennt in der Regelung der Verbrechenselemente<br />
zwar einen Widerspruch zu Art. 6 IStGH-Statut, will diese<br />
aber als mittelbaren Ausdruck des Willens der Vertragsstaaten<br />
nicht außer Acht lassen. Das Kontextelement wird daher<br />
nicht als Merkmal des Verbrechenstatbestands verstanden,<br />
sondern als ein die Jurisdiktion des IStGH beschränkendes<br />
Kriterium, als eine spezifische Ausformung der in Art. 17<br />
Abs. 1 lit. d IStGH-Statut vorgesehenen Erheblichkeitsschwelle<br />
(gravity threshold). 58<br />
(b) Die Lösung der Vorverfahrenskammer<br />
Die Kammer schlägt sich auf die Seite derjenigen, die das<br />
Kontextelement als ein Merkmal des Völkermordtatbestands<br />
berücksichtigt wissen wollen. Allerdings übernimmt sie nicht<br />
das Kontextelement in der Fassung der Verbrechenselemente,<br />
sondern formuliert, ohne dies näher zu erläutern, neu: Das<br />
Verbrechen des (vollendeten) Völkermords liege nur dann<br />
vor, wenn das untersuchte Verhalten eine konkrete Bedrohung<br />
für den Fortbestand der angegriffenen Gruppe oder<br />
eines Teiles dieser Gruppe darstelle (the crime of genocide is<br />
only completed when the relevant conduct presents a concrete<br />
threat to the existence of the targeted group, or part thereof).<br />
59 Ihre Begründung besteht aus mehreren methodischen<br />
Überlegungen.<br />
Zunächst wischt die Kammer die entgegenstehende<br />
Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale als für sie unbeachtlich<br />
beiseite. Der IStGH sei gem. Art. 21 Abs. 1 lit. a IStGH-<br />
Statut primär stets an sein Statut, die Verbrechenselemente<br />
und seine Beweis- und Verfahrensregeln gebunden. Andere,<br />
in Art. 21 Abs. 1 lit. b und c genannte Rechtsquellen, seien<br />
nur dann relevant, wenn Statut, Verbrechenselemente und<br />
Verfahrens- und Beweisregeln eine Lücke (lacuna) erkennen<br />
ließen, die sich auch mit den in Art. 31 und 32 der Wiener<br />
Vertragsrechtskonvention geregelten Mitteln der Auslegung<br />
nicht schließen lässt. 60 Dass für die Rechtsprechung der ad<br />
56 So z.B. Ambos (Fn. 30), § 7 Rn. 145; Lüders, Die Strafbarkeit<br />
von Völkermord nach dem Römischen Statut für den<br />
Internationalen Strafgerichtshof, 2004, S. 163 f.<br />
57 In diesem Sinne z.B. Kreß, 18 European Journal of International<br />
Law (2007), 619 (621 ff.); Triffterer, in: Schünemann<br />
u.a. (Hrsg.), Festschrift Claus Roxin zum 70. Geburtstag,<br />
2001, S. 1415 ff. (1442), allerdings mit unterschiedlicher<br />
dogmatischer Einordnung des Kontextelements. Ähnlich<br />
auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.9.1997 (Jorgic).<br />
58 So beispielsweise Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst<br />
(Fn. 47), S. 169, 177 f.; Werle (Fn. 23), Rn. 705. Ähnlich<br />
Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals,<br />
2005, S. 204.<br />
59 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 124.<br />
60 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 126.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
132<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
hoc-Tribunale unter diesen Voraussetzungen kein Platz<br />
bleibt, kann nicht überraschen.<br />
Sodann erklärt die Kammer, die Verbrechenselemente<br />
seien solange zu beachten, wie sie nicht in einem unauflöslichen<br />
Widerspruch (irreconcilable contradiction) zum IStGH-<br />
Statut stünden. Ein solcher Widerspruch liege aber hinsichtlich<br />
des in den Verbrechenselementen zum Völkermord vorgesehenen<br />
Kontextelementes nicht vor. 61 Vielmehr – und<br />
damit führt die Vorverfahrenskammer ihre dritte methodische<br />
Überlegung ein – entspreche das Erfordernis eines Kontextelementes<br />
für den Völkermord dem in Art. 22 IStGH-Statut<br />
geregelten Grundsatz nullum crimen sine lege, insbesondere<br />
dessen Konkretisierung in Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut. 62<br />
Danach ist nicht nur die enge Auslegung der Statutsvorschriften<br />
geboten. Vielmehr sieht Satz 2 der Vorschrift eine Auslegung<br />
der Verbrechenstatbestände im Zweifelsfall zugunsten<br />
des Angeklagten vor, erstreckt also den Grundsatz in dubio<br />
pro reo – für den deutschen Strafjuristen befremdlich – auch<br />
auf Rechtsfragen. 63 Die Kammer meint, jede andere Auslegung<br />
als die von ihr gewählte laufe diesen Grundsätzen zuwider<br />
und führe daher zu einer spürbaren Schwächung des<br />
nullum crimen sine lege-Prinzips (the safeguards provided for<br />
by the article 22 nullum crimen sine lege principle would be<br />
significantly eroded). 64<br />
(c) Stellungnahme<br />
Eine Stellungnahme zu den Ausführungen der Vorverfahrenskammer<br />
zwingt zur Differenzierung zwischen der Entscheidung<br />
in der Sache und der gelieferten Begründung. Die<br />
Begründung ist abzulehnen. In der Sache lassen sich hingegen<br />
Gründe finden, ein Kontextelement in der von der Kammer<br />
geforderten Form für das Vorliegen von Völkermord<br />
vorauszusetzen. Schließlich ist zu fragen, ob es angemessen<br />
ist, dass die Vorverfahrenskammer in der gegebenen Verfahrenssituation<br />
eine derart grundsätzliche Rechtsfrage behandelt.<br />
(aa) Die Begründung der Vorverfahrenskammer<br />
Die Begründung der Kammer verdient Kritik. Sie lässt inhaltliche<br />
Überlegungen zum Unrecht des Völkermords vermissen<br />
und beschränkt sich stattdessen auf zweifelhafte methodische<br />
Erwägungen. Nach diesen ist ein Rückgriff auf Rechtsquellen<br />
außerhalb des Statuts, der Verbrechenselemente und der<br />
Verfahrens- und Beweisregeln im Grunde stets ausgeschlossen.<br />
Denn eine Lücke, die sich, wie es die Kammer fordert,<br />
selbst unter Heranziehung der gängigen Auslegungsmethoden<br />
nicht schließen lässt, findet nur, wer sie finden will. Die Aussage<br />
der Vorverfahrenskammer bedeutet im Kern nicht mehr,<br />
61 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 128 ff.<br />
62 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 133.<br />
63 Siehe zu Art. 22 IStGH-Statut Broomhall, article 22, in:<br />
Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the<br />
International Criminal Court, 2. Aufl. 2008. Zu dem prozessualen<br />
in dubio pro reo-Grundsatz siehe unter III. 2. a) cc) (3)<br />
(b).<br />
64 Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 131.
Der Präsident und sein Gericht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
als dass ihre Bereitschaft, in der Frage des Kontextelements<br />
beim Völkermord eine solche Lücke ausfindig zu machen,<br />
sehr gering ist.<br />
Durch die Rechtsquellenlehre des Art. 21 IStGH-Statut ist<br />
dieses Ergebnis viel weniger determiniert, als die Kammer<br />
glauben machen möchte. Denn nach Art. 21 Abs. 1 lit. b<br />
IStGH-Statut sind Grundsätze und Regeln des Völkerrechts,<br />
als deren Ausdruck die Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale<br />
mittelbar zu verstehen sind, „an zweiter Stelle, soweit angebracht“<br />
(in the second place, where appropriate) zu berücksichtigen.<br />
Diese Formel lässt sich mit guten Gründen offener<br />
deuten, als die Vorverfahrenskammer meint. 65 Ein solcher<br />
Grund ist vor allem die Einheitlichkeit des Völkerstrafrechts.<br />
Es ist zwar möglich, das IStGH-Statut als ein selbständiges,<br />
geschlossenes Regelsystem des Völkerstrafrechts zu verstehen.<br />
Wünschenswert ist es aber nicht. Kurzfristig mag eine<br />
solche Emanzipation des IStGH insbesondere von der Rechtsprechung<br />
der ad hoc-Tribunale heilsam erscheinen, weil<br />
subjektiv empfundene Fehlentwicklungen in der Rechtsfortbildung<br />
so auf bequeme Weise korrigiert werden können.<br />
Mittel- und langfristig führt dieser Weg aber zu einer Fragmentierung<br />
in ein Völkerstrafrecht des IStGH und seiner<br />
Vertragsstaaten und ein Völkerstrafrecht jenseits dieser Institution.<br />
Eine solche Fragmentierung schadet aber auf lange Sicht<br />
nicht nur der Akzeptanz des IStGH, sondern gefährdet die<br />
Grundidee des Völkerstrafrechts selbst. Die Überzeugungskraft<br />
des Völkerstrafrechts schöpft sich nämlich in wesentlichem<br />
Maß aus seiner universellen wertrationalen Evidenz. 66<br />
Eine Fragmentierung der Rechtsmaterie zerbricht diese Evidenz<br />
und rührt daher an ihren Legitimationsgrundlagen. Das<br />
gilt jedenfalls, soweit es um die Verbrechenstatbestände geht,<br />
also um die Frage, ob ein Verhalten völkerstrafrechtlich kriminalisiert<br />
ist oder nicht.<br />
65<br />
Für eine offenere Deutung auch McAuliffe deGuzman,<br />
article 21, in: Triffterer (Fn. 63), Rn. 9 f.; Pellet, in: Cassese<br />
u.a. (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal<br />
Court, A Commentary, S. 1051 (1067 ff.); Schabas, An Introduction<br />
to the International Criminal Court, 3. Aufl. 2007,<br />
S. 195 f.; Werle (Fn. 23), Rn. 179. Enger dagegen Jesse, Der<br />
Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009, S. 110 ff.<br />
66<br />
Besonders anschaulich z.B. Tallgren, 13 European Journal<br />
of International Law (2002), 561. Mit der „wertrationalen<br />
Evidenz“ ist freilich nicht gemeint, dass das Völkerstrafrecht<br />
etwa der Frage nach seiner Legitimation enthoben sei. Im<br />
Gegenteil, diese Evidenz hat zu inzwischen vielfach kritisierten<br />
Begründungsdefiziten des Völkerstrafrechts geführt, vgl.<br />
nur Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der<br />
Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, S. 14 ff.; Pawlik,<br />
<strong>ZIS</strong> 2006, 274; Tallgren, a.a.O., 561 ff. Dieses Begründungsdefizit<br />
bedeutet aber nicht, dass das Völkerstrafrecht<br />
auf seine unmittelbare, sozusagen unkritische Evidenz verzichten<br />
könnte. Im Gegenteil: Die Kriterien zur Überprüfung<br />
der Legitimität des Völkerstrafrechts, seien sie nun beispielsweise<br />
dem internationalen Recht der Menschenrechte<br />
oder der Kantischen Rechtslehre entnommen, bedürfen ihrerseits<br />
dieser apriorischen Überzeugungskraft.<br />
Wem es mit dem Völkerstrafrecht ernst ist, dem kann die von<br />
der Vorverfahrenskammer so schneidig beschworene Beschränkung<br />
des Blicks also kaum behagen. Vorzugswürdig<br />
ist vielmehr eine Konkretisierung der Statutsvorschriften, die<br />
stets im Dialog mit dem überkommenen Völkerstrafrecht,<br />
insbesondere mit der Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale,<br />
erfolgt. 67 In diesem Dialog ersetzt dann weder ein vermeintlich<br />
eindeutiger Wortlaut des Statuts oder der Verbrechenselemente<br />
noch eine ständige Rechtsprechung die inhaltliche<br />
Argumentation. Wünschenswert wäre daher gewesen, dass<br />
die Vorverfahrenskammer die Auseinandersetzung mit dieser<br />
Rechtsprechung in der Sache gesucht und begründet hätte,<br />
warum diese Rechtsprechung inhaltlich nicht zutreffend ist.<br />
Die weiteren methodischen Argumente der Kammer wirken<br />
beliebig. Dass die Verbrechenselemente solange verbindlich<br />
sein sollen, wie sie nicht in einem unauflöslichen Widerspruch<br />
(irreconcilable contradiction) zum IStGH-Statut stehen,<br />
lässt sich Art. 9 IStGH-Statut keineswegs entnehmen. 68<br />
Woraus sich diese Aufwertung der Verbrechenselemente<br />
ergeben soll, erläutert die Kammer nicht. 69 Mehr noch: Sie<br />
selbst hält sich nicht an den zuvor aufgestellten Grundsatz,<br />
sondern formuliert das Kontextelement in inhaltlicher Abweichung<br />
von den Verbrechenselementen neu.<br />
Allenfalls geringe Überzeugungskraft besitzt zudem der<br />
Verweis auf das Gebot der engen Auslegung und einer Auslegung<br />
in Zweifelsfällen zugunsten des Beschuldigten, Angeklagten<br />
oder Verurteilten gemäß Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut.<br />
Einmal abgesehen von der rechtstheoretisch intrikaten Frage,<br />
wann eine Begriffsbestimmung zweifelhaft ist (oder vielmehr:<br />
wann nicht), bleibt festzustellen, dass der IStGH – und<br />
zwar nicht zuletzt in Gestalt der entscheidenden Vorverfahrenskammer<br />
selbst – in seiner noch jungen Geschichte bereits<br />
mehrfach eine Interpretation gewählt hat, die sich unter diesen<br />
Gesichtspunkten nicht rechtfertigen lässt. 70 Die Berufung<br />
67<br />
Ähnlich auch Werle (Fn. 23), Rn. 173.<br />
68<br />
Art. 9 Abs. 1 IStGH-Statut spricht davon, dass die Verbrechenselemente<br />
dem Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung<br />
der Verbrechenstatbestände „helfen“ sollen (shall<br />
assist). Art. 9 Abs. 3 IStGH-Statut verlangt, dass die Verbrechenselemente<br />
mit dem Statut vereinbar sind (shall be consistent).<br />
Ein weniger enges Verständnis teilen daher z.B. auch<br />
Jesse (Fn. 65), S. 161 ff.; Koch, <strong>ZIS</strong> 2007, 150; Pellet<br />
(Fn. 65), S. 1077 f.; Werle (Fn. 23), Rn. 173.<br />
69<br />
Folgerichtig lehnt die Richterin Usacka den von der Kammermehrheit<br />
gewählten Maßstab des unauflöslichen Widerspruchs<br />
(irreconcilable contradiction) ab, vgl. Abweichendes<br />
Sondervotum Richterin Usacka zu IStGH, Beschl. v. 4.3.2009,<br />
para. 17.<br />
70<br />
Exemplarisch kann hier die Auslegung des in seiner Formulierung<br />
nach allgemeiner Ansicht missglückten Art. 30<br />
IStGH-Statut genannt werden, der die Standardanforderungen<br />
der subjektiven Tatseite für alle Verbrechenstatbestände<br />
regelt. Obwohl der Wortlaut dieser Vorschrift, die als Musterbeispiel<br />
einer nach ihrer Bedeutung zweifelhaften Bestimmung<br />
gelten kann, eher dafür spricht, dolus eventualis im<br />
Hinblick auf die Verwirklichung des tatbestandlichen Erfolgs<br />
nicht ausreichen zu lassen, hat dieselbe Vorverfahrenskam-<br />
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133
Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />
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auf Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut erscheint daher recht bemüht.<br />
Wie bei den Ausführungen zur Bedeutung der Verbrechenselemente<br />
fehlt der Glaube, dass der IStGH die hier<br />
aufgestellten Maßstäbe in künftigen Fällen ähnlich ernst<br />
nehmen wird.<br />
(bb) Die Entscheidung in der Sache<br />
Dagegen lassen sich bei einer sachbezogenen Betrachtung<br />
durchaus Gründe für die Position der Vorverfahrenskammer<br />
finden. Unbestritten ist, dass zwischen der Phänomenologie<br />
des Völkermords und seiner völkerstrafrechtlichen Umschreibung<br />
eine Divergenz besteht. Der völkerstrafrechtliche<br />
Tatbestand erweckt den Anschein, als sei das Kennzeichen<br />
des Verbrechens eine Absicht von Einzelpersonen. Die kollektive,<br />
makrokriminelle Dimension, die allen bislang als<br />
Völkermord bewerteten Geschehnissen in phänomenologischer<br />
Hinsicht eignet, wird damit auf der Ebene der Verbrechensdefinition<br />
invisibilisiert. 71<br />
Diese Divergenz lässt sich freilich im Hinblick auf das<br />
spezifisch völkerstrafrechtliche Unrecht des Völkermords<br />
erklären und rechtfertigen. Die für den Völkermord charakteristische<br />
Weltfriedensstörung liegt nämlich in der Bedrohung<br />
des Fortbestands einer (tatbestandlich näher bestimmten)<br />
geschützten Gruppe. 72 Die Einbindung in einen kollektiven<br />
Begehungszusammenhang verbürgt dieses Bedrohungspotential<br />
zwar regelmäßig, und alle historischen Beispiele von<br />
Völkermord weisen einen solchen Begehungszusammenhang<br />
auf. Vorstellbar ist aber, dass in besonderen Fallkonstellationen<br />
das Handeln einzelner oder einiger weniger Personen den<br />
Fortbestand einer Gruppe gefährdet, entweder, weil die angegriffene<br />
Gruppe zahlenmäßig sehr klein ist, oder aber, weil<br />
die Täter Waffen mit einer entsprechend großen Zerstörungswirkung<br />
einsetzen. 73 Nicht die Kollektivität der Begehungsweise,<br />
sondern die Bedrohung des Fortbestands der<br />
mer im Verfahren gegen Lubanga Dyilo entschieden, es reiche<br />
aus, wenn der Täter lediglich die erhebliche Wahrscheinlichkeit<br />
des Erfolgseintritts kenne, vgl. IStGH, Beschl. v.<br />
29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-Trial Chamber I), para. 37.<br />
Zu Art. 30 IStGH-Statut siehe Werle/Jeßberger, 3 Journal of<br />
International Criminal Justice (2005), 35; Roßkopf, Die innere<br />
Tatseite des Völkerrechtsverbrechens. Ein Beitrag zur<br />
Auslegung des Art. 30 IStGH-Statut, 2007.<br />
71<br />
Vgl. Kreß, 18 European Journal of International Law<br />
(2007), 620.<br />
72<br />
Vgl. Kreß (Fn. 46), § 6 VStGB Rn. 3 f.; Lüders (Fn. 56),<br />
S. 91; Werle (Fn. 23), Rn. 91, 660 ff., jeweils m.w.N.<br />
73<br />
Ebenso z.B. Lüders (Fn. 56), S. 163; Triffterer (Fn. 57),<br />
S. 1434; Werle (Fn. 23), Rn. 702. Unpassend ist es, wenn<br />
Schabas insoweit von „little more than a sophomoric hypothèses<br />
d’école, and a distraction for international judicial<br />
institutions“ spricht, vgl. Schabas, 18 Leiden Journal of International<br />
Law (2005), S. 877. Es geht um eine dem charakteristischen<br />
Unrecht und dem Schutzgut entsprechende Verbrechensdefinition.<br />
Der Fall des Einzeltäters mag praktisch irrelevant<br />
sein. Er schärft aber das Bewusstsein für den eigentlichen<br />
Schutzzweck.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
134<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
geschützten Gruppe kennzeichnet den Völkermord als Völkerrechtsverbrechen.<br />
Es lässt sich also zunächst festhalten, dass der Verzicht auf<br />
einen kollektiven Aktionszusammenhang als Tatbestandsvoraussetzung<br />
in Art. 6 IStGH-Statut im Hinblick auf die spezifisch<br />
völkerrechtliche Dimension des Völkermords nicht zu<br />
beanstanden ist. Soweit die Verbrechenselemente einen solchen<br />
Begehungszusammenhang erfordern, stellen sie eine<br />
Ergänzung des Tatbestandes dar, die im Hinblick auf das<br />
spezifisch völkerrechtliche Unrecht des Völkermords nicht<br />
überzeugt.<br />
Etwas anderes gilt für ein Kontextelement in der von der<br />
Vorverfahrenskammer geforderten Form. Wenn diese eine<br />
„konkrete Bedrohung“ des Fortbestands der angegriffenen<br />
Gruppe voraussetzt und damit solche Fälle ausschließt, in<br />
denen dem Täter jede realistische Chance fehlt, sein Ziel zu<br />
erreichen, knüpft sie unmittelbar an das charakteristische<br />
Unrecht des Völkermords an. Tatsächlich lässt sich fragen,<br />
ob eine Weltfriedensstörung konstatiert werden kann, wenn<br />
eine reale Bedrohung des Fortbestands einer geschützten<br />
Gruppe nicht einmal prospektiv zu befürchten ist. Dies mag<br />
sich mit Verweis auf die abstrakte Gefährlichkeit begründen<br />
lassen, die ausnahmslos jeder Verwirklichung eines Einzelverbrechens<br />
mit Zerstörungsabsicht zugeschrieben wird. 74<br />
Gegen eine solche Konzeption des Völkermords lassen sich<br />
allerdings verschiedene Erwägungen geltend machen. Zum<br />
einen verträgt sich eine Ausdeutung des Völkermords als<br />
abstraktes Gefährdungsdelikt nur schlecht mit der Bewertung<br />
als schwerstes völkerstrafrechtliches Unrecht, als crime of<br />
crimes. 75 Zum anderen spricht dagegen, dass die abstrakte<br />
Bedrohung des Fortbestands der Gruppe bereits in einigen<br />
völkerstrafrechtlichen Sonderverbrechenstatbeständen erfasst<br />
wird, nämlich der in Art. 25 Abs. 3 lit. e IStGH-Statut geregelten<br />
Anstachelung zum Völkermord und der völkergewohnheitsrechtlich<br />
strafbaren, in das IStGH-Statut allerdings<br />
nicht aufgenommenen Verschwörung zum Völkermord. 76<br />
Warum nicht nur diese subsidiären Sondertatbestände, sondern<br />
auch das eigentliche Völkermordverbrechen im Hinblick<br />
auf das unmittelbar völkerrechtliche Schutzgut ein abstraktes<br />
Gefährdungsdelikt sein soll, lässt sich nur schwer begründen.<br />
Bei einer am spezifisch völkerrechtlichen Unrechtsgehalt<br />
orientierten Betrachtung ist es überzeugender, für den Völkermordtatbestand<br />
mehr als eine lediglich abstrakte Bedrohung<br />
für den Fortbestand der angegriffenen Gruppe, also<br />
mehr als die rein innere Tatsache der Zerstörungsabsicht an<br />
sich zu fordern. Ein solches Mehr wäre bereits, wenn die<br />
Möglichkeit, den Fortbestand der angegriffenen Gruppe zu<br />
bedrohen, als objektiver Bezugspunkt der Zerstörungsabsicht<br />
vorausgesetzt wird. Diese Möglichkeit kann sich entweder<br />
74<br />
In diesem Sinne z.B. Lüders (Fn. 56), S. 93 f., 164.<br />
75<br />
So der Untertitel von Schabas Monographie zum Völkermord,<br />
vgl. Schabas, Genocide in International Law, 2. Aufl.<br />
2009. Siehe auch IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 133.<br />
76<br />
Vgl. RStGH, Urt. v. 18.12.2008 (Bagosora u.a., Trial<br />
Chamber), paras. 2084 ff.; RStGH, Urt. v. 28.11.2007 (Nahimana<br />
u.a., Appeals Chamber), paras. 673 ff., 893 ff. Siehe<br />
Werle (Fn. 23), Rn. 581, 724 ff.
Der Präsident und sein Gericht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
aus dem Handeln des Täters des Einzelverbrechens ergeben<br />
oder aber aus einem kollektiven Begehungszusammenhang,<br />
in den sich dieses Handeln stellt.<br />
Gut begründbar erscheint also eine Ausdeutung des Völkermordtatbestands<br />
als potentielles oder abstrakt-konkretes<br />
Gefährdungsdelikt. Etwas anderes dürfte auch die Kammer<br />
mit ihrer Formulierung, erforderlich sei eine „konkrete Bedrohung“<br />
(a concrete threat), nicht gemeint haben. Methodisch<br />
lässt sich dieses Ergebnis als teleologische Reduktion<br />
des Tatbestandes, genauer als am spezifisch völkerrechtlichen<br />
Unrecht des Völkermords orientierte Auslegung der Zerstörungsabsicht<br />
beschreiben. 77 Dem Verweis auf die Verbrechenselemente<br />
kommt in diesem Begründungszusammenhang<br />
allenfalls Hilfscharakter zu.<br />
(cc) Funktionsspezifische Einwände<br />
Bei den Überlegungen der Kammer zum Erfordernis eines<br />
Kontextelements beim Völkermord handelt es sich um ein<br />
Obiter. Nicht nur, dass im Falle Darfurs ein solches Kontextelement<br />
fraglos gegeben war, die Kammer also bereits insofern<br />
hätte offen lassen können, ob es einer solchen zusätzlichen<br />
Voraussetzung bedurfte. Die Überlegungen sind auch<br />
deswegen im Gang der Entscheidungsbegründung überflüssig,<br />
weil die Kammer begründeten Verdacht hinsichtlich des<br />
Völkermords letztlich im Hinblick auf das Vorliegen von<br />
Zerstörungsabsicht ablehnt.<br />
Die Frage, ob die Vorverfahrenskammer in einer solchen<br />
Verfahrenssituation berufen war, eine derart grundsätzliche<br />
Rechtsfrage zu erörtern, drängt sich daher auf. Im Rahmen<br />
des Gerichtsaufbaus erfüllt die Vorverfahrenskammer primär<br />
eine andere Funktion. Sie dient der Kontrolle des Anklägers<br />
in den verschiedenen Stadien der Ermittlungen bis zur Anklageerhebung.<br />
Ihre Aufgabe ist die vorläufige Bewertung<br />
des vom Ankläger präsentierten Beweismaterials im Hinblick<br />
auf die Vornahme prozessualer Maßnahmen und Entscheidungen.<br />
78<br />
Auffällig ist nun, dass die Vorverfahrenskammern, und<br />
hier insbesondere die Vorverfahrenskammer I, in der bisherigen<br />
Verfahrenspraxis ihre Tätigkeit über diese Kernaufgabe<br />
hinaus schrittweise ausgedehnt und so die Bedeutung des<br />
Vorverfahrens erheblich aufgewertet haben. Dazu gehört<br />
auch, dass vor allem die Vorverfahrenskammer I in ihren<br />
Entscheidungen zur Bestätigung der Anklage (conformation<br />
of charges) in den Verfahren gegen Lubanga Dyilo und gegen<br />
Katanga and Ngudjolo Chui fallrelevante Rechtsfragen ausführlich<br />
und in grundsätzlicher Weise erörtert hat. 79 Indem<br />
77<br />
Ebenso Kreß (Fn. 46), § 6 VStGB Rn. 15, 78.<br />
78<br />
Vgl. Art. 15, 18, 19, 54 Abs. 2, 57, 61 Abs. 7 und 72<br />
IStGH-Statut. Zusammenfassend zur Rolle der Vorverfahrenskammer<br />
Nerlich, in: Cassese u.a. (Hrsg.), Oxford Companion<br />
to International Criminal Justice, 2009, S. 458 f.<br />
79<br />
Vgl. nur die Ausführungen der Vorverfahrenskammer zur<br />
Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme (IStGH, Beschl.<br />
v. 29.1.2007 [Lubanga Dyilo, Pre-Trial Chamber I], paras.<br />
322 ff.) oder zu den Merkmalen der mittelbaren Täterschaft<br />
(IStGH, Beschl. vom 30.9.2008 [Katanga and Ngudjolo<br />
Chui, Pre-Trial Chamber I], paras. 480 ff.).<br />
die Kammer dies nun sogar in einer Konstellation tut, in der<br />
die grundsätzlichen Rechtsausführungen offensichtlich nicht<br />
tragend für die getroffene Entscheidung sind, geht sie noch<br />
einen Schritt weiter.<br />
Wie diese Entwicklung zu bewerten ist und ob sie von<br />
Dauer sein wird, lässt sich derzeit noch nicht abschließend<br />
sagen. 80 Die bereits jetzt erkennbare Folge ist eine Verlängerung<br />
der Verfahrensdauer. Das Vorverfahren hat zunehmend<br />
das Gepräge einer vorgelagerten, umfassenden Verhandlung<br />
des Falles bekommen, in der die wesentlichen Rechtsfragen<br />
bereits erstmals in aller Ausführlichkeit erörtert werden. Im<br />
Hinblick auf die Dauer der Verfahren vor dem IStGH, die, so<br />
lässt sich prognostizieren, ohnehin erheblich sein wird, ist<br />
diese Entwicklung jedenfalls dann besorgniserregend, wenn<br />
sich der Angeklagte bereits in Untersuchungshaft befindet. 81<br />
Insgesamt hätte der Kammer jedenfalls weniger allzu deutlicher<br />
Willen zur Rechtsfortbildung und mehr judicial selfrestraint<br />
gut zu Gesicht gestanden. 82<br />
(2) Die geschützte Gruppe<br />
Im Anschluss an die Ausführungen zum Kontextelement<br />
widmet sich die Kammer den weiteren charakteristischen<br />
Merkmalen des Völkermords. Voraussetzung sei, dass die<br />
Opfer des jeweiligen Einzelverbrechens einer geschützten<br />
Gruppe im Sinne von Art. 6 IStGH-Statut angehören und der<br />
Täter mit der Absicht handle, diese Gruppe ganz oder teilweise<br />
zu zerstören. 83 Die Überlegungen der Kammer zum<br />
Merkmal der geschützten Gruppe entsprechen der Rechtsprechung<br />
der ad hoc-Tribunale. Erforderlich ist also eine Kennzeichnung<br />
der angegriffenen Gruppe durch bestimmte<br />
Merkmale der Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, der<br />
Rasse oder der Religion. Eine ausschließlich am Fehlen bestimmter<br />
Eigenschaften orientierte Gruppendefinition wird<br />
dagegen abgelehnt. 84<br />
80<br />
Der Blick auf den JStGH weckt insoweit die Hoffnung,<br />
dass es sich lediglich um ein Phänomen der Anfangszeit<br />
handelt. Auch der JStGH hat nämlich in den ersten Jahren<br />
seiner Tätigkeit in Ermangelung von Angeklagten in seinem<br />
Gewahrsam die Bedeutung von Vorverfahrensentscheidungen,<br />
damals insbesondere nach Regel 61 der Verfahrens- und<br />
Beweisregeln, ausgeweitet. Die berühmte Jurisdiktionsentscheidung<br />
im Verfahren gegen Tadic, JStGH, Beschl. v.<br />
2.10.1995 (Tadic, Appeals Chamber), ist in ihrer Ausführlichkeit<br />
und ihrem greifbaren Willen, grundsätzliche Rechtsfragen<br />
zu erörtern, ebenfalls eine typische Frucht dieser Anfangszeit.<br />
Zu den Verfahren nach Regel 61 siehe Friman, in:<br />
Cassese u.a. (Fn. 78), S. 458 f.<br />
81<br />
Im Verfahren gegen Lubanga Dyilo lag zwischen Erlass<br />
eines Haftbefehls und der Bestätigung der Anklageschrift<br />
etwa ein Jahr, im Verfahren gegen Katanga und Ngudjolo<br />
Chui waren es 15 Monate.<br />
82<br />
In diesem Sinne auch das abweichende Sondervotum der<br />
Richterin Usacka zu IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 16,<br />
20.<br />
83<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 134.<br />
84<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 135. Zur Rechtsprechung<br />
der ad hoc-Tribunale siehe JStGH, Urt. v. 22.3.2006 (Stakic,<br />
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Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />
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Die Anwendung dieser Begriffsbestimmung auf den konkreten<br />
Fall wirft allerdings Fragen auf. Nach Ansicht der Kammermehrheit<br />
ist der Antrag des Anklägers auf Erlass eines<br />
Haftbefehls jedenfalls insofern fehlerhaft gewesen, als er die<br />
Fur, Masalith und Zaghawa zu einer geschützten Gruppe<br />
zusammenfasse. Tatsächlich handle es sich unter Berücksichtigung<br />
von ethnischen Merkmalen wie Sprache, Stammesgebräuchen<br />
und an ein bestimmtes Siedlungsgebiet gebundenen<br />
Traditionen um drei verschiedene geschützte Gruppen im<br />
Sinne von Art. 6 IStGH-Statut. 85<br />
Die Kammer wählt somit einen ausschließlich objektiven<br />
Ansatz zur Bestimmung der geschützten Gruppe. Außer Betracht<br />
bleibt dabei der Täterhorizont. Das kann nicht überzeugen,<br />
weil die geschützte Gruppe gerade im Hinblick auf<br />
die Zerstörungsabsicht des Täters bestimmt wird. Dementsprechend<br />
vertreten die ad hoc-Tribunale inzwischen auch in<br />
ständiger Rechtsprechung einen Ansatz, der weitgehend auf<br />
die Täterperspektive Bezug nimmt und lediglich eine gewisse<br />
Objektivierbarkeit der vom Täter für die Gruppenzugehörigkeit<br />
für entscheidend gehaltenen Merkmale verlangt. 86 Es ist<br />
daher zu begrüßen, dass Richterin Usacka in ihrem abweichenden<br />
Sondervotum die Täterperspektive stärker in den<br />
Vordergrund rückt und deutlich macht, dass die Fur, Masalith<br />
und Zaghawa als schwarzafrikanische, dem arabischdominierten<br />
Regime in Khartum feindliche Stämme in den<br />
Augen der Angreifer möglicherweise doch als eine einzige<br />
Gruppe erscheinen. 87 Ob man die Schlussfolgerungen des<br />
Sondervotums in diesem Punkt teilt, mag dahin stehen. Der<br />
Mehrheitsentscheidung gerät die Täterperspektive jedenfalls<br />
allzu sehr aus dem Blick.<br />
(3) Zerstörungsabsicht<br />
(a) Vorliegen von Zerstörungsabsicht<br />
Auch bei der näheren Bestimmung der Zerstörungsabsicht<br />
knüpft die Vorverfahrenskammer an aus der Rechtsprechung<br />
der ad hoc-Tribunale Bekanntes an. So wird die Zerstörungsabsicht<br />
im Sinne eines dolus specialis oder, um mit Begriffen<br />
der deutschen Strafrechtsdogmatik zu sprechen, einer Absicht<br />
im technischen Sinne, also dolus directus ersten Grades,<br />
verstanden, die in der Deliktsstruktur eine überschießende<br />
Innentendenz des Täters beschreibt. Damit wird, ohne dass<br />
Appeals Chamber), paras. 20 ff. Ebenso IGH, Urt. v.<br />
27.2.2007 (Case Concerning the Application of the Convention<br />
on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide),<br />
paras. 192 ff.<br />
85 IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 136 f.<br />
86 Vgl. z.B. JStGH, Urt. v. 22.3.2006 (Stakic, Appeals Chamber),<br />
para. 25; JStGH, Urt. v. 1.9.2004 (Brdanin, Trial Chamber),<br />
paras. 683 f.; RStGH, Urt. v. 28.11.2007 (Nahimana<br />
u.a., Appeals Chamber), para. 496; RStGH, Urt. v. 17.6.2004<br />
(Gactumbitsi, Trial Chamber), para. 254; RStGH, Urt. v.<br />
12.11.2008 (Nchamihigo, Trial Chamber), para. 338. So auch<br />
Lüders (Fn. 56), S. 60 ff.; Werle (Fn. 23), Rn. 668 ff.; Ambos<br />
(Fn. 30), § 7 Rn. 133.<br />
87 Abweichendes Sondervotum Usacka zu IStGH, Beschl. v.<br />
4.3.2009, paras. 23 ff.<br />
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136<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
die Kammer das ausführlicher begründet, der so genannte<br />
knowledge-based-approach zurückgewiesen, der zunehmend<br />
Befürworter in der völkerstrafrechtlichen Literatur gefunden<br />
hat. 88 Danach fällt unter die Zerstörungsabsicht auch dolus<br />
directus zweiten Grades. Es werden also insbesondere auch<br />
solche Fälle erfasst, in denen der Täter weiß, dass er im<br />
Rahmen eines genozidalen Geschehens handelt, auch wenn er<br />
selbst die Zerstörung der angegriffenen Gruppe nicht zu seinem<br />
Handlungsziel erhebt. Dieser Ansatz kann nicht überzeugen.<br />
Er versucht, auf der Ebene der Verbrechensdefinition<br />
ein Problem zu lösen, das sachgerecht im Rahmen der Beteiligungslehre<br />
zu behandeln ist. 89 Die Klarstellung der Vorverfahrenskammer<br />
ist insofern zu begrüßen.<br />
Der Begriff der Zerstörung wird, auch insoweit im Einklang<br />
mit der einschlägigen Rechtsprechung von JStGH und<br />
RStGH, ebenfalls eng ausgelegt. Danach ist die Absicht, eine<br />
Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, insbesondere von<br />
der Absicht zu unterscheiden, eine Gruppe aus einer bestimmten<br />
Region zu vertreiben. Die Praxis ethnischer Säuberungen<br />
erlaubt daher zwar den Schluss auf die im Rahmen<br />
der Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. h IStGH-Statut erforderliche Diskriminierungsabsicht,<br />
nicht ohne weiteres aber den Schluss auf<br />
die für den Völkermord charakteristische Zerstörungsabsicht.<br />
90<br />
In der Beweiswürdigung kommt die Kammermehrheit zu<br />
dem Ergebnis, dass sich aus den systematischen Verbrechen<br />
der auf Seiten der sudanesischen Zentralregierung unter Al<br />
Bashir kämpfenden Streitkräfte gegen die Fur, Masalit und<br />
Zaghawa nicht zwangsläufig der begründete Verdacht für das<br />
Vorliegen von Zerstörungsabsicht ableiten lasse. 91 Dabei<br />
untersucht die Kammer die Zerstörungsabsicht nicht für Al<br />
Bashir selbst, sondern für die sudanesische Regierung insgesamt,<br />
ohne klarzustellen, welche Rückschlüsse sich aus der<br />
Prüfung dieses Kollektivs für die Absicht Al Bashirs ziehen<br />
lassen. 92 Die Mehrheit der Kammer ist der Ansicht, weder<br />
88<br />
Vgl. zum knowledge-based-approach insbesondere<br />
Greenawalt, 99 Columbia Law Review (1999), 2259; Kreß, 3<br />
Journal of International Criminal Justice (2005), 562 ff.;<br />
Triffterer (Fn. 57), S. 1422, 1438 ff., 1441 ff. Ähnlich Vest,<br />
Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002,<br />
S. 104 ff.<br />
89<br />
Ähnlich van Sliedregt, 5 Journal of International Criminal<br />
Justice (2007), 184 (193); Werle (Fn. 23), Rn. 713; van der<br />
Wilt, 4 Journal of International Criminal Justice (2006), 239<br />
(243 ff.).<br />
90<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 141 ff. Zur Rechtsprechung<br />
der ad hoc-Tribunale vgl. z.B. JStGH, Urt. v.<br />
14.1.2000 (Kupreskic u.a., Trial Chamber), para. 636. Ebenso<br />
IGH, Urt. v. 27.2.2007 (Case Concerning the Application of<br />
the Convention on the Prevention and Punishment of the<br />
Crime of Genocide), paras. 187 ff.<br />
91<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 202 ff.<br />
92<br />
Vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 147 ff.; siehe hierzu<br />
auch die kritische Bemerkung von Richterin Usacka in<br />
ihrem abweichenden Sondervotum zu IStGH, Beschl. v.<br />
4.3.2009, Fn. 4.
Der Präsident und sein Gericht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
aus den offiziellen Stellungnahmen und Verlautbarungen der<br />
Regierung noch aus den in Darfur begangenen Verbrechen<br />
ergebe sich die Zerstörungsabsicht in hinreichend sicherem<br />
Maße. Denkbar sei stets auch, dass die Regierung zwar mit<br />
der Absicht gehandelt habe, die Stämme der Fur, Masalit und<br />
Zaghawa zu diskriminieren, nicht aber diese Stämme zu<br />
zerstören. Die Kammermehrheit verweist zur Begründung<br />
wiederholt darauf, dass der Ankläger selbst das Vorgehen der<br />
Regierungsseite in seinem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls<br />
gegen Ahmad Harun und Ali Kushayb nicht als Völkermord<br />
bewertet habe. Es sei nicht zu erkennen, warum sich<br />
die rechtliche Bewertung nun im Fall Al Bashirs geändert<br />
habe. 93<br />
Zu einem anderen Schluss kommt Richterin Usacka. In<br />
ihrem abweichenden Sondervotum kommt sie zu dem Ergebnis,<br />
dass das vorgelegte Beweismaterial begründeten Verdacht<br />
für das Vorliegen der Zerstörungsabsicht Al Bashirs<br />
trägt. 94<br />
(b) Der prozessuale Prüfungsmaßstab<br />
Als entscheidend für die Ablehnung begründeten Verdachts<br />
hinsichtlich der Zerstörungsabsicht erweist sich die von der<br />
Kammermehrheit gewählte Konkretisierung des bei Art. 58<br />
IStGH-Statut erforderlichen prozessualen Bewertungsmaßstabs.<br />
Im konkreten Fall war zu klären, wann vom Vorliegen<br />
begründeten Verdachts der Zerstörungsabsicht auszugehen<br />
ist. Die Ausführungen der Kammer sind jedoch verallgemeinerungsfähig<br />
und daher auch im Hinblick auf künftige Verfahren<br />
vor dem IStGH von besonderer Bedeutung.<br />
Zunächst stellt die Kammer fest, dass der Prüfungsmaßstab<br />
des Art. 58 IStGH-Statut dann erfüllt ist, wenn aus dem<br />
vom Ankläger im Zuge seines Haftbefehlantrags vorgelegten<br />
Beweismaterial das Bestehen begründeten Verdachts der<br />
Zerstörungsabsicht die einzig vernünftige Schlussfolgerung<br />
(the only reasonable conclusion) ist. 95 Dieser Feststellung ist<br />
zuzustimmen: Nach dem Wortlaut des Art. 58 Abs. 1 IStGH-<br />
Statut müssen die Richter vom Vorliegen des begründeten<br />
Verdachts überzeugt sein. 96 Richterliche Überzeugung bedeutet<br />
subjektive Gewissheit. 97 Bestehen hingegen vernünftige<br />
Zweifel, lässt also die Beweiswürdigung mehr als nur eine<br />
einzige vernünftige Schlussfolgerung zu, so besteht diese<br />
Gewissheit nicht. Von entscheidender Bedeutung ist dabei,<br />
dass Gegenstand der Überzeugung der begründete Verdacht<br />
93<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 176, 200, 204.<br />
94<br />
Abweichendes Sondervotum Usacka zu IStGH, Beschl. v.<br />
4.3.2009, paras. 36 ff., 84 ff.<br />
95<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 158, vgl. aber auch paras.<br />
201, 203, 205.<br />
96<br />
Nach Art. 58 Abs. 1 IStGH-Statut erlässt die Kammer den<br />
beantragten Haftbefehl, wenn sie „zu der Überzeugung gelangt<br />
ist, dass begründeter Verdacht besteht, dass die Person<br />
ein [...] Verbrechen begangen hat“.<br />
97<br />
Vgl. Schabas, article 66, in: Triffterer (Fn. 63), Rn. 23 ff.<br />
Zur richterlichen Überzeugung nach deutschem Recht vgl.<br />
Schoreit, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur<br />
Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />
6. Aufl. 2008, § 261 Rn. 2.<br />
ist, nicht etwa die Tatsache, auf die sich der begründete Verdacht<br />
beziehen muss, hier die innere Tatsache der Zerstörungsabsicht.<br />
Nur einen Absatz später kommt die Kammermehrheit jedoch<br />
im angeblichen Umkehrschluss aus der soeben getroffenen<br />
Feststellung zu dem Ergebnis, dass der erforderliche<br />
prozessuale Bewertungsmaßstab dann nicht erfüllt sei, wenn<br />
das Bestehen der Zerstörungsabsicht nicht die einzige vernünftige<br />
Schlussfolgerung aus dem vorgelegten Beweismaterial<br />
ist. 98 Dabei beruft sie sich – wie schon bei ihren Ausführungen<br />
zum Kontextelement beim Völkermordtatbestand 99 –<br />
auf Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut. Aus dieser Vorschrift ergebe<br />
sich ein allgemeiner Auslegungsgrundsatz in dubio pro reo<br />
(general principle of interpretation in dubio pro reo). Anhand<br />
dieses Bewertungsmaßstabs erfolgt dann auch die konkrete<br />
Beweiswürdigung.<br />
Damit macht die Kammermehrheit im Ergebnis den Gegenstand<br />
des begründeten Verdachts, also die Zerstörungsabsicht,<br />
zum Gegenstand der erforderlichen Überzeugung. Die<br />
Konsequenz ist, dass die Richter das Vorliegen der Zerstörungsabsicht<br />
anhand des Maßstabs der Überzeugung prüfen,<br />
der eigentlich nach Art. 66 Abs. 3 IStGH-Statut für die Verurteilung<br />
erforderlich ist (proof beyond reasonable doubt).<br />
Das im IStGH-Statut enthaltene System abgestufter Beweismaßstäbe<br />
wird auf diese Weise eingeebnet.<br />
Nach diesem System sind – je nach Funktion des jeweiligen<br />
Verfahrensstadiums – verschiedene Verdachtsgrade<br />
vorgesehen: Für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens<br />
ist nach Art. 53 Abs. 1 IStGH-Statut lediglich erforderlich,<br />
dass eine „hinreichende Grundlage“ besteht, um ein Verfahren<br />
aufzunehmen (sufficient basis to proceed). Der Erlass<br />
eines Haftbefehls, der eine verfahrenssichernde Funktion<br />
erfüllt, 100 erfolgt bei Vorliegen „begründeten Verdachts“<br />
(reasonable grounds to believe), Art. 58 Abs. 1 IStGH-Statut.<br />
Zur Bestätigung der Anklage, die zumindest auch dazu dient,<br />
den Angeschuldigten vor haltlosen oder falschen Vorwürfen<br />
zu schützen, muss gemäß Art. 61 Abs. 7 IStGH-Statut „dringender<br />
Verdacht“ (substantial grounds to believe) gegeben<br />
sein. 101 In der Hauptverhandlung, in der die Schuld des Angeklagten<br />
festzustellen ist, muss das Gericht von der Schuld<br />
des Angeklagten „so überzeugt sein, dass kein vernünftiger<br />
Zweifel besteht“ (convinced of the guilt beyond reasonable<br />
doubt), Art. 66 Abs. 3 IStGH-Statut.<br />
98<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 159.<br />
99<br />
Siehe oben III. 2. a) cc) (1) (c) (aa).<br />
100<br />
Vgl. die Haftgründe in Art. 58 Abs. 1 lit. b IStGH-Statut:<br />
Sicherstellung des Erscheinens vor dem Gerichtshof, Verdunkelungsgefahr,<br />
Gefahr der fortdauernden Begehung der<br />
dem Haftbefehl zugrunde liegenden oder mit diesem im Zusammenhang<br />
stehenden Verbrechen.<br />
101<br />
Siehe IStGH, Beschl. v. 29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-<br />
Trial Chamber I), para. 37; in para. 39 führt die Vorverfahrenskammer<br />
I aus, dass der Prüfungsmaßstab des dringenden<br />
Verdachts dann erfüllt ist, wenn die Anklage handfeste Beweise<br />
vorgelegt „demonstrating a clear line of reasoning<br />
underpinning its specific allegations“.<br />
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137
Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Vor diesem Hintergrund ist der Begriff des „begründeten<br />
Verdachts“ inhaltlich auszufüllen. 102 Auf der Skala der Beweismaßstäbe<br />
ist er zwischen der „hinreichenden Grundlage“<br />
und dem „dringenden Tatverdacht“ anzusiedeln. 103 Begründeter<br />
Verdacht kann mithin angenommen werden, wenn die<br />
Richter nach Auswertung des vorgelegten Beweismaterials<br />
zu dem Schluss kommen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit<br />
besteht, dass der Verdächtige die Tat begangen hat bzw. – auf<br />
den vorliegenden Fall gemünzt – die Zerstörungsabsicht<br />
vorliegt. 104 Die hohe Wahrscheinlichkeit muss hinter der<br />
Gewissheit zurückbleiben; sie impliziert, dass nach der Beweislage<br />
auch das Nichtvorliegen der Zerstörungsabsicht<br />
möglich ist. Damit besteht auch dann begründeter Verdacht<br />
der Zerstörungsabsicht, wenn dies nicht die einzig vernünftige<br />
Schlussfolgerung nach Auswertung der vorgelegten Beweise<br />
ist, sondern einer von mehreren möglichen Schlüssen,<br />
sofern er nur besonders wahrscheinlich ist.<br />
Ähnlich argumentiert auch Richterin Usacka in ihrem<br />
Sondervotum. Ihr zufolge ist es im jetzigen Verfahrensstadium<br />
ausreichend, dass aus dem vorgelegten Beweismaterial<br />
vernünftigerweise auch auf die Zerstörungsabsicht geschlossen<br />
werden kann, solange dieser Schluss nicht in einem<br />
nächsten Prüfungsschritt durch die Beweismittel derart erschüttert<br />
wird, dass er auf zweiten Blick doch unvernünftig<br />
erscheint (rendered unreasonable). 105<br />
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung<br />
eines „allgemeinen Auslegungsgrundsatzes in dubio pro<br />
reo“. Dabei ist zunächst zweifelhaft, ob sich ein solcher<br />
Grundsatz tatsächlich aus Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut ergibt.<br />
Seinem Wortlaut nach findet diese Zweifelsregelung nur auf<br />
die Auslegung der Verbrechenstatbestände, also auf materielle<br />
Rechtsfragen, Anwendung. 106 Ein prozessualer in dubio-<br />
Grundsatz kann hingegen aus der Unschuldsvermutung nach<br />
Art. 66 Abs. 1, 3 IStGH-Statut abgeleitet werden: Jede Person<br />
gilt als unschuldig, solange ihre Schuld nicht zweifelsfrei<br />
nachgewiesen ist. Die Unschuldsvermutung gilt nach dem<br />
Wortlaut nicht nur für den Angeklagten im Hauptverfahren,<br />
102<br />
Weder im Statut noch in den Verfahrens- und Beweisregeln<br />
finden sich zu dem Begriff des begründeten Verdachts<br />
nähere Angaben. Der Entstehungsgeschichte ist immerhin zu<br />
entnehmen, dass er objektive Kriterien zum Ausdruck bringt,<br />
siehe „Zutphen Draft“, 1.4.1998, Fn. 10, 11 zu Art. 52 [28]:<br />
“The term ‘reasonable grounds’ was understood to embody<br />
objective criteria. Some delegations preferred other terms<br />
such as ‘serious reasons’”. Vgl. Hall, article 58, in: Triffterer<br />
(Fn. 63), Rn. 9, Fn. 20.<br />
103<br />
Vgl. Schabas, article 66, in: Triffterer (Fn. 63), Rn. 23.<br />
104<br />
Da es um den Erlass eines Haftbefehls geht, also eine für<br />
den Verdächtigen äußerst einschneidende Maßnahme, ist ein<br />
hoher Wahrscheinlichkeitsgrad erforderlich, der jedoch hinter<br />
dem des dringenden Verdachts i.S.v. Art. 61 Abs. 7 zurückbleibt.<br />
105<br />
Abweichendes Sondervotum Usacka zu IStGH, Beschl. v.<br />
4.3.2009, para. 34.<br />
106<br />
Vgl. Broomhall, article 22, in: Triffterer (Fn. 63), Rn. 39.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
138<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
sondern bereits – zumindest mittelbar – im Vor- und damit<br />
auch im Haftbefehlsverfahren. 107<br />
Konkret bedeutet das: Ist die Kammer vom Vorliegen begründeten<br />
Verdachts nicht überzeugt, bestehen also vernünftige<br />
Zweifel daran, dass der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad<br />
erreicht ist, so ist der Antrag auf Erlass des Haftbefehls<br />
abzulehnen. Es bedeutet hingegen nicht, dass bei Zweifeln<br />
bezüglich des Vorliegens der Zerstörungsabsicht zugunsten<br />
des Verdächtigen zu entscheiden ist, da die Möglichkeit<br />
des Nichtvorliegens der Zerstörungsabsicht dem begründeten<br />
Verdacht immanent ist. Stünden Zweifel beim Vorliegen der<br />
Zerstörungsabsicht selbst dem Erlass eines Haftbefehls entgegen,<br />
so wie es die Ansicht der Vorsitzenden Richterin<br />
Kuenyehia und Richterin Steiner nahelegt, so würde die<br />
Haftbefehlsentscheidung als vorgezogene Hauptverhandlung<br />
zweckentfremdet. Das zu diesem Zeitpunkt vorgelegte –<br />
unvollständige – Beweismaterial würde durch die Vorverfahrenskammer<br />
bereits abschließend bewertet. Im Falle der Annahme<br />
der Zerstörungsabsicht käme dies einer „Vorverurteilung“<br />
gleich. Eine abschließende Beurteilung des vorgelegten<br />
Beweismaterials ist der Vorverfahrenskammer jedoch nicht<br />
gestattet, sie muss den Richtern der Hauptverhandlung vorbehalten<br />
bleiben. 108<br />
b) Individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit Al Bashirs<br />
In Bezug auf die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit<br />
folgt die Vorverfahrenskammer dem Ankläger und bejaht<br />
begründeten Verdacht für die mittelbare (Mit-)Täterschaft Al<br />
Bashirs hinsichtlich der in Darfur begangenen Völkerrechtsverbrechen.<br />
Wie schon in den Verfahren gegen Lubanga<br />
Dyilo 109 und gegen Katanga and Ngudjolo Chui 110 betont die<br />
Kammer unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die deutsche<br />
Strafrechtsdogmatik, dass die Abgrenzung zwischen Tätern<br />
im Sinne des Art. 25 Abs. 3 lit. a IStGH-Statut und Teilnehmern<br />
mittels des Kriteriums der Tatherrschaft (notion of<br />
control of the crime) durchzuführen sei. 111 Begründeter Verdacht<br />
hinsichtlich der Tatherrschaft Al Bashirs wird von der<br />
Kammer sodann anhand der Lehre der Organisationsherrschaft<br />
bejaht: Er übe als Präsident des Sudan und als Befehlshaber<br />
über die Streitkräfte de jure und de facto Kontrolle<br />
über den hierarchisch organisierten Staatsapparat aus. Diese<br />
Kontrolle habe er bewusst genutzt, um die in Frage stehenden<br />
Verbrechen durch andere zu begehen. Die Taten der selbst<br />
107 So Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst (Fn. 47), S. 356,<br />
Zappalà, in: Cassese u.a. (Fn. 78), S. 458.<br />
108 Nicht überzeugend ist es im Übrigen, dass die Kammer<br />
dem Umstand große Bedeutung zumisst, dass sich die Zerstörungsabsicht<br />
als innere Tatsache in Ermangelung direkter<br />
Aussagen Al Bashirs nur mittels Indizienbeweis (proof of<br />
inference) feststellen lässt, vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009,<br />
para 147. Der Indizienbeweis kann den prozessual erforderlichen<br />
Beweismaßstab keinesfalls modifizieren.<br />
109 IStGH, Beschl. v. 29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-Trial<br />
Chamber I), paras. 326-339.<br />
110 IStGH, Beschl. v. 30.9.2008 (Katanga and Ngudjolo Chui,<br />
Pre-Trial Chamber I), paras. 484 ff.<br />
111 IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, para. 210.
Der Präsident und sein Gericht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
vollverantwortlich handelnden unmittelbaren Ausführungstäter<br />
würden ihm daher zugerechnet. 112<br />
Offen lässt die Richtermehrheit jedoch, ob Al Bashir als<br />
mittelbarer Täter (indirect perpetrator) oder als mittelbarer<br />
Mittäter (indirect co-perpetrator) anzusehen ist. 113 Die Figur<br />
der mittelbaren Mittäterschaft wurde von der Vorverfahrenskammer<br />
erstmals in Katanga and Ngudjolo Chui ausführlich<br />
diskutiert. 114 In diesem Fall standen sowohl Germain Katanga<br />
als auch Mathieu Ngudjolo Chui jeweils alleine an der Spitze<br />
verschiedener, hierarchisch organisierter bewaffneter Gruppen<br />
von Kindersoldaten. Gleichzeitig lagen zwischen den<br />
beiden die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der<br />
Mittäterschaft vor. Insbesondere hatten sie einen gemeinsamen<br />
Tatplan entwickelt, an deren Umsetzung die beiden<br />
Organisationen zwingend beteiligt sein mussten. Damit war<br />
es nach Ansicht der Vorverfahrenskammer möglich, die Katanga<br />
mittels Organisationsherrschaft zugerechneten Verbrechen<br />
seiner Ausführungstäter auch Ngudjolo Chui im Wege<br />
der Mittäterschaft zuzurechnen – und umgekehrt. So verstanden<br />
ist die Figur der mittelbaren Mittäterschaft eine hintereinander<br />
geschaltete Kombination aus mittelbar-täterschaftlicher<br />
Zurechnung auf vertikaler und mittäterschaftlicher<br />
Zurechnung auf horizontaler Ebene.<br />
Im vorliegenden Fall bestätigt die Kammer ihre Rechtsprechung,<br />
115 scheint unter der Rechtsfigur zugleich aber<br />
etwas anders zu verstehen. Es geht nicht darum, dass einzelne<br />
Führungsfiguren alleinige Organisationsherrschaft über einen<br />
Teil des Staatsapparates haben und die von diesem Teil des<br />
Apparates begangenen Verbrechen den Mittätern auf der<br />
112<br />
Mittelbare Täterschaft wird in Art. 25 Abs. 3 lit. a IStGH-<br />
Statut geregelt; ausdrücklich anerkannt wird dort auch die<br />
Figur des „Täters hinter dem Täter“. Nach Ansicht der Vorverfahrenskammern<br />
I und III lässt sich daraus ableiten, dass<br />
das IStGH-Statut damit auch die Lehre von der Tatherrschaft<br />
kraft Organisationsherrschaft inkorporiert; vgl. IStGH, Beschl.<br />
v. 29.1.2007 (Lubanga Dyilo, Pre-Trial Chamber I),<br />
paras. 94-96, in der letztlich jedoch Mittäterschaft angenommen<br />
wurde; IStGH, Beschl. v. 30.9.2008 (Katanga and Ngudjolo<br />
Chui, Pre-Trial Chamber I), paras. 495 f.; IStGH, Haftbefehl<br />
vom 10.6.2008 (Bemba Gombo, Pre-Trial Chamber<br />
III), para. 24. Zu der Anwendung dieser im deutschen Recht<br />
von Roxin entwickelten dogmatischen Figur durch den IStGH<br />
siehe Jeßberger/Geneuss, 6 Journal of International Criminal<br />
Justice (2008), 853.<br />
113<br />
Der Antrag des Anklägers basiert hingegen ausschließlich<br />
auf der Täterschaftsform der indirect perpetration, vgl. Anklagebehörde,<br />
Antrag vom 14.7.2008, paras. 39, 247.<br />
114<br />
IStGH, Beschl. v. 30.9.2008 (Katanga and Ngudjolo Chui,<br />
Pre-Trial Chamber I), paras. 495 ff.<br />
115<br />
Noch deutlicher als zuvor behandelt die Kammer die mittelbare<br />
Mittäterschaft als eine vierte eigenständige Form der<br />
Täterschaft im Sinne des Art. 25 Abs. 3 lit. a IStGH-Statut<br />
neben der unmittelbaren, der mittelbaren und der Mittäterschaft,<br />
vgl. IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 210, 213. Siehe<br />
hierzu auch die Ausführungen der Kammer in IStGH,<br />
Beschl. v. 30.9.2008 (Katanga and Ngudjolo Chui, Pre-Trial<br />
Chamber I), paras. 490 ff.<br />
Führungsebene zugerechnet werden sollen. Vielmehr stellt<br />
sich die Vorverfahrenskammer die Frage, ob Al Bashir als<br />
alleiniger Führer an der Spitze des hierarchisch gegliederten<br />
Staatsapparates steht, ob er also die Organisationsherrschaft<br />
alleine innehat, oder ob nicht vielmehr ein Zirkel mehr oder<br />
minder gleichrangiger Funktionäre den Staatsapparat kontrolliert<br />
und somit gemeinsam die Organisationsherrschaft ausübt.<br />
116 Ob die mittäterschaftlich-horizontale Zurechnung in<br />
solchen Fällen erforderlich ist, soll im Rahmen dieses Beitrages<br />
nicht vertieft werden. Der BGH hat diese Notwendigkeit<br />
in den Verfahren gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates<br />
der DDR und des Politbüros der SED jedenfalls<br />
nicht gesehen. 117<br />
3. Notwendigkeit der Festnahme<br />
Schließlich hält die Kammer die Festnahme Al Bashirs gemäß<br />
Art. 58 Abs. 1 lit. b IStGH-Statut für notwendig, um<br />
sicherzustellen, dass er zur Verhandlung erscheint, die weiteren<br />
Ermittlungen nicht behindert oder gefährdet, und um ihn<br />
an der Begehung weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
und Kriegsverbrechen zu hindern. Da Al Bashir bisher<br />
auch keine Bereitschaft gezeigt habe, vor dem Gerichtshof zu<br />
erscheinen oder sonst mit ihm zu kooperieren, stelle eine<br />
Ladung im Sinne des Art. 58 Abs. 7 IStGH-Statut keine Alternative<br />
dar.<br />
4. Festnahme- und Überstellungsersuchen<br />
Zur Umsetzung der Haftbefehlsentscheidung weist die Vorverfahrenskammer<br />
die Kanzlei (registry) an, Festnahme- und<br />
Überstellungsersuchen an den Sudan, die Vertragsstaaten des<br />
Rom-Statuts und die Mitgliedstaaten des Sicherheitsrats, die<br />
keine Vertragsstaaten sind, zu übermitteln. 118 Zudem sollen<br />
Ersuchen vorbereitet werden, die gegebenenfalls weiteren<br />
Nicht-Vertragsstaaten zugestellt werden können.<br />
In diesem Zusammenhang stellen sich zwei abschließende<br />
Fragen, die für den Verlauf des Verfahrens von entscheidender<br />
Bedeutung sind. Erstens: Sind diese Staaten zur Kooperation<br />
mit dem IStGH und damit zur Festnahme Al Bashirs<br />
verpflichtet? Und zweitens: Steht einer Festnahme Al Bashirs<br />
durch diese Staaten nicht vielmehr dessen Immunität ratione<br />
personae entgegen? Denn formell gesehen handelt es sich bei<br />
116<br />
Richterin Usacka geht ausschließlich von mittelbarer<br />
Täterschaft Al Bashirs aus: Nach dem vom Ankläger vorgebrachten<br />
Beweismaterial sei nicht hinreichend klar, ob neben<br />
Al Bashir auch andere Regierungsmitglieder Tatherrschaft<br />
besitzen. Daher scheide Mittäterschaft im jetzigen Verfahrensstadium<br />
aus, Abweichendes Sondervotum Usacka zu<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, paras. 103 f.<br />
117<br />
Die Zurechnung der Erschießungen an der deutschdeutschen<br />
Grenze erfolgte in diesen Verfahren ausschließlich<br />
im Wege der mittelbaren Täterschaft; vgl. BGH, Urt. v.<br />
26.7.1994, BGHSt 40, 218 und Urt. v. 8.11.1999, BGHSt 45,<br />
270.<br />
118<br />
IStGH, Beschl. v. 4.3.2009, S. 93, wobei die Kammer<br />
nicht näher erläutert, warum die Ersuchen auch an die Mitgliedstaaten<br />
des Sicherheitsrats übermittelt werden.<br />
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einer Festnahme durch staatliche Behörden um die Ausübung<br />
eigener, nationaler Strafgerichtsbarkeit, selbst wenn damit<br />
einem Rechtshilfeersuchen des IStGH nachgekommen wird.<br />
Gegenüber nationalen Gerichtsbarkeiten genießen amtierende<br />
Staats- und Regierungschefs aber nach allgemeiner Ansicht<br />
ausnahmslos und absolut völkergewohnheitsrechtliche Immunität<br />
ratione personae. 119<br />
Relativ einfach lassen sich diese Fragen im Hinblick auf<br />
den Sudan selbst klären. Der Sudan – hier stellt sich die Frage<br />
nach der völkerrechtlichen Immunität ratione personae<br />
nicht – ist unmittelbar nach der Sicherheitsratsresolution<br />
1593 verpflichtet, dem Festnahme- und Überstellungsersuchen<br />
des IStGH nachzukommen. Dort heißt es: „[T]he Government<br />
of Sudan [...] shall cooperate fully with and provide<br />
any necessary assistance to the Court and the Prosecutor<br />
pursuant to this resolution“. 120 Freilich ist es, jedenfalls zum<br />
derzeitigen Zeitpunkt, äußerst unwahrscheinlich, dass der<br />
Sudan dieser Verpflichtung nachkommt.<br />
Komplizierter sieht es hingegen bei den Vertragsstaaten<br />
zum IStGH-Statut aus. Die Pflicht zur Kooperation mit dem<br />
Gerichtshof, und damit auch die Pflicht, dem Festnahmeersuchen<br />
Folge zu leisten, ergibt sich zwar grundsätzlich aus den<br />
Art. 86, 89 IStGH-Statut. Nach Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut<br />
ist es dem Gerichtshof jedoch nicht gestattet Rechtshilfe- und<br />
Überstellungsersuchen zu stellen, wenn damit von dem ersuchten<br />
Staat verlangt würde, gegen völkerrechtlich bestehende<br />
„horizontale“, also zwischenstaatliche, Immunitätsregelungen<br />
zu verstoßen. Ziel des Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut<br />
ist es, „völkerrechtliche Pflichtenkollisionen“ zu vermeiden.<br />
121<br />
Entscheidend ist demnach, ob die grundsätzlich bestehende<br />
„horizontale“ Immunität Al Bashirs möglicherweise aufgehoben<br />
wurde. Aus der Sicherheitsratsresolution, die die<br />
„Situation Darfur“ an den IStGH überweist, kann nicht unmittelbar<br />
auf eine Aufhebung der Immunität Al Bashirs durch<br />
den Sicherheitsrat geschlossen werden, die auch staatliche<br />
Rechtshilfemaßnahmen zugunsten des IStGH umfasst. Die<br />
Resolution verpflichtet ausschließlich den Sudan zur Kooperation<br />
mit dem IStGH, andere Staaten werden lediglich dringend<br />
dazu angehalten. 122 Ohne ausdrückliche Kooperations-<br />
119<br />
So für amtierende Staats- und Regierungschefs sowie<br />
Außenminister ausdrücklich der IGH, Urt. v. 14.2.2002 (Arrest<br />
Warrant of 11 April 2000 [Democratic Republic of the<br />
Congo v. Belgium]), paras. 52 ff. Vgl. hierzu Kreß, GA 2003,<br />
30 ff., 39; Ipsen (Fn. 26), § 26 Rn. 35, 41 f.<br />
120<br />
UN-Sicherheitsrat, Resolution 1593 (Fn. 19), S. 1. Zur<br />
Umsetzung der Resolution ist der Sudan gem. Art. 25 UN-<br />
Charta verpflichtet.<br />
121<br />
Vgl. hierzu Kreicker, Exemtionen (Fn. 26), S. 1380 ff;<br />
Ambos (Fn. 30), § 8 Rn. 66.<br />
122<br />
„While recognizing that States not party to the Rome<br />
Statute have no obligations under the Statute, the [UN Security<br />
Council] urges all States [...] to cooperate fully.“ UN-<br />
Sicherheitsrat, Resolution 1593 (Fn. 19), S. 1.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
140<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
verpflichtung lässt sich jedoch eine umfassende Aufhebung<br />
der Immunität Al Bashirs kaum begründen. 123<br />
Diese Feststellung stimmt auch mit den Ausführungen der<br />
Vorverfahrenskammer zur Prüfung der „vertikalen“ Immunität<br />
Al Bashirs überein: 124 Die Kammer stützt ihre Argumentation,<br />
dass die Immunität Al Bashirs einer Strafverfolgung<br />
durch den IStGH nicht entgegensteht, nicht unmittelbar auf<br />
die UN-Resolution selbst, sondern beruft sich auf Art. 27<br />
Abs. 2 IStGH-Statut, da mit der Übertragung der Darfur-<br />
Situation durch den UN-Sicherheitsrat das gesamte Regelungsinstrumentarium<br />
des IStGH anwendbar geworden ist.<br />
Folgt man dieser Argumentationslinie stellt sich als<br />
nächstes jedoch die Frage, ob von Art. 27 Abs. 2 IStGH-<br />
Statut dann nicht auch die staatlichen Rechtshilfemaßnahmen<br />
zugunsten des IStGH umfasst sind. Im Falle von Vertragsstaatsangehörigen<br />
wird dies im Schrifttum vertreten und so<br />
der Widerspruch zwischen Art. 27 Abs. 2 und 98 Abs. 1<br />
IStGH-Statut aufgelöst: Der Immunitätsausschluss des<br />
Art. 27 Abs. 2 IStGH wird nicht in einem engen, technischen<br />
Sinne verstanden, der allein die Gerichtsbarkeit des IStGH<br />
erfasst; vielmehr müsse er, um nicht regelmäßig ins Leere zu<br />
laufen, auch die das internationale Strafverfahren erst ermöglichenden<br />
vertikalen Kooperationsmaßnahmen der Vertragsstaaten<br />
zugunsten des IStGH, insbesondere Festnahme und<br />
Überstellung, umfassen. 125 Geht man im vorliegenden Fall<br />
123<br />
Nach Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst (Fn. 47),<br />
S. 441, ist eine Immunität ratione personae von Nicht-IStGH-<br />
Vertragsstaatsangehörigen gegenüber staatlichen Gerichtsbarkeiten<br />
dann nicht anzunehmen, wenn der UN-Sicherheitsrat<br />
die Situation nach Kapitel VII der UN-Charta an den IStGH<br />
überweist und die Resolution die entsprechenden Staatenverpflichtungen<br />
beinhaltet. Ähnliche Überlegungen stellt Kreß,<br />
GA 2003, 39 unter Bezugnahme auf den Erlass des Haftbefehls<br />
gegen Slobodan Milosevic durch den JStGH an. Denkbar<br />
wäre es ebenfalls, nicht aus der Resolution, sondern unmittelbar<br />
aus einem völkergewohnheitsrechtlichen Immunitätsausschluss<br />
ratione personae vor internationalen Strafgerichten<br />
auf das Nicht-Entgegenstehen der Immunität auch<br />
gegenüber staatlichen Strafgerichtsbarkeiten, die Rechtshilfemaßnahmen<br />
zugunsten des IStGH ausführen, zu schließen;<br />
ähnlich Kreß, a.a.O., 39 f., ders., NStZ 2000, 617 (622). Ob<br />
ein solch weit reichender völkerrechtlicher Immunitätsausschluss<br />
tatsächlich angenommen werden kann, kann im<br />
Rahmen dieses Beitrages jedoch nicht weiter vertieft werden.<br />
124<br />
Siehe oben III. 1. a).<br />
125<br />
Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut ist nach dieser Argumentation<br />
letztendlich irrelevant, sofern es um die Immunität ratione<br />
personae eines Vertragsstaatsangehörigen geht. Zu diesem<br />
Ergebnis kommen auch die Vertreter der Ansicht, nach der<br />
Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut bei Vertragsstaatsangehörigen<br />
schon von vornherein keine Anwendung findet, da mit „Drittstaaten“<br />
allein Nicht-Vertragsstaaten gemeint sind. Anders<br />
Kreicker, Exemtionen (Fn. 26), S. 1380 ff., nach dem zum<br />
einen Art. 98 IStGH-Statut auch auf Vertragsstaaten Anwendung<br />
findet, und zudem Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut eng<br />
auszulegen ist und nur die Gerichtsbarkeit des IStGH umfasst,<br />
nicht die vertragsstaatliche Gerichtsbarkeit. Damit
Der Präsident und sein Gericht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
mit der Kammer von der durch den Sicherheitsrat gewollten<br />
Anwendung des Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut aus, so kann<br />
konsequenterweise nichts anderes gelten.<br />
Diese Argumentation ist jedenfalls mit dem Schutzzweck<br />
von Immunitäten ratione personae gegenüber nationalen<br />
Gerichtsbarkeiten vereinbar, da Rechtshilfemaßnahmen einzelner<br />
Staaten zugunsten des Gerichtshofs grundsätzlich<br />
einen anderen Charakter haben als Maßnahmen, die allein im<br />
Rahmen nationaler Strafverfolgungen erfolgen. In diesen<br />
Fällen handelt es sich ausschließlich um Hilfstätigkeiten für<br />
den IStGH, da dieser mangels eigener Vollzugsbehörden<br />
„durch“ seine Vertragsstaaten handeln muss. Ein Verstoß<br />
gegen den Grundsatz souveräner Gleichheit aller Staaten liegt<br />
nicht vor, da der ersuchte Staat nicht über einen anderen zu<br />
Gericht sitzt. Die Gefahr politischen Missbrauchs der staatlichen<br />
Strafverfolgung ist somit derart eingeschränkt, dass es<br />
vertretbar erscheint, der effektiven Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen<br />
durch den IStGH den Vorrang vor der umfassenden<br />
Immunität ratione personae einzuräumen. 126<br />
Damit war es dem Gerichtshof nach Art. 98 Abs. 1<br />
IStGH-Statut gestattet, Festnahme- und Überstellungsersuchen<br />
an seine Vertragsstaaten zu stellen. Die Vertragsstaaten<br />
sind demnach berechtigt und zugleich verpflichtet, dem Ersuchen<br />
nachzukommen. Es erübrigt sich folglich die Frage, wie<br />
ein Vertragsstaat mit nach seiner Ansicht „rechtswidrigen“,<br />
das heißt entgegen den Voraussetzungen des Art. 98 Abs. 1<br />
IStGH-Statut gestellten, Rechtshilfeersuchen, umzugehen<br />
hat. 127<br />
dürfen Staaten bei Bestehen völkerrechtlicher Immunität<br />
keine Strafgerichtsbarkeit ausüben, auch nicht, wenn es sich<br />
um eine Rechtshilfemaßnahme zugunsten des IStGH handelt<br />
– der Gerichtshof muss zunächst bei dem betreffenden Vertragsstaat<br />
einen Verzicht auf Immunität zugunsten der nationalen<br />
Strafgerichtsbarkeit erreichen. Zum Ganzen siehe Kreß,<br />
in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr<br />
in Strafsachen, 3. Aufl., Stand: Februar 2009, Vor III<br />
26 Rn. 244; Kreß/Prost, article 98, in: Triffterer (Fn. 63), Rn.<br />
9, 13 f; Akande, 98 American Journal of International Law<br />
(2004), 407 (419 ff.).<br />
126<br />
Ähnlich Kreß, GA 2003, 41.<br />
127<br />
Im Schrifttum wird überwiegend vertreten, dass der IStGH<br />
die alleinige Entscheidungskompetenz über die Immunitätsfrage<br />
im Sinne des Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut innehat.<br />
Folglich darf ein ersuchter Staat nicht selbst Konsequenzen<br />
aus der nach seiner Ansicht nach aufgrund des „rechtswidrigen“<br />
Ersuchens des IStGH bestehenden Pflichtenkollision<br />
ziehen und die Erledigung des Ersuchens verweigern. Er<br />
kann lediglich auf seine abweichende Rechtsauffassung hinweisen<br />
und zur Not die Rechtmäßigkeit des Ersuchens anfechten,<br />
so Meißner (Fn. 30), S. 121. Gestützt wird diese<br />
Ansicht auf den Wortlaut des Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut<br />
und Regel 195 der Verfahrens- und Beweisanordnung. Eine<br />
gegenteilige Ansicht wird teilweise von den Vertragsstaaten<br />
vertreten, die sich in ihren Kooperationsgesetzen ein eigenes<br />
Prüfungsrecht vorbehalten. So i.E. auch Steinberger-Frauenhofer<br />
(Fn. 26), S. 215. Zum Ganzen vgl. Akande 98 American<br />
Journal of International Law (2004), 431 f.; Broomhall,<br />
Was Nicht-Vertragsstaaten angeht, so kann eine Kooperationsverpflichtung<br />
mit dem IStGH aus dem Statut naturgemäß<br />
nicht abgeleitet werden. Sie ergibt sich, wie bereits dargestellt,<br />
auch nicht unmittelbar aus der Sicherheitsratsresolution.<br />
Aus der Resolution und ebenfalls über den „Umweg“<br />
des IStGH-Statuts ließe sich jedoch möglicherweise eine<br />
Berechtigung der Nicht-Vertragsstaaten zur Festnahme Al<br />
Bashirs herleiten: Indem sich der Sicherheitsrat das Statut zu<br />
Eigen gemacht hat, entfaltet es mittelbar Wirkung nicht nur<br />
gegenüber den Vertragsstaaten, sondern auch gegenüber<br />
Nicht-Vertragsstaaten. Diese wären damit – wenn der oben<br />
erläuterten weiten Auslegung des Art. 27 IStGH-Statut gefolgt<br />
wird – zu Rechtshilfemaßnahmen zugunsten des Gerichtshofs<br />
zumindest berechtigt.<br />
IV. Fazit und Ausblick<br />
Auf das bereits nach Bekanntwerden des Antrags auf Erlass<br />
des Haftbefehls gegen Al Bashir äußerst kontrovers diskutierte<br />
Verhältnis von politischen Friedensbemühungen und internationaler<br />
Strafverfolgung und die damit angesprochenen,<br />
sehr grundsätzlichen Fragen der Funktionsbestimmung und<br />
Legitimation internationaler Strafjustiz sind die Richterinnen<br />
in ihrer Entscheidung nicht eingegangen. 128 Die Haftbefehlsentscheidung<br />
der Vorverfahrenskammer behandelt aber Probleme<br />
des materiellen Völkerstrafrechts und des Verfahrensrechts,<br />
die für die weitere Tätigkeit des IStGH von außerordentlicher<br />
Bedeutung sind. Allerdings verdienen die Ausführungen<br />
überwiegend Kritik: Die Überlegungen zum Erfordernis<br />
eines Kontextelements beim Völkermord können nicht<br />
überzeugen, weil die Kammer eine sachbezogene Argumentation<br />
vermissen lässt und sich stattdessen auf fragwürdige<br />
methodische Erwägungen beschränkt. Auch die Ausführungen<br />
der Kammermehrheit zum prozessualen Prüfungsmaßstab<br />
sind abzulehnen; insoweit steht allerdings zu hoffen,<br />
dass die Berufungskammer zeitnah eine Korrektur herbeiführen<br />
wird. 129<br />
International Justice and the International Criminal Court,<br />
S. 142; Kreß, NStZ 2000, 622. Im deutschen Recht wird der<br />
Gedanke des Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut durch § 21 GVG<br />
umgesetzt; siehe hierzu Kreß, GA 2003, 42 f.; Kreicker,<br />
Exemtionen (Fn. 26), S. 1396, insbesondere Fn. 360.<br />
128<br />
Vgl. dazu z.B. Cayley, 6 Journal of International Criminal<br />
Justice (2008), 829; Ciampi, 6 Journal of International Criminal<br />
Justice (2008), 885; Gosnell, 6 Journal of International<br />
Criminal Justice (2008), 841; Nguyen, Höchstrichterliche<br />
Rechtsprechung im Strafrecht, 2008, S. 368 ff.<br />
129<br />
Der Ankläger hat gegen die Entscheidung der Kammer am<br />
10.3.2009 Beschwerde gemäß Art. 82 Abs. 1 lit. d IStGH-<br />
Statut eingelegt. Die Beschwerde ist abrufbar unter<br />
www2.icc-cpi.int/NR/exeres/CC751CCC-B58D-49A8-8073-<br />
83E0D06D3717.htm (10.4.2009). Sie richtet sich im Wesentlichen<br />
gegen die Interpretation des prozessualen Beweismaßstabs<br />
durch die Kammermehrheit und deren konkrete Würdigung<br />
des Beweismaterials bezüglich der Zerstörungsabsicht.<br />
Es bleibt abzuwarten, ob der IStGH die Beschwerde annehmen<br />
wird.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
141
Boris Burghardt/Julia Geneuss<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Fallübergreifend bestätigt die Entscheidung zwei Tendenzen,<br />
die jedenfalls erheblicher Skepsis begegnen. Zum einen<br />
wird erneut der Wille der Vorverfahrenskammer I überdeutlich,<br />
die Rechtsentwicklung des IStGH maßgeblich zu prägen.<br />
Mit den erkennbar nicht entscheidungsrelevanten, dem<br />
gefestigten Stand der internationalen Rechtsprechung widersprechenden<br />
Ausführungen zum Kontextelement des Völkermords<br />
in einer Haftbefehlsentscheidung erreicht diese<br />
Entwicklung einen Punkt, der zu einer Rückbesinnung auf die<br />
verfahrensimmanenten Aufgaben der Vorverfahrenskammer<br />
Anlass geben sollte. Zum anderen fällt die bewusste Absetzung<br />
des IStGH von der Rechtsprechung der ad hoc-<br />
Tribunale ins Auge. Diese Tendenz ist nicht an sich problematisch.<br />
Sie ist aber dort zu kritisieren, wo sie – wie im vorliegenden<br />
Fall bei den Überlegungen der Vorverfahrenskammer<br />
zum Kontextelement des Völkermords – nicht in<br />
inhaltlicher Auseinandersetzung erfolgt, sondern in formaler<br />
Betonung der Eigenständigkeit des IStGH.<br />
Für den Fortgang des eigentlichen Verfahrens ist dagegen<br />
entscheidend, dass der Haftbefehl gegen Al Bashir ausgeführt<br />
und der sudanesische Präsident festgenommen und dem<br />
IStGH überstellt wird. Hier sind insbesondere die Vertragsstaaten<br />
aufgerufen, ihrer Verpflichtung gegenüber dem<br />
IStGH gerecht zu werden, sobald sich die Gelegenheit dazu<br />
ergibt.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
142<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
Über ein degeneriertes „natürliches Recht“, richterliche Willkür, Geheimjustiz, Gleichheit vor dem<br />
Gesetz und historische Parallelen*<br />
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Christoph Mandla, Halle-Wittenberg<br />
I. Vater, Sohn und natürliches Recht<br />
1. Der Fall Görgülü<br />
Wäre Jesus Christus in Deutschland geboren worden und<br />
hätte eine deutsche Maria ihn dann zur Adoption freigegeben,<br />
hätte wohl nur der Allmächtige selbst keine etwa 50 (in Worten:<br />
fünfzig!) Gerichtsentscheidungen 1 aus sechs Instanzen<br />
und neun Jahre benötigt, um für seinen eingeborenen Sohn<br />
das Sorgerecht zu erhalten. Als sterblicher Mensch hat Kazim<br />
Görgülü erheblich weniger Macht, als Ausländer in Deutschland<br />
noch ein bisschen weniger 2 und so musste er darauf<br />
vertrauen, dass der deutsche Staat, der das Recht der Eltern –<br />
also auch das des Vaters – sein eigenes Kind zu pflegen und<br />
zu erziehen, als „natürliches Recht“ in seiner Verfassung<br />
verankert hat, Art. 6 Abs. 1 GG, ihm dieses auch tatsächlich<br />
gewährte. Görgülü konnte eigentlich guten Mutes sein.<br />
Deutschland war im Jahr der Geburt seines Sohnes seit fünfzig<br />
Jahren, drei Monaten und zwei Tagen ein Rechtsstaat, die<br />
deutsche Justiz an Recht und Gesetz gebunden, Art. 20 Abs.<br />
3 GG, und die deutschen Richter ausdrücklich dem Gesetz<br />
unterworfen, Art. 97 Abs. 1 GG. Doch irgendetwas ging<br />
gründlich schief.<br />
2. Das Rechtsbeugungsprivileg<br />
a) Gäbe es in Deutschland noch die Todesstrafe und hätte der<br />
14. Senat des OLG Naumburg Görgülü zum Tode verurteilt,<br />
und hätte die Staatsanwaltschaft dann die drei Richter wegen<br />
Rechtsbeugung und Justizmordes angeklagt 3 – das richterli-<br />
* Zugleich Anmerkung zum Beschluss des OLG Naumburg<br />
vom 6.10.2008 – 1 Ws 504/07 = NJW 2008, 3585. Der Beschluss<br />
ist auch unter www.njw.de als Datei abrufbar:<br />
http://rsw.beck.de/rsw/upload/NJW/KW_44-2008.pdf. Dort<br />
findet sich auch eine Diskussion mit dem VorsRiOLG Heintschel-Heinegg.<br />
Als Lösung des Problems wurden der Tatbestand<br />
der „gemeinschaftlichen Rechtsbeugung“ und eine<br />
dienstrechtliche „Kronzeugenregelung“ vorgeschlagen. Die<br />
dort u.a. empfohlene Richteranklage, Art. 84 Abs. 1 VerfLSA,<br />
würde aber aus den gleichen Gründen erfolglos bleiben wie<br />
die Strafanklage. Die Richter würden sich auf § 43 DRiG<br />
berufen.<br />
1<br />
Alle Entscheidungen sind im Internet unter „Tagebuch<br />
Görgülü“ abrufbar. – Der Gedanke ist doppelt theoretisch,<br />
denn in seiner Allwissenheit wäre Gottvater klar gewesen,<br />
dass Maria das Kind behielte, so dass er die Sache nicht vor<br />
Gericht hätte in seine Hand nehmen müssen.<br />
2<br />
Siehe zuletzt BVerfG – 2 BvR 1064/08, Beschl. v. 9.1.2009.<br />
3<br />
Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 184 nennt auch<br />
die „Tötung“ als ggf. mitverwirklichtes Delikt (s. u. bei<br />
Fn. 56). Vor allem, aber nicht nur, die ältere Literatur, vgl.<br />
Spendel, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />
Leipziger Kommentar, Bd. 9, 11. Aufl. 2006, § 339,<br />
Stichworte: „nackter Mord“, „Justizmord“; sowie die Nach-<br />
che Beratungsgeheimnis und die angebliche Sonderstellung<br />
eines Kollegialgerichts, dem die angeklagten Richter angehörten,<br />
hätten nach Naumburger Lesart bereits eine Hauptverhandlung<br />
verhindert. Schweres Justizunrecht wäre nicht<br />
aufgearbeitet worden. Man mag dieses Beispiel übertrieben<br />
und geschmacklos finden 4 und sich mit Art. 102 GG trösten.<br />
Deutsche Richter dürfen keine Todesstrafe verhängen und<br />
geraten somit gar nicht erst in die Gefahr, jemanden vielleicht<br />
auch einmal zu Unrecht zu töten. Aber unterhalb der Grenze<br />
zum Töten steht das sehr lange 5 oder auch kurze 6 Einsperren<br />
– oder der Entzug des leiblichen Kindes 7 . Eine Kindesentziehung<br />
ist strafbar, § 235 StGB, u. U. sogar dann, wenn ein<br />
Elternteil sie (gegenüber dem anderen) begeht. 8<br />
b) Der 14. Senat des OLG Naumburg hatte mit seinen Beschlüssen<br />
verhindert, dass der Vater Umgang mit seinem<br />
Sohn haben konnte, obwohl zuvor der EGMR eine Verletzung<br />
des Menschenrechts auf Familie 9 sowie das Bundesverfassungsgericht<br />
die grundsätzliche Verbindlichkeit der Straßburger<br />
Entscheidung festgestellt hatten und der 14. Senat für<br />
die Sachentscheidung nicht zuständig war. 10 Eine Rechtsbeugung<br />
jedoch, so die Kollegen aus demselben Hause wie zwei<br />
der angeklagten Familienrichter (der dritte stammte vom<br />
Landgericht Halle), lasse sich nicht nachweisen. Und wegen<br />
der Sperrwirkung des § 339 StGB, so der Strafsenat, könne<br />
damit auch die möglicherweise verwirklichte Kindesentziehung<br />
nicht verfolgt werden.<br />
weise bei Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,<br />
56. Aufl. 2009, §, 339, Rn. 1a, die zeigen, dass das<br />
Delikt der Rechtsbeugung bisher vor allem in Bezug auf die<br />
nationalsozialistische Justiz und DDR-Justiz eine Rolle spielte,<br />
vgl. Scholderer, Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat,<br />
1993, S. 23: Rechtsbeugung sei das Synonym für die<br />
NS-Justiz.<br />
4 Zu dem der Strafsenat selbst einlädt mit seinem Nachweis<br />
bei Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, Kommentar,<br />
4. Aufl. 2005, § 193, Fn. 29, die auf OGHSt 1, 217 verweisen.<br />
Dort hatten die angeklagten Richter die Todesstrafe<br />
verhängt.<br />
5 Erb, in: Hettinger (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper<br />
zum 70. Geburtstag, 2007, S. 29 ff. (35) berichtet und kommentiert<br />
unter der Überschrift „leichtfertig getroffene Fehlentscheidungen<br />
mit gravierenden Folgen“ den von Rückert in<br />
der Zeit Nr. 19/2002 und Nr. 52/2005 geschilderten Fall einer<br />
verhängnisvollen Fehlentscheidung.<br />
6 BGHSt 47, 106 (Fall Schill).<br />
7 EGMR, Haase gegen Deutschland, Nr. 11057/02, Urt. v.<br />
8.4.2004.<br />
8 BGHSt 44, 355; Fischer (Fn. 3), § 235, Rn. 6.<br />
9 Urt. v. 26.2.2004, Beschwerde-Nr. 74969/01 = NJW 2004,<br />
3397.<br />
10 Beschl. v. 14.10.2004, Az.: 2 BvR 1481/04 = NJW 2004,<br />
3407.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
143
Christoph Mandla<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
c) Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg<br />
zeichnet mit seiner Entscheidung ein ernüchterndes und beschämendes<br />
Bild deutscher Richter und der deutschen Justiz,<br />
wenn er nicht ausschließt, dass das Recht gebeugt und damit<br />
ein Verbrechen begangen wurde, 11 aber meint, dass die Täter<br />
sich nicht feststellen ließen, weil sie „Kollegialrichter“ seien.<br />
Wo Justizverbrecher „Recht“ sprechen sollen, hat man den<br />
Bock zum Gärtner gemacht. Wo mutmaßliche Justizverbrecher<br />
Recht sprechen sollen, fehlt berechtigterweise das Vertrauen<br />
in die Gerichtsbarkeit. Wer beim OLG Naumburg<br />
heute Familienrichtern gegenübersteht, weiß nicht, ob nicht<br />
ein mutmaßlicher Justizverbrecher darunter ist, 12 dem man<br />
die Tat meinte nicht nachweisen zu können.<br />
d) Richter können sich, wie jeder andere Mensch, wegen<br />
vieler Delikte strafbar machen. Sie können in den Verdacht,<br />
auch den falschen, geraten, irgendeine Straftat begangen zu<br />
haben, und unterscheiden sich dabei nicht von anderen Menschen.<br />
Wirft ihnen die Generalstaatsanwaltschaft – also nicht<br />
ein frustrierter Verfahrensbeteiligter oder Querulant, sondern<br />
die Behörde, deren gesetzlicher Auftrag es ist, Straftaten zu<br />
verfolgen – das Verbrechen der Rechtsbeugung vor und hält<br />
mit einer Nichtzulassungsbeschwerde an der Anklage fest 13 ,<br />
dann steht der massive Vorwurf des Versagens der dritten<br />
Gewalt im Raum. 14 Wenn Richter Recht sprechen, sind sie<br />
nicht wie jeder andere Bürger Teilnehmer am Rechtsverkehr,<br />
dann sind sie Teilhaber staatlicher Macht, die in einem demokratischen<br />
Rechtsstaat der Kontrolle unterliegt. Daher gibt<br />
es gerade dort keinen quasi rechtsfreien Raum – schon gar<br />
nicht für die Begehung eines Verbrechens.<br />
11<br />
Lamprecht, NJW 2007, 2744 stockte gar die Feder, als er<br />
„Verbrechen“ schrieb – allerdings auch noch anderthalb Jahre<br />
später: myops 2009, 4; Strecker, BJ 2008, 377 (378): „Skandal<br />
der Straflosigkeit“, „Katastrophe für den Rechtsstaat“,<br />
„klägliches Bild von einer Richterschaft“; Knapp, Frankfurter<br />
Rundschau – online, 12.01.09: „Nicht zu fassen“ – s. aber<br />
unten VI. 1.<br />
12<br />
Die Brisanz dieser Feststellung relativiert sich bezogen auf<br />
die deutsche Nachkriegsjustiz erheblich. Dennoch kann die<br />
Kritik in den Beschlüssen des BVerfG zum Görgülü-Fall nur<br />
beunruhigen. Solchen Richtern mit seiner Familiensache<br />
ausgeliefert zu sein, bereitet berechtigterweise Unbehagen,<br />
auch wenn es seit längerem keinen 14. Senat mehr in Naumburg<br />
gibt (vgl. zuletzt Geschäftsverteilungsplan OLG Naumburg<br />
v. 1.1.2009).<br />
13<br />
Vgl. Miehe, in: Samson (Hrsg.), Festschrift für Gerald<br />
Grünwald zum 70. Geburtstag, 1999, S. 379 ff. (394), der es<br />
für „einigermaßen absurd“ hält, „sich vorzustellen, dass<br />
Staatsanwälte in blindem Verfolgungseifer aussichtslose<br />
Sachen an die Gerichte herantragen […], im Gegenteil.“<br />
14<br />
Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, 1969, S. 9:<br />
Bindung der von den anderen Staatsgewalten unabhängigen<br />
Richter an das Recht, Scholderer (Fn. 3), S. 95, 132; Saliger,<br />
in: Alexy (Hrsg.), Juristische Grundlagenforschung, 2004,<br />
S. 138, 139: Bedrohung der Gewaltenteilung; Lamprecht,<br />
NJW 2007, 2745, hält es im Görgülü-Fall dem Begriffe nach<br />
für einen „Staatsstreich“.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
144<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
Vollends beschädigt ist das Bild der Richterschaft aber,<br />
wenn die Richter angesichts des Verdachts der Rechtsbeugung<br />
feige schweigen (nachdem sie zuvor angeblich Recht<br />
„gesprochen“ haben), um unbehelligt davonzukommen. Sie<br />
sinken armselig auf die Ebene gewöhnlicher Krimineller<br />
hinab. Wenn sie sich dafür sogar auf ein Privileg 15 , nämlich<br />
das des Beratungsgeheimnisses, berufen, 16 ist das Recht auf<br />
den Kopf gestellt oder „in sein Gegenteil verkehrt“. Es gibt<br />
keine juristisch auch nur halbwegs überzeugende Begründung,<br />
warum man bei Richtern, die im Kollegium Recht<br />
sprechen und damit Macht i.S. der Gewaltenteilung ausüben,<br />
angesichts eines möglichen Machtmissbrauchs vermuten<br />
sollte, einer von ihnen könnte ja eventuell gegen das Verbrechen<br />
gewesen sein. Es ist absurd anzunehmen, das Richterprivileg<br />
des Grundgesetzes oder die Normen des GVG umfassten<br />
das Recht oder gar die Pflicht (!), schweigend dabei<br />
zu stehen 17 (oder durch Unterschrift zu bestätigen), wenn<br />
Richterkollegen ein Verbrechen begehen. Wer also Angst vor<br />
der ihm gegebenen Macht als Richter hat oder nicht ausschließen<br />
kann, sie zu missbrauchen, sollte dieses Amt nicht<br />
ausüben. Wer meint, sich im Senat dem Gruppenzwang nicht<br />
entziehen zu können, darf nicht in ein Richterkollegium gehen.<br />
War es keine Rechtsbeugung – wovon angesichts der Unschuldsvermutung<br />
ausgegangen werden muss – hätte es angesichts<br />
der Dimensionen des Falles – ein deutsches Obergericht<br />
aus der Provinz revoltiert 18 gegen das Bundesverfas-<br />
15<br />
Nicht das Einzige: Spendel, in: Lüttger (Hrsg.), Festschrift<br />
für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, 1972, S. 445 ff. (455)<br />
kritisiert die Sperrwirkung als ungerechtfertigtes „Standesprivileg“;<br />
Schroeder, FAZ v. 3.2.1995, S. 12: „Beschränkung<br />
auf elementare Verstöße gegen die Rechtspflege“ sei „bedenkliches<br />
Richterprivileg“; s.a. Seidel, AnwBl. 2002, 325<br />
m.w.N.; krit. auch Schneider, AnwBl. 1990, 113.<br />
16<br />
Natürlich dürfen sie als Beschuldigte schweigen, §§ 136<br />
Abs. 1, S. 2, 243 Abs. 4 S. 1 StPO. Aber als Richter sollten<br />
und dürfen sie es nicht. Scholderer (Fn. 3), S. 224 weist zu<br />
Recht darauf hin, dass angesichts einer Anklage wegen<br />
Rechtsbeugung das Vertrauen in den Richterspruch nicht<br />
mehr schutzwürdig ist.<br />
17<br />
Was an die Geschichte vom letzten freien Platz in der Hölle<br />
erinnert: Der Teufel selbst tritt vor die Tür, um den geeigneten<br />
Sünder auszuwählen. Es drängeln sich Mörder, Räuber,<br />
Vergewaltiger und jede Art von Verbrecher – bis auf einen<br />
Mann, der unbeteiligt abseits steht. Als der Teufel ihn anspricht,<br />
sagt dieser, dass er sicher nur irrtümlich hier sei.<br />
Neben ihm sei gemordet, geraubt und vergewaltigt worden,<br />
er aber habe nichts getan. Dann sei er der Rechte, sagt der<br />
Teufel, winkt ihn heran und macht sich ganz schmal, damit er<br />
den Mann nicht berührt, als der durch die Höllenpforte tritt.<br />
18<br />
Bisher – soweit ersichtlich – unwidersprochen Lamprecht,<br />
NJW 2007, 2744: Amtsträger, die den Aufstand proben;<br />
vergleichbar sei die Autorität des Rechts nur durch die RAF<br />
herausgefordert worden. Welch schräges Weltbild man im<br />
14. Senat pflegte, zeigen die Begründungen: So hatten die<br />
Richter, Beschl. v. 9.7.2004, Az. 14 WF 60/04, S. 13, z.B.<br />
behauptet, das Kinde werde „demnächst […] und in absehba-
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
sungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte<br />
– einer öffentlichen Hauptverhandlung bedurft. 19<br />
War es wirklich keine Rechtsbeugung, hätte jedermann dann<br />
dem strafgerichtlichen Urteil entnehmen können, warum das<br />
Bundesverfassungsgericht den Richtern des 14. Senates zwar<br />
Willkür und einen Verstoß gegen die Bindung an Recht und<br />
Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) vorgeworfen hat, diese aber das<br />
Recht trotzdem nicht gebeugt haben. Die Strafjustiz hätte<br />
dem staunenden Bürger erklären können, wie elastisch das<br />
Recht doch ist, wie viel Missachtung und Verbiegung, Verletzung<br />
und Willkür es verträgt, ohne gebeugt und damit<br />
beschädigt zu werden. Man hätte sehen können, ob ein Oberlandesgericht<br />
wirklich das Bundesverfassungsgericht vorführen<br />
darf, das sich gegen lästige Anwälte und Beschwerdeführer<br />
immerhin mit der Verhängung einer Missbrauchsgebühr,<br />
§ 34 Abs. 2 BVerfGG, wehren kann, nicht aber gegen trotzige<br />
Oberlandesrichter.<br />
3. Der Verfahrensgang<br />
a) Der zugrunde liegende Verfahrensgang, besser die Verfahrensgänge<br />
können hier nur kurz skizziert werden, spiegelt<br />
sich in ihnen doch eine Justizodyssee wider, die ihresgleichen<br />
sucht. 20 Nachzulesen ist sie, immer ein bisschen länger, in<br />
rer Zeit“ damit „überfordert sein, verständige Überlegungen<br />
über die besondere Problematik des Umgangs eines gemischtnationalen<br />
Kindes mit seinem Vater vor dem Hintergrund<br />
einer die Adoption anstrebenden Pflegefamilie anzustellen<br />
[…]“. Das klingt provinziell und xenophob – als ob<br />
ein Kind mit fünf Jahren über Nationalität und Staatsangehörigkeitsfragen<br />
nachdächte.<br />
19<br />
A.A. wohl Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar,<br />
51. Aufl. 2008, § 203, Rn. 2 unter Verweis auf Bockelmann,<br />
NJW 1960, 217 und Güde, NJW 1960, 519; der aber<br />
Bockelmann vorwirft, ihn falsch zitiert zu haben. Güde, damals<br />
Generalbundesanwalt, schreibt, a.a.O.: „Es gibt auch<br />
Fälle, in denen eine Verurteilung sehr unwahrscheinlich sein<br />
mag und trotzdem die Anklage geboten ist, weil der Prozeßstoff<br />
und seine Beurteilung vor den Augen der Öffentlichkeit<br />
ausgebreitet werden muß, damit die Öffentlichkeit<br />
die Entscheidung mitvollziehen kann. In solchen extremen<br />
Fällen kommt eben zum Ausdruck und zur Geltung, daß wir<br />
im Namen des Volkes judizieren, und als Beauftragte des<br />
Volkes dann, wenn Rechtsverwirrung droht, von der Art, wie<br />
wir diesen Auftrag ausführen, Rechenschaft geben.“ Es sei an<br />
Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit<br />
der Gerechtigkeitspflege, Bd. 1: Von der Öffentlichkeit<br />
der Gerichte, von der Mündlichkeit der Rechtverwaltung,<br />
Aalen 1969, Bd. 1, S. 131 f. erinnert: „Eine Justiz [...], die<br />
sich hinter einen Vorhang schleicht, um hier im Geheimen<br />
das ihrige zu treiben; die niemanden zusehen läßt, wann sie<br />
auf ihrer Wage das Recht mit den Thatsachen abwägt ...<br />
scheint ... mit sich selbst oder andern einen, ihrer Würde eben<br />
nicht sehr anständigen Scherz zu treiben. Denn wer seine<br />
eigenen Handlungen verbirgt, wandelt nicht im Oeffentlichen<br />
[...]“.<br />
20<br />
Darin zeigt sich das bisher kaum thematisierte Versagen<br />
des deutschen Kindschaftsrechts. Ein ab der Anerkennung<br />
den jeweiligen Entscheidungen und auch in der überregionalen<br />
Presse. 21<br />
K. Görgülü hatte nach der Trennung von der Mutter des<br />
Kindes erfahren, dass diese schwanger war und nach der<br />
Geburt des Kindes seine Vaterschaft gerichtlich feststellen<br />
lassen. Das Amtsgericht Wittenberg gab ihm das Sorgerecht<br />
22 , der 14. OLG-Senat entzog es ihm wieder 23 , das Bundesverfassungsgericht<br />
nahm die Verfassungsbeschwerde<br />
ohne Begründung nicht an. 24 Das war im Jahre 2001, das<br />
Kind war knapp zwei Jahre alt und lebte die ganze Zeit bei<br />
einer Pflegefamilie, die es auch adoptieren wollte. Im Frühjahr<br />
2004 bestätigte der EGMR Vater Görgülü eine Verletzung<br />
seines Grundrechts auf Familie 25 und im März 2004<br />
erhielt er vom Amtsgericht Wittenberg erneut das Sorgerecht<br />
26 , außerdem regelte das Gericht den Umgang. 27 Das<br />
Kind war mittlerweile fast fünf. Was die Naumburger Familienrichter<br />
geritten hat, sich gegen den EGMR aufzulehnen 28 ,<br />
können wahrscheinlich nur Psychologen herausfinden, erneut<br />
verweigerten sie Herrn Görgülü Sorge- 29 und Umgangsrecht,<br />
30 wobei sie dem EGMR „einseitige(r), ideologisch<br />
überhöhte(r) Präferenz für den Anspruch des rein biologischen<br />
Vaters auf Achtung seines Familienlebens“ vorwar-<br />
der Vaterschaft bestehendes Sorgerecht hätte den Fall Görgülü<br />
unmöglich gemacht – bzw. 2003 beendet. Fast alle europäischen<br />
Staaten haben das so geregelt, vgl. Frank, FamRZ<br />
2004, 841 (846) m.w.N. Es ist daher außerordentlich milde,<br />
wenn Jahn, JuS 2009, 79, nur schreibt, das Verfahren sei<br />
„sicher weit davon entfernt, ein Ruhmesblatt unserer Justiz zu<br />
sein“. Es ist ein Skandal.<br />
21<br />
Fritz, FAZ v. 14.1.2006, S. 3 „In den Fängen der Amtsgewalt“;<br />
Verbeet, Spiegel, 24.12.2005, S. 40, „Kind im Kreidekreis“;<br />
ausführlich im Internet: Tagebuch Görgülü.<br />
22<br />
Beschl. v. 9.3.2001, Az. 5 F 21/00.<br />
23<br />
Beschl. v. 20.6.2001, Az. 14 UF 52/01.<br />
24<br />
Beschl. v. 31.7.2001, Az. 1 BvR 1174/01.<br />
25<br />
Urt. v. 26.2.2004, Beschwerde-Nr. 74969/01 = NJW 2004,<br />
3397.<br />
26<br />
Beschl. v. 19.3.2004, Az. 5 F 741/02 SO.<br />
27<br />
Beschl. v. 19.3.2004, Az. 5 F 463/02 UG<br />
28<br />
Lamprecht, NJW 2007, 2247 spricht von einer Déformation<br />
professionelle. Es genügt, die Beschlüsse des 14. Senats<br />
zu lesen. Sie sind – im negativen Sinne – so markant, dass die<br />
Staatsanwaltschaft versuchen wollte, aus der „Diktion“ der<br />
Texte Schlüsse auf den Verfasser abzuleiten, vgl. Beschl. v.<br />
6.10.2008, S. 10.<br />
29<br />
Beschl. v. 9.7.2004, Az. 14 WF 60/04. Der Beschluss ist<br />
ein vortreffliches Beispiel für überhebliches und miserables<br />
Juristendeutsch. Statt z.B. „à tout prix“ (S. 10) sollte man auf<br />
deutsch, § 184 GVG, „um jeden Preis“ schreiben, auch wenn<br />
die Verfahrensbeteiligten dann nicht erkennen können, dass<br />
man französische Worte kennt. Kritisch zum Stil der Beschlüsse<br />
des 14. Senates darüber hinaus: Völker, FF 2005,<br />
144: „unkollegial“, „schlechter Stil“, „äußerst bedenklich“,<br />
„abkanzeln“, „überschreitet die Grenzen sachlicher Kritik“.<br />
Siehe auch ders., KindPrax 2004, 215 ff.<br />
30<br />
Beschl. v. 30.6.2004, Az. 14 WF 64/04.<br />
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145
Christoph Mandla<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
fen. 31 Das Bundesverfassungsgericht, dieses Mal der 2. Senat,<br />
hob die Entscheidung auf und verwies die Sache an einen<br />
anderen Senat des OLG Naumburg. 32 Wieder erhielt Görgülü<br />
das Umgangsrecht vom Amtsgericht Wittenberg 33 , wieder<br />
nahm es der 14. Senat ihm weg. 34 Dagegen erhob Görgülü<br />
Verfassungsbeschwerde und beantragte eine einstweilige<br />
Anordnung. Nachdem die Beschwerde den Äußerungsberechtigten<br />
zugestellt war, 35 hob der 14. Senat am 20. Dezember<br />
2004 den Umgangsausschluss auf 36 , entschied aber am<br />
selben Tag auf eine Untätigkeitsbeschwerde hin erneut, dass<br />
der Umgang auszuschließen sei. 37 Die 1. Kammer des 1.<br />
Senats des Bundesverfassungsgerichts erließ auf die daraufhin<br />
von Görgülü erhobene Verfassungsbeschwerde vom<br />
24.12.2004 am 28.12.2004 eine einstweilige Anordnung und<br />
regelte selbst den Umgang des Vaters mit seinem Kind. 38 Der<br />
14. Senat verschickte am 4. Januar 2005 einen formlosen<br />
Vermerk an die Verfahrensbeteiligten und das Bundesverfassungsgericht.<br />
39 In zwei Beschlüssen über die Verfassungsbeschwerden<br />
zum Sorge- 40 und Umgangsrecht 41 maßregelte das<br />
31 Beschl. v. 9.7.2004, Az. 14 WF 60/04, S. 10. Auf S. 12 hält<br />
der 14. Senat die Interpretation des Art. 8 EMRK durch den<br />
EGMR für „hochgradig ideologisch vorbesetzt“.<br />
32 Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111,<br />
307 = NJW 2004, 3407.<br />
33 Beschl. v. 2.12.2004, Az. 5 F 463/02 UG (einstweilige<br />
Anordnung).<br />
34 Beschl. v. 8.12.2004, Az. 14 WF 236/04. (Aussetzung der<br />
einstweiligen Anordnung).<br />
35 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.12.2004, Az. 1 BvR 2790/04<br />
Rz. 9.<br />
36 Beschl. v. 20.12.2004, Az. 14 WF 236/04 (Aufhebung der<br />
Aussetzung).<br />
37 Beschl. v. 20.12.2004, Az. 14 WF 236/04 (Umgangsausschluss<br />
in der Hauptsache).<br />
38 Die Kammer vermutet, dass sich der 14. Senat habe von<br />
sachfremden Erwägungen leiten lassen (Rn. 22), seine Ausführungen<br />
seien nicht mehr nachvollziehbar (Rn. 25), es<br />
erscheine nicht ausgeschlossen, dass das OLG die Vorschrift<br />
des § 620c Abs. 2 ZPO habe umgehen wollen, es habe nicht<br />
ansatzweise dargelegt, warum es die Beschwerde für statthaft<br />
hielt (Rn. 26), das OLG habe Vorgaben abermals nicht beachtet,<br />
setze sich nicht ansatzweise auseinander, habe sich<br />
nicht hinreichend befasst, pauschal erwogen und ohne konkrete<br />
Tatsachen […], nicht in Betracht gezogen (Rn. 29).<br />
39 Vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 06.10.2008 – 1 Ws<br />
504/07, S. 6; BVerfG, Beschl. v. 10.6.2005, Az. 1 BvR<br />
2790/04, Rn. 25.<br />
40 Beschl. v. 5.4.2005, Az. 1 BvR 1664/04. Die Kritik ist<br />
vernichtend: Das OLG habe nicht hinreichend berücksichtigt<br />
(Rn. 21), verkannt […] verkannt […] verkannt (Rn. 22), nicht<br />
hinreichend auseinandergesetzt (Rn. 25), Feststellungen nicht<br />
getroffen (Rn. 26), weitere Vorgabe des EGMR nicht beachtet<br />
(Rn. 27), hätte erwägen müssen (Rn. 28), nicht hinreichend<br />
erwogen, sich nicht damit auseinandergesetzt (Rn. 29),<br />
es sei nicht ersichtlich, dass das OLG die erforderlichen Ermittlungen<br />
angestrengt habe, das durchgeführte Verfahren sei<br />
ungeeignet gewesen, es lasse sich nicht entnehmen, dass das<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
146<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
höchste deutsche Gericht den 14. Naumburger Senat in einer<br />
bisher nicht gekannten Weise.<br />
b) Herr Görgülü musste noch einmal vier (!) Jahre deutsche<br />
Familiengerichtsbarkeit über sich ergehen lassen. Portionsweise<br />
bekam er sein „natürliches Recht“ zugeteilt. 42 Der<br />
Präsident des EGMR zeigte sich zwischenzeitlich über die<br />
mangelnde Umsetzung des Urteils sogar überrascht. 43 Letztlich<br />
war das Kind neun Jahre, als es endgültig beim Vater<br />
leben durfte, der nun auch das Sorgerecht hat. 44 Vater und<br />
Sohn Görgülü bleibt die Möglichkeit, die zweite Hälfte der<br />
Kindheit mit allen Rechten und Pflichten für den Vater, Vor-<br />
und Nachteilen für den Sohn gemeinsam zu erleben. Was sie<br />
über den Verlust, die erste Hälfte der Kindheit „normal“ zu<br />
erleben, vielleicht nicht hinwegtröstet, was sie aber berühmt<br />
Gericht selbst über genügende Sachkunde verfüge, das Gericht<br />
habe ohne persönliche Anhörung der Beteiligten entschieden<br />
(Rn. 30).<br />
41 Beschl. v. 10.6.2005, Az. 1 BvR 2790/04 – Die Kritik ist<br />
noch härter: Entscheidung des Gerichts nicht mehr zu rechtfertigen,<br />
also willkürlich (Rn. 24, 25), ohne nachvollziehbar<br />
zu begründen, nicht ansatzweise dargelegt (Rn. 26), Ausführungen<br />
des OLG nicht mehr nachvollziehbar (Rn. 29) das<br />
OLG habe die Vorschrift des § 620c Satz 2 ZPO umgangen,<br />
habe nicht ansatzweise dargelegt (Rn. 31), es dränge sich der<br />
Verdacht auf, das OLG habe den Beschluss einer verfassungsgerichtlichen<br />
Prüfung entziehen wollen (Rn. 32), das<br />
OLG habe die rechtlichen Bindungen grundlegend verkannt<br />
(Rn. 36), Vorgaben des EGMR nicht nur nicht beachtet, sondern<br />
in ihr Gegenteil verkehrt (Rn. 37), das OLG habe außerhalb<br />
seiner Zuständigkeit unter Verstoß gegen die Bindung<br />
an Recht und Gesetz einen konventionsgemäßen Zustand<br />
aufgehoben (Rn. 38).<br />
42 Beschl. v. 15.12.2006, Az. 8 UF 84/05, BGH, Beschl. v.<br />
26.9.2007, Az. XII 229/06; AG Wittenberg, Beschl. v. 11.2.<br />
und 29.8.2008, Az. 4 F 621/07 SO. Auf familienrechtliche<br />
Fragen soll hier nicht eingegangen, auf zwei Punkte jedoch<br />
hingewiesen werden: 1.) Das Amtsgericht hat beständig zu<br />
Gunsten des Vaters entschieden. Der 14. Senat hat die Beteiligten<br />
nicht einmal persönlich angehört (s. BVerfG, Beschl.<br />
v. 5.4.2005, Rn. 30). Am Ende hat das Amtsgericht – sachverständig<br />
beraten – nach neun Jahren Trennung endgültig<br />
zugunsten Görgülüs entschieden. 2.) Gäbe es das „natürliche“<br />
Elternrecht auch für den nichtehelichen Vater von der Anerkennung<br />
der Vaterschaft an, hätte dieses Verfahren nicht<br />
stattgefunden. Das Recht aus Art. 6 Abs. 1 GG ist für den<br />
nichtehelichen Vater das einzige Grundrecht, das er nur erhalten<br />
kann, wenn ein einziger Mensch zustimmt, ohne dass<br />
er dies gerichtlich einfordern kann. Das Bundesverfassungsgericht<br />
hat § 1626a BGB für verfassungsgemäß gehalten,<br />
1 BvL 20/99, Urt. v. 29.1.2003 = NJW 2003, 955, u.a. mit<br />
der naiven Annahme, eine Mutter missbrauche ihre Macht<br />
nicht, a.a.O., Rn. 70, wenn sie dem Vater die gemeinsame<br />
Sorge verweigere. Siehe dazu EGHMR, Beschwerde Nr.<br />
22028/04, Zaunegger gegen Deutschland, Zulassungsbeschluss<br />
vom 1.4.2008.<br />
43 Tagesspiegel-online vom 8.12.2006.<br />
44 Beschl. v. 28.8.2008, Az. 4 F 621/07 SO.
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
gemacht hat, ist, dass sie Rechtsgeschichte geschrieben haben<br />
– im Familien-, im Verfassungs-, im Europa- und nun auch<br />
im Straf- und Strafprozessrecht.<br />
II. Das Strafverfahren<br />
1. Verfahrensdauer<br />
Bereits die Dauer des Strafverfahrens wirft ein schlechtes<br />
Licht auf die Justiz. Nachdem im Januar 2005 die Ermittlungen<br />
eingeleitet worden waren 45 , klagte die Staatsanwaltschaft<br />
im November 2006 an 46 , das Landgericht Halle lehnte im Juli<br />
2007 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. 47 Im Oktober<br />
2008 wurde die Nichtzulassungsbeschwerde mit dem hier<br />
kritisierten Beschluss zurückgewiesen. Drei Jahre und neun<br />
Monate sind prima facie eine unangemessen lange Zeit, vor<br />
allem wenn man berücksichtigt, dass die Zahl der herangezogenen<br />
Beweismittel – zwei Beschlüsse von fünf und elf Seiten,<br />
ein Vermerk von drei Seiten Länge, sowie zwei unergiebige<br />
Zeugenaussagen im Zwischenverfahren – überschaubar<br />
war. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war für die beschuldigten<br />
Richter das Verfahren in rechtsstaatswidriger Weise verzögert,<br />
legt man die dazu von BGH 48 und BVerfG 49 gebildeten<br />
Maßstäbe zugrunde. Kritiker der Naumburger Familienjustiz<br />
könnten das zwar als ausgleichende Gerechtigkeit betrachten,<br />
sollten sich aber vor Augen halten, dass eine darin liegende<br />
Verdachtsstrafe gerade keine rechtsstaatliche Sanktion ist.<br />
Das Landgericht hatte aus rechtlichen Gründen die Eröffnung<br />
des Hauptverfahrens abgelehnt und hilfsweise darauf<br />
abgestellt, dass sie auch aus tatsächlichen Gründen abzulehnen<br />
gewesen wäre. Diese Entscheidung ist bisher unter Verschluss<br />
geblieben. 50<br />
45<br />
Mitteldeutsche Zeitung, 1.2.2005, 2.2.2005. U.a. hatte der<br />
Verband „Anwalt des Kindes“ um eine strafrechtliche Prüfung<br />
gebeten, vgl. VAK 17.01.2005, www.v-a-k.de.<br />
46<br />
OLG Naumburg, Pressemitteilung 23/06, v. 23.11.2006, in<br />
der das OLG auf die Unschuldsvermutung und die Möglichkeit<br />
der Richter, ihre Rechte als Bürger wahrzunehmen, aufmerksam<br />
macht.<br />
47<br />
Beschl. v. 20.7.2007, Az. 23 KLs 64/2006 (Der 33seitige<br />
Beschluss ist nicht veröffentlicht).<br />
48<br />
Vgl. BGH GS 1/07, Beschl. v. 17.1.2008, Rn. 7: von der<br />
Justiz zu verantwortende Verzögerung von etwa einem Jahr<br />
und sechs Monaten bei einer besonders schweren Brandstiftung<br />
und versuchtem Betrug (NJW 2008, 860); 3 StR 388/07,<br />
Beschl. v. 18.1.2008, Rn. 2: mehr als vierjährige Verfahrensverzögerung<br />
bei sexueller Nötigung, sexuellem Missbrauch<br />
von Kindern; 5 StR 283/08, Beschl. v. 23.7.2008: durch verzögerte<br />
Sachbehandlung Verfahrensverzögerung von fünf<br />
Monaten berechtigt zur Kompensation; StraFo 2005, 24:<br />
Verfahrensstillstand 1 Jahr und drei Monate; BGH NStZ 05,<br />
445.<br />
49<br />
Vgl. BVerfG NJW 1984, 967; 1992, 2473; 1995, 1277;<br />
BVerfG – 2 BvR 327/02, Rn. 33, 37 ff.; 153/03, Rn. 32 ff.;<br />
109/05, Rn. 27, 34 ff.; 1315/05, Rn. 30.<br />
50<br />
Kritik daran von Verbeet, DRiZ 2007, 343 Es sei an Feuerbach<br />
(Fn. 20) erinnert. So wie in Halle und Naumburg hätte<br />
das Verfahren auch zur Zeit der Kabinettsjustiz ablaufen<br />
2. Die Kollegen im selben Hause: Rechtsbeugung nicht beweisbar<br />
a) Der 1. Strafsenat des OLG Naumburg hält die sofortige<br />
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Anklage durch das<br />
Landgericht Halle für unbegründet, weil nicht zu erwarten<br />
sei, dass die Angeschuldigten verurteilt würden. Darauf, dass<br />
das Landgericht aus rechtlichen Gründen die Zulassung abgelehnt<br />
hat und nur hilfsweise auf tatsächliche Gründe abstellt,<br />
geht der Senat nicht ein. Das hätte er aber tun müssen, weil es<br />
auf die Beweisbarkeit nicht ankommt, wenn der Tatvorwurf<br />
ein Verhalten betrifft, das keiner Strafnorm unterliegt. 51 Was<br />
sowieso nicht strafbar wäre, braucht auch nicht festgestellt zu<br />
werden. Das Landgericht war davon überzeugt (wenn auch<br />
nicht gänzlich, andernfalls hätte es keine Hilfsbegründung<br />
nachgeschoben), dass aus rechtlichen Gründen eine Bestrafung<br />
wegen Rechtsbeugung ausgeschlossen war. 52 Warum er<br />
sich dem nicht angeschlossen hat, verschweigt der Strafsenat.<br />
Stattdessen versucht er, mit einer widersprüchlichen und<br />
daher nicht überzeugenden Begründung zu erklären, warum<br />
den Richtern nichts nachgewiesen werden könne.<br />
b) Der Strafsenat leitet seine Begründung mit dem Verweis<br />
auf § 196 Abs. 1 GVG ein, nach dessen Vorschrift das<br />
Gericht mit der absoluten Mehrheit der Stimmen entscheidet.<br />
Dann erklärt er, dass ein überstimmter Richter sich durch<br />
seine Mitwirkung am weiteren Verfahren weder als Mittäter<br />
noch als Gehilfe strafbar mache. Zum Nachweis führt er aus:<br />
„h.M. vgl. Fischer, StGB, 55. Aufl. § 339, Rn. 8“. Warum<br />
sich aber ein überstimmter Richter eines Kollegialorgans<br />
nicht strafbar macht, wenn durch die Entscheidung des gesamten<br />
Senats das Recht gebeugt wird, also das Gegenteil<br />
von Rechtsprechung geschieht – nämlich Unrecht in Gestalt<br />
eines Verbrechens – hält der Strafsenat nicht für erforderlich<br />
zu erklären. Billigte man dieser Aussage des Senats den Status<br />
eines Arguments zu, lautete dieses: Das war eben schon<br />
immer so. 53<br />
können. Auf die Bitte eines Universitätsprofessors um eine<br />
anonymisierte Fassung des Beschlusses antwortete das LG<br />
Halle nicht einmal; die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg<br />
übersandte umgehend eine Abschrift.<br />
51<br />
Vgl. Stuckenberg, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/<br />
Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />
und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26. Aufl. 2008,§ 203<br />
StPO, Rn. 16; Graalmann-Scherer, in: Erb/Esser/Franke/dies./<br />
Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />
und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 170,<br />
Rn. 32.<br />
52<br />
Auf das Abstimmungsverhalten kommt es dann gar nicht<br />
an.<br />
53<br />
Zur Gefährlichkeit dieser Auffassung: Schmidt, Einführung<br />
in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, unveränd.<br />
Nachdruck der 3. Aufl. 1965, 1983, Vorwort zur ersten Auflage<br />
1947: „Die ganze Geschichte des Rechts kreist um den<br />
Gegensatz von Macht und Recht, von Zweckmäßigkeit und<br />
Gerechtigkeit. […] Die größten Leiden der Menschen ergeben<br />
sich aus den Spannungen, die aus diesem Gegensatz<br />
hervorgehen. Die Geschichte bietet hierfür ein reiches Anschauungsmaterial<br />
und vermittelt beherzigenswerte Lehren<br />
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147
Christoph Mandla<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Schlägt man allerdings bei Fischer nach, endet das dortige<br />
Zitat nicht mit fünf Nachweisen, die – ohne 54 oder mit nur<br />
knapper Begründung 55 – die herrschende Auffassung belegen,<br />
sondern wird fortgesetzt mit den fett gedruckten Buchstaben<br />
a.A., der anderen Ansicht also, die „mit gewichtigen<br />
Argumenten“ vertreten werde, wie Fischer schreibt, und für<br />
die er drei Quellen nennt. 56<br />
Hätte der Senat dort weiter gelesen, wäre er gleich bei<br />
Dencker 57 auf den Hinweis gestoßen, dass die h.M. auf einer<br />
beiläufigen, nicht begründeten Erklärung des BGH 58 fuße,<br />
der über richterliches Handeln im Nationalsozialismus zu<br />
befinden hatte. Der 5. Strafsenat des BGH – also jener, von<br />
dem die Entscheidung aus dem Jahre 1957 stammt – hat im<br />
Jahre 1995 ausdrücklich erklärt, dass die Verfolgung des<br />
nationalsozialistischen Justizunrechts insgesamt fehlgeschlagen<br />
sei 59 , aber die Frage ausdrücklich offengelassen, ob sich<br />
[…] durch welche Leiden und Irrtümer die Menschen in<br />
ihrem unablässigem Ringen um Gerechtigkeit haben hindurchgehen<br />
müssen und mit welcher Zähigkeit die Menschen,<br />
die den Griff des Schwertes der Gewalt in der Hand haben,<br />
selbst am offenkundigen Irrtum festhalten, wenn es gilt, in<br />
eingefahrener Weise erwünschte Ziele bequem zu erreichen<br />
[…]“.<br />
54<br />
Uebele, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar<br />
zum Strafgesetzbuch, 2006, § 339, Rn. 56.<br />
55<br />
Rudolphi/Stein, in: Rudolphi u. a. (Hrsg.), Systematischer<br />
Kommentar zum Strafgesetzbuch, 58. Lieferung, Stand: September<br />
2003, § 339, Rn. 17e lassen Bemühungen in der Beratung<br />
genügen und halten im Ergebnis eine Mitwirkung – am<br />
Verbrechen der Rechtsbeugung! – bei der Verkündung und<br />
Abfassung der Entscheidung für rechtlich geboten und daher<br />
nicht für eine Rechtsbeugung. Für Kuhlen, in: Kindhäuser/<br />
Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,<br />
2. Aufl. 2005, § 339, Rn. 82, ist das Mitwirken bei der<br />
Verkündung (also dem Wirksammachen der Rechtsbeugung)<br />
kein so „elementarer“ Verstoß wie die vorherige Zustimmung<br />
zur Rechtsbeugung; ebenso Spendel (Fn. 3), § 339, Rn 109,<br />
wo der Widerspruch besonders deutlich wird: Keine Rechtsbeugung,<br />
auch wenn der (überstimmte) Richter – an Rechtsbeugung<br />
– mitwirkt (durch Angehörigkeit zum Spruchkörper<br />
und Anwesenheit bei der Verkündung) – unter Verweis auf –<br />
BGH GA 1958, 241 (!), was Dencker (Fn. 3), S. 183 kritisch<br />
hervorhebt.<br />
56<br />
Dencker (Fn. 3); Knauer, Die Kollegialentscheidung im<br />
Strafrecht, 2001, S. 52 ff, 203 ff.; Erb, (Fn. 5) S. 29, 31;<br />
s. dazu unten 3. a)-c).<br />
57<br />
Dencker (Fn. 3), S. 183.<br />
58<br />
BGH GA 1958, 241: Der Satz lautet: „Der Kollegialrichter<br />
macht sich einer Rechtsbeugung bei der Entscheidung nur<br />
schuldig, wenn er für die von ihm als Unrecht erkannte Entscheidung<br />
stimmt. Das muß festgestellt werden.“ So schon<br />
OGH MDR 1949, 305, 306, (s. u. bei Fn. 61).<br />
59<br />
BGHSt 41, 247 (252); insbesondere 315, 339: berechtigte<br />
Kritik an der Rechtsprechung des BGH wegen fehlgeschlagener<br />
Auseinandersetzung mit der Blutjustiz des NS-<br />
Regimes. Schon in der Entscheidung 40, 30 (40) hat der Senat<br />
diese Auffassung vertreten. Vgl. dazu Lamprecht NJW<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
148<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
der Richter nur strafbar mache, wenn er für das rechtsbeugende<br />
Urteil stimme. 60 Es ist daher höchst einseitig, wenn ein<br />
OLG-Strafsenat kommentarlos einer „h.M.“ folgt, die letztlich<br />
auf einer Entscheidung beruht, die der BGH-Senat, von<br />
dem sie stammt, möglicherweise längst aufgegeben hat, weil<br />
sie Ausdruck justiziellen Versagens bei der Aufarbeitung von<br />
Justizverbrechen ist.<br />
c) Auch dass der Strafsenat auf Kissel/Mayer, GVG,<br />
4. Aufl. § 193, Rn. 13 verweist, macht seine Begründung<br />
nicht überzeugender: Dort nämlich wird zuerst erklärt, dass<br />
das Beratungsgeheimnis nichts an der strafrechtlichen Haftung<br />
des einzelnen Richters ändere. Diese Aussage wird mit<br />
einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes aus dem<br />
Jahre 1948 belegt. 61 Aber auch der OGH begründet dort<br />
nicht, woraus die fehlende Tatbestandsmäßigkeit folgen soll,<br />
wenn ein Richter gegen die Mehrheit gestimmt, aber mitverkündet<br />
hat. Vor allem aber hätte sich der Naumburger Strafsenat<br />
fragen müssen, warum ein OLG-Familiensenat unter<br />
der Geltung des Grundgesetzes im Jahre 2004 mit einem im<br />
Mai 1945 Todesurteile verkündenden Kriegsgericht der Nazi-<br />
Terrorjustiz in diesem Punkt gleichgestellt werden kann. 62<br />
Die Pflicht, dem einzelnen Richter sein Abstimmungsverhalten<br />
nachzuweisen, belegen Kissel/Mayer an dieser Stelle<br />
hingegen mit einer Entscheidung des Reichsgerichts in Zivilsachen.<br />
Dort ist zwar nicht von strafrechtlicher Haftung die<br />
Rede. Vielmehr heißt es: „[…] das Bürgerliche Gesetzbuch<br />
kennt keine Haftung des Kollegiums als solchen oder eine<br />
Gesamthaftung aller seiner Mitglieder, auch der Mitglieder,<br />
die gegen die schädigende Entscheidung gestimmt haben<br />
[…]“. 63 Viel entscheidender ist aber, dass das Reichsgericht<br />
zugelassen hat, dass sich ein Richter – wie im dort entschiedenen<br />
Fall – zum Beratungsergebnis äußert. Auch wieder nur<br />
in „Zivilprozessen wegen Amtspflichtverletzungen“ hat das<br />
Reichsgericht eine Ausnahme von der Schweigepflicht für<br />
zulässig gehalten 64 . Das Reichsgericht begründet dies mit der<br />
Entstehungsgeschichte. Es führt aus, dass die Möglichkeit der<br />
1994, 562. Auch die Literatur stimmt dem zu: Spendel<br />
(Fn. 3), § 339, Rn. 12: „Bankrotterklärung der Rechtsprechung“;<br />
Klug, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes<br />
in NS-Prozessen, in: Kohlmann (Hrsg.), Rechtsphilosophie,<br />
Menschenrechte, Strafrecht, 1994, S. 234, 235: „Verdrängung<br />
der Nazi-Justizkriminalität größten Ausmaßes“; Saliger<br />
(Fn. 14), S. 139 hält das Versagen für unstreitig.<br />
60<br />
BGHSt 41, 330, 340; Sarstedt, in: Lüttger (Fn. 15), S. 427,<br />
433 f. hält dies auf Grundlage der subjektiven Lehre für gegeben.<br />
61<br />
OGHSt 1, 217 = MDR 1949, 305.<br />
62<br />
Der OGH hat (bezüglich des Strafrichters) sogar erklärt,<br />
dass die Gefahr seiner Bestrafung wegen falscher Rechtsanwendung<br />
„unter rechtsstaatlichen Verhältnissen in ungefährlicher<br />
Ferne“ liege, a.a.O., S. 307.<br />
63<br />
RGZ 89, 13; wobei es auch keine Vermutung für die Einstimmigkeit<br />
gibt, vgl. Sprau, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch,<br />
68. Aufl. 2009, § 839, Rn. 84.<br />
64<br />
RGZ 89, 13, 16. Im zu entscheidenden Fall hatte der beklagte<br />
Richter erklärt, von den Schöffen überstimmt worden<br />
zu sein.
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Richter, ihre abweichenden Gutachten zu den Akten zu geben,<br />
nur deshalb nicht in das GVG aufgenommen worden sei,<br />
weil der Richter durch seine Erklärung und das Zeugnis seiner<br />
Mitrichter den <strong>Inhalt</strong> seiner Abstimmung beweisen könne.<br />
65 Das Reichsgericht ging also davon aus, dass der überstimmte<br />
Richter angesichts des Vorwurfs der Pflichtverletzung,<br />
weil seine „dienstliche Stellung, sein Ansehen und sein<br />
Fortkommen […] davon betroffen“ seien, den Mund auftun<br />
und über das Abstimmungsverhalten berichten würde. 66<br />
Die drei angeklagten Familienrichter tun jedoch das Gegenteil:<br />
Sie schweigen. Mehr noch, sie berufen sich dabei auf<br />
§ 43 DRiG, der, wie Kissel/Mayer schreiben, nicht als Deckmantel<br />
für richterliche Fehler 67 diene. Legt man die Prämisse<br />
des Reichsgerichts zugrunde, was der Strafsenat indirekt<br />
durch den Verweis auf Kissel/Mayer getan hat, nämlich dass<br />
der rechtmäßig handelnde – im strafrechtlichen Sinne wäre<br />
das der tatsächlich unschuldige – Richter das Abstimmungsverhalten<br />
trotz § 43 DRiG mitteilen will, ist die Berufung auf<br />
das Beratungsgeheimnis durch Mitglieder des 14. Naumburger<br />
Familiensenates nicht nur ein Indiz dafür, dass keiner von<br />
ihnen überstimmt wurde. Es ist ein Schuldeingeständnis!<br />
Nur wenn man § 136 Abs. 1 S. 2 StPO isoliert betrachtet<br />
und ihm gewissermaßen eine Sperrwirkung zukommen lässt,<br />
ließe sich diese Schlussfolgerung vermeiden, so dass aus dem<br />
Schweigen keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden<br />
dürften. 68 Dann aber kommt es für die angeschuldigten Richter<br />
gar nicht auf § 43 DRiG an. Somit liegt schon ein erheblicher<br />
Mangel der Ausführungen des Strafsenats darin, dass er<br />
eine Berufung der angeschuldigten Richter auf das richterliche<br />
Beratungsgeheimnis unkommentiert hat stehen lassen. 69<br />
d) Auch eine BGH-Entscheidung hätte der Strafsenat<br />
nicht ignorieren dürfen. 70 Wenn mehrere entscheiden, kann<br />
sich jeder wegen des dadurch eintretenden schädigenden<br />
Ereignisses strafbar machen, wie sich aus dem Lederspray-<br />
Urteil des BGH 71 ergibt. Reduziert man den vierten Leitsatz<br />
auf seine Kernthese, so lautet er: Haben mehrere gemeinsam<br />
über eine Schadensvermeidung zu entscheiden, so ist jeder<br />
einzelne von ihnen verpflichtet, alles ihm Mögliche und Zu-<br />
65<br />
Kritisch aber Erb (Fn. 5), S. 34, bei Fn. 28: Die Richter<br />
könnten sich gegenseitig durch unwahre Aussagen belasten.<br />
66<br />
Binding, GS 1904, S. 1, 18 f., geht sogar davon aus, dass<br />
zwei Richter, die bona fide gegen das Gesetz gestimmt – also<br />
objektiv den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt haben –<br />
aussagen würden. Dass ein ganzes Kollegium vorsätzlich und<br />
einstimmig gegen das Gesetz verstoßen würde, kommt in<br />
seiner Beispielssammlung nicht vor.<br />
67<br />
Kissel/Mayer (Fn. 4), § 193, Rn. 13. Hervorhebungen im<br />
Original.<br />
68<br />
BVerfG NStZ 1995, 555; BGHSt 25, 365, 368; Meyer-<br />
Goßner (Fn. 19), § 261, Rn. 15 ff. m.w.N.<br />
69<br />
Der Fehler wiegt umso schwerer, als der Strafsenat im<br />
weiteren ja ausführlich darlegt, warum das Beratungsgeheimnis<br />
nicht uneingeschränkt gilt, siehe auch die vom Senat<br />
zitierte BT-Drs. 3/516, S. 47.<br />
70<br />
Worauf bereits Jahn, JuS 2009, 80 zu Recht hinweist.<br />
71<br />
BGHSt 37, 106; zustimmend in diesem Zusammenhang<br />
Jahn, JuS 2009, 80.<br />
mutbare zu tun, um diese Entscheidung herbeizuführen. (Ob<br />
es sich hier um eine Unterlassungspflicht handelt, kann vorerst<br />
dahinstehen, siehe dazu unter f). Noch deutlicher ist der<br />
sechste Leitsatz: Jeder, der es unterlässt, seinen Beitrag zum<br />
Zustandekommen der gebotenen Entscheidung zu leisten,<br />
setzt damit eine Ursache für das Unterbleiben der Maßnahme.<br />
Er haftet auch dann strafrechtlich, wenn er mit seinem Votum<br />
für die rechtmäßige Entscheidung am Widerstand der anderen<br />
gescheitert wäre. Wenn aber jeder handeln muss, um einen<br />
Schaden zu verhindern, kann es schwerlich genügen, es bei<br />
einem Kollegialgericht ausreichen zu lassen, wenn sich einer<br />
seiner Angehörigen lediglich gegen die Rechtsbeugung ausgesprochen<br />
hat, alle weiteren Akte zur Schädigung (evtl.<br />
Abfassung des Beschlusses und Unterschrift) aber mit vornimmt.<br />
72 Der BGH hat den damaligen Täterkreis sogar noch<br />
weiter gezogen: Auch die Angeklagten, deren Anwesenheit<br />
bei der entscheidenden Sitzung nicht feststand, seien Täter,<br />
weil sie die Entscheidung billigten, sich zu eigen machten<br />
und umsetzten. 73 Auf der Basis dieser Grundsätze hätte auch<br />
der überstimmte Richter mit seiner Unterschrift die Entscheidung<br />
mit umgesetzt.<br />
e) Aber auch zu Fragen der Mittäterschaft sucht man vergebens<br />
nach Ausführungen. Die Staatsanwaltschaft hatte ein<br />
mittäterschaftliches Handeln angeklagt, § 25 Abs. 2 StGB.<br />
Darüber verliert der Strafsenat ebenfalls kein Wort. Wenn es<br />
für die Mittäterschaft genügen kann, dass ein fördernder<br />
Beitrag geleistet wurde, ohne den die Tat wesentlich erschwert<br />
worden wäre 74 , ist das für jeden der mitunterzeichnenden<br />
Richter gegeben. Ohne alle drei Unterschriften hätte<br />
der Beschluss nicht wirksam werden können. Aber selbst<br />
wenn man den Schwerpunkt der Handlung allein in der Ab-<br />
72<br />
Auf die Unterlassungsstrafbarkeit im Lederspray-Fall<br />
kommt es nur an, weil die schädigende Folge erst nach Ingangsetzen<br />
der Kausalkette bekannt wurde. Wäre im Fall der<br />
Lederspray-Entscheidung die schädigende Wirkung des<br />
Sprays von Anfang an bekannt gewesen, so wäre es die<br />
Pflicht der Beteiligten gewesen, die schädigenden Produkte<br />
nicht in Verkehr zu bringen, also nicht entsprechend zu entscheiden.<br />
Der Tatvorwurf hätte sich dann auf die Entscheidung<br />
bezogen, die Produkte in den Verkehr zu bringen, also<br />
auf ein Handeln. Aber auch dabei hätte es nicht genügt, nur<br />
dagegen zu stimmen, bei allen weiteren Teilakten aber mitzuwirken.<br />
73<br />
BGHSt 37, 106 (129, 130).<br />
74<br />
BGH NStZ 1991, 91: Der Betreffende müsse „auf der<br />
Grundlage gemeinsamen Wollens einen die Tatbestandsverwirklichung<br />
fördernden Beitrag“ leisten, „welcher sich nach<br />
seiner Willensrichtung nicht als bloße Förderung fremden<br />
Tuns, sondern als Teil der Tätigkeit aller darstellt, und der<br />
dementsprechend die Handlungen der anderen als Ergänzung<br />
seines eigenen Tatanteils erscheinen läßt.“ Jeder der drei, also<br />
auch der überstimmte Richter wollte mit seiner Unterschrift<br />
den Beschluss wirksam werden lassen als Entscheidung des<br />
gesamten Senats. Die Abstimmung allein ist noch keine Entscheidung<br />
einer Rechtssache, weil erst durch die Unterschrift<br />
erklärt wird, dass so wie geschrieben auch entschieden wurde.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
149
Christoph Mandla<br />
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stimmung sähe, so käme für den überstimmten Richter durch<br />
die Unterschriftsleistung immer noch eine Beihilfe in Betracht,<br />
weil er die Tatumstände kannte, sie billigte und nicht<br />
durch eigenes Einschreiten verhinderte. 75 Unter diesem Gesichtspunkt<br />
wären alle drei Familienrichter also mindestens<br />
wegen Beihilfe zur (nach wie vor: mutmaßlichen) Rechtsbeugung<br />
strafbar.<br />
3. Praktische Folge: Kollegialrichter können straflos Recht<br />
beugen<br />
Folgte man der vom Strafsenat bemühten „h.M.“, bedeutete<br />
dies, dass die Rechtsbeugung durch ein Kollegialgericht nie<br />
bestraft, ja nicht einmal öffentlich verhandelt werden kann,<br />
wenn die ihm angehörenden Richter schweigen. 76 Man könnte<br />
es damit bewenden lassen, dass man unterstellt, eine<br />
Rechtsbeugung durch Richter komme im demokratischen<br />
Rechtsstaat so selten vor, dass solche Überlegungen rein<br />
theoretischer Natur seien 77 , hätten nicht eben die Görgülü-<br />
Beschlüsse einen praktischen Fall daraus gemacht. Dogmatisch<br />
sauber lässt sich dieses Problem nicht der herrschenden<br />
Meinung folgend lösen, wie die Überlegungen der drei bereits<br />
oben genannten Autoren zeigen.<br />
a) Dencker hält die Aussage des BGH über die Straflosigkeit<br />
des überstimmten Richters für ersichtlich falsch. Er behandelt<br />
ausdrücklich nur das strafgerichtliche Urteil, ohne<br />
dass zu erkennen wäre, warum prinzipiell nicht auch in anderen<br />
Rechtsgebieten das Gleiche zutrifft. Er weist darauf hin,<br />
dass das Urteil durch Verkündung ergehe, dieses zur Hauptverhandlung<br />
gehöre, an der die Richter ununterbrochen teilnehmen<br />
müssten, weil andernfalls ein Revisionsgrund vorläge.<br />
Der überstimmte Richter, so schließt Dencker, sei damit<br />
„conditio sine qua non“ für die rechtsbeugende Entscheidung,<br />
wenn er das Urteil mitverkünde, selbst wenn er dagegen<br />
gestimmt habe. Dencker sieht darüber hinaus keinen Grund<br />
zu zweifeln, dass sämtliches „Mit-Wirksammachen“ objektiv<br />
Rechtsbeugung sei. Allerdings unterscheidet er bei der Abstimmung.<br />
Habe es sich um eine „evident rechtsferne“ Ab-<br />
75<br />
Vgl. BGHSt 36, 363 (367). Wobei diese Lösung im Ergebnis<br />
nicht zu überzeugen vermag: Der überstimmte Richter<br />
hätte nicht durch ein Einschreiten das Wirksamwerden des<br />
Beschlusses verhindern müssen (das erst, wenn man versucht<br />
hätte, seine Unterschrift zu ersetzen, § 24 Abs. 2 StGB),<br />
sondern durch Unterlassen. Im Übrigen lässt sich nicht annehmen,<br />
der überstimmte Richter habe „nur zum Schein“<br />
oder blind unterschrieben.<br />
76<br />
Verbeet, DRiZ 2007, 343 spricht gar von einem „Freibrief<br />
für Rechtsbeugung“; Erb (Fn. 5), S. 29, 34: massive Beweisprobleme<br />
lassen § 339 StGB leerlaufen. Knauer (Fn. 56), S.<br />
60: „unbefriedigend“; Strecker, BJ 2008, 378 spricht vom<br />
„Rechtbeugungsprivileg“; krit. ebenfalls Jahn, JuS 2009, 81:<br />
„sachlich nicht gerechtfertigte Vorzugstellung“.<br />
77<br />
Binding, GS 1904, 16, diskutiert die Rechtsbeugung durch<br />
ein Kollegium nur als „Problema“; BT-Drs. 3/516, 47: „äußerst<br />
seltne(n) Fälle“; a.A.: Spendel (Fn. 3), § 339, Rn 3:<br />
„eine schon nicht mehr fromme Selbsttäuschung“; differenzierend<br />
Fischer (Fn. 3), § 339, Rn. 4; Scheffler, NStZ 1996,<br />
67 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
150<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
stimmungsfrage gehandelt, so sei das Abstimmungsergebnis<br />
„Gesamttatprojekt“, an dem die Teilnahme „Teilhandeln“ im<br />
Rahmen der Rechtsbeugung sei. Sofern die Abstimmungsfrage<br />
nicht evident rechtsfern sei, müsse sich der Richter kraft<br />
Dienstrecht an der Abstimmung beteiligen. Hier sieht Dencker<br />
sogar die Möglichkeit, dass die anderen Richter sich<br />
dadurch von ihrer rechtsbeugerischen Ansicht abbringen<br />
lassen könnten. Sei einer der Richter aber überstimmt worden<br />
und habe die Mehrheit ein Ergebnis gefunden, das den Tatbestand<br />
der Rechtsbeugung erfülle, dürfe der Richter nicht mehr<br />
mitwirken. „Sein Mitverkünden wäre dann plangemäßes<br />
Teilhandeln des mit der Abstimmung vorgegebenen `Gesamtprojekts<br />
Rechtsbeugung´ (und ggfs. Tötung (sic!), Freiheitsberaubung<br />
usw.).“ 78 Es sind dann „praktische Gründe“ –<br />
eben das Beratungsgeheimnis – die dazu führen, dass Dencker<br />
erklärt, erst die (Mit-)Verkündung sei teil- und gesamttatbestandlich<br />
zugrunde zu legen. Erst mit dem Akt der Verkündung<br />
wirke das Urteil nach außen und die Abstimmung<br />
werde wirksam. Wer an der Verkündung mitwirke, „begehe<br />
ggfs. eine Teiltat einer gemeinschaftlichen Rechtsbeugung,<br />
gleichviel ob er zuvor überstimmt worden sei oder nicht“.<br />
Selbst wenn er seine Stimme gar nicht abgegeben habe, weil<br />
die Mehrheit schon feststand, müsse dies gelten. 79 Eine Einschränkung<br />
will Dencker gelten lassen: Der kriminelle Charakter<br />
der Urteilsverkündung müsse evident sein, weil den<br />
Abstimmungsregeln des GVG zugrunde liege, dass das Kollegium<br />
klüger sei als der einzelne Richter. 80 Ohne dies näher<br />
auszuführen, fügt er aber hinzu, dass diese Entlastung nicht<br />
grenzenlos sei. Dabei verweist er auf die ebenfalls begrenzte<br />
entlastende Wirkung prozessualer Regelungen für das Handeln<br />
des Rechtsanwalts. 81<br />
Legt man diese Auffassung für richterliche Beschlüsse<br />
allgemein zugrunde, hätte jeder der dem Familiensenat angehörigen<br />
Richter – auch der möglicherweise überstimmte –<br />
mit seiner Unterschrift unter den Beschluss das seinerseits<br />
Erforderliche getan, um den Tatbestand der Rechtsbeugung<br />
zu erfüllen.<br />
b) Knauer hält die Auffassung des BGH, nur derjenige<br />
Richter könne strafrechtlich belangt werden, der für das<br />
rechtsbeugende Urteil gestimmt habe, ebenfalls für falsch. 82<br />
Erneut auf das Strafgericht bezogen, hält er – ohne zwischen<br />
evidenter und nicht evidenter Rechtsferne zu unterscheiden –<br />
jedwede (selbst wünschenswerte) Gegenstimme für unbeachtlich,<br />
wenn der Richter hinterher die Entscheidung mitverkündet.<br />
Denn der Richter müsse sich nicht nur gegen den Erfolg<br />
78<br />
Dencker (Fn. 3), S. 184. Auch hier wird deutliche, welche<br />
Fallkonstellationen dem Problem vorwiegend zugrunde lagen.<br />
79<br />
Dencker (Fn. 3), S. 185. Das entspricht der Auffassung in<br />
BGHSt 37, 106 (128).<br />
80<br />
Hiergegen Knauer (Fn. 56), S. 60, wobei der Widerspruch,<br />
wie Erb (Fn. 5), S. 31, Fn. 16, zu Recht feststellt, nicht so<br />
scharf ist.<br />
81<br />
Dencker (Fn. 3) S. 184, sowie Fn. 158, die auf BGHSt 38,<br />
345 verweist; letztlich ist das ein Problem des Vorsatzes. s. a.<br />
Erb (Fn. 5), S. 44.<br />
82<br />
Knauer (Fn. 56), S. 56.
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
(der Rechtsbeugung) aussprechen, sondern dürfe zu diesem<br />
auch nicht beitragen. Das tue er aber, wenn er mit verkünde.<br />
Dies unterlassen zu müssen, fügt Knauer hinzu, lege keine<br />
Widerstandspflicht auf, sondern verbiete nur eine rechtsgutschädigende<br />
Handlung. Der entscheidende Satz in Knauers<br />
Analyse lautet: „Denn die Grenze der Rechtsbeugung ist<br />
zugleich die Grenze des Schutzes der richterlichen Entscheidungsfreiheit.“<br />
83 Folgt man bezüglich der Strafbarkeit des<br />
überstimmten Richters wegen Rechtsbeugung den Überlegungen<br />
Knauers, so ist die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung<br />
eines jeden der drei Richter trotz unterstellter Gegenstimme<br />
möglich.<br />
c) Auch Erb widerspricht – ausdrücklich Dencker und<br />
Knauer zustimmend – der h.M. Er hält fest, dass derjenige,<br />
der sich in den Gerichtssaal begebe, um dort in seiner Eigenschaft<br />
als Mitglied eines Spruchkörpers schweigend der Urteilsverkündung<br />
durch den Vorsitzenden beizuwohnen, damit<br />
zum Ausdruck bringe, dass er die Entscheidung im Zusammenwirken<br />
mit den anwesenden Kollegen in der vorliegenden<br />
Form in Kraft setzen wolle. Das gelte erst recht bei der<br />
Mitunterzeichnung einer Entscheidung, die im schriftlichen<br />
Verfahren ergehe. Nach Erb bestehe gerade nicht die Teilnahmepflicht<br />
am Wirksammachen der rechtsbeugerischen<br />
Entscheidung, weil die „Förderung sonstiger Straftaten kein<br />
legitimer Zweck eines staatlich geordneten Verfahrens“ sei. 84<br />
Dabei übersieht Erb auch nicht den Konflikt, in den der überstimmte<br />
Richter geraten könnte. Aber eine Konfrontation mit<br />
seinen Kollegen (z.B. als zum OLG abgeordneter Richter am<br />
Landgericht mit dem ihn beurteilenden Vorsitzenden) oder<br />
disziplinarische Folgen müsse er so hinnehmen, wie es beispielsweise<br />
ein Mitarbeiter einer Chemiefirma müsste, der<br />
zur Erhaltung seines Arbeitsplatzes ein gravierendes Umweltdelikt<br />
begehen soll. 85<br />
Ausdrücklich verweist Erb darauf, dass eine solche Auffassung<br />
Beweisprobleme entfallen lasse. 86 Erb, der an dieser<br />
83<br />
Knauer (Fn. 56), S. 58. Nichts anderes ergibt sich aus<br />
Art. 97 Abs. 1 GG.<br />
84<br />
Erb (Fn. 5), S. 33; anders Rudolphi/Stein (Fn. 55), § 339<br />
Rn. 17e .<br />
85<br />
Erb (Fn. 5), S. 34. Siehe auch die Remonstrationspflicht<br />
des Beamten, dazu unten. Man stelle sich den Fall bei drei<br />
Arbeitnehmern vor: A, B und C sind von Arbeitgeber U angewiesen,<br />
Abfälle aus ökologischer Landwirtschaft einzusammeln<br />
und in einem ebenfalls nach ökologischen Prinzipien<br />
arbeitenden Betrieb abzuliefern. A und B nehmen hochkontaminierte<br />
Abfälle auf. C widerspricht dem zwar, steht<br />
beim Aufladen daneben, fährt bis zum Schluss mit, immer<br />
vor sich hinmurmelnd, er sei ja dagegen, und unterschreibt<br />
den Ladeschein. Welches Gericht würde annehmen, es könnte<br />
ja sein, dass einer von ihnen sich gegen das Auf- und Abladen<br />
der Abfälle ausgesprochen und daran nicht mitgewirkt<br />
habe und eine Anklage wegen Straftaten gegen die Umwelt,<br />
§§ 324 ff. StGB, nicht zulassen. Ähnlich Strecker, BJ 2008,<br />
380.<br />
86<br />
Ausdrücklich heißt es: „Vor allem aber haben es die beteiligten<br />
Richter stets (d.h. vor allem auch bei einer in Wahrheit<br />
einstimmig getroffenen Entscheidung) in der Hand, die Über-<br />
Stelle weitere Gedanken zur Strafbarkeit richterlichen Fehlverhaltens,<br />
insbesondere für leichtfertig getroffene Entscheidungen<br />
anstellt, weist abschließend ebenfalls darauf hin, dass<br />
der Schutz des Art. 97 Abs. 1 GG versage, wenn sich ein<br />
Richter in offensichtlicher Weise von Recht und Gesetz entferne.<br />
87<br />
d) Diese drei Stimmen machen deutlich, wie eine systematische,<br />
rechtsdogmatisch fundierte Auseinandersetzung<br />
mit dem Problem der Strafbarkeit des Kollegialrichters<br />
zwangsläufig zur Annahme der Strafbarkeit des überstimmten<br />
Richters führt. 88 Damit beruht die Behauptung fehlender<br />
Strafbarkeit des überstimmten Richters tatsächlich nur auf<br />
einer unbegründeten Annahme.<br />
f) Damit liegt kein Unterlassen vor. Man mag zwar der<br />
Auffassung sein, ein Richter im demokratischen Rechtsstaat<br />
sei Garant 89 für eine rechtsstaatliche Entscheidung (die auch<br />
falsch sein kann, sonst sähe der Rechtsstaat keinen Rechtsweg<br />
mit Rechtsmitteln und Instanzen vor). Wenn aber die Tat<br />
durch das Wirksammachen (Verkündung oder Unterzeichnung<br />
– nochmals: Wie sonst?) begangen wird und jeder der<br />
beteiligten Richter daran mitwirkt, so hieße eine Garantenstellung,<br />
dass der einzelne Richter den Erfolg der Tat durch<br />
Tun verhindern müsste. 90 Der in der Abstimmung überstimmte<br />
Richter muss aber – wie von Knauer und Erb gezeigt –<br />
gerade nichts tun, sondern unterlassen. Ob der Richter, der in<br />
der Abstimmung für die rechtsbeugende Entscheidung votiert<br />
hat, vom Versuch zurücktritt, wenn er am Wirksammachen<br />
nicht teilnimmt 91 , braucht hier nicht erörtert zu werden, weil<br />
alle drei Richter unterschrieben haben.<br />
4. Gleichheit vor dem Gesetz<br />
Zwei weitere Überlegungen stützen die von den drei Autoren<br />
geäußerte Ansicht, weil sie das hier gefundene Ergebnis<br />
zwanglos in die Rechtsordnung einfügen, und damit ihrer<br />
Einheit nicht zuwiderlaufen. Sie betreffen die Gleichheit vor<br />
dem Gesetz, Art. 3 Abs. 1 GG.<br />
a) Die für Kollegialrichter angenommene Privilegierung<br />
führt zu einer tatsächlichen Ungleichbehandlung innerhalb<br />
führung eines jeden von ihnen zuverlässig zu blockieren<br />
[…]“.<br />
87 Erb (Fn. 5), S. 44.<br />
88 Bisher hat, soweit ersichtlich, niemand den Ergebnissen<br />
dieser drei Untersuchungen widersprochen, im Gegenteil,<br />
vgl. Fischer (Fn. 3), § 339 Rn. 5; zustimmend auch Jahn, JuS<br />
2009, 80. Es bedarf also nicht des Tatbestandes der „kollektiven<br />
Rechtsbeugung“.<br />
89 Knauer (Fn. 56), S. 205 scheint eine solche anzunehmen,<br />
weil „der Anknüpfungspunkt der Zurechnung außerhalb des<br />
Beschlusses“ liege, insbesondere „wenn den einzelnen eine<br />
aus einer Garantenstellung resultierende Erfolgsabwendungspflicht<br />
trifft, kommt es auf sein Stimmverhalten in einem<br />
etwaigen Beschlussverfahren nicht an.“<br />
90 Das ließe sich nur annehmen, wenn man ihn als Überwachergaranten<br />
betrachtete. Das allerdings widerspräche der<br />
Gleichberechtigung der Richter in der Kammer oder im Senat.<br />
91 So Knauer (Fn. 56), S. 54 m.w.N.<br />
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151
Christoph Mandla<br />
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der Justiz selbst. Kein Einzelrichter – also die Mehrheit der<br />
Richter in Deutschland – kann sich sinnvoll auf ein Beratungsgeheimnis<br />
berufen. Der Kollegialrichter ist damit gegenüber<br />
dem Einzelrichter völlig systemwidrig privilegiert, 92<br />
obwohl ihn, um nochmals mit Dencker zu sprechen, sogar die<br />
Klugheit der Mehrheit vor Fehlentscheidungen bewahrt 93 (an<br />
der es hier offensichtlich gemangelt hat). Der unlängst vom<br />
Landgericht Stuttgart verurteilte Betreuungsrichter 94 wäre als<br />
Senatsmitglied (bei kollektivem Schweigen) nicht nur vor der<br />
Verurteilung sondern schon vor einer Hauptverhandlung<br />
sicher gewesen, weil – folgte man der Naumburger Auffassung<br />
– nicht auszuschließen gewesen wäre, dass z.B. einer<br />
der Richter gegen die Entscheidungen aufgrund rechtswidriger<br />
Verfahrensweise gestimmt hat. Es ist nicht ersichtlich,<br />
worin angesichts § 25 Abs. 1 und 2 StGB Entscheidungen<br />
durch den Einzelrichter bezogen auf eine mögliche Rechtsbeugung<br />
wesentlich anders 95 sind als solche durch den Kollegialrichter.<br />
b) Hinzu kommt, dass § 339 StGB auch für andere Amtsträger<br />
gilt, denen das Privileg des richterlichen Beratungsgeheimnisses<br />
nicht zukommt. Klassisches Beispiel ist der<br />
Staatsanwalt, der als Beamter den Beamtengesetzen unterliegt.<br />
Diese verlangen, dass der Beamte remonstriert, §§ 38<br />
Abs. 3 BRRG (§ 36 Abs. 2 S. 3 BeamtStG), 56 Abs. 2 S. 3<br />
BBG, 56 Abs. 2 BG LSA, wenn er Bedenken gegen die<br />
Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen hat. 96 Das hätte<br />
der überstimmte Richter mit seiner Gegenstimme getan. Erkennbar<br />
strafbare Handlungen darf er nicht ausführen. 97 Das<br />
gleiche gilt – jenseits von § 339 StGB – für deutsche Soldaten,<br />
§ 11 Abs. 2 S. 1 SoldatenG. 98 Wenn also schon der weisungsabhängige,<br />
also der im System subordinierte Beamte,<br />
und sogar der klassische Befehlsempfänger beim Militär,<br />
darüber hinaus auch der weisungs- und lohnabhängige Arbeitnehmer<br />
sich gegen die an sie gerichtete Aufforderung,<br />
92<br />
Strecker, BJ 2008, 377 f.; Jahn, JuS 2009 S. 81.<br />
93<br />
Dencker (Fn. 3), S. 184.<br />
94<br />
Urt. v. 14.11.2008 – 16 KLs 180 Js 10961/06 (nicht rechtskräftig).<br />
95<br />
Vgl. BVerfGE 55, 72 (88); 62, 256 (274); 66, 331 (335);<br />
69, 188 (205); 70, 230 (240); 82, 60 (86); 82, 126 (146); 84,<br />
197 (199); 88, 87 (96); s. auch Heun, in: Dreier (Hrsg.)<br />
Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 3, Rn. 19, 21 (Fn. 132), 31,<br />
46.<br />
96<br />
Battis, Bundesbeamtengesetz -Kommentar, 3. Aufl., 2004,<br />
§ 56, Rn. 4; Zängl, in: Fürst (Hrsg.), GKÖD-Beamtenrecht<br />
des Bundes und der Länder, Bd. 1, 2a, Lieferung 5/00, § 56<br />
BBG, Rn. 39.<br />
97<br />
Battis (Fn. 96), Rn. 6: bei strafrechtswidriger Anordnung<br />
besteht die Strafbarkeit trotz Remonstration; Zängl (Fn. 96)<br />
§ 56 BBG, Rn. 66; s. auch § 97 Abs. 2 StVollzG, § 5 Abs. 1<br />
WStG, § 7 Abs. 2 S. 2 UZwG.<br />
98<br />
Vogelgesang in: Fürst (Fn. 96) Bd. 1, 5a, Lieferung 1/08,<br />
§ 11 SoldatenG, Rn. 24: Ein solcher Befehl darf nicht befolgt<br />
werden. Darauf weist auch Strecker, BJ 2008, 380 hin.<br />
S. auch Schwartz, Handeln aufgrund eines militärischen Befehls<br />
und einer beamtenrechtlichen Weisung, 2007, S. 101,<br />
206 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
152<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
rechtswidrig zu handeln, wenden müssen, und ihnen Straftaten<br />
zu begehen, gänzlich ausdrücklich verboten ist 99 , so ist<br />
erst recht der unabhängige, niemandem (nur dem Gesetz)<br />
unterworfene (Kollegial-)Richter nicht nur verpflichtet, gegen<br />
eine Straftat zu votieren 100 , es ist ihm auch verboten, an<br />
der Verwirklichung, also der Ausführung einer Straftat mitzuwirken.<br />
Die Verkündung einer das Recht beugenden Entscheidung<br />
– oder die Unterschrift unter eine solche – verlangt<br />
das Gesetz nicht vom Richter. 101 Wer daran mitwirkt, begeht<br />
Rechtsbeugung, wenn die weiteren Voraussetzungen (Vorsatz<br />
usw.) gegeben sind.<br />
c) Allen diesen Argumenten verschließen sich die Kollegen<br />
aus demselben Hause wie die Angeschuldigten. Hätten<br />
Studenten einen Fall so bearbeitet, hätte man ihnen zu Recht<br />
vorgeworfen, gegen grundlegende Arbeitsmethoden der<br />
Rechtsfindung zu verstoßen. 102 Eine andere Ansicht mit beachtlichen<br />
Argumenten darf nicht ignoriert werden. 103 Was<br />
wäre geschehen, lässt sich fragen, wenn das nach Zulassung<br />
der Anklage zuständige Landgericht sich den beachtlichen<br />
Argumenten der „a.A.“ angeschlossen hätte, weil beispielsweise<br />
die Schöffen nicht der richterfreundlichen Auffassung<br />
der h.M. gefolgt wären? 104 Eine Verurteilung war für ihn<br />
damit nur deshalb unwahrscheinlich, weil der Strafsenat dem<br />
Tatgericht eine der herrschenden Auffassung folgende<br />
Rechtsmeinung unterstellt hat. Das vermag aber auch schon<br />
deshalb nicht zu überzeugen, weil der Senat auf die rechtlichen<br />
Gründe, die das Landgericht für die Nichtzulassung<br />
herangezogen hat, gar nicht eingegangen ist.<br />
Gegen die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde,<br />
ist ein ordentliches Rechtmittel nicht gegeben. 105 Bei<br />
einem Freispruch hätte hingegen die Staatsanwaltschaft Revision<br />
einlegen können. Dann hätte der BGH u.U. entscheiden<br />
99<br />
Für den Arbeitnehmer gilt das StGB unmittelbar. Das Weisungsrecht<br />
des Arbeitgebers ist durch §§ 157, 242 BGB begrenzt.<br />
100<br />
Das ergibt sich aus § 339 StGB!<br />
101<br />
Erb (Fn. 5) S. 33; Knauer (Fn. 56), S. 58; Sarstedt,<br />
(Fn. 60), S. 433; zustimmend Jahn, JuS 2009, 80.<br />
102<br />
Otto, Übungen im Strafrecht, 6. Aufl. 2005, S. 10; Beulke,<br />
Klausurenkurs im Strafrecht I, 4. Aufl. 2008, Rn. 24; Valerius,<br />
Einführung in den Gutachtenstil, 2. Aufl. 2007, S. 27:<br />
unerlässlich wenn entscheidungserheblich; Arzt, Die Strafrechtsklausur,<br />
7. Aufl. 2006, S. 49, s. auch S. 52 f., 106. –<br />
Hier ließe sich sogar fragen, ob von herrschender „Meinung“<br />
überhaupt gesprochen werden kann, wenn diese nur wiederholt,<br />
nicht aber begründet wird.<br />
103<br />
Krit. auch Jahn, JuS 2009, 80.<br />
104<br />
Vgl. BGH NStE Nr. 3 zu § 203 StPO, Beschl. v.<br />
24.8.1987 – 1 BJs 279/86 – 4 StB 9/87 unter Verweis auf<br />
§ 76 Abs. 1, 2 GVG: fehlende institutionelle Identität. Hinzu<br />
kommt, dass die Richter sich vielleicht doch eingelassen<br />
hätten, s. unten, und auch der landgerichtliche Nichtzulassungsbeschluss<br />
nur auf einer Mehrheitsentscheidung beruhen<br />
kann.<br />
105<br />
Was das OLG – scheinbar mit Erleichterung – in seiner<br />
Pressemitteilung festhält, PM 007/08. Die Anhörungsrüge hat<br />
es mit Beschl. v. 19.12.2008 zurückgewiesen.
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
müssen. Faktisch hat der Strafsenat den Rechtsweg verkürzt.<br />
106<br />
III. Mitgegangen – mitgefangen: Zur Prognose des Verhaltens<br />
der Beschuldigten in der Hauptverhandlung<br />
Indem er von vornherein die Gegenauffassung ignoriert,<br />
musste sich der Strafsenat nur der Frage widmen, ob für die<br />
eingeschränkte Voraussetzung der Rechtsbeugung der Nachweis<br />
der Täterschaft erbracht werden kann. Das hat er abgelehnt.<br />
Aber auch hier vermögen seine Ausführungen nicht zu<br />
überzeugen.<br />
Nach § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung<br />
des Hauptverfahrens, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden<br />
Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend<br />
verdächtig ist. Dabei hat das Gericht die Tat vorläufig<br />
zu bewerten und unter Berücksichtigung des gesamten<br />
Akteninhalts zu prüfen, ob die vorhandenen und noch zu<br />
erwartenden Beweise eine gerichtliche Überzeugung vom<br />
Vorliegen der Strafbarkeitsvoraussetzungen wahrscheinlich<br />
erwarten lassen. 107 Das hatte das Landgericht, wie bereits<br />
erwähnt, hinsichtlich der tatsächlichen Gründe nur hilfsweise<br />
verneint, der Strafsenat des OLG Naumburg hat – ohne sich<br />
mit dem Standpunkt des LG Halle auseinanderzusetzen –<br />
ausschließlich aus tatsächlichen Gründen die Zulassung abgelehnt.<br />
Ob in rechtlicher Sicht eine Rechtsbeugung zu bejahen<br />
108 ist, lässt sich ohne Kenntnis der gesamten Akten (z.B.<br />
auch der Gutachten) und vor allem des Wortlauts des ergänzenden<br />
Vermerks nicht beurteilen.<br />
Ob – auch auf der sehr eingeschränkten Grundlage für die<br />
Annahme einer Täterschaft, von der der Strafsenat ausgeht –<br />
die Rechtsbeugung nachzuweisen, aus tatsächlichen Gründen<br />
ausgeschlossen ist, muss jedoch bezweifelt werden. Es ist<br />
jedenfalls ein böses, geradezu entlarvendes Zeugnis, das die<br />
Naumburger Strafrichter ihren Kollegen aus demselben Hause<br />
ausstellen. Auch in der öffentlichen Hauptverhandlung, in<br />
der „rechtsstaatlich“ der Tatvorwurf geprüft wird, würden die<br />
Angeschuldigten schweigen und zum schwersten Vorwurf,<br />
den man einem Richter machen kann 109 – insoweit jedem<br />
106<br />
Vgl. BGH NStE Nr. 3 zu § 203 StPO, Beschl. v.<br />
24.8.1987 – 1 BJs 279/86 – 4 StB 9/87; sowie BGHSt 41,<br />
330, 340 oben bei Fn. 60.<br />
107<br />
Vgl. BGHSt 23, 304 (306): Eröffnungsbeschluss – vorläufige<br />
Tatbewertung, die sich auf Grund der Hauptverhandlung<br />
als unzulänglich oder falsch erweisen kann. Weitere Nachweise<br />
bei Stuckenberg (Fn. 51), § 203, Fn. 26.<br />
108<br />
Bejahend Lamprecht, myops 2009, 4 „evident“ – Das<br />
Karlsruher Verdikt passe zu § 339 StGB wie eine Maßanzug;<br />
die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg und das Bundesverfassungsgericht,<br />
wenn man die Ausführungen in den Beschlüssen<br />
als Gründe betrachtet – jedenfalls für den objektiven<br />
Tatbestand; auch Jahn, JuS 2009, 80 sieht die Beugung<br />
des Rechts „mit der Autorität des BVerfG besiegelt“.<br />
109<br />
Spendel (Fn. 15), S. 446: „Die Rechtsbeugung ist das<br />
[Hervorhebung im Original] Standesdelikt des Richters.<br />
Nicht übler kann er sein hohes Amt missbrauchen, als wenn<br />
gerade er, der berufene Hüter des Rechts, sich nicht nach dem<br />
Recht, dem im ursprünglichen Sinne Gerichteten und Gera-<br />
anderen gemeinen Kriminellen gleich – keine Erklärung<br />
abgeben. 110 Keiner der drei, so die Prognose ihrer Kollegen,<br />
würde angesichts der öffentlich erhobenen Vorwürfe sein<br />
Schweigen brechen und seine Motivation darlegen, warum er<br />
an den Beschlüssen wie geschehen mitgewirkt hat. Keiner der<br />
drei würde – z.B. an seinen Richtereid 111 erinnert – sich einlassen<br />
oder gar ein Geständnis ablegen, und so den Versuch,<br />
die Wahrheit zu erforschen und die möglicherweise Schuldigen<br />
zu bestrafen, unterstützen. 112 Und angesichts der präsumtiven<br />
Unschuld eines der drei Angeschuldigten, bedeutet<br />
diese Interpretation des Senats auch, dass keiner der beiden<br />
anderen Angeschuldigten, die für die zur Anklage geführten<br />
Beschlüsse gestimmt haben, – so der Strafsenat – den überstimmten<br />
Kollegen entlastet hätte: mitgefangen, mitgehangen.<br />
Ebenso wenig erwartet der Strafsenat, dass der Richter,<br />
der rechtmäßig gehandelt hat, Wahrheitserforschung, Schuldausgleich<br />
und Prävention vor seine falsch verstandene Kollegialität<br />
– oder Kumpanei? – stellt. So hält das Gesetz der<br />
omertà 113 einen OLG-Senat zusammen. Üblicherweise gilt<br />
das in anderen gesellschaftlichen Kreisen. Dass aber in einer<br />
solchen Atmosphäre auf rechtstaatliche Weise Recht gefunden<br />
und gesprochen wird, ist außerordentlich schwer vorstellbar.<br />
114 Alle drei Familienrichter, so die Einschätzung<br />
den, richtet, sondern es „biegt“ oder „beugt“.“ Ders. (Fn. 3),<br />
§ 339, Rn. 9: „das Übelste“; „Sünde wider den richterlichen<br />
Geist“, „unvorstellbare Schande“. Schon das Alte Testament<br />
verbot die Rechtsbeugung: 2 Mose 23, 6; 3 Mose 19, 15; 5<br />
Mose, 16, 19 u. 27, 19: „verflucht“ – es gab sie wohl trotzdem:<br />
1 Sam. 8, 3; Sprüche 17, 23.<br />
110<br />
Hier also schließt der Strafsenat aus der Erklärung, die<br />
Aussage verweigern zu wollen, dass dies auch noch für die<br />
Hauptverhandlung gelte. Beim Stimmverhalten in vorangegangenen<br />
Entscheidungen in der Görgülü-Sache selbst hält es<br />
der Strafsenat aber nicht für ausgeschlossen, dass die Richter<br />
später anderer Meinung gewesen sein könnten (s. unten V.)<br />
Das ist nicht konsistent.<br />
111<br />
§ 38 DRiG: „Ich schwöre, das Richteramt getreu dem<br />
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu<br />
dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen<br />
ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit<br />
und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mit Gott helfe.“ Schon<br />
Binding, GS 1904, 18 weist auf den Eid hin. Wer sich an ihn<br />
hält, handelt doch in jedem Fall vorsatzlos.<br />
112<br />
Vgl. dagegen RGZ 89, 11 (s.o.), das noch annahm, ein<br />
unschuldiger Richter werde seines Ansehens wegen den<br />
Mund aufmachen. Jahn, JuS 2009, 81: Nachfrage in der<br />
Hauptverhandlung könne im Einzelfall einen Sinneswandel<br />
bewirken. Ähnl. KG NJW 1997, 69 hielt es bezüglich einer<br />
verweigerten Zustimmung zur Begutachtung für möglich,<br />
dass die Betreffenden ihre Meinung änderten.<br />
113<br />
Den Begriff benutzt auch Jahn, selbst Richter am OLG,<br />
JuS 2009, 81. Mir gegenüber äußerte ein Strafrichter an einem<br />
deutschen Landgericht, er sage immer: „Entscheiden<br />
und Mund halten.“<br />
114<br />
Im Grunde ist jeder der drei durch die beiden anderen<br />
erpressbar; ein außerordentlich hässlicher Gedanke: s. auch<br />
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Christoph Mandla<br />
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ihrer Kollegen, würden ihre Straffreiheit für wichtiger halten,<br />
115 als das Vertrauen der Bevölkerung – also der den Gerichten<br />
und damit auch ihnen (!) unterworfenen Bürger – in<br />
eine Justiz, die mit der gleichen Strenge gegen Verstöße in<br />
ihren Reihen vorzugehen hat, wie sie sonst auch andere mutmaßliche<br />
Verbrecher verfolgt. Der Beschluss ist damit – auch<br />
wenn er eine strafrechtliche Verfolgung ausschließt – ein viel<br />
härteres Urteil als es auf den ersten Blick erscheint. Er ist ein<br />
Freispruch dritter Klasse, der mangelnde Eignung für den<br />
Beruf und charakterliche Mängel bestätigt 116 , den Vorwurf<br />
des Eidbruches enthält und strafrechtlich ein Rückfall in die<br />
überwunden geglaubte Art und Weise fehlgeschlagener Aufarbeitung<br />
von Justizunrecht. 117<br />
IV. Fehlerhafte, einseitige Beweiswürdigung<br />
Der Senat würdigt die vorliegenden Beweise und meint, dass<br />
sie den Nachweis der Tat nicht erbringen könnten. Dabei sind<br />
ihm Fehler unterlaufen, die der BGH regelmäßig rügt, wenn<br />
er die Beweiswürdigung in Fällen beanstandet, in denen<br />
Angeklagte freigesprochen worden sind. 118 Ob der Zweifelsgrundsatz<br />
im Zwischenverfahren gilt, 119 erörtert der Senat<br />
nicht einmal. Er hält es für ausgeschlossen, dass jedem einzelnen<br />
der drei Richter sein Abstimmungsverhalten nachgewiesen<br />
werden könne, weil – in dubio pro reo – jeder von<br />
ihnen gegen die Beschlüsse gestimmt haben kann. Um diesen<br />
Grundsatz anzuwenden, betrachtet der Strafsenat jedes Indiz<br />
einzeln, hält es für nicht ausreichend und kommt so zu dem<br />
Ergebnis, dass ein Tatnachweis insgesamt nicht zu erbringen<br />
wäre. Eine nachvollziehbare Gesamtbetrachtung fehlt. Wobei<br />
eine Gesamtwürdigung der Beweise ohnehin aus dem Inbegriff<br />
der Hauptverhandlung erfolgen müsste, zu der auch der<br />
unmittelbare persönliche Eindruck von den Angeklagten<br />
gehört. 120 Die Würdigung der einzelnen Indizien zeigt eben-<br />
Erb, (Fn. 5), S. 34, der das Problem tatsächlicher und behaupteter<br />
Falschbelastungen thematisiert.<br />
115<br />
Was menschlich sehr verständlich ist angesichts der Mindeststrafhöhe<br />
in § 339 StGB und § 24 DRiG i.V.m. § 45<br />
StGB – vgl. dazu unten VI.<br />
116<br />
Dieterich, BJ 2007, 158 (159): „Die einfachste Berufspflicht<br />
wird zur Charakterprobe, wenn sie unseren eigenen<br />
Interessen und Bedürfnissen widerspricht.“<br />
117<br />
Vgl. BGHSt 41, 247 (252). Dass es Unrecht war, hat der<br />
8. Senat des OLG Naumburg ausdrücklich formuliert: Az. 8<br />
UF 84/05, Beschl. v. 15.12.2006, S. 26: „unrechtmäßige(r)<br />
Eingriff des Staates in das Elternrecht des leiblichen Vaters“;<br />
S. 27: „begründetes erhebliches Misstrauen (des Vaters)<br />
gegenüber staatlichen Stellen“.<br />
118<br />
BGH – 1 StR 654/07; 1 StR 582/06 m.w.N.; 5 StR 61/08;<br />
5 StR 257/08; 3 StR 53/08 m.w.N.; 1 StR 326/06.<br />
119<br />
Abl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 59; KG NJW 1997,<br />
69; nur mittelbare Anwendung: OLG Karlsruhe NJW 1974,<br />
806 (807); gegen eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung:<br />
OLG Bamberg NStZ 1991, 252.<br />
120<br />
Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die<br />
Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd.<br />
4, 25. Aufl. 2001,, § 261 Rn. 16: Das gesamte Verhalten der<br />
Verhandlungsteilnehmer „und zwar unabhängig davon, ob<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
154<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
falls, dass der Senat überspannte Anforderungen an den<br />
Nachweis der Täterschaft stellt. Seine Erwägungen sind insgesamt<br />
lückenhaft und vor allem widersprüchlich.<br />
1. Keine abweichende Meinung zu den Akten gelangt<br />
Dass keine abweichende Meinung zu den Akten gelangt ist,<br />
bedeutet, dass keine formuliert und den Akten beigelegt wurde.<br />
Keiner der drei Richter hat also ein sog. Separatvotum<br />
abgegeben, „um vor allem für die Zukunft sein Verhalten<br />
[…] beweisbar zu machen“. 121 Mit einer solchen Erklärung<br />
wäre der Richter, von dem sie stammte – jedenfalls nach<br />
Auffassung des Strafsenats – entlastet, weil er gegen die<br />
(mutmaßliche) Rechtsbeugung gestimmt hätte. Unbeachtlich<br />
ist es aber, dass keine solche Erklärung abgegeben werden<br />
musste, denn das Normative kann, muss aber nicht das Faktische<br />
prägen. Aus dem Nichtvorhandensein einer beigefügten<br />
Erklärung folgt also, dass der (unterstellte) überstimmte<br />
Richter sich nicht schriftlich von der Entscheidung distanziert<br />
hat. Es ist also eine Tatsache, dass keine solche schriftliche<br />
Erklärung abgegeben wurde. Das wiederum ist ein Indiz –<br />
mehr nicht – dass es keine solche abweichende Meinung<br />
gegeben hat. 122 Das Vorhandensein einer solchen Erklärung<br />
einer abweichenden Meinung ergäbe sich nur, wenn man<br />
Tatsachen hinzudächte. Für solche müsste es aber einen Anknüpfungspunkt<br />
geben, 123 wie z.B. im Geschehen, das<br />
BGHSt 26, 92 zugrunde lag. Ein solcher Anknüpfungspunkt<br />
ist nicht zu erkennen. Damit ist das Fehlen einer solchen<br />
beigefügten Erklärung ein Indiz, das sich verstärkt, wenn man<br />
einen weiteren Umstand heranzieht, auf den der Strafsenat<br />
zur Entlastung seiner Kollegen hinweist und damit einen<br />
Widerspruch erzeugt.<br />
2. Kein Vermerk bei der Unterschrift<br />
Der Verweis des Strafsenats auf BGHSt 26, 92 (93) lässt<br />
nämlich das Gegenteil dessen vermuten, was der Senat damit<br />
behaupten will. 124 In der zugrunde liegenden Entscheidung<br />
der Angeklagte von seinem Recht zum Schweigen Gebrauch<br />
macht“; Schoreit, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar<br />
zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 261, Rn. 19:<br />
„ihr im Sitzungssaal zu beobachtendes Verhalten“ Reaktion,<br />
Eindruck auf andere; BGH v. 8.2.1985, 4 StR 44/85; BGH<br />
MDR (Dallinger) 1974, 368; KG NJW 1979, 1668.<br />
121<br />
Kissel/Mayer (Fn. 4), § 193, Rn. 6 m.w.N.<br />
122<br />
Anders Erb (Fn. 5), S. 34, bei Fn. 28, der aber auch mit<br />
der fehlenden Pflicht argumentiert, auf die es nicht ankommt,<br />
siehe BGHSt 26, 92. Wenn es schon den einen unzulässige<br />
Vermerk fertigenden Richter gibt, dann doch um so wahrscheinlicher<br />
den, der ein zulässiges Separatvotum abgibt. Die<br />
von Strecker, BJ 2008, 383 vorgeschlagene Änderung des<br />
§ 196 GVG, die analog § 30 Abs. 2 BVerfGG ein „freiwilliges“<br />
Sondervotum zuließe, würde das Problem somit auch<br />
nicht lösen.<br />
123<br />
Vgl. BGH – 1 StR 3/07; 3 StR 53/08.<br />
124<br />
Ähnlich wie bei dem indirekten Verweis auf RGZ 89, 15:<br />
Auch nach der dort vertretenen Auffassung verhält sich ein
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
hatte einer der beteiligten Richter seiner Unterschrift einen<br />
„Vermerk“ vorangestellt, in dem er bezweifelte, „daß das<br />
Abstimmungsverfahren im Schwurgericht in jedem Fall dem<br />
Gesetz entsprochen habe und daß die schriftlichen Urteilsgründe<br />
mit dem Beratungsgeheimnis übereinstimmten“. Er<br />
hatte jedoch hinzugefügt, dass dieser Vermerk seine Unterschrift<br />
nicht unwirksam mache. Der Strafsenat bezieht sich<br />
also auf einen Fall, in dem ein Richter eine abweichende<br />
Meinung „ausdrücklich“ erklärt hat. Daraus soll zu schließen<br />
sein, dass es im Familiensenat möglicherweise auch eine<br />
solche abweichende Meinung gegeben hat. Das Beispiel lässt<br />
jedoch das Gegenteil wahrscheinlich sein: In dem BGHSt 26,<br />
92 zugrunde liegenden Geschehen konnte mit der abgegebenen<br />
Erklärung der abweichenden Meinung ihre Existenz<br />
bewiesen werden. 125 Angesichts dieser BGH-Entscheidung<br />
ist aber der Umstand, dass keiner der Richter des 14. Senats<br />
bei der Unterschrift einen (für die Entscheidung unwirksamen)<br />
Vorbehalt vermerkt hat, ein weiteres Indiz dafür, dass<br />
es keinen Vorbehalt, sondern eine einstimmige Entscheidung<br />
gegeben hat. Damit hat der Strafsenat bereits zwei (schwache)<br />
Indizien dafür, dass es keine Gegenstimme gegeben hat.<br />
Wohlgemerkt, es sind Indizien – die nur Schlüsse zulassen,<br />
Beweis wäre damit nicht erbracht.<br />
3. „Klarstellender Vermerk […]“ – § 196 Abs. 1 GVG<br />
Nicht nachzuvollziehen sind die Ausführungen der Strafrichter<br />
zu dem vom 14. Senat am 4.1.2005 angefertigten Vermerk,<br />
der drei Seiten lang ist und den der 14. Senat auch an<br />
das BVerfG geschickt hatte, was die Strafrichter aber verschweigen.<br />
126 Den <strong>Inhalt</strong> – und hier kommt es auf die Formulierungen<br />
an – behalten die Strafrichter für sich und entziehen<br />
ihn so der Nachprüfbarkeit. Damit ist ihre Begründung an<br />
dieser Stelle schlicht mangelhaft. Aber auch so kann ihr in<br />
der Sache nicht gefolgt werden.<br />
a) Die Strafrichter schreiben, dass der <strong>Inhalt</strong> des Vermerks<br />
an die Entscheidungsgründe des Beschlusses vom<br />
20.12.04 anknüpfe und diese ergänze. Es sei nicht erkennbar,<br />
heißt es, dass „alle oder einzelne der unterzeichnenden Senatsmitglieder<br />
damit ihre persönliche Auffassung kundtun“.<br />
Der Strafsenat stellt fest, dass sich die Ausführungen als<br />
ergänzende Wiedergabe des Ergebnisses der Beratung darstellten,<br />
weshalb folgerichtig wieder alle daran beteiligten<br />
Richter ihre Unterschrift geleistet hätten. Woher er weiß<br />
(wenn die angeschuldigten Richter doch schweigen), warum<br />
die Unterschriften aller drei Richter „folgerichtig“ geleistet<br />
wurden, erklärt der Senat nicht. Er stellt nicht die nahe liegende<br />
Frage, warum ein OLG-Familiensenat, nachdem die<br />
Wirksamkeit seines Beschlusses vom BVerfG ausgesetzt<br />
wurde, überhaupt noch irgendetwas „klarstellen“ und inhaltlich<br />
„ergänzen“ will, hatte doch das BVerfG den Umgang des<br />
Vaters mit seinem Sohn im Beschluss vom 28.12.2004 gere-<br />
überstimmter Richter genau entgegengesetzt wie der unterstellte<br />
überstimmte OLG-Familienrichter.<br />
125 Sofern man davon ausgeht, dass der Vermerk tatsächlich<br />
die Meinung des Richters wiedergab – woran nicht zu zweifeln<br />
ist – und nicht eine falsche Äußerung enthielt.<br />
126 Sie verschweigen noch mehr: siehe unten Nr. 5.<br />
gelt (vgl. oben Fn. 36). Was, so hätten die Strafrichter fragen<br />
müssen, führt drei derart vom BVerfG gemaßregelte Richter<br />
zusammen, um nach einem aufgehobenen Beschluss diesen<br />
noch zu erläutern, „quasi als ´Erwiderung` auf den gegenteiligen<br />
Beschluss“ des BVerfG, wie der Strafsenat schreibt<br />
(wobei das Wort Erwiderung nur einen Sinn ergibt, wenn<br />
man weiß, dass eben auch das BVerfG diesen Vermerk erhalten<br />
hat.). Es ist nirgendwo vorgesehen, dass OLG-Senate auf<br />
die ihre Entscheidungen aufhebenden Beschlüsse des BVerfG<br />
irgendwelche Erwiderungen schreiben dürften. Welche Unfähigkeit,<br />
zu ertragen, aufgehoben worden zu sein oder welches<br />
schreckliche Rechtfertigungsbedürfnis hinter einer solchen<br />
Verfahrensweise stehen mag, lässt sich hier nicht beantworten.<br />
Die Frage aber, ob nämlich in diesem Vermerk<br />
der Versuch einer Rechtfertigung liegen könnte, hätte der<br />
Strafsenat stellen müssen. Weitere Ausführungen sind hier<br />
allerdings nicht möglich, weil der <strong>Inhalt</strong> des „Vermerks“<br />
nicht mitgeteilt wurde.<br />
Der Strafsenat hält den Vermerk der drei angeklagten<br />
Richter immerhin für „unüblich“. Auch entspreche dieser<br />
Begriff nicht der „üblichen Bedeutung“. Aber auch das führt<br />
die Strafrichter nicht dazu, Überlegungen anzustellen, warum<br />
es diese Erklärung überhaupt gibt. Es ist jedoch haarspalterische<br />
Rabulistik und erzeugt einen weiteren Widerspruch,<br />
wenn die Strafrichter erklären, von einem geschlossenen<br />
Meinungsbild wäre nur auszugehen, wenn die Mitglieder des<br />
14. Senats geschrieben hätten „Wir sind der Auffassung, dass<br />
[…]“. Denn davor und danach erläutert der Strafsenat ja<br />
gerade, dass auch der überstimmte Richter seine Unterschrift<br />
nicht verweigern dürfe. 127 Welcher signifikante Unterschied<br />
aber darin liegen soll, dass es einmal heißen kann „Der Senat<br />
ist der Auffassung“ (und damit der überstimmte Richter mit<br />
seiner abweichenden Meinung nicht zu erkennen ist) oder<br />
eben: „Wir sind der Auffassung“, (wenn dadurch ebenfalls<br />
nur der Senat gemeint sein kann, ohne dass der überstimmte<br />
Richter zu erkennen wäre), erläutert der Strafsenat nicht.<br />
Hinzu kommt, dass er damit der grundsätzlich zutreffenden<br />
These, auch der überstimmte Richter müsse die Entscheidung<br />
mittragen 128 widerspricht. Würden nämlich einstimmig ergangene<br />
Entscheidungen z.B. mit „wir“ formuliert, solche,<br />
denen keine Einstimmigkeit zugrunde liegt, mit „der Senat“,<br />
wäre doch das Zahlenverhältnis mitgeteilt! Schon deshalb<br />
überzeugen diese Überlegungen nicht.<br />
Zusammengefasst folgt aus der Würdigung dieses Vermerks<br />
wiederum: Wenn der Strafsenat erklärt, es gebe keine<br />
Pflicht, eine Erklärung zur abweichenden Meinung ab-<br />
127 Unter Verweis auf Seibert, MDR 1957, 597 und BGH<br />
DRiZ 1976, 319. Beide Verweise sind unsinnig: Seibert berichtet<br />
nämlich davon, dass ein Richter – intern – unter seine<br />
Unterschrift ein c.f. (contra fidem) gesetzt habe, wenn er<br />
überstimmt wurde. Das hat keiner der Familienrichter gemacht.<br />
Die BGH-Entscheidung betraf § 263 Abs. 1 StPO:<br />
Ausdrücklich heißt es: „In einem solchen Fall ist es angezeigt<br />
und geboten, daß Anlaß und Art der Abstimmungen, Reihenfolge<br />
und die Stimmenverhältnisse in die Urteilsgründe aufgenommen<br />
werden.“<br />
128 Meyer-Goßner (Fn. 19), § 195 GVG Rn. 2.<br />
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155
Christoph Mandla<br />
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zugeben, so dass deren Fehlen keinerlei Beweiswert habe, so<br />
ist ein solcher „unüblicher“, der gebräuchlichen Bedeutung<br />
des Begriffes nicht entsprechender „Vermerk“ mit den Unterschriften<br />
aller drei Richter doch ein um so stärkeres Indiz für<br />
eine gemeinsame Täterschaft.<br />
So windet sich der Strafsenat durch die Beweise: Das<br />
Fehlen einer nicht vorgeschriebenen schriftlichen Erklärung<br />
zur abweichenden Meinung sage nichts über das Nichtvorhandensein<br />
einer abweichenden Meinung überhaupt und das<br />
Vorhandensein einer nicht vorgeschriebenen, von allen drei<br />
Richtern unterschriebenen Erklärung zum Verfassungsgerichtsbeschluss<br />
sage ebenfalls nichts über die Urheber dieser<br />
Erklärung.<br />
Noch fragwürdiger wäre aber das Verhalten des (unterstellten)<br />
überstimmten Richters. Welche rationalen Gründe<br />
(die einem Richter doch zuzubilligen wären!) sollte er haben,<br />
nachdem er seiner Unterschriftspflicht nach der Beschlussfassung<br />
ohne Vorbehaltsvermerk genügt und kein Separatvotum<br />
abgegeben hat – angesichts einer von ihm als rechtswidrig<br />
oder sogar als kriminell erkannten Entscheidung, nun<br />
auch noch an einer rechtlich völlig unerheblichen, unüblichen<br />
und unnötigen Erklärung mitzuwirken? War es falschverstandene<br />
Kollegialität, Gruppenzwang, Ahnungslosigkeit?<br />
Damit unterstellt der Strafsenat dem überstimmten Richter,<br />
der nach seiner Auffassung ja unschuldig ist, u.U. sogar den<br />
Versuch einer Strafvereitelung, § 258 Abs. 4 StGB („geradezu<br />
auffällige Vermeidung von persönlichen Äußerungen“).<br />
Und daraus folgt schließlich die Frage, woher der Strafsenat<br />
den Gedanken nimmt, auch das Zustandekommen dieses<br />
ungesetzlichen und unüblichen „Vermerks“ unterliege den<br />
Vorschriften des § 196 Abs. 1 GVG, so dass der überstimmte<br />
Richter auch hier habe nicht nur unterschreiben müssen,<br />
sondern tatsächlich auch als überstimmter Richter unterschrieben<br />
hat. Angesichts dieser Umstände hätte der Strafsenat<br />
spätestens an dieser Stelle fragen müssen, ob es den überstimmten<br />
Richter tatsächlich gegeben haben kann oder ob<br />
dies nur eine denktheoretische Möglichkeit war, weil aufgrund<br />
dieser Verfahrensweise eher von einem kollektiven<br />
Reinwaschungsversuch auszugehen war, der damit zugleich<br />
ein Schuldeingeständnis ist. Insgesamt stellt der Senat überspannte<br />
Anforderungen an den Nachweis der Täterschaft der<br />
Angeschuldigten.<br />
b) Fasst man alle diese Indizien abschließend in der Gesamtbetrachtung<br />
zusammen: standeswidrige Berufung aller<br />
drei Richter auf das Beratungsgeheimnis, kein Vermerk bei<br />
der Unterschrift, kein zur Akte gereichter Vermerk, jedoch<br />
ein nachträglicher, unüblicher „Vermerk“ mit ergänzenden,<br />
detaillierten rechtlichen Auffassungen als „Erwiderung“ zum<br />
Beschluss des BVerfG, der die Unterschriften aller drei Richter<br />
trägt, und kein standesgemäßes Verhalten des überstimmten<br />
Richters, so spricht mehr für eine gemeinsame Täterschaft<br />
der Richter als dagegen. Anzunehmen, einer der Richter sei<br />
überstimmt worden, setzt voraus, Tatsachen zu unterstellen,<br />
für die es keine Anhaltspunkte gibt, mehr noch, es setzt –<br />
unabhängig von § 136a StPO aber – entgegen §§ 38, 43<br />
DRiG – voraus, dass der vermeintlich unschuldige Richter<br />
eidbrüchig und pflichtwidrig gehandelt hat. Auch ohne die<br />
Einlassung der Angeschuldigten wäre eine Verurteilung –<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
156<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
ohne Verletzung des Zweifelsatzes – wahrscheinlich gewesen.<br />
Ob bewusst oder unbewusst, die Kollegen der Familienrichter<br />
haben bestätigt, was die Literatur seit langem behauptet:<br />
Rechtsbeugung ist ein Mythos und kommt im Rechtsstaat<br />
eigentlich nicht vor. 129<br />
5. Was der Senat sonst noch unberücksichtigt ließ<br />
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der Strafsenat<br />
nicht alles mitgeteilt hat, was im landgerichtlichen Nichtzulassungsbeschluss<br />
noch zu lesen ist: Der Angeschuldigte zu 1<br />
(sicher der Vorsitzende) hat im April 2006 eine zwanzigseitige<br />
Stellungnahme abgegeben, darin den Tatbestand der<br />
Rechtsbeugung nach der objektiven Rechtslage als „reine<br />
Schimäre“ und die verfahrensgegenständlichen Beschlüsse<br />
vom 8. und 20.12.2004 (s.o. Fn. 34, 36, 37) als in verfahrensrechtlicher<br />
und materiell-rechtlicher Hinsicht „nicht zu beanstanden“<br />
bezeichnet und erneut eine damals aktuell in massiver<br />
Form zu befürchtende Kindeswohlgefährdung behauptet<br />
– entgegen den Ausführungen im Beschluss des BVerfG vom<br />
28.12.2004, Rn. 29 (vgl. Fn. 35). Das ist zwar keine Einlassung<br />
zur Tatsache des Abstimmungsverhaltens 130 , wirft aber<br />
erneut die Frage auf, warum ein Richter, der gegen die inkriminierten<br />
Beschlüsse gestimmt haben soll, dies nicht zugibt,<br />
sondern mit solchem Aufwand weiter das inkriminierte Verhalten<br />
verteidigt – sogar gegen das Bundesverfassungsgericht.<br />
Der Angeschuldigte zu 2 hat, anwaltlich vertreten,<br />
darauf hingewiesen, dass sich der Akte nicht entnehmen<br />
lasse, welcher am Beschluss vom 20.12.2004 mitwirkende<br />
Richter gehandelt habe (was zu der kuriosen Vorstellung<br />
zwingt, dass Richter wirken ohne zu handeln.). Es könne<br />
zudem nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschluss mit<br />
einer Gegenstimme zustande gekommen sei. Der Angeschuldigte<br />
zu 3 hat u. a. erklären lassen, die möglicherweise zu<br />
„trotzige“ Behauptung (Hervorhebung im LG-Beschluss) der<br />
richterlichen Unabhängigkeit gegenüber dem EGMR und den<br />
Kammern des BVerfG rechtfertige nie und nimmer den Vorwurf<br />
der Rechtsbeugung. Liest man das, beginnt man zu<br />
ahnen, warum das Landgericht den Beschluss nicht veröffentlicht<br />
und das OLG solche Passagen weglässt. Auch die rechtliche<br />
Würdigung des Landgerichts scheint ein ganz anderes<br />
Verfahren zu betreffen, als die Beschlüsse des BVerfG in der<br />
Görgülü-Sache, wenn es heißt (S. 26): „Die Angeschuldigten<br />
haben nicht einen für den Kindsvater nachteiligen Zustand<br />
verfestigt, sondern das Hauptsacheverfahren zum Umgangsrecht<br />
– mit offenem Ausgang zum Zeitpunkt der Beschlussfassungen<br />
am 20.12.2005 – beschleunigt.“<br />
129<br />
Fischer (Fn. 3), § 339, Rn. 3: „Schattendasein“; ebenso<br />
Erb (Fn. 5), S. 29, 34, Fn. 26; Scholderer (Fn. 3), S. 21<br />
„Schattendasein“; Saliger (Fn. 14), S. 139 „Mythos“; Lamprecht,<br />
myops 2009, 4; Sarstedt (Fn. 60), S. 427; Seebode<br />
(Fn. 14), S. 9 m.w.N.<br />
130<br />
BayOLG MDR 1988, 882: Rechtsausführungen sind keine<br />
Teileinlassung, die den Schluss auf die Täterschaft zulassen.<br />
Hier geht es aber um drei Angeschuldigte; unterstellt man,<br />
der Vorsitzende ist überstimmt worden, so fragt sich, warum<br />
er lang und breit die Tatbestandslosigkeit der Handlung der<br />
Beisitzer erklärt.
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
V. Vernehmung weiterer Richter<br />
Ebenso widersprüchlich ist die Begründung für die Ermittlungen<br />
im Zwischenverfahren. Mit der Feststellung nämlich,<br />
dass sich aufgrund des Schweigens der drei Angeschuldigten<br />
nicht nachweisen lasse, wie jeder einzelne von ihnen gestimmt<br />
habe, als die Beschlüsse gefasst wurden, hätte der<br />
Strafsenat seinen Beschluss beenden können. Es gab keine<br />
alternative Erkenntnisquelle. Wenn nur durch die beteiligten<br />
Richter der Hergang der Abstimmung festzustellen war und<br />
alle Indizien für einen Schluss nicht ausreichten, so verwundert,<br />
dass der Senat nunmehr auf Indiziensuche geht. Die<br />
weiteren Ermittlungen – und theoretischen Ausführungen<br />
zum Beratungsgeheimnis – sind völlig überflüssig und mögen<br />
als Rationalisierung oder Beruhigung des Gewissens der<br />
Strafrichter und der Allgemeinheit dienen. Entscheidend ist<br />
nämlich, dass aus Ergebnissen vorheriger Abstimmungen<br />
nicht auf das Abstimmungsverhalten bei den beiden tatgegenständlichen<br />
Beschlüssen geschlossen werden könne, weil, so<br />
der Strafsenat selbst, damit noch nicht klar sei, „ob […] die<br />
zugrunde liegende Auffassung auch in den über acht Monate<br />
späteren Abstimmungen weiter vertreten sowie entsprechend<br />
abgestimmt“ worden sei. Die Kontrollfrage zur Schlüssigkeit<br />
lautet: Was hätten die Richterinnen aussagen müssen, damit<br />
man daraus auf das Verhalten der Angeschuldigten bei den<br />
späteren Abstimmungen hätte schließen können? Aber auch<br />
hier übersieht der Strafsenat, dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit<br />
besteht, dass jemand, der einmal dem EGMR<br />
getrotzt hat – vgl. die Begründungen der Beschlüsse vom<br />
Juni und Juli 2004 131 – nun auch dem BVerfG trotzen wird.<br />
Hinzu kommt ein weiterer Widerspruch: Die Erklärung, auch<br />
in der Hauptverhandlung zu schweigen und diese Meinung<br />
nicht zu ändern, nimmt der Strafsenat den angeschuldigten<br />
Richtern kommentarlos ab. Kontinuierlich an der einmal<br />
gefassten Meinung in der Sache selbst festgehalten zu haben,<br />
ließe sich hingegen den Familienrichtern nicht unterstellen.<br />
Das verlangt zumindest, begründet zu werden.<br />
Auch über den <strong>Inhalt</strong> der richterlichen Zeugenaussagen<br />
schweigt der Strafsenat; er fasst zusammen, dass sie keine<br />
weiteren Erkenntnisse gebracht hätten.<br />
Nach seiner Feststellung, wie allein der Nachweis der Täterschaft<br />
erbracht werden könnte, waren die weiteren Ermittlungen<br />
des Strafsenats schlichtweg überflüssig, vgl. § 244<br />
Abs. 3 StPO. 132 Ein darauf gerichteter Beweisantrag wäre in<br />
der Hauptverhandlung sogar abzulehnen gewesen.<br />
VI. Von Krähen und Augen – Schutzmechanismen der<br />
Zunft<br />
1. Erneute Rechtsbeugung?<br />
a) Strecker bezweifelt mit guten Gründen, dass es sich beim<br />
1. Strafsenat desselben Oberlandesgerichts um die gesetzlichen<br />
Richter gehandelt habe. 133 Er geht allerdings zu weit<br />
131<br />
S. oben bei Fn. 30 und 31.<br />
132<br />
Meyer-Goßner (Fn. 19), § 244, Rn. 56.<br />
133<br />
Strecker, BJ 2008, 382 sieht den Strafsenat daher als überfordert<br />
an und seine Mitglieder deshalb nicht als gesetzlichen<br />
Richter, weshalb sie sich gem. §§ 24 Abs. 2, 30 StPO hätten<br />
und übersieht zudem erneut das Beweisproblem, wenn er nun<br />
mutmaßt, auch die Strafrichter könnten sich nun ihrerseits<br />
wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht haben und wären<br />
dann als Mittäter anzuklagen. Mit ihrer Entscheidung haben<br />
sie ja gerade die Grundlage geschaffen, warum man ihnen<br />
nichts nachweisen könnte und schon die Hauptverhandlung<br />
entfiele! Auch von ihnen könnte ja einer gegen die Entscheidung<br />
gestimmt haben.<br />
Materiell-rechtlich bestehen aber wohl schon Zweifel an<br />
der Erfüllung des Tatbestandes. In einem Rechtssystem, in<br />
dem die dritte Gewalt sich ausschließlich selbst kontrolliert,<br />
134 nur schwerwiegende Verstöße als Rechtsbeugung<br />
ansieht 135 , selbst aber schwerste Verbrechen in ihren Reihen<br />
nicht in der Lage war aufzuarbeiten 136 und sich auf Privilegien<br />
beruft, um dem Vorwurf des Verbrechens zu begegnen,<br />
fehlt es wohl schlicht an der Tatbestandsmäßigkeit oder jedenfalls<br />
dem Vorsatz. 137 Eine fehlerhafte Beweiswürdigung,<br />
ablehnen sollen. Ähnliche Bedenken hat auch Lamprecht,<br />
NJW 2007, 2745: „Verfahren von Zimmer zu Zimmer“;<br />
ders., myops 2009, 5: „auf keinen Fall unbefangen“. Man<br />
stelle sich vor: Gemeinsame Veranstaltungen, Präsidiumssitzungen,<br />
gelegentliche Begegnungen im Haus: „Guten Tag,<br />
Herr Kollege, nehmen Sie auch einen Kaffee? – Ja, danke –<br />
ich prüfe übrigens gerade, ob die Anklage gegen Sie wegen<br />
eines Verbrechens zuzulassen ist.“ – „Ah ja, Zucker? Milch?“<br />
– „Vielen Dank, einen schönen Tag noch.“<br />
134<br />
Lamprecht, myops 2009, 4: „Freispruch in eigener Sache“,<br />
Saliger (Fn. 14), S. 139: Entscheidungen zur Rechtsbeugung<br />
sind „Entscheidungen in eigener Sache“; Bemmann/Seebode/<br />
Spendel, ZRP 1997, 307 (308): „in eigener Sache“.<br />
135<br />
Schroeder, FAZ v. 3.2.1995: „Wenn ein Arzt sich bei der<br />
Verabfolgung einer Spritze um eine Dezimalstelle nach dem<br />
Komma irrt, wird er wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung<br />
bestraft. Wie läßt es sich da rechtfertigen, daß<br />
Richter […] nur bei schwerwiegenden vorsätzlichen Rechtsverletzungen<br />
strafbar sein sollen?“ Weil es eben so ist: Das<br />
Landgericht Halle, Beschl. v. 20.7.2007, S. 21 f., hält die<br />
vom BVerfG als „nicht mehr nachvollziehbar“ bezeichneten<br />
Ausführungen nur für „zumindest zweifelhaft“ und möglicherweise<br />
„rechtlich angreifbar“, lässt sie aber in den regelmäßig<br />
weiten Beurteilungsspielraum fallen, der Richtern<br />
zuzubilligen sei.<br />
136<br />
S. Fn. 59, Der Görgülü-Fall mag ein Skandal sein, das<br />
Verhalten der Richter gehört aber nicht zu den „schwersten<br />
Verbrechen“.<br />
137<br />
Wenn sie schon nicht bemerkt haben, dass sie möglicherweise<br />
befangen waren, also nicht wussten, dass sie gar nicht<br />
unvoreingenommen sind, wie sollen sie dann vorsätzlich,<br />
also wissentlich gegen das Gesetz zugunsten ihrer Kollegen<br />
entschieden haben? Vgl. auch oben bei Fn. 15 und<br />
Mühl/Fürst/Arndt, Richtergesetz, Kommentar, 1992, § 26<br />
Rn. 28, wo sogar der Verstoß gegen Denkgesetze den Richter<br />
exkulpieren soll: „Aus der Tatsache, daß alle Welt den Fehler<br />
alsbald erkennt, ergibt sich nicht, daß der Betroffene ihn bei<br />
gehöriger Sorgfalt ebenfalls hätte erkennen müssen. Es ist die<br />
Eigenart derartiger Verständnisfehler, daß der Betroffene auf<br />
der Stelle überzeugt ist, so daß sich ihm die Notwendigkeit<br />
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Christoph Mandla<br />
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kollegiale Befangenheit, übergangene andere Ansichten,<br />
unzutreffende Nachweise und eine nicht begründete h.M.<br />
mögen intellektuell ärmlich, juristisch mangelhaft, moralisch<br />
fragwürdig und rechtsstaatlich bedenklich sein. Ein Verbrechen<br />
sind sie nicht. Man muss den Kollegen der angeschuldigten<br />
Richter zugestehen, dass ihr Verhalten außerordentlich<br />
menschlich ist. Und Menschen sind manchmal schwach,<br />
fehlbar und auch parteiisch.<br />
b) Der Beschluss zeigt daher auch die Reformbedürftigkeit<br />
von § 339 StGB. 138 Während überall im Strafrecht nicht<br />
genug differenziert werden kann, gibt es bei § 339 StGB fast<br />
nur „Alles oder nichts“. Man kann aber eben nicht nur töten,<br />
sondern auch verletzen, nicht nur zerstören, sondern auch<br />
beschädigen, und vielfach reichen Gefährdungen oder fahrlässiges<br />
Handeln, um sich strafbar zu machen. Wird bei Richtern<br />
gleich mit Kanonen auf Spatzen geschossen 139 , ist es<br />
nicht verwunderlich, dass die Richterschaft beinahe kollektiv<br />
ausweicht, möglichst so gründlich, dass es niemals Treffer<br />
gibt. Die kleineren Verbiegungen und Beschädigungen des<br />
Rechts, die ärgerlich, lästig, ungerecht und willkürlich sein<br />
können, jedoch kein solches Maß an Unrecht erreichen, dass<br />
Richter als Verbrecher gelten und in der Folge davon ihre<br />
Stellung verlieren müssen, sollten auch sanktioniert werden<br />
können 140 – aber verhältnismäßig. Diesem Problem ist der<br />
1. Strafsenat des OLG Naumburg aber ausgewichen, so dass<br />
es hier nicht erörtert zu werden braucht.<br />
2. Die bessere Lösung<br />
Angesichts der ohnehin richterfreundlichen Rechtsprechung<br />
zur Rechtsbeugung wäre es – unterstellt man den drei Familienrichtern<br />
entsprechende Charakterstärke und einen Hauch<br />
von Berufsehre – insgesamt nicht ausgeschlossen gewesen,<br />
dass sie sich zu den in der Hauptverhandlung erhobenen<br />
Vorwürfe doch geäußert hätten: Dann hätte es ein angemessenes<br />
Forum gegeben, in dem die OLG-Richter öffentlich<br />
hätten darlegen können, worin die Schwierigkeiten gerade<br />
weiterer Prüfung verschließt, abgesehen davon, daß Denkfehler<br />
oft auch den Abschluß eines langen Ringens um eine<br />
brauchbare Lösung bilden.“<br />
138<br />
Bemmann/Seebode/Spendel, ZRP 1997, 307 (308); Sowada,<br />
GA 1998, 175 (196); Lehmann, NStZ 2006, 127 (131);<br />
Schäfer, NJW 2000, 1996; Dallmeyer, GA 2004, 540 (552).<br />
139<br />
Scheffler, NStZ 1996, 67 (70); Doller, NStZ 1988, 219<br />
(220), der wohl auch hier das „Abscheuliche“ vermissen<br />
würde.<br />
140<br />
S. die bei Fn. 37 genannten Autoren; a.A. Fischer (Fn. 3),<br />
§ 339, Rn. 15b; der die Rechtsfriedensfunktion gefährdet<br />
sieht, und es für eine Zumutung für den Bürger und die Legitimität<br />
des Rechts hält, wenn z.B. ein unter Bewährung stehender<br />
Richter entscheidet – als ob der unausgeräumte Verdacht<br />
– wie in diesem Fall – und generell das Wissen um<br />
„bewusst unvertretbare(r) Verfahrensbehandlungen“, die dem<br />
Ansehen und der Autorität des Rechtsstaats abträglich sind –<br />
wie Fischer selbst, a.a.O., Rn. 4, schreibt, keine Zumutung<br />
sind. Für eine restriktive Anwendung auch Scheffler, NStZ<br />
1996, 70, der „Insichsprozesse(n)“ befürchtet und Pressionen<br />
für wirkungslos hält.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
158<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
dieses Falles gelegen haben, was ihre Motivation war, sich<br />
gegen Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof<br />
aufzulehnen, ihnen zu „trotzen“. Sie wären zudem als<br />
Menschen erschienen mit einem Gesicht, mit eigener Meinung,<br />
Motiven und Zweifeln oder eben Uneinsichtigkeit,<br />
Arroganz und Rechthaberei. Vielleicht wäre am Ende herausgekommen,<br />
dass sie lediglich Rechtsfortbildung 141<br />
betreiben wollten, und sich dabei ein bisschen im Ton vergriffen<br />
haben. Vielleicht wäre es auch ein Anlass gewesen,<br />
die Norm des § 339 StGB einer verfassungsgerichtlichen<br />
Prüfung zu unterziehen. 142<br />
3. Sperrwirkung<br />
Ein Gedanke, der schon zur Frage der Gleichbehandlung<br />
gehörte, ist der abschließende Vergleich mit der möglichen<br />
Strafbarkeit der Pflegeeltern. 143 Hätten sie sich mit dem Kind<br />
– wie der 14. Familiensenat vermeintlich immer nur dessen<br />
Wohl schützend 144 – z.B. ins Ausland abgesetzt und Görgülüs<br />
Umgangsrecht vereitelt, hätten sie sich wegen Kindesentziehung<br />
strafbar gemacht. 145 Hier haben drei Richter das Kind<br />
141<br />
Vgl. die Beispiele bei Scheffler, NStZ 1996, 67, 68 zu<br />
Entscheidungen des BGH (BGHSt 2, 317; 6, 394 [396]; 7,<br />
315; 10, 94 [97] und 375; 21, 44 [48]; 25, 10 [11]; 29, 311<br />
[313]); s. auch BGH NStZ 1993, 134 zu BVerfG 2 BvR<br />
1041/88 u. 2 BvR 78/89 mit zust. Anm.. Meurer m.w.N. dort<br />
Fn. 4; Krey, JR 1995, 221; Wolf, NJW 1994, 681 (687).<br />
142<br />
Ein durchaus interessanter Gedanke ist es daher, sich ein<br />
Vorlageverfahren gem. Art. 100 GG vorzustellen oder eine<br />
Revision und anschließend eine Verfassungsbeschwerde der<br />
verurteilten Richter. Vgl. Lamprecht, myops 2009, 7; Sowada,<br />
GA 1998, 196.<br />
143<br />
Dass der Staat ihnen mit amtlichem Größenwahn – unter<br />
Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG, 8 EMRK – also rechtswidrig<br />
– ein Kind zur Adoption angeboten und nach neun Jahren<br />
wieder weggenommen hat, ist ebenfalls höchst unanständig.<br />
Vgl. Verbeet, Spiegel, 24.12.2005, S. 40.<br />
144<br />
Der EGMR hat sehr klar auch einen Konflikt zwischen<br />
den Erwachsenen gesehen: Urt. v. 26.2.2004, Beschwerde-<br />
Nr. 74969/01 = NJW 2004, 3397, § 45: „rights and interests<br />
of the applicant and the rights of Mr and Ms B. and Christopher.“<br />
145<br />
Auch hier zeigen sich historische Parallelen: Der BGH<br />
hob den Freispruch einer Gestapo-Agentin auf, die Dr. Max<br />
Josef Metzger an die Gestapo verraten hatte, BGH NJW<br />
1956, 1486, fast vollständig auch in BGHSt 9, 302 (307 f.),<br />
wo der Satz: „Die Verurteilung des Dr. Ms. und die Vollstreckung<br />
des Todesurteils gegen ihn war daher eine vorsätzliche<br />
rechtswidrige Tötung unter dem Deckmantel der Strafrechtspflege.“<br />
fehlt. Wer Menschen an die Nazijustiz verraten hatte,<br />
konnte wegen Teilnahme am Mord strafbar sein. Einer der<br />
Richter (Kammergerichtsrat Rehse) wurde erst 1967 angeklagt<br />
und vom Kammergericht DRiZ 1967, 390, wegen Beihilfe<br />
zum Mord verurteilt. Der BGH NJW 1968, 1339, hob<br />
zwar auf mit der Begründung, Rehse könne nur Täter sein,<br />
stellte aber so hohe Anforderungen an den Vorsatz, dass das<br />
Kammergericht ihn freisprach. Rehse starb, bevor der BGH<br />
über die erneute Revision entschieden hatte, krit. Rasehorn,
Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
entzogen 146 – es passt sogar der Begriff Schreibtischtäter –<br />
und bleiben gut geschützt hinter der Sperrwirkung des Tatbestandes<br />
der Rechtsbeugung. Dass von den Rechten des Vaters<br />
als Nebenkläger nichts übrig bleibt, lässt ihn erneut in einer<br />
ihm all zu bekannten Rechtlosigkeit zurück.<br />
4. Zusammenfassung – Erosion des Rechtsstaats<br />
Die Kollegen des 1. Senats des OLG Naumburg haben mit<br />
ihrer Entscheidung dem Rechtsstaat einen Bärendienst erwiesen.<br />
Um mit Lamprecht zu sprechen: Der Rechtsstaat hat in<br />
dieser Sache zum wiederholten Mal seine Unschuld verloren,<br />
147 diesmal im Bereich des Strafrechts, wo er diese Unschuld<br />
angesichts des Eingeständnisses der gescheiterten<br />
Aufarbeitung der Nazi-Justiz vielleicht gerade erst erlangt<br />
hatte.<br />
Der Schluss ist einfach zu ziehen: Hat dieser Spruch Bestand,<br />
so kann durch die Justiz selbst – also durch das Handeln<br />
im geheimen Inneren jener Gremien, 148 die Recht sprechen<br />
sollen – verbrecherisches Unrecht begangen werden,<br />
ohne dass es dafür (belangbare) Täter gibt. Die Hüter des<br />
Gesetzes können als Gruppe das Gesetz straflos brechen,<br />
wenn sie danach nur schweigen. Das ist absurd bis zur Irrationalität<br />
149 und kommt einem rechtsstaatlichen Offenbarungseid<br />
gleich, denn nirgendwo ist die Ungerechtigkeit größer<br />
und erschreckender, als dort, wo sie im Gewande der Gerechtigkeit<br />
daherkommt. 150<br />
Um aber nicht so fatalistisch zu enden wie Lamprecht in<br />
seinem ersten Kommentar 151 , gilt es bescheidener gegenüber<br />
dem Rechtsstaat 152 zu sein: Görgülü wurde nicht hingerichtet,<br />
wer diese Skandalverfahren kritisiert, endet in Deutschland<br />
nicht wie eine russische Journalistin oder ein russischer<br />
Rechtsanwalt, und die Weisheit des sterbenden Talbot 153 gilt<br />
wohl in jeder Staatsform und Rechtsordnung. Und vor allem<br />
steht Naumburg nicht für das gesamte deutsche Recht. Schon<br />
das Amtsgericht Wittenberg – dort eine Einzelrichterin – hat<br />
NJW 1969, 457 m.w.N.; ausführlich Klug (Fn. 59), S. 242 ff;<br />
Lamprecht, NJW 1994, 562.<br />
146<br />
BVerfG 28.12.04 (Fn. 36).<br />
147<br />
Lamprecht, myops 2009, 9; ebenso Verbeet, DRiZ 2007,<br />
343; Strecker, BJ 2008, 378; Knapp, Frankfurter Rundschau<br />
– online, 12.01.09.<br />
148<br />
Krit. zur Heimlichkeit Mandla, Die Unterbrechung der<br />
strafrechtlichen Hauptverhandlung, 2005, S. 140 ff.<br />
149<br />
Dieterich, BJ 2007, 159; Schneider, AnwBl. 2004, 333<br />
schildert einen ganzen Katalog von Abwehrmechanismen der<br />
Gerichte.<br />
150<br />
Saliger (Fn. 14), S. 139; Scholderer (Fn. 3), S. 96: „trojanisches<br />
Pferd“.<br />
151<br />
Lamprecht, NJW 2007, 2746: „[…] die Oberlandesrichter<br />
haben irreparablen Schaden angerichtet. Rechts-Ungehorsam<br />
von dieser Qualität entwickelt unweigerlich seine Eigendynamik.<br />
Wer am Rechtsstaat zweifelt, muss heute nur das<br />
Stichwort ‚Naumburg‛ fallen lassen – und schon erstirbt<br />
jedem, der ihn verteidigen will, das Wort im Munde.“<br />
152<br />
Den Schneider, Festschrift für Christian Richter II zum 65.<br />
Geburtstag, 2006, S. 465, 480 im Niedergang begriffen sieht.<br />
153<br />
Schiller, Jungfrau von Orleans, III., 6.<br />
sich nicht der Willkür des 14. Familiensenats gebeugt, sondern<br />
unabhängig und die EGMR-Entscheidung berücksichtigend<br />
das Menschenrecht des Herrn Görgülü und seines Sohnes<br />
geschützt (auch sie wurde nicht abgesetzt).<br />
In einer Hinsicht sind die Naumburger Familienrichter<br />
aber auch ohne strafgerichtliche Verurteilung schon schwer<br />
gestraft: Denkt man sich nämlich ihr Wirken – jenseits aller<br />
strafrechtlichen Erwägungen – hinweg, hätte es kein Unrecht<br />
gegeben. Der 14. Senat war hier schlicht so überflüssig wie<br />
ein DDR-Grenzer ab dem 9.11.1989, die Richter allesamt zu<br />
nichts nutze! Derart über Jahre hinweg seine gesellschaftliche<br />
und staatspolitische Rolle zu verfehlen, ist eine unendliche<br />
Blamage. 154 Wer ermessen will, wie sehr sich die drei Richter<br />
lächerlich gemacht haben, und damit auch ein Stück den<br />
Richterstand und das deutsche Kindschaftsrecht, der möge<br />
die vom BVerfG gescholtenen Umgangsausschluss-Beschlüsse<br />
lesen, laut und mit Betonung und sich dabei vor Augen halten,<br />
dass das „überforderte“ und durch Görgülü „hochgradig<br />
gefährdete“ Kind 155 jetzt bei seinem Vater lebt, wie es das<br />
Grundgesetz, Art. 6 Abs. 1, 2 GG, für jeden normalen Menschen<br />
klar und verständlich formuliert, vorsieht. 156<br />
154<br />
Die das Verhalten im Strafverfahren noch vergrößert:<br />
Hauptberuflich über anderer Leute Familienleben zu bestimmen,<br />
ihnen mit staatlicher Autorität zu sagen, was gut und<br />
recht ist und gelten müsse, letztlich im intimen Bereich<br />
Schicksale festzulegen, aber zu feige zu sein, öffentlich dazu<br />
zu stehen – das muss beschämen, egal was § 136 Abs. 1 S. 2<br />
StPO zulässt.<br />
155<br />
Beschl. v. 9.7.2004, S. 6, 13.<br />
156<br />
Schon etwas komplizierter ausgedrückt: BVerfG – 1 BvR<br />
2275/08, Beschl. v. 20.10.2008, Rn. 15-17, 24.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
159
Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von<br />
Verstößen<br />
Von Wiss. Mitarbeiterin Dr. Silke Hüls, Bielefeld<br />
I. Einleitung<br />
Der Richtervorbehalt wird immer wieder zum Diskussionsthema<br />
in Politik, Rechtsprechung und Literatur. Mehrere<br />
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts seit 2001<br />
rückten die Bedeutung des Richtervorbehalts im strafrechtlichen<br />
Ermittlungsverfahren wieder stärker in den Blickpunkt. 1<br />
Jüngst betonte der BGH in einer Entscheidung zur Verwertbarkeit<br />
von Ergebnissen einer Durchsuchung die Bedeutung<br />
des Richtervorbehalts als vorweggenommener Rechtsschutz<br />
des Beschuldigten und als Sicherung der Grundrechte im<br />
Ermittlungsverfahren. 2 Das BVerfG regte etliche in der Praxis<br />
zu ergreifende Maßnahmen an, die dem Richtervorbehalt<br />
auch zu größerer tatsächlicher Wirksamkeit verhelfen sollten.<br />
3 Gleichzeitig nutzt die Politik Richtervorbehalte als Mittel<br />
zur Gestaltung im Rahmen der Gesetzgebung. Die Erweiterung<br />
von Eingriffsbefugnissen der Ermittlungsbehörden<br />
wird in der Regel durch die Verknüpfung mit dem Richtervorbehalt<br />
abgesichert. Neue Eingriffsrechte für Polizei und<br />
BKA sollen unter den Vorbehalt der Genehmigung durch<br />
einen Richter gestellt werden; diskutiert wird z.B. für das<br />
BKA die Möglichkeit zu eröffnen, mittels sog. Trojaner Online-Durchsuchungen<br />
von Computern durchzuführen. 4<br />
Andererseits wird jedoch seit Jahren die praktische Wirkungslosigkeit<br />
des Richtervorbehalts beklagt. Welche Konsequenzen<br />
sind zu ziehen? Sollte man die praktische Ineffektivität<br />
zum Anlass nehmen, sich von dem bloßen „Palliativum“<br />
Richtervorbehalt konsequent zu verabschieden, Richtervorbehalte<br />
abzuschaffen und andere Formen der Kontrolle<br />
der Ermittlungstätigkeit zu etablieren oder sollte der Richtervorbehalt<br />
in der Praxis so gestärkt und durch spezielle Maßnahmen<br />
flankiert werden, die ihm zu tatsächlicher Durchsetzungskraft<br />
verhelfen könnten? Eine solche Maßnahme könnte<br />
die umfassende Annahme eines Beweisverwertungsverbotes<br />
bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt sein. Während<br />
zumindest die Literatur das Eingreifen des Verwertungsverbotes<br />
bei völligem Fehlen einer richterlichen Anordnung<br />
mehrheitlich befürwortet, steht nach herrschender Ansicht in<br />
Rechtsprechung und Literatur eine fehlerhafte richterliche<br />
Anordnung der Verwertung nicht entgegen. Sollte aber eine<br />
mangelhafte richterliche Anordnung nicht dieselben Konsequenzen<br />
nach sich ziehen wie eine fehlende?<br />
II. Die theoretische Bedeutung der Richtervorbehalte<br />
Richtervorbehalte sind das Mittel des Gesetzgebers, um in<br />
bestimmten, gesetzlich festgelegten Fällen eine vorbeugende<br />
Kontrolle der Ermittlungstätigkeit von Staatsanwaltschaft<br />
und Polizei zu gewährleisten und gelten als „Königsweg des<br />
1<br />
Grundlegend BVerfGE 103, 142; BVerfG NJW 2002, 1333.<br />
2<br />
BGHSt 51, 285 (292).<br />
3<br />
BVerfGE 103, 142 (152 f.).<br />
4<br />
Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der sog. Online-<br />
Durchsuchung s. BVerfG NJW 2008, 822.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
160<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
Grundrechtsschutzes im Strafverfahren“. 5 Der Betroffene ist<br />
in der Regel nicht – zumindest nicht rechtzeitig – in der Lage,<br />
Rechtsschutz gegen die Ermittlungsmaßnahmen zu beantragen,<br />
da er aufgrund der Heimlichkeit, die oftmals Voraussetzung<br />
für den Erfolg der Ermittlungen ist, häufig gar nicht<br />
rechtzeitig Kenntnis erlangt. Die effektive Durchführung der<br />
Zwangsmaßnahmen erfordert zumeist ein verdecktes Vorgehen<br />
der Strafverfolgungsbehörden, denn Sachverhaltsermittlung<br />
und Beweissicherung können nur sachgerecht durchgeführt<br />
werden, wenn der Betroffene zuvor nicht gewarnt wurde.<br />
Um zu verhindern, dass belastendes Beweismaterial beseitigt<br />
werden kann, müssen die Strafverfolgungsbehörden<br />
schnell und überraschend einschreiten. Entweder hindert<br />
deshalb das Überraschungsmoment den Betroffenen, eine<br />
richterliche Überprüfung rechtzeitig zu veranlassen, so z.B.<br />
bei der Durchsuchung. Oder dem Beschuldigten bleibt selbst<br />
die Durchführung der Maßnahme verborgen, wie z.B. bei der<br />
Telefonüberwachung. Da zudem in die Rechte der Betroffenen<br />
ohne ausreichende Aufklärung des Sachverhalts und<br />
unter Umständen aufgrund einseitiger Sachdarstellung der<br />
Ermittlungsbehörden eingegriffen werden muss, erhöht sich<br />
dadurch die Gefahr einer Rechtsverletzung. 6 Die von einer<br />
Zwangsmaßnahme Betroffenen haben nur die Möglichkeit,<br />
gegen die Fortdauer oder nach Abschluss der Maßnahme zur<br />
Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit eine richterliche Entscheidung<br />
zu beantragen oder Beschwerde einzulegen, sofern sie<br />
überhaupt Kenntnis von der gegen sie gerichteten Maßnahme<br />
erlangen. Den Eingriff als solchen können sie keinesfalls<br />
mehr verhindern. Dem nachträglich angerufenen Richter<br />
verbleibt nur, die Illegalität der Maßnahme festzustellen. 7<br />
Dieses Rechtsschutzdefizit, das der Effektivität der Ermittlungen<br />
Rechnung trägt, soll durch die Einschaltung eines<br />
Richters vor Anordnung und Durchführung einer Zwangsmaßnahme<br />
ausgeglichen werden. 8<br />
Ein wesentlicher Grund, die Aufgabe der Kontrolle der<br />
Strafverfolgungsorgane dem Richter zu übertragen, liegt in<br />
der richterlichen Unabhängigkeit. Staatsanwaltschaft und<br />
Polizei sind zwar ebenso wie der Richter an das Gesetz gebunden<br />
(Art. 20 Abs. 3 GG), der Richter entscheidet jedoch<br />
frei von äußeren Weisungsmöglichkeiten als neutrale Instanz<br />
5<br />
Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 409; grundsätzlich<br />
zum Richtervorbehalt: Rabe von Kühlewein, Der<br />
Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozessrecht, 2001;<br />
Brüning, Der Richtervorbehalt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren,<br />
2005.<br />
6<br />
Eppinger, Die gerichtliche Überprüfbarkeit strafprozessualer<br />
Zwangsmaßnahmen, S. 9.<br />
7<br />
Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe,<br />
S. 13, 32; Hilger, in: Geppert (Hrsg.), Gedächtnisschrift<br />
für Karlheinz Meyer, S. 209, 221.<br />
8<br />
Ausführlich zur Entwicklung des Richtervorbehalts Hüls,<br />
Polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungstätigkeit,<br />
S. 282 ff.
Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
über einen von außen an ihn herangetragenen Sachverhalt,<br />
d.h. der Richter darf grundsätzlich nicht aus eigener Initiative<br />
tätig werden. Dieses Initiativverbot soll die Unparteilichkeit<br />
und Neutralität des Richters sicherstellen. 9 Insbesondere im<br />
strafprozessualen Ermittlungsverfahren ist anzunehmen, dass<br />
die Polizei und Staatsanwaltschaft – trotz ihrer strikten Bindung<br />
an das Gesetz – aufgrund des psychologischen Drucks,<br />
einen Täter präsentieren zu müssen, dazu verleitet werden,<br />
eher belastendes als entlastendes Material zu suchen. 10 Schon<br />
aufgrund ihres Antrags, eine Maßnahme gegen einen Verdächtigen<br />
durchzuführen, wird der Anschein der Parteilichkeit<br />
erweckt. Von den ermittlungsführenden Organen kann<br />
daher keine strikte Neutralität erwartet werden. 11 Auch praktisch<br />
erscheint es schwer vorstellbar, als Polizeibeamter oder<br />
Staatsanwalt den selbst erarbeiteten eigenen Tatverdacht auch<br />
selbst wieder in Frage zu stellen. Im Gegensatz dazu ist der<br />
Ermittlungsrichter nicht unmittelbar an der Aufklärung des<br />
Falles interessiert und kann daher neutral über einen Antrag<br />
entscheiden. Eine vorbeugende Kontrolle, um der „Gefahr<br />
eines selbstherrlichen Machtmissbrauchs der Ermittlungsbehörden“<br />
12 zu begegnen, ist mithin am besten durch den unabhängigen<br />
Richter gewährleistet.<br />
Auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellt<br />
der Richtervorbehalt eine Form vorweggenommenen Rechtsschutzes<br />
dar: „Der Richtervorbehalt zielt auf Kontrolle durch<br />
eine unabhängige und neutrale Instanz, der das Grundgesetz<br />
aufgrund ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit<br />
und strikter Unterwerfung unter das Gesetz zuschreibt, die<br />
Rechte des Betroffenen am besten wahren zu können.“ 13<br />
Deutlich betonte das Gericht diese Bedeutung des Richtervorbehalts<br />
auch im Urteil vom 8.4.2004 und führte ergänzend<br />
aus: „Das Grundgesetz geht davon aus, dass Richter aufgrund<br />
ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit und ihrer<br />
strikten Unterwerfung unter das Gesetz die Rechte der Betroffenen<br />
im Einzelfall am besten und sichersten wahren<br />
können. Wird die Durchsuchung regelmäßig ohne vorherige<br />
Anhörung des Betroffenen angeordnet, so soll die Einschaltung<br />
des Richters auch dafür sorgen, dass die Interessen des<br />
Betroffenen angemessen berücksichtigt werden (vgl. BVerfGE<br />
103, 142 [151]). Dies setzt eine eigenverantwortliche richterliche<br />
Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen voraus. Die richterliche<br />
Durchsuchungsanordnung ist keine bloße Formsache<br />
(vgl. BVerfGE 57, 346 [355]).“ 14<br />
Nicht zu verkennen ist aber auch, wie der Gesetzgeber das<br />
Instrument „Richtervorbehalt“ im Rahmen der Gesetzgebung<br />
einsetzt. Hier gewinnt der Richtervorbehalt noch eine spezielle<br />
weitere Bedeutung. Der effektivste Schutz des Betroffenen<br />
läge nämlich gewiss darin, den geplanten staatlichen Eingriff<br />
in seine Rechte zu unterlassen. Deshalb erhöht der Richter-<br />
9<br />
Volk, Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2008, § 6 Rn. 7.<br />
10<br />
Prechtel, Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft zum Ermittlungsrichter,<br />
S. 131.<br />
11<br />
BVerfGE 103, 142 (154).<br />
12<br />
Amelung, zitiert bei Asbrock, KritV 1997, 255 (256).<br />
13<br />
BVerfG NJW 2002, 1333; BVerfGE 103, 142 (151) (zum<br />
Richtervorbehalt bei der Durchsuchung).<br />
14<br />
BVerfG StV 2005, 643 (643 f.).<br />
vorbehalt nicht nur die Effektivität des Schutzes der Bürgerrechte,<br />
sondern zugleich die Effektivität des staatlichen Eingriffsinstrumentariums:<br />
Maßnahmen, die andernfalls möglicherweise<br />
unzulässig wären, können mit der „Sicherung“<br />
durch einen Richtervorbehalt dennoch vorgenommen werden.<br />
15<br />
III. Richtervorbehalte in der Praxis<br />
Im krassen Widerspruch zu dieser dem Richtervorbehalt auch<br />
von der Rechtsprechung zugewiesenen Bedeutung steht seine<br />
praktische Wirkungslosigkeit, die bereits seit Jahrzehnten<br />
beklagt wird. Eine wesentliche, seit Jahren in der Literatur<br />
gerügte Schwachstelle ist die extensive Nutzung der sog.<br />
Eilkompetenzen durch Staatsanwaltschaft und Polizei; insbesondere<br />
bei der Anordnung von Durchsuchungen. Eine effektive<br />
Strafverfolgung erfordert in bestimmten Fällen schnelle<br />
Entscheidungen, bei denen der Staatsanwaltschaft nicht ausreichend<br />
Zeit bleibt, die Eingriffserlaubnis eines Ermittlungsrichters<br />
einzuholen. Diesem Problem wird dadurch Rechnung<br />
getragen, dass Staatsanwaltschaft und zum Teil die Polizei<br />
auch bei dem Richter vorbehaltenen Zwangsmaßnahmen<br />
ermächtigt sind, bei Gefahr im Verzug ohne richterliche<br />
Anordnung einzugreifen. Die Voraussetzungen dieser Ausnahmekompetenz<br />
sind dann erfüllt, wenn die durch eine<br />
vorherige Richtereinschaltung bedingte Verzögerung den<br />
Zweck der Eingriffsmaßnahme vereiteln könnte. 16 Systembedingt<br />
entscheiden dabei die Strafverfolgungsbehörden selbst<br />
über ihre eigene Zuständigkeit und mithin über die Durchbrechung<br />
der primären Anordnungskompetenz des Richters.<br />
Anders gesagt: Das zu kontrollierende Organ entscheidet<br />
über das Eingreifen der Kontrollinstanz. 17 Konsequenz einer<br />
Inanspruchnahme der Eilkompetenz durch die Strafverfolgungsorgane<br />
ist, dass die Prüfung durch einen unabhängigen<br />
Richter vor Anordnung der Maßnahme und damit die Kontrolle<br />
der Staatsanwaltschaft und Polizei entfällt. 18 Eine erste<br />
rechtstatsächliche Untersuchung kam in den 1970er Jahren zu<br />
dem Ergebnis, dass Durchsuchungen zum überwiegenden<br />
Teil durch Staatsanwaltschaft und Polizei aufgrund ihrer<br />
Eilkompetenz angeordnet wurden und so das gesetzlich vorgesehene<br />
Regel-Ausnahme-Verhältnis in der Praxis ins Gegenteil<br />
verkehrt wird. Weitere Untersuchungen bestätigten<br />
dieses Resultat ebenso wie Berichte aus der Praxis. Die Einräumung<br />
einer Eilkompetenz für Staatsanwaltschaft und<br />
Polizei erweist sich daher als Achillesferse des Grundrechtsschutzes.<br />
Unter Betonung der Bedeutung des Richtervorbehalts<br />
mahnte das BVerfG im Jahre 2001 an, die Einhaltung des<br />
gesetzlich vorgesehenen Regelfalles der richterlichen Anordnung<br />
auch in der Praxis zu gewährleisten. Mit seiner grund-<br />
15 Gusy, JZ 1998, 167 (169).<br />
16 Vgl. BVerfGE 51, 97 (111); BVerwGE 28, 285 (291);<br />
Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland,<br />
Kommentar, 10. Aufl. 2009, Art. 13 Rn. 9; Herzog, in:<br />
Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 53. Aufl. 2009,<br />
Art 13 Rn. 14.<br />
17 Hüls (Fn. 8), S. 267.<br />
18 Hüls (Fn. 8), S. 267.<br />
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Silke Hüls<br />
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legenden Entscheidung 2001 wandte sich das BVerfG gegen<br />
die Ausschaltung des Richters als Kontrollinstanz im Ermittlungsverfahren.<br />
19 Es mahnt eine Umkehr der bereits seit den<br />
1970er Jahren in der Literatur beklagten Tendenz an, durch<br />
extensiven Gebrauch der Ausnahmekompetenzen den Richtervorbehalt<br />
zu untergraben. Die Überprüfung, ob die Voraussetzungen<br />
für eine Durchsuchung gegeben sind, beschränkt<br />
sich bei Annahme von Gefahr im Verzug auf die<br />
Kontrolle durch die Polizei, eventuell auch durch die Staatsanwaltschaft.<br />
Polizei und Staatsanwaltschaft genießen aber<br />
keine richterliche Unabhängigkeit, und von ihnen kann – im<br />
Hinblick auf ihre Aufgabe, beim Verdacht von Straftaten den<br />
Sachverhalt zu erforschen – auch nicht, wie bereits erläutert,<br />
strikte Neutralität erwartet werden. 20 Wortlaut und Systematik<br />
des Art. 13 Abs. 2 GG, der Prüfungsmaßstab der Entscheidung<br />
des Bundesverfassungsgerichts war, belegen, so<br />
das Gericht, dass die richterliche Durchsuchungsanordnung<br />
die Regel und die nichtrichterliche die Ausnahme sein soll. 21<br />
Damit auch in der Masse der Alltagsfälle sichergestellt<br />
ist, dass die „Verteilung der Gewichte“ 22 , nämlich die Regelzuständigkeit<br />
des Richters, gewahrt bleibt, sind nach Ansicht<br />
des Bundesverfassungsgerichts besondere tatsächliche Vorkehrungen<br />
notwendig. Kernpunkt der Entscheidung ist, dass<br />
das Bundesverfassungsgericht 2001 einen Schlussstrich unter<br />
die über 100jährige herrschende Annahme der Rechtsprechung<br />
zog, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme der<br />
Eilkompetenz, die Gefahr im Verzug, sei nachträglich nicht<br />
zu überprüfen, da den anordnenden Strafverfolgungsbehörden<br />
ein Beurteilungsspielraum zustünde. 23 Ein unüberprüfbarer<br />
Beurteilungsspielraum 24 widerspricht nach Ansicht des<br />
Bundesverfassungsgerichts dem Sinn des Richtervorbehalts<br />
als präventives Rechtsschutz- und Kontrollinstrument. Ist<br />
trotz organisatorischer Vorkehrungen die Einschaltung des<br />
Richters vor der Durchsuchungsanordnung nicht möglich, so<br />
obliegt es dem eingreifenden Organ, durch ausreichende<br />
Dokumentation in den Akten eine nachträgliche Überprüfbarkeit<br />
sicherzustellen. 25 Diese Entscheidung hat die Praxis<br />
der Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte hinsichtlich Organisation<br />
und Durchführung von Bereitschaftsdiensten tiefgreifend<br />
verändert.<br />
In der Folge wurden Eildienste an Gerichten verstärkt<br />
eingerichtet und insgesamt die organisatorische Situation<br />
verbessert. Allerdings entstand in der Folgezeit ein neues<br />
Problem: das Problem des „unwilligen Richters“. Z.T. erklärten<br />
Richter vor Beginn gegenüber dem diensthabenden<br />
Staatsanwalt, er solle im Falle einer Ermittlungsmaßnahme<br />
seine Eilkompetenz nutzen und ihn nicht vorher kontaktieren,<br />
19 BVerfGE 103, 142.<br />
20 BVerfGE 103, 142 (154).<br />
21 BVerfGE 103, 142 (151).<br />
22 BVerfGE 95, 1 (15).<br />
23 So grundlegend RGSt 33, 334.<br />
24 Vgl. auch BVerfG NStZ 2003, 319.<br />
25 So auch BGH NStZ 2003, 273.<br />
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162<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
da er sich außer Stande sähe, ohne Akten und ohne Sekretärin<br />
einen ordnungsgemäßen Beschluss zu erlassen. 26<br />
Aber auch in den Fällen, in denen Richter vor Anordnung<br />
und Durchführung der Ermittlungsmaßnahmen eingeschaltet<br />
wurden, erwies sich der theoretisch vorgesehene Grundrechtsschutz<br />
als defizitär. 27<br />
IV. Das Beweisverwertungsverbot als Konsequenz fehlender<br />
richterlicher Beteiligung vor der Durchsuchung<br />
Offen blieb auch nach der wegweisenden Entscheidung des<br />
BVerfG aus dem Jahre 2001, welche Konsequenzen ein Verstoß<br />
gegen die Vorgaben des Richtervorbehalts haben sollte.<br />
In der Literatur haben sich zu der allgemeinen Frage, ob<br />
prozessuale Fehler bei der Beweisgewinnung und -erhebung<br />
zu einem Verwertungsverbot für die aufgefundenen Beweismittel<br />
führen, verschiedene Lehren entwickelt. Die Vertreter<br />
der sog. Schutzzwecklehren entscheiden nach der ratio legis<br />
der verletzten Norm; bei einer Verletzung von Vorschriften<br />
gerade zum Schutz des Beschuldigten bestehe ein Verwertungsverbot.<br />
28 Nach Ansicht der Vertreter der modernen<br />
Abwägungslehren, insbesondere in der Ausprägung der<br />
„normativen Fehlerfolgenlehre“ 29 , müssen für verschiedene<br />
Fallgruppen Abwägungskriterien entwickelt werden. 30 Dabei<br />
soll nach der normativen Fehlerfolgenlehre das Eingreifen<br />
eines Verwertungsverbotes im Wesentlichen von der Folgenschwere,<br />
von der durch den Fehler verursachten Interessenverletzung<br />
und der Notwendigkeit einer prozessualen Fehlerkorrektur<br />
in Gestalt gerade eines Verwertungsverbotes abhängen.<br />
31<br />
Die Rechtsprechung geht prinzipiell davon aus, dass dem<br />
Strafverfahrensrecht ein allgemein geltender Grundsatz, dass<br />
jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales<br />
Verwertungsverbot nach sich zieht, fremd ist.<br />
Vielmehr sei die Frage jeweils nach den Umständen des<br />
Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem<br />
Gewicht des Verstoßes, unter Abwägung der widerstreiten-<br />
26<br />
Zum Streit ausführlich Beichel/Kieninger, NStZ 2003, 10;<br />
Krehl, NStZ 2003, 461; Hofmann, NStZ 2003, 230.<br />
27<br />
Zwei rechtstatsächliche Untersuchungen der letzten Jahre<br />
zeigten erhebliche Mängel der richterlichen Beschlüsse, die<br />
auf eine unzureichende richterliche Kontrolle schließen lassen:<br />
Backes/Gusy, Wer kontrolliert die Telefonüberwachung?,<br />
2003; Albrecht/Dorsch/Krüpe, Rechtswirklichkeit<br />
und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation,<br />
2003. Ausführlicher hierzu unter V.2.<br />
28<br />
Vgl. die Übersicht bei Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen<br />
Juristentag, C 54 ff; Beulke, ZStW 103 (1991), 657<br />
(663 f.).<br />
29<br />
Rogall, JZ 1996, 944; sowie klarstellend zu Jahn, Gutachten<br />
C für den 67. Deutschen Juristentag; Rogall, JZ 2008, 818<br />
(820 f., 824).<br />
30<br />
Vgl. die Übersicht bei Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen<br />
Juristentag, C 58 ff.<br />
31<br />
Rogall, JZ 2008, 818 (824).
Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
den Interessen zu entscheiden. 32 Dieser von Jahn als „Vielfaktorenmodell“<br />
33 bezeichneter Ansatz, der sich mittlerweile<br />
unabhängig von den in Literatur vertretenen Abwägungslehren<br />
entwickelt, 34 birgt die Gefahr, dass einzelne Abwägungsgesichtspunkte<br />
„in zum Teil willkürlich anmutender Weise“<br />
ein- und ausgeblendet werden können. 35 Nach Amelung bietet<br />
dieses Modell „eine Lizenz für den Richter, in freiem Umgang<br />
mit dem Gesetz nach seinen […] Überzeugungen zu<br />
entscheiden, wessen Nutzen und wie viel davon maßgeblich<br />
sein soll“. 36<br />
Als Reaktion auf dieses von ihm kritisierte Vorgehen der<br />
Rechtsprechung schlägt Jahn in seinem Gutachten für den 67.<br />
Deutschen Juristentag vor, die allgemein für Fragen der Beweisverwertung<br />
von der Rechtsprechung genutzte Abwägung<br />
der Interessen zu systematisieren und von der Grundannahme<br />
auszugehen, dass nicht die Unverwertbarkeit eines Beweismittels<br />
begründungsbedürftig sei. 37 Seiner Ansicht nach<br />
zwinge vielmehr der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts dazu,<br />
für die Beweisverwertung eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage<br />
vorzuweisen. Nur wenn eine solche existiere und<br />
die Verwertung im konkreten Fall von der Norm gedeckt sei,<br />
sei eine Verwertung zulässig. Als Ermächtigungsgrundlage<br />
sieht Jahn § 244 Abs. 2 StPO; die Frage der Verwertbarkeit<br />
soll auf der Rechtsfolgenseite des § 244 Abs. 2 StPO im<br />
Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gelöst werden. 38<br />
Verdient sein Ansatz, nicht die Unverwertbarkeit, sondern<br />
die Verwertbarkeit eines Beweismittels bedürfe der Rechtfertigung,<br />
auch grundsätzlich Zustimmung, 39 so bleibt die Abwägung<br />
der Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
bestehen; er verlagert letztendlich die Probleme der<br />
Abwägung nur auf die Rechtsfolgenseite. Allein die stärkere<br />
Systematisierung vermag aber das Grundproblem des Abwägungserfordernisses<br />
nicht zu lösen. 40 Denn jegliche Interessenabwägung<br />
als Voraussetzung des Verwertungsverbots<br />
führt nämlich dazu, die Entscheidung des Gesetzgebers, der<br />
als Ergebnis einer abstrakten Abwägung der gegenläufigen<br />
Interessen die gesetzlichen Voraussetzungen der Eingriffsrechte<br />
festgelegt hat, zu einem „bloßen Verhaltensvorschlag“<br />
zurückzustufen. 41<br />
Hinsichtlich der Folgen von Verstößen gegen den Richtervorbehalt<br />
bei der Durchsuchung stellte die ursprünglich<br />
herrschende Ansicht der Rechtsprechung allein die materiellen<br />
Voraussetzungen der Durchsuchung in den Vordergrund<br />
32<br />
BVerfG NJW 2006, 2684 (2686); BVerfG NStZ 2006, 46<br />
(47); BGHSt 51, 285; BGHSt 243, 249; OLG Hamburg NJW<br />
2008, 2597 (2599).<br />
33<br />
Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, C 45.<br />
34<br />
Trüg/Habetha, NStZ 2008, 481 (486).<br />
35<br />
Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, C 14.<br />
36<br />
Amelung, in: Schulz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Günter<br />
Bemmann zum 70. Geburtstag, 1997, S. 522.<br />
37<br />
Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, C 66.<br />
38<br />
Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, C 71.<br />
39<br />
So auch König/Harrendorf, AnwBl. 2008, 566 (568).<br />
40<br />
König/Harrendorf, AnwBl. 2008, 566 (568).<br />
41<br />
Wohlers, StV 2008, 434 (435); Fezer, Grundfragen der<br />
Beweisverwertungsverbote, S. 21, 30 f.<br />
und fragte danach, ob der Richter bei rechtzeitiger Einschaltung<br />
die Durchsuchung angeordnet hätte – in diesem Fall<br />
käme ein Verwertungsverbot für die im Rahmen der Durchsuchung<br />
erlangten Beweise nicht in Betracht, da lediglich ein<br />
unbeachtlicher Formfehler vorläge. 42 Die fehlende richterliche<br />
Anordnung führe jedenfalls dann nicht zu einem Beweisverwertungsverbot,<br />
„wenn dem Erlass der Durchsuchungsanordnung<br />
rechtliche Hindernisse nicht entgegengestanden<br />
hätten und die tatsächlich sichergestellten Gegenstände als<br />
solche der Verwertung als Beweismittel zugänglich waren“. 43<br />
Dieses Abstellen auf den hypothetischen Ermittlungsverlauf<br />
führt jedoch in jedem Fall dazu, dass der Richtervorbehalt<br />
generell zu einer – unerheblichen – Formalie herabsinkt und<br />
seine Nichtbeachtung nicht sanktionierbar ist. Ausnahmen<br />
wollte die Rechtsprechung nur dann anerkennen, wenn der<br />
Richter vor Anordnung der Durchsuchung bewusst und gezielt<br />
umgangen wurde; so stellte der BGH 2003 fest, dass ein<br />
Verwertungsverbot jedenfalls dann nicht in Betracht komme,<br />
wenn nicht willkürlich gehandelt worden sei. 44<br />
In der Literatur sind sowohl die Notwendigkeit eines Beweisverwertungsverbots<br />
bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt<br />
als auch Umfang und theoretische Grundlage eines<br />
solchen Verbots umstritten. Traditionell Ablehnung erfährt<br />
die Ansicht, die das Beweisverwertungsverbot aus Gründen<br />
der Disziplinierung fordert (sog. Disziplinierungstheorie).<br />
Diese Theorie sieht in einem Verwertungsverbot ein angemessenes<br />
Mittel, einen Angehörigen des Strafverfolgungsapparats<br />
zu bestrafen, wenn er bei den Ermittlungen schuldhaft<br />
eine Verfahrensnorm verletzt. 45 Nach vorherrschender Ansicht<br />
widerspricht diese Theorie deutscher Rechtstradition.<br />
Kritik ruft besonders hervor, dass Fehler der Strafverfolgungsbehörden<br />
im Ermittlungsverfahren hinsichtlich des<br />
konkreten Einzelfalles zu Lasten der Allgemeinheit gingen,<br />
wenn aufgrund eines Verwertungsverbots ein Schuldiger<br />
freizusprechen wäre. Profitieren von diesem Verwertungsverbot<br />
würden also letztendlich nur Schuldige – ein Wertungswiderspruch.<br />
46<br />
Nach Ansicht von Amelung/Mittag ist die „Alles-odernichts“-Lösung<br />
eines Beweisverwertungsverbots der Situation<br />
bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt nicht angemessen.<br />
Sinnvoller wäre es ihrer Ansicht nach, das Risiko der<br />
Verwertung nach Beweislastregeln zu verteilen. 47 Ausgehend<br />
42<br />
Vgl. BGH NJW 1989, 1741 (1744). Dies galt zumindest für<br />
diejenigen Ermittlungsmaßen, die eine Eilzuständigkeit der<br />
Polizei vorsahen; nicht z.B. für §§ 100a, 100b Abs. 1 StPO.<br />
43<br />
BGH NStZ 1989, 375 (376).<br />
44<br />
BGHR StPO § 105 Abs. 1 Durchsuchung 4.<br />
45<br />
Dazu Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozess, S. 52 ff;<br />
Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß,<br />
S. 17 ff; zum amerikanischen Recht Herrmann, in: Vogler<br />
u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70.<br />
Geburtstag, Bd. 2, 1985, S. 1291 (1297 ff.); Schmid, Strafverfahren<br />
und Strafrecht in den Vereinigten Staaten, S. 119.<br />
46<br />
Zur Kritik an der Disziplinierungstheorie Dencker (Fn. 45),<br />
S. 52 ff.<br />
47<br />
Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 (616 f.). Diese Konzeption<br />
sollte die Lücke im Schutzbereich, die bei Missachtung<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
163
Silke Hüls<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
von der Prämisse, dass die Strafverfolgungsbehörden vor<br />
Durchführung der Durchsuchung einem Ermittlungsrichter<br />
alle Fakten vortragen müssen, die die Ermächtigungstatbestände<br />
der §§ 102, 103 StPO verlangen und sie somit die<br />
Beweislast für das Vorliegen dieser Tatsachen tragen, könne<br />
die Tatsache, dass sie ohne vorherige richterliche Genehmigung<br />
die Wohnung eines Bürgers durchsuchten, sie nicht von<br />
der Pflicht entbinden, das Vorliegen der materiellen Durchsuchungsvoraussetzungen<br />
zu beweisen. Wendet sich also ein<br />
Angeklagter in der Hauptverhandlung gegen die Verwertung<br />
der ohne richterliche Genehmigung gewonnenen Beweismittel,<br />
müsse nun die Staatsanwaltschaft beweisen, dass die<br />
Durchsuchung den materiellen Anforderungen entsprach. 48<br />
Mehrheitlich wird jedoch in der Literatur das Fehlen einer<br />
erforderlichen richterlichen Anordnung als schwerwiegender<br />
Verstoß eingestuft, der ein striktes Verwertungsverbot nach<br />
sich ziehen muss. 49<br />
Einen überzeugenden Begründungsansatz für die Konsequenz<br />
des Verwertungsverbots bei rechtswidriger Nichteinschaltung<br />
des Richters vor der Durchsuchung wählte nun der<br />
BGH im April 2007. Die Verwertung von Beweismitteln, die<br />
durch eine ohne richterliche Anordnung rechtswidrig durchgeführte<br />
Durchsuchung gewonnen worden waren, ist deshalb<br />
untersagt, weil der Staat aus rechtswidrigem Handeln seiner<br />
Organe keine Vorteile ziehen darf. 50 Ein auf den Schutz des<br />
Rechts verpflichtetes Gemeinwesen widerspricht sich selbst,<br />
wenn seine Repräsentanten auf einen Rechtsbruch mit einem<br />
Rechtsbruch reagieren und es sich ein derartiges Vorgehen<br />
seiner Amtswalter nutzbar macht. 51 Zwar beschränkt der<br />
BGH dieses Verwertungsverbot explizit auf „Sonderfälle<br />
schwerwiegender Rechtsverletzungen“ 52 , diese Einschränkung<br />
kann aber keine Bedeutung gewinnen. 53 Entscheidend<br />
ist ausschließlich, dass die Rechtsgrundlagen der Beweiserhebung<br />
nicht eingehalten wurden, die Beweisgewinnung also<br />
ein rechtswidriges Verhalten der Ermittlungsorgane darstellt<br />
– ob der Verstoß gegen die Rechtsgrundlage schwerwiegend<br />
ist oder nicht, hat keinen Einfluss auf die Rechtswidrigkeit<br />
als solche.<br />
Folge dieser Begründung ist dann aber auch, dass ein<br />
Beweisverwertungsverbot nicht auf Fälle der willkürlichen<br />
Umgehung bzw. sonstiger besonders schwerer Verstöße<br />
gegen die Einschaltung des Richters beschränkt sein kann,<br />
des Richtervorbehalts bei der von Amelung begründeten<br />
Lehre von den Informationsrechten (Fn. 45) bestand, schließen;<br />
Amelung, JR 2008, 327.<br />
48 Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614 (616).<br />
49 Wohlers, StV 2008, 434 (436); Fezer, StV 1989, 290 (295);<br />
Jahn/Dallmeyer, NStZ 2005, 297 (303); Ransiek, StV 2002,<br />
565 (567 ff.); Krehl, JR 2001, 491 (494); Asbrock, StV 2001,<br />
322 (324); Krekeler, NStZ 1993, 263 (264); Nelles, Kompetenzen<br />
und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung,<br />
1980, S. 260.<br />
50 BGHSt 51, 285 (291).<br />
51 So schon Amelung (Fn. 45), S. 20 ff. Vgl. auch Roxin,<br />
Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 24 Rn. 46.<br />
52 BGHSt 51, 285 (291).<br />
53 So zutreffend Ransiek, JR 2007, 436 (437 f.).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
164<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
sondern jeden Verstoß gegen diese formale Voraussetzung<br />
erfassen muss. Denn für jeden Verstoß gegen die Anforderungen<br />
des Richtervorbehalts gilt, dass sich die staatliche<br />
Strafverfolgung andernfalls auf rechtswidriges Handeln ihrer<br />
Amtswalter stützte. 54 Diese Konsequenz ziehen dem Urteil<br />
folgende gerichtliche Entscheidungen jedoch nicht. Obwohl,<br />
wie Prittwitz hervorhebt, besonders bemerkenswert an dieser<br />
Entscheidung des BGH ist, dass der BGH ein gängiger Praxis<br />
durchaus entsprechendes Verhalten der Strafverfolger als<br />
„bewusste Missachtung des Richtervorbehalts“ subsumiert 55<br />
und damit die Grenzen des Beweisverwertungsverbots weit<br />
steckt, zeigen die in der Folge ergangenen Entscheidungen<br />
die Tendenz, deutlich zwischen Rechtswidrigkeit der Beweisgewinnung<br />
und der Frage der Verwertbarkeit dieser<br />
Beweise zu differenzieren und für die Entscheidung über die<br />
Verwertbarkeit am Kriterium der Abwägung bei nicht offensichtlich<br />
grober Missachtung des Richtervorbehalts festzuhalten.<br />
56<br />
Dem Gedanken, aus rechtswidrigen Handlungen – soweit<br />
sie die Rechte der Informationsbeherrschung im Rahmen der<br />
Beweiserhebung betreffen 57 – dürften im Strafverfahren keine<br />
nachteiligen Konsequenzen für den Angeklagten folgen,<br />
wird dann aber auch die von Amelung/Mittag favorisierte<br />
Lösung über eine Beweislastverteilung 58 nicht gerecht. Steht<br />
fest, dass der Richter hätte eingeschaltet werden müssen,<br />
kann es gar nicht mehr auf die materiellen Voraussetzungen –<br />
und damit auch nicht auf ihre Beweisbarkeit ankommen – da<br />
ansonsten die Ausschaltung des Richters wiederum durch<br />
Vorliegen der materiellen Voraussetzungen „geheilt“ und so<br />
zu einer bloßen Formalie degradiert würde.<br />
Die vom BGH (in BGHSt 51, 285) gewählte Begründung<br />
steht auch mit der von Gesetzgeber und Rechtsprechung dem<br />
Richtervorbehalt zugemessenen Bedeutung in Einklang.<br />
Betont man die herausragende Rolle des Richtervorbehalts<br />
als vorbeugenden Rechtsschutz zur Grundrechtssicherung im<br />
Ermittlungsverfahren, so ist es nur konsequent, Verstöße<br />
durch den Verlust des Beweismittels zu sanktionieren. Dabei<br />
zielt die Sanktionierung nicht auf eine Bestrafung oder Disziplinierung<br />
der ermittelnden Beamten – dafür könnten disziplinarrechtliche,<br />
aber auch strafrechtliche oder zivilrechtliche<br />
Sanktionen eher geeignet sein 59 – sondern auf die Sicherung<br />
des in GG und StPO verankerten Aufgaben- und Kontrollsystems,<br />
auf dessen Interessenabwägung die Legitimation<br />
des Strafverfahrens gründet. 60<br />
54<br />
Ausführlich Ransiek, JR 2007, 436 (437 f.).<br />
55<br />
Prittwitz, StV 2008, 486 (491).<br />
56<br />
BGH StV 2008, 121 (123); OLG Hamburg, StraFo 2008,<br />
158 (161). Überblick zur Rechtsprechung bei Nichtbeachtung<br />
des Richtervorbehalts bei Wohlers, StV 2008, 434 (436 ff.).<br />
57<br />
Dies gilt daher z.B. nicht für § 81a StPO bei Eingriffsvornahme<br />
durch einen Nichtarzt.<br />
58<br />
Amelung/Mittag, NStZ 2005, 614.<br />
59<br />
Vgl. Ransiek, StV 2002, 565 (567 f.).<br />
60<br />
Ausführlich zum Legitimationszusammenhang von Strafrechtstheorie<br />
und Strafverfahren Müssig, GA 1999, 119,<br />
insbes. 121 ff.
Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Die in GG und StPO aufgestellten formellen und materiellen<br />
Anforderungen an die Beweiserhebung im Strafverfahren<br />
grenzen den Untersuchungsgrundsatz ein und sichern<br />
die verfahrensrechtliche Stellung der Prozessbeteiligten,<br />
indem sie ihnen Informationsverfügungsrechte gewähren. 61<br />
Werden Beweismittel unter Verstoß gegen diese Anforderungen<br />
gewonnen, verletzt dies das Informationsverfügungsrecht<br />
des Betroffenen. Ausschlaggebend für die Annahme eines<br />
Beweisverwertungsverbots ist die auf das Verfahren bezogene<br />
Kontrollfunktion des Richtervorbehalts. Der Richtervorbehalt<br />
dient dem Schutz des Beschuldigten in seinem verfahrensrechtlichen<br />
Status, denn „Aufgabe gerade der strafprozessualen<br />
Richtervorbehalte ist es, der generellen Gefahr<br />
vorzubeugen, dass – insbesondere bei ‚Überraschungsangriffen’<br />
– Grundrechtspositionen durch verspäteten Schutz entwertet<br />
werden. Der Richter wird hier – im Rahmen seiner<br />
Anordnungskompetenz – zum Garanten der verfahrensrechtlichen<br />
Stellung des Betroffenen: es geht um präventiven<br />
Rechtsschutz – der auch durch nachträgliche Verlaufshypothesen<br />
nicht ersetzt werden kann.“ 62 Aufgrund dieser besonderen<br />
Funktion des Richtervorbehalts lässt auch ein Verstoß<br />
gegen diese Formvorschrift eine rechtswidrige Lage entstehen,<br />
die das Recht des Beschuldigten auf Beseitigung der<br />
Folgen begründet.<br />
V. Erweiterung des Beweisverwertungsverbots auf sonstige<br />
Verstöße gegen die gesetzlichen Voraussetzungen des<br />
Richtervorbehalts – fehlende richterliche Prüfung und<br />
fehlerhafte Beschlüsse<br />
Die Umgehung des Richters durch Staatsanwaltschaft und<br />
Polizei vor der Durchführung der Durchsuchung stellt, wie<br />
bereits unter III. angedeutet, nicht die einzige Schwachstelle<br />
des Systems „Richtervorbehalt“ dar. Weitere Problempunkte<br />
sind die unzureichende richterliche Prüfung vor Erlass des<br />
Beschlusses sowie mangelhafte Begründungen desselben.<br />
Anders als die fehlende, aber notwendige richterliche Anordnung<br />
soll nach h.M. aber die „nur“ fehlerhafte kein Verwertungsverbot<br />
auslösen. 63 Diese Differenzierung überzeugt<br />
nicht.<br />
Zwei empirische Studien aus dem Jahr 2003 zur Telefonüberwachung<br />
lassen vermuten, dass auch bei vorheriger Beteiligung<br />
eines Richters der Richtervorbehalt tatsächlich die<br />
ihm zugedachte Kontrollfunktion nicht erfüllt. Fehlerhafte<br />
und unvollständige Beschlüsse sind die Indizien, die auf eine<br />
nicht erfolgte Kontrolle hinweisen. 64<br />
Die Studie des Max Planck Instituts (Albrecht u.a.)<br />
kommt zu dem Ergebnis, dass die Begründungen der richterlichen<br />
Anordnungsbeschlüsse abhängig von der inhaltlichen<br />
Qualität der vorhergegangenen Entscheidung sind. Diese<br />
Abhängigkeit war „im Guten wie im Schlechten“ festzustellen.<br />
Ein Beschluss wurde besonders dann entsprechend dem<br />
61<br />
Müssig, GA 1999, 119 (130 f.).<br />
62<br />
Müssig, GA 1999, 119 (134).<br />
63<br />
BGH wistra 1997, 107 (108); Amelung, NJW 1991, 2533<br />
(2537); Schoreit, NStZ 1999, 173 (174 f.).<br />
64<br />
Vgl. hierzu die rechtstatsächlichen Untersuchungen von<br />
Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 27) und Backes/Gusy (Fn. 27).<br />
Antrag ausgefertigt, wenn die Staatsanwaltschaft ihren Antrag<br />
substantiell begründet hatte. 65 Die Verf. dieser Studie<br />
weisen deutlich darauf hin, dass der <strong>Inhalt</strong> einer Begründung<br />
keine Aussage über die Vornahme und Tiefe einer tatsächlichen<br />
Kontrolle treffen kann. Jedoch entfalteten diese Erkenntnisse<br />
eine gewisse Indizwirkung, wenn man auch Äußerungen<br />
befragter Ermittlungsrichter zugrunde lege, die nahezu<br />
einstimmig auf ihre Arbeitsbelastung verwiesen und eine<br />
Prioritätensetzung zugunsten „schwerwiegenderer Eingriffe“<br />
erläuterten. 66<br />
Auch Backes und Gusy (Universität Bielefeld) stellen in<br />
ihrer Untersuchung fest, dass Richter unvollständige Antragsbegründungen<br />
der Staatsanwaltschaft in ihre Beschlüsse<br />
übernehmen, anstatt sie zu vervollständigen. In den meisten<br />
Fällen, in denen die Antragsbegründungen zum Beispiel<br />
unzureichende Ausführungen zum Tatverdacht enthielten,<br />
wiesen auch die richterlichen Beschlüsse dieses Defizit auf. 67<br />
Legte die Staatsanwaltschaft ihrem Antrag einen Beschlussentwurf<br />
bei, wurde dieser lediglich unterzeichnet. Von 65<br />
Fällen, in denen der Staatsanwalt einen Beschlussentwurf<br />
seinem Antrag beigefügt hat, hat der Richter in 60 Fällen den<br />
Antrag ohne Änderung unterschrieben. Dies sehen Backes<br />
und Gusy vor allem deshalb als Indiz für eine mangelhafte<br />
Kontrolle durch den Richter, weil diese Beschlussentwürfe<br />
überdurchschnittlich fehlerhaft waren. Nur 11,8 % waren<br />
vollständig, enthielten also Ausführungen zu allen gesetzlich<br />
vorgeschriebenen Tatbestandsmerkmalen. 68 Werden in der<br />
üblichen Form gefasste staatsanwaltliche Anträge auch weit<br />
weniger häufig vom Richter wörtlich übernommen, so zeigte<br />
sich aber auch hier eine Abhängigkeit der Qualität des richterlichen<br />
Beschlusses von der Vollständigkeit des staatsanwaltlichen<br />
Antrags. 69<br />
Grundsätzlich ist in diesen Fällen die Form gewahrt, der<br />
Richter wurde rechtzeitig eingeschaltet. Fände aber tatsächlich<br />
keine inhaltliche Prüfung durch den Richter statt, würde<br />
der Richter zum bloßen „Staatsnotar“, der lediglich die Anträge<br />
der Staatsanwaltschaft „ausfertigt“ oder die praktischer<br />
Weise schon in Beschlussform formulierten Eingaben unterschreibt.<br />
Dem Sinn und Zweck des Richtervorbehalts als<br />
vorbeugender Rechtsschutz durch ein unabhängiges Organ<br />
wird ein solches Vorgehen dann ebenso wenig gerecht wie<br />
die komplette Ausschaltung des Richters. Deshalb ist es entscheidend,<br />
dass das BVerfG zusätzlich besondere Anforderungen<br />
an richterliche Durchsuchungsbeschlüsse formuliert<br />
hat, die sicherstellen sollen, dass der Beschluss seine Begrenzungsfunktion<br />
im Rahmen der Durchsuchung erfüllen kann,<br />
die aber auch die eigene Auseinandersetzung des Richters mit<br />
den zugrunde liegenden Tatsachen erkennen lassen müssen. 70<br />
65<br />
Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 27), S. 244 f.<br />
66<br />
Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 27), S. 446.<br />
67<br />
Backes/Gusy (Fn. 27), S. 123 ff.<br />
68<br />
Backes/Gusy (Fn. 27), S. 47 f.<br />
69<br />
Backes/Gusy (Fn. 27), S. 49.<br />
70<br />
BVerfGE 103, 142; BVerfG, Beschl. v. 5.5.2008 – 2 BvR<br />
1801/06, Rn. 16. Ausführlich zu den Anforderungen an den<br />
richterlichen Beschluss Schäfer, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/Hilger/Ignor<br />
(Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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165
Silke Hüls<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Bislang geht die h.M. in Rechtsprechung und Literatur<br />
aber dennoch davon aus, dass Beweismittel, die bei Durchsuchungen<br />
aufgefunden wurden, denen ein unvollständiger oder<br />
fehlerhafter Durchsuchungsbeschluss zugrunde lag, verwertbar<br />
sind. 71<br />
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu<br />
rechtswidrigen Durchsuchungsbeschlüssen beantworten ausschließlich<br />
Fragen der Grundrechtsverstöße; etwaige sonstige<br />
Folgen – wie insbesondere das Eingreifen eines Verwertungsverbots<br />
– bleiben grundsätzlich offen, da sie nicht in<br />
den Aufgabenbereich des Bundesverfassungsgerichts fallen.<br />
Am Rande hat das BVerfG allerdings festgestellt, der Beschlagnahme<br />
stehe regelmäßig nicht entgegen, dass der Gegenstand<br />
aufgrund einer rechtsfehlerhaften Durchsuchung<br />
erlangt worden sei, außer bei einem „besonders schwer wiegenden<br />
Verstoß“. 72<br />
Wie auch in Fällen fehlender Einschaltung des Richters<br />
vor der Durchsuchung prüft der BGH grundsätzlich hypothetisch,<br />
ob der Durchsuchungsanordnung rechtliche Hindernisse<br />
entgegengestanden hätten. Zudem geht der BGH davon<br />
aus, dass Formfehler der Durchsuchungsanordnung im Beschwerdeverfahren<br />
dadurch kompensiert werden können,<br />
dass die Durchsuchungsanordnung im Wege der Abhilfe<br />
aufgehoben wird und den rechtlich selbständigen Entscheidungen<br />
über die Beschlagnahme ein neuer, vollständiger<br />
Beschluss zugrunde gelegt wird. 73<br />
Auf „völliges Unverständnis“ – so Schoreit – müssten<br />
Forderungen stoßen, bei anscheinend unvollständig formulierten<br />
bzw. begründeten Durchsuchungsanordnungen Beweisverwertungsverbote<br />
hinsichtlich der aufgefundenen Beweismittel<br />
anzunehmen. 74 Erweise sich die Maßnahme im<br />
Ergebnis als berechtigt, weil nämlich Beweismittel gefunden<br />
wurden, und liegen ordentliche Beschlagnahmebeschlüsse<br />
vor, sei der Fehler geheilt. 75 Man müsse sich vergegenwärtigen,<br />
dass Fälle unberechtigter Annahme von Verwertungsverboten<br />
das allgemeine Rechtsempfinden zutiefst verunsicherten,<br />
zumal sie mit dem Gebot der Gleichbehandlung<br />
vergleichbarer Fälle nicht vereinbar seien. 76<br />
Jedoch ist ein Richter, der den Sachverhalt nicht eigenständig<br />
prüft, genauso ineffektiv für den Grundrechtsschutz<br />
wie ein Richter, der von Staatsanwaltschaft und Polizei durch<br />
Nutzung ihrer Eilkompetenz gar nicht beteiligt wird. Deshalb<br />
ist eine fehlende inhaltliche Prüfung ebenso rechtswidrig wie<br />
eine gänzlich entfallende. Nur durch eine richterliche Begründung<br />
des Beschlusses kann die richterliche Prüfung<br />
selbst dokumentiert und überprüfbar werden. Mängel der<br />
Begründung und einfache Abzeichnung staatsanwaltlicher<br />
Anträge müssen daher ebenso zu einem Beweisverwertungs-<br />
Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 3,<br />
25. Aufl. 2004, § 105 Rn. 37 ff.<br />
71<br />
BGH wistra 1997, 107 (108); Amelung, NJW 1991, 2533<br />
(2537); Schoreit, NStZ 1999, 173 (174 f.).<br />
72<br />
BVerfG, Beschl. v. 15.7.1998 – 2 BvR 446/98.<br />
73<br />
BGH StV 2002, 113.<br />
74<br />
Schoreit, NStZ 1999, 173 (176).<br />
75<br />
Schoreit, NStZ 1999, 173 (176).<br />
76<br />
Schoreit, NStZ 1999, 173 (176).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
166<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
verbot führen wie die komplette Ausschaltung des Richters.<br />
Zutreffend betont daher Krekeler, dass ein schwerwiegender<br />
Grundrechtsverstoß in Form fehlender Bestimmtheit des<br />
Durchsuchungsbeschlusses nicht durch die weitere Verwertung<br />
der infolge des fehlerhaften Beschlusses erlangten Beweismittel<br />
aufrechterhalten werden darf. 77<br />
Insbesondere die Feststellung des Tatverdachts verlangt<br />
eine Begründung, der zu entnehmen ist, warum der Richter<br />
die Grenze des Anfangsverdachts als überschritten ansah, da<br />
feststehende allgemeingültige Kriterien für die Annahme des<br />
Verdachts nicht existieren. Denn der für die Anordnung einer<br />
Durchsuchung erforderliche Tatverdacht lässt sich zu bloßen<br />
Vermutungen nicht scharf abgrenzen. 78 Es liegt gerade in der<br />
Natur eines Verdachts, dass die Umstände, die ihn begründen,<br />
ihn nach Abschluss des Verfahrens möglicherweise<br />
nicht mehr bestätigen. Eine Entscheidung über den Tatverdacht<br />
nach abstrakten, exakten Kriterien ist daher kaum möglich;<br />
die Verdachtsgewinnung kann sich immer nur auf eine<br />
Beurteilung im Einzelfall stützen. 79<br />
Diese Beurteilung der Verdachtsvoraussetzungen durch<br />
ein unabhängiges Organ erlangt deshalb entscheidende Bedeutung<br />
für den präventiven Grundrechtsschutz. Da aber<br />
auch dem Richter als unabhängigem Organ exakte Kriterien<br />
zur Abgrenzung des Tatverdachts von unverdächtigem Verhalten<br />
fehlen, kann allein seine Begründung ausschlaggebend<br />
sein; sie verleiht seiner Beurteilung Plausibilität. Die richterliche<br />
Entscheidung muss durch Abwägung aller für und wider<br />
einen Verdacht sprechenden Gründe nachvollziehbar<br />
werden. Deshalb ist die Begründung eben keine bloße Formalie,<br />
denn nur durch sie kann sichergestellt werden, dass eine<br />
Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Ermittlungseingriffs<br />
stattgefunden hat und der Eingriff durch die<br />
Festlegungen im Beschluss begrenzt wird. 80<br />
Eine eigenständige Bewertung und Begründung durch<br />
den Richter erfordert auch das Kriterium der Verhältnismäßigkeit.<br />
Die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit setzt voraus,<br />
dass der Richter besondere Kenntnisse von und die notwendige<br />
Erfahrung mit der Ermittlungstätigkeit hat, um eigenverantwortlich<br />
Alternativen prüfen zu können.<br />
Da nur durch die richterliche Begründung dokumentiert<br />
werden kann, dass der Richter seiner Kontrollfunktion durch<br />
Abwägung aller Gesichtspunkte gerecht geworden ist, ist<br />
diese Begründung auch nicht in der Abhilfeentscheidung oder<br />
der Entscheidung des Beschwerdegerichts nachholbar; dies<br />
würde dem Sinn der präventiven Kontrolle widersprechen. 81<br />
77<br />
Krekeler, NStZ 1993, 263 (263, 265).<br />
78<br />
BGHSt 41, 30.<br />
79<br />
Ausführlich Ransiek, StV 2002, 565 (569).<br />
80<br />
Ransiek, StV 2002, 565 (570). Vgl. jetzt auch BVerfG,<br />
Beschl. v. 5.5.2008 – 2 BvR 1801/06, Absatz-Nr. 16: „Dass<br />
der Ermittlungsrichter diese Eingriffsvoraussetzungen eigenverantwortlich<br />
[…] geprüft hat, muss in dem Beschluss zum<br />
Ausdruck kommen. Es ist zu verlangen, dass ein dem Beschuldigten<br />
angelastetes Verhalten geschildert wird, das den<br />
Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt.“<br />
81<br />
BVerfG NJW 2004, 3171; BVerfG StV 2000, 465; LG<br />
Halle wistra 2008, 280; LG Magdeburg, Urt. v. 2.8.2007 –
Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Aufgrund dieser entscheidenden Bedeutung der richterlichen<br />
Begründung ist die Ausdehnung des Verwertungsverbots<br />
auf Fälle fehlender oder fehlerhafter Beschlussbegründung<br />
konsequent und geboten. Die Überwindung der Vorstellung<br />
von der richterlichen Begründung als bloßer Formalie<br />
und die Flankierung mittels Beweisverwertungsverbots als<br />
Folge der beschriebenen Verstöße bietet eine Möglichkeit,<br />
die Effektivität des Richtervorbehalts in der Praxis zu vergrößern,<br />
was angesichts seiner theoretischen Bedeutung dringend<br />
geboten ist – zumal echte Alternativen bislang nicht<br />
existieren.<br />
VI. Erweiterung des Beweisverwertungsverbots auf sonstige<br />
Richtervorbehalte<br />
Greift ein Beweisverwertungsverbot daher bei allen – nicht<br />
gänzlich unerheblichen – Fehlern des Durchsuchungsbeschlusses<br />
ein, so stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die<br />
Konsequenz des Beweisverwertungsverbots nur für den verfassungsrechtlich<br />
geregelten Richtervorbehalt im Rahmen der<br />
Durchsuchung (Art. 13 Abs. 2 GG) gilt, oder ob diese Grundsätze<br />
auch auf sonstige, einfach gesetzlich geregelte Richtervorbehalte<br />
übertragen werden können. Dass nur die Richtervorbehalte<br />
vor Anordnung einer Durchsuchung und einer<br />
Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) in die Verfassung<br />
aufgenommen worden sind, hat historische Gründe. Aufgrund<br />
der Erfahrungen insbesondere während der NS-Zeit<br />
haben die Väter des Grundgesetzes Richtervorbehalte für die<br />
Durchsuchung und die Freiheitsentziehung festgeschrieben. 82<br />
Später geschaffene oder erst später an praktischer Relevanz<br />
gewonnene Eingriffsrechte, die unter Richtervorbehalt stehen,<br />
wurden einfachgesetzlich in der StPO geregelt. Diesen<br />
kommt aber keine geringere Bedeutung zu; die durch diese<br />
Richtervorbehalte abgesicherten Eingriffsrechte können mitunter<br />
schwerwiegendere Eingriffe in Grundrechte darstellen<br />
als die zwar i.d.R. überraschende, aber doch offene Hausdurchsuchung.<br />
Zu denken ist z.B. an die heimliche Telefonüberwachung,<br />
Datenspeicherungen, DNA-Untersuchungen.<br />
Die Möglichkeiten des Einsatzes technischer Überwachungsmaßnahmen<br />
sowie des Missbrauchs dieser Maßnahmen<br />
waren zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Verfassung<br />
noch nicht abzusehen. Ein qualitativer Unterschied<br />
hinsichtlich der Schwere des Grundrechtseingriffs besteht<br />
24 Qs 19/07; LG Berlin wistra 2004, 319; vgl. auch Ransiek,<br />
StV 2002, 565 (570). Vgl. auch BVerfG, Urt. v. 31.10.2007 –<br />
2 BvR 1346/07, Rn. 15 zur Dokumentation von Gefahr im<br />
Verzug: „Auch die fehlende Dokumentation der Gründe für<br />
die Annahme der Gefährdung des Untersuchungszwecks bei<br />
der Annordnung von Zwangsmitteln durch Polizei oder<br />
Staatsanwaltschaft darf nicht durch das zur Überprüfung<br />
berufene Gericht durch Verwendung einer ihm erst nachträglich<br />
zugänglich gemachten Stellungnahme der Ermittlungsbehörden<br />
ersetzt werden, da dies eine Nachbesserung der zu<br />
kontrollierenden hoheitlichen Akte darstellte, welche die<br />
präventive Funktion des Richtervorbehalts leerlaufen ließe.“<br />
82 Ostendorf/Brüning, JuS 2001, 1063 (1065).<br />
daher zwischen diesen einzelnen Richtervorbehalten nicht. 83<br />
Auch den einfachgesetzlich geregelten Richtervorbehalten<br />
kommt dieselbe grundrechtssichernde Kontrollaufgabe zu<br />
wie den Richtervorbehalten des Art. 13 Abs. 2 GG und<br />
Art. 104 Abs. 2 GG. Dienen diese Richtervorbehalte also<br />
demselben Zweck wie die verfassungsrechtlich normierten,<br />
muss auch für sie derselbe Maßstab gelten. 84 Die Erwägung,<br />
dass der Staat aus rechtswidrigem Handeln seiner Organe<br />
keinen Nutzen ziehen darf, 85 trifft auf die einfachgesetzlich<br />
geregelten Richtervorbehalte ebenso zu. Deshalb muss auch<br />
in diesen Fällen ein Verstoß gegen die Vorschriften des Richtervorbehalts<br />
ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen.<br />
VII. Zur Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots<br />
Die Begründung des Beweisverwertungsverbots, der Staat<br />
dürfe aus rechtswidrigem Verhalten von Staatsanwaltschaft<br />
und Polizei keinen Nutzen ziehen, hat aber noch weitere<br />
Konsequenzen. Denn mit dieser Begründung muss eine<br />
Missachtung des Richtervorbehalts oder ein sonstiger Verstoß<br />
gegen dessen gesetzliche Voraussetzungen dazu führen,<br />
dass die im Rahmen der rechtswidrigen Durchsuchung gewonnenen<br />
Informationen in gar keiner Weise im Strafverfahren<br />
genutzt werden dürfen. 86 Dies schließt dann auch z.B.<br />
solche Beweismittel ein, die erst aufgrund von Hinweisen im<br />
Rahmen der Durchsuchung gefunden wurden. Das Beweisverwertungsverbot<br />
entfaltet also eine Fernwirkung. 87<br />
Die Anerkennung einer Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten<br />
ist in Deutschland seit jeher umstritten. 88 Diejenigen,<br />
die eine Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten<br />
ablehnen, verweisen vor allem auf die kriminalpolitischen<br />
Folgen. Es liege ihrer Ansicht nach im öffentlichen Interesse,<br />
eine möglichst vollständige Wahrheitserforschung im Strafprozess<br />
zu gewährleisten. 89 Die Effektivität der Strafrechts-<br />
83<br />
Brüning, HRRS 2007, 250 (255); Amelung, NStZ 2001,<br />
337 (342).<br />
84<br />
Talaska, Der Richtervorbehalt, S. 134. Das BVerfG geht in<br />
seinem Urt. v. 28.7.2008 – 2 BvR 784/08, Rn 10, von der<br />
Gleichwertigkeit des Richtervorbehalts in § 81a StPO mit<br />
dem verfassungsrechtlich geregelten Richtervorbehalt bei der<br />
Durchsuchung aus; vgl. auch OLG Stuttgart NStZ 2008, 238.<br />
Ausführlich zum Richtervorbehalt bei § 81a StPO Prittwitz,<br />
StV 2008, 486 sowie speziell zur Frage der Eilkompetenz bei<br />
Blutentnahmen nach Trunkenheitsfahrten Heß, NJW-Spezial<br />
2008, 297; Fickenscher/Dingelstadt, NStZ 2009, 124; dagegen<br />
Gefahr im Verzug grds. in diesen Fällen bejahend Brocke/Herb,<br />
StraFo 2009, 46.<br />
85<br />
BGHSt. 51, 285 (291).<br />
86<br />
Ransiek, JR 2007, 436 (438).<br />
87<br />
Ransiek, JR 2007, 436 (438).<br />
88<br />
Ausführlich zum Problem der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten<br />
im Strafverfahren Mergner, Fernwirkung<br />
von Beweisverwertungsverboten, 2005; Neuhaus, NJW<br />
1990, 1221 f.; Reineke, Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten,<br />
1990.<br />
89<br />
Überblick bei Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen<br />
Juristentag, C 92 ff; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung,<br />
Kommentar, 51 Aufl. 2009, Einl. Rn. 57 m.w.N.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
167
Silke Hüls<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
pflege würde zudem über Gebühr eingeschränkt. 90 Auch sieht<br />
man den allgemeinen Rechtsgüterschutz in Gefahr, denn<br />
sowohl unter spezial- als auch unter generalpräventiven Aspekten<br />
erschiene eine Nichtverurteilung aufgrund eines Verfahrensfehlers<br />
als verfehlt. Außerdem sei es praktisch nahezu<br />
unmöglich, tatsächlich vorhandenes Wissen nicht zu nutzen.<br />
91 Überdies sei die Überprüfung der Kausalität, wenn<br />
festgestellt werden müsste, ob das mittelbar erlangte Beweismittel<br />
wirklich aufgrund des Hinweises gefunden worden<br />
sei, der aus der unzulässigen Beweiserhebung resultierte,<br />
schwierig. 92 Stützte man die Fernwirkung zudem auf den<br />
Gedanken der Disziplinierung der Ermittlungsbehörden, so<br />
wird dagegen – wie auch schon bei der Frage der Entstehung<br />
eines Beweisverwertungsverbots – eingewandt, dass diese<br />
Disziplinierungsform nicht dem deutschen Recht entspreche;<br />
im Übrigen bestehe auch kein innerer Zusammenhang zwischen<br />
dem Unrecht des Beschuldigten und dem Unrecht der<br />
Verfolgungsbehörden. Das Beamtenrecht enthalte zur Disziplinierung<br />
genügend Rechtsbehelfe. 93<br />
Der BGH hat bislang eine Fernwirkung abgelehnt, da es<br />
zum einen nicht hinnehmbar sei, dass durch einen Verfahrensfehler<br />
„das gesamte Strafverfahren lahm gelegt wird“;<br />
zum anderen sei „eine solche Begrenzung der Auswirkung<br />
eines Verfahrensfehlers [...] zu einer wirksamen Verbrechensbekämpfung<br />
auch deshalb erforderlich, weil sich kaum<br />
jemals feststellen lässt, ob die Polizei den Zeugen ohne den<br />
Verstoß nicht auch gefunden hätte“. 94<br />
Für die Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots<br />
spricht aber, dass ansonsten der Zweck des Beweisverwertungsverbots,<br />
im Widerspruch zur StPO erlangte Informationen<br />
nicht in den Strafprozess einzuführen, vereitelt würde.<br />
Urteilssprüche dürfen nach zutreffender Ansicht nicht mit<br />
dem Makel belastet sein, die Überführung des Beschuldigten<br />
sei nur durch rechtswidrige Maßnahmen möglich gewesen. 95<br />
Nichts stellt ein Staatswesen stärker in Frage als eine Pflichtverletzung<br />
bei der Befolgung der eigenen Gesetze. 96 Letztlich<br />
könnten Verfahrensvorschriften, deren Verletzung aufgrund<br />
der möglichen mittelbaren Verwertung der gewonnenen Informationen<br />
keine Folgen nach sich zögen, konsequenterweise<br />
gestrichen werden. Damit im Einklang steht die Forderung<br />
des BGH, der Staat dürfe seine Urteile nicht auf rechtswidrig<br />
gewonnene Informationen stützen. Dies kann sich dann aber<br />
nicht nur auf das unmittelbar gewonnene Beweismittel beschränken,<br />
sondern muss alle in diesem Zusammenhang<br />
gewonnenen Informationen betreffen.<br />
Für eine Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots bei<br />
Umgehung des Richtervorbehalts spricht auch die Einordnung<br />
der Beweisverwertungsverbote als Sicherung der Informationsverfügungsrechte<br />
der Prozessbeteiligten. In jeder<br />
90 Kramer, Jura 1988, 520 (524).<br />
91 Baumann, Diskussionsbeitrag, Diskussion des 46. DJT –<br />
Bd. 2, Sitzungsberichte,1966, F 108-F 112.<br />
92 Neuhaus, NJW 1990, 1221 (1222).<br />
93 Zusammenfassend m.w.N. Mergner (Fn. 88), S. 51 f.<br />
94 BGHSt 34, 365; vgl. auch BGHSt 51, 1 (8).<br />
95 Amelung, NJW 1991, 2533 (2538 f.).<br />
96 Nüse, JR 1966, 281 (284).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
168<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
prozessualen Nutzung des unrechtmäßig erlangten Beweismittels<br />
realisiert sich die Beeinträchtigung des Informationsverfügungsrechts.<br />
97 Beruhen die Verwertungsverbote auf<br />
dem Prinzip der Folgenbeseitigung, ergibt sich eine Fernwirkung,<br />
weil der Beschuldigte so zu stellen ist, wie er stünde,<br />
wenn nicht rechtswidrig in sein Informationsbeherrschungsrecht<br />
eingegriffen worden wäre. 98 Die Grenzen des Beweisverwertungsverbots<br />
lassen sich nach Müssig nach den Kriterien<br />
der objektiven Zurechnung bestimmen: „Entscheidend<br />
ist, ob sich in der prozessualen Verwertung des mittelbaren<br />
Beweismittels dasjenige für die Verfahrensstellung des Betroffenen<br />
relevante – unerlaubte Risiko – verwirklicht, das<br />
durch die unmittelbare Beweiserhebung bzw. -verwertung<br />
geschaffen wurde, [...] also der Weg zum mittelbaren Beweismittel<br />
sich auf Informationen stützte, die sämtlich dem<br />
Verwertungsverbot unterfielen.“ 99<br />
Schließlich ist den bisher nicht quantifizierbaren kriminalpolitischen<br />
Bedenken entgegenzuhalten, dass Verwertungsverbote<br />
lediglich zum Ausschluss einzelner Beweis(-ketten)<br />
und nicht zu einem allgemeinen Verfahrenshindernis<br />
führen. 100<br />
VIII. Konsequenzen für das Strafverfahren und Einschränkungen<br />
des Beweisverwertungsverbots<br />
Wesentliche Befürchtung bei Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots<br />
als Konsequenz des Verstoßes gegen die<br />
Vorgaben des Richtervorbehalts und insbesondere bei weitergehender<br />
Anerkennung der Fernwirkung dieses Verstoßes<br />
ist das Risiko, einen Schuldigen freisprechen zu müssen, weil<br />
aufgrund eines Fehlers zu Beginn des Ermittlungsverfahrens<br />
keine verwertbaren Beweise existieren. Dieses Risiko besteht.<br />
Häufig wird es allerdings nicht so sein, dass allein die<br />
z.B. im Rahmen einer rechtswidrigen Durchsuchung gewonnenen<br />
Beweise ausschließlich prozessentscheidend sind.<br />
Zukünftig mag die Rechtsfolge des Beweisverwertungsverbotes<br />
zudem tatsächlich disziplinierend auf die beteiligten Ermittlungsorgane<br />
wirken und die Rechtsstaatlichkeit im Ermittlungsverfahren<br />
stärken. Und schließlich folgt die Einschränkung<br />
der Ermittlungsmöglichkeiten bereits aus der<br />
Entscheidung des Gesetzgebers, Ermittlungseingriffe durch<br />
strikte Formalien zu begrenzen. Letztendlich ist dies eine<br />
Folge und Notwendigkeit der Stärkung freiheitssichernder<br />
Kontrollmechanismen im Ermittlungsverfahren. 101<br />
Dennoch sind gewisse Ausnahmen vom Beweisverwertungsverbot<br />
und seiner Fernwirkung zu machen. Eine Ausnahme<br />
sollte z.B. für den Fall gelten, dass sicher feststeht,<br />
dass die Ermittlungsbeamten das Beweismittel völlig unabhängig<br />
von dem Verfahrensfehler auf jeden Fall gewonnen<br />
hätten. 102 Zu diesem Ergebnis gelangt man auch über die<br />
97<br />
Müssig, GA 1999, 119 (137).<br />
98<br />
Amelung, NJW 1991, 2533 (2538).<br />
99<br />
Müssig, GA 1999, 119 (137).<br />
100<br />
Müssig, GA 1999, 119 (137), Fn. 65.<br />
101<br />
Ausführlich zur Kontrolle der Ermittlungstätigkeit Hüls<br />
(Fn. 8).<br />
102<br />
Beispiel zum Fall „Weimar“ bei Beulke, ZStW 103 (1991),<br />
657 (675).
Der Richtervorbehalt – seine Bedeutung für das Strafverfahren und die Folgen von Verstößen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Kriterien der objektiven Zurechnung, da sich in einer solchen<br />
Verwertung gerade nicht das durch die fehlerhafte Beweisgewinnung<br />
geschaffene Risiko verwirklicht. 103 Ferner ist eine<br />
erneute richterliche Kontrolle entbehrlich, wenn bereits eine<br />
richterliche Entscheidung vorliegt und sich die tatsächlichen<br />
Gegebenheiten nicht geändert haben. Eine Verwertung ist<br />
also z.B. möglich, wenn eine richterlich angeordnete Durchsuchung<br />
unterbrochen und ohne erneuten richterlichen Beschluss<br />
fortgesetzt wurde, sofern zwischenzeitlich keine<br />
Änderung der Sachlage eingetreten ist. 104 Eine weitere Ausnahme<br />
gilt für den Fall, dass die einzige rechtmäßige Entscheidung<br />
des Richters der Erlass des Beschlusses gewesen<br />
wäre, sein Entscheidungsspielraum also auf Null reduziert<br />
war. Nur in diesem Fall ist die richterliche Prüfungskompetenz<br />
bedeutungslos, daher sind ausnahmsweise allein die<br />
materiellen Anforderungen ausschlaggebend. 105<br />
IX. Fazit<br />
Die Bedeutung des Richtervorbehalts als vorweggenommener<br />
Rechtsschutz im Ermittlungsverfahren verbietet es, Verstöße<br />
gegen diese formale Voraussetzung vieler Ermittlungsmaßnahmen<br />
folgenlos zu lassen. Daher ist der Entscheidung des<br />
BGH vom 18.4.2007 uneingeschränkt zuzustimmen, in der<br />
ein Beweisverwertungsverbot für den Fall eines schwerwiegenden<br />
Verstoßes gegen die Vorschriften des Richtervorbehalts<br />
bei der Durchsuchung angenommen wird. Darüber<br />
hinaus muss aber grundsätzlich jeder Verstoß gegen die Voraussetzungen<br />
des Richtervorbehalts ein Beweisverwertungsverbot<br />
auslösen, weil das Urteil ansonsten immer auf rechtswidrigem<br />
Handeln staatlicher Organe fußte. 106 Eine Abwägung<br />
ist nicht mehr durchzuführen, da diese Abwägung bereits<br />
durch den Gesetzgeber erfolgt ist, der das Eingriffsrecht<br />
an bestimmte formale Voraussetzungen geknüpft hat. Eine<br />
Abwägung, die an die Schwere des Deliktsvorwurfs anknüpfte,<br />
führte zudem zu dem Ergebnis, dass im Bereich der<br />
Schwerstkriminalität Verstöße gegen die Anforderungen an<br />
die Beweiserhebung immer folgenlos blieben – für diesen<br />
Bereich könnten daher faktisch die Grenzen der Beweiserhebungsrechte<br />
der StPO außer Kraft gesetzt werden. 107<br />
Wünschenswert wäre aber eine Systematisierung der Eingriffsrechte<br />
der StPO und ihrer formalen Anforderungen, die<br />
auch der Praxis eine rechtmäßige Anwendung erleichterte.<br />
Eingriffsrechte und dazugehörige Richtervorbehalte sollten<br />
einer kritischen Überprüfung durch den Gesetzgeber unterzo-<br />
103<br />
Vgl. oben VII.<br />
104<br />
Ransiek, StV 2002, 565 (570).<br />
105<br />
Ransiek, StV 2002, 565 (570).<br />
106<br />
Zu den wenigen Ausnahmen s.o. unter VIII. Anders jedoch<br />
die Rechtsprechung, die an der Differenzierung zwischen<br />
Rechtswidrigkeit der Beweisgewinnung und der Frage<br />
des Verwertungsverbots bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt<br />
festhält, vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.7.2008 – 2 BvR<br />
784/08 m.w.N.<br />
107<br />
So auch Müssig, GA 1999, 119 (142). Vgl. auch Amelung<br />
(Fn. 45), S. 9; Amelung (Fn. 36), S. 522. A.A. Rogall, JZ<br />
2008, 818 (820).<br />
gen werden, insbesondere bevor über neue – unter Richtervorbehalt<br />
zu stellende – Eingriffsrechte nachgedacht wird.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
169
Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
170<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten,<br />
Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007, 400 S., € 84,-<br />
Arndt Sinn, mittlerweile Inhaber eines Lehrstuhl an der Universität<br />
Osnabrück, verfolgt mit seiner 2007 erschienenen,<br />
exakt 400 Seiten starken Habilitationsschrift „Straffreistellung<br />
aufgrund von Drittverhalten“ das Ziel, den „Grundstein<br />
für eine machttheoretische Verbrechenstheorie zu legen“<br />
(Vorwort). Während in anderen Wissenschaftsdisziplinen wie<br />
etwa der Philosophie oder der Soziologie bereits zahlreiche<br />
machttheoretische Untersuchungen und Analysen betrieben<br />
wurden, waren in der Strafrechtslehre bislang allenfalls „Spuren<br />
der Macht“ (vgl. S. 143) erkennbar: Zum einen stößt man<br />
bei aufmerksamer Lektüre der Vorschriften des Strafgesetzbuchs<br />
vereinzelt auf den Begriff „Macht“ (vgl. vor allem<br />
§§ 93 ff.) und die Rechtsprechung griff zur Darstellung oder<br />
Begründung von Über- und Unterordnungsverhältnissen<br />
bisweilen auf ihn zurück. Zum anderen wurde der Terminus<br />
in der Lehre nicht selten zur Bestimmung der Täterschaft<br />
herangezogen und einige namhafte Strafrechtswissenschaftler,<br />
wie etwa Roxin, Bottke und Schlösser, stellten im Rahmen<br />
ihrer Beteiligungskonzeptionen unverkennbar einen<br />
engen Bezug zwischen Täterschaft und Macht her. Auf diese<br />
Aspekte weist Sinn im Vorfeld der Begründung seiner machttheoretischen<br />
Konzeption auch ausdrücklich hin (S. 45-51<br />
und S. 143-164). Dennoch bleibt festzuhalten, dass dem Faktor<br />
„Macht“ bisher von niemandem eine eigenständige oder<br />
gar universelle Bedeutung im Rahmen der Strafrechtsdoktrin<br />
beigemessen wurde. Betrachtet man die Zielsetzung Sinns<br />
vor diesem Hintergrund, wird deutlich, welch bemerkenswert<br />
kühnem Vorhaben er sich verschrieben hat.<br />
Als Ausgangspunkt für seine Untersuchung wählt Sinn<br />
diejenigen Fälle, bei denen das Eingreifen eines Dritten in<br />
das tatbestandsmäßige Geschehen einen Strafbarkeitsausschluss<br />
oder eine Strafmilderung des „Täters“ zur Folge hat<br />
(vgl. S. 5-24). Zugleich dienen ihm diese sogenannten Drittbeteiligungsfälle<br />
am Ende seiner Arbeit als Prüfstein für die<br />
Leistungsfähigkeit seiner machttheoretischen Konzeption<br />
(S. 321-372). In struktureller Hinsicht zeichnen sie sich durch<br />
ein Verhältnis der Über- und Unterordnung zwischen dem<br />
Dritten und dem „Täter“ aus (vgl. S. 25 f.). Sinn unterscheidet<br />
zwischen „interindividuellen“ Freistellungsfällen, bei<br />
denen die Überlegenheit des Dritten aus der jeweiligen Situation<br />
resultiert und daher instabil ist, und „transindividuellen“<br />
Freistellungsfällen, bei denen von Anfang an ein latentes,<br />
aber stabiles Über-/Unterordnungsverhältnis besteht, weil der<br />
Dritte eine institutionelle Rolle einnimmt (z. B. Befehlsgeber<br />
bei der Bundeswehr, Angestellter einer staatlichen Genehmigungsbehörde)<br />
und sein Handeln daher als das einer Institution<br />
wahrgenommen wird (S. 26-28). Unabhängig von der<br />
Zugehörigkeit zu einer dieser beiden Untergruppen ist für<br />
nahezu alle Drittbeteiligungsfälle kennzeichnend, dass der<br />
Dritte ein Strafbarkeitsdefizit beim „Täter“ hervorruft oder<br />
ausnutzt und daher als mittelbarer Täter bestraft werden kann.<br />
Ferner ist in der Regel völlig unstreitig, dass der „Täter“ nicht<br />
vollumfänglich zur Verantwortung gezogen werden kann.<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
Umstritten ist allenfalls bei bestimmten Konstellationen,<br />
welcher Straffreistellungs- oder -milderungsgrund zu seinen<br />
Gunsten eingreift, so beispielsweise wenn er im Nötigungsnotstand<br />
oder auf Grundlage eines rechtswidrigen (verbindlichen)<br />
Befehls handelt. Im Ergebnis herrscht jedoch über die<br />
strafrechtliche Bewertung der Drittbeteiligungsfälle weitestgehend<br />
Einigkeit.<br />
Dennoch hält Sinn den Status quo der wissenschaftlichen<br />
Diskussion in diesem Bereich für unbefriedigend: Er vermisst<br />
– jenseits der einzelnen Freistellungsgründe (z.B. §§ 34, 35<br />
StGB) – ein grundlegendes, für alle Drittbeteiligungsfälle<br />
gültiges Freistellungsprinzip. Als solches begreifen einige<br />
Autoren, wie etwa Hassemer, das Autonomieprinzip. 1 Sinn<br />
widerspricht dieser Sichtweise. Jedenfalls im Hinblick auf<br />
zwei Aspekte verdient seine Kritik Zustimmung: Zum einen<br />
ist der Begriff „Autonomie“ wertungsoffen und somit äußerst<br />
variabel und dehnbar (vgl. S. 36 und S. 38). Zum anderen<br />
lassen sich mit Hilfe des Autonomieprinzips nicht sämtliche<br />
Drittbeteiligungsfälle zufriedenstellend lösen, weshalb es<br />
keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann (vgl. S. 40-<br />
42). Namentlich bei jenen Fällen, die – in der Terminologie<br />
Sinns – durch transindividuelle Beziehungen zwischen den<br />
Beteiligten gekennzeichnet sind, fehlt es nicht selten an einer<br />
Fremdbestimmung des „Täters“ durch den Dritten, sodass der<br />
Verzicht auf Strafe nicht mit einem Autonomieverlust begründet<br />
werden kann.<br />
Trotz seiner Kritik hält Sinn den Autonomiegedanken jedoch<br />
nicht für völlig unbrauchbar; die Autonomieverhältnisse<br />
sind für ihn allerdings lediglich die Folge bestimmter Machtverhältnisse.<br />
Zentrale freistellungs- und zugleich zurechnungsbegründende<br />
Größe ist nach seiner Überzeugung die<br />
Macht. Dass dies im Hinblick auf die Drittbeteiligungsfälle<br />
bisher niemand erkannt habe, sei zum einen auf das „hohe<br />
Abstraktionsniveau der anerkannten Freistellungsgründe“,<br />
zum anderen auf die „gedankliche Trennung der miteinander<br />
agierenden Personen bei der Fallprüfung“ zurückzuführen<br />
(S. 5 f.).<br />
Ehe Sinn erläutert, wie „Macht“ seiner Ansicht nach im<br />
strafrechtlichen Kontext verstanden werden muss, um als<br />
freistellungs- und zurechnungsrelevante Größe dienen zu<br />
können, analysiert er eine Vielzahl unterschiedlicher Machttheorien<br />
aus anderen Wissenschaftszweigen. Näher beleuchtet<br />
werden insbesondere die soziologische Konzeption von<br />
Peter Koller, das auf der Triebhaftigkeit des menschlichen<br />
Wesens basierende Machtverständnis von Bertrand Russel,<br />
die idealistische Machttheorie von Niklas Luhmann und das<br />
auf die historische Entwicklung der Macht fokussierte, handlungstheoretische<br />
Modell von Michel Foucault (S. 65-128).<br />
Ausgangspunkt für die Analyse der verschiedenen Machtthe-<br />
1 M. K. Meyer, Ausschluss der Autonomie durch Irrtum,<br />
1984; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige<br />
Beteiligung, 1997 und letztlich auch Schumann, Strafrechtliches<br />
Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung<br />
der Anderen, 1986, stützen ihre Beteiligungslehre auf<br />
das Autonomieprinzip. Auch mit diesen Konzeptionen befasst<br />
sich Sinn (S. 33-38).
Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
orien ist die Erkenntnis, dass Macht aus zwei unterschiedlichen<br />
Perspektiven betrachtet werden kann: Die gesamtgesellschaftliche<br />
Dimension der Macht verdeutlicht Sinn anhand<br />
der Konzeptionen von Thomas Hobbes und Hannah Arendt;<br />
die individuelle Dimension wird mit Hilfe der Machtdefinition<br />
von Max Weber veranschaulicht (S. 56-62). Im strafrechtlichen<br />
Kontext steht nach Überzeugung Sinns die individuelle<br />
Dimension der Macht im Vordergrund, da die Straftat immer<br />
eine Machtentscheidung des Täters gegen einen anderen<br />
beziehungsweise gegen die Allgemeinverbindlichkeit des<br />
Rechts sei. Allerdings prophezeit Sinn der gesellschaftlichen<br />
Dimension einen Bedeutungszuwachs, da Machtprozesse in<br />
der Gesellschaft immer mehr anonymisiert würden. Durch<br />
die Verrechtlichung und die administrative Regelung des<br />
sozialen Lebens werde die Macht in immer stärkerem Maße<br />
institutionalisiert – ein Befund, dem niemand ernsthaft widersprechen<br />
kann (S. 63 f.).<br />
Obgleich sich die unterschiedlichen Machttheorien insbesondere<br />
hinsichtlich ihrer Grundlagen und ihrer Zielsetzung<br />
deutlich voneinander unterscheiden, gelingt es Sinn, zwei<br />
Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, die für den weiteren Verlauf<br />
seiner Arbeit von grundlegender Bedeutung sind (S. 128-<br />
132): Zum einen ist allen von ihm analysierten Machtmodellen<br />
gemein, dass sie die Existenz von Machtquellen als Ursprung<br />
von Macht anerkennen: Unverkennbar trifft dies auf<br />
die sogenannten ressourcenorientierten Machttheorien zu,<br />
deren wichtigstes Verdienst nach Auffassung von Sinn darin<br />
besteht, „‚Macht’ aus der Grauzone der Unbestimmtheit<br />
herauszuführen und als sozial wirkendes Phänomen anschaulich<br />
und greifbar zu machen“ (S. 133). Aber auch im Rahmen<br />
jener Machtmodelle, welche die strukturelle Eingebundenheit<br />
der Person in die Gesellschaft stärker betonen und Macht aus<br />
der Relation von Personen untereinander ableiten, ist die<br />
Verfügbarkeit von Machtressourcen von Bedeutung. Die<br />
zweite wichtige Gemeinsamkeit, welche sämtliche Machttheorien<br />
verbindet, die Sinn im Rahmen seiner Arbeit näher<br />
beleuchtet, betrifft die Wirkung der Macht: Übereinstimmend<br />
wird Macht als verhaltenssteuerndes Phänomen, also als<br />
Mittel der Verhaltenssteuerung und -beeinflussung begriffen.<br />
Daraus zieht Sinn den Schluss, dass Macht auch eine geeignete<br />
Größe der Verhaltenszurechnung darstelle und somit<br />
„für das Strafrecht als Grundbegriff brauchbar“ sei (S. 131).<br />
Ausgehend von den aufgezeigten Gemeinsamkeiten zwischen<br />
den verschiedenen Machttheorien benennt Sinn im<br />
weiteren Verlauf der Arbeit Berührungspunkte zwischen<br />
diesen Theorien und der gegenwärtigen Strafrechtsdogmatik:<br />
Zunächst führt er dem Leser anschaulich vor Augen, dass die<br />
innerhalb der verschiedenen Machtkonzeptionen beschriebenen<br />
Machtquellen in den Tatbestandsbeschreibungen des<br />
Strafgesetzbuchs und in der strafrechtlichen Zurechnungslehre<br />
bereits als Topoi verwendet werden (S. 133-143). So sei es<br />
beispielsweise möglich, die „Macht der Mehrheit“ als Grundlage<br />
der Bandendelikte zu verstehen oder die Amtsträgerdelikte<br />
im Zusammenhang mit der „Macht der Funktion“ zu<br />
sehen. Sodann weist Sinn – wie eingangs bereits erwähnt –<br />
„Spuren der Macht“ in der Täterschaftsdogmatik nach, namentlich<br />
in den Beteiligungslehren von Roxin und Bottke<br />
(S. 143-169). Erstgenannter betrachtet bekanntlich die Tat-<br />
herrschaft als maßgebliches Täterschaftskriterium, Letzterer<br />
die Gestaltungsherrschaft. Schließlich zeigt Sinn Berührungspunkte<br />
zwischen den Machttheorien und dem strafrechtlichen<br />
Freiheits- und Gewaltbegriff auf (S. 171-182) und<br />
stellt klar, dass die Kausalität auch bei Zugrundelegung eines<br />
machttheoretischen Verbrechensbegriffs weiterhin Grundlage<br />
für die Zurechnung einer Straftat sein könne (S. 183-189).<br />
Im Rahmen dieser Ausführungen kritisiert Sinn das in der<br />
aktuellen Strafrechtslehre seiner Ansicht nach vorherrschende<br />
„Dogma von Freiheit und Unfreiheit im Sinne einer Nullsummenkonzeption“<br />
(S. 172 f.; vgl. auch S. 192). Von einem<br />
Freiheitsverlust auf Seiten des Opfers werde allgemein auf<br />
eine beherrschende Stellung des Täters geschlossen, anstatt<br />
zu fragen, was „den Täter zum Täter macht“. Mit Hilfe einer<br />
machtfundierten Verbrechenstheorie könne dieses Manko<br />
überwunden werden.<br />
Dass dieser Vorwurf von Sinn nicht völlig aus der Luft<br />
gegriffen ist, wird klar, wenn man bedenkt, welch große<br />
Schwierigkeiten bis heute die strafrechtliche Beurteilung<br />
jener Fälle bereitet, bei denen der Vordermann im vermeidbaren<br />
Verbotsirrtum (so etwa beim berühmten Katzenkönigfall<br />
2 ) oder als untergeordnetes Mitglied eines organisatorischen<br />
Machtapparats handelt. Umgekehrt zeigt die Tatsache,<br />
dass eine mittelbare Täterschaft in diesen Konstellationen<br />
mittlerweile trotz voller strafrechtlicher Verantwortlichkeit<br />
des Vordermanns überwiegend anerkannt ist, dass Sinns<br />
Kritik nur teils berechtigt ist.<br />
Wie eingangs bereits angedeutet, verfolgt Sinn mit seiner<br />
Habilitationsschrift nach eigenem Bekunden das Ziel, die in<br />
der gegenwärtigen Strafrechtslehre bekannten Begriffe und<br />
Zurechnungsmomente auf eine machttheoretische Grundlage<br />
zu stellen und zugleich das Machtkonzept in die gegenwärtige<br />
Zurechnungsdogmatik zu integrieren (S. 195). Gemessen<br />
an dieser Zielsetzung erscheinen die bisher im Rahmen dieser<br />
Rezension bruchstückhaft geschilderten und in aller Kürze<br />
gewürdigten <strong>Inhalt</strong>e seines Werks lediglich als – freilich<br />
unverzichtbare – Prolegomena. Der eigentlichen Aufgabe,<br />
nämlich der Entwicklung eines wirklichkeitsnahen, leistungs-<br />
und funktionsfähigen strafrechtlichen Machtbegriffs wendet<br />
sich Sinn erst in der zweiten Hälfte seiner Arbeit zu<br />
(S. 190 ff.):<br />
In Anlehnung an die klassischen ressourcenorientierten<br />
Machtmodelle definiert er „Macht“ auch im strafrechtlichen<br />
Kontext als „Verhaltenssteuerung aufgrund bestimmter<br />
Machtquellen“ (S. 203). Dabei sei Macht nicht ausschließlich<br />
als Zwangsmittel, sondern auch als Kommunikationsmedium<br />
zu verstehen (S. 200). Ein ressourcenorientiertes Machtmodell<br />
könne trotz des handlungstheoretischen Bezugsrahmens<br />
des Strafrechts als Vorbild für einen strafrechtlichen Machtbegriff<br />
dienen, da auch die strafrechtliche Handlung als<br />
Machtäußerung zu verstehen sei und daher Machtressourcen<br />
voraussetze (S. 203-207, S. 223). Große Bedeutung misst<br />
Sinn der Unterscheidung zwischen (manifester oder latenter)<br />
aktueller Macht und potentieller Macht bei: Aktuelle Macht<br />
definiert er als „Mobilisierung von Machtressourcen, die<br />
aufgrund einer Machthandlung zu einer Machtwirkung führt“<br />
2 BGHSt 35, 347.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
171
Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
(S. 215). Unter potentieller Macht versteht er die Möglichkeit<br />
der Aktualisierung bestimmter, verfügbarer Machtressourcen<br />
(vgl. S. 216). Beide Formen der Macht sind nach seiner Überzeugung<br />
in den strafrechtlichen Machtbegriff einzubeziehen.<br />
Bestätigt sieht er sich in dieser Entscheidung durch die<br />
Tatsache, dass die „Möglichkeit der Voraussicht des Subjekts“<br />
kraft besonderen Wissens (S. 213) auch in der gegenwärtigen<br />
Zurechnungslehre bei einigen Autoren, wie etwa<br />
Larenz, eine maßgebliche Rolle spielt. Ferner gibt er zu bedenken,<br />
dass einige Tatbestände allein die Verfügbarkeit<br />
gefährlicher Gegenstände unter Strafe stellen (z.B. §§ 51, 52<br />
WaffG; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG). Schließlich betont Sinn,<br />
dass der strafrechtliche Machtbegriff ein relationaler Begriff<br />
sei, dessen Bedeutung nur in einem bestimmten sozialen<br />
Kontext, also unter Berücksichtigung der sozialen Beziehungen<br />
zwischen den beteiligten Personen oder Institutionen<br />
deutlich werde (S. 218-221).<br />
Eine neue Verbrechenstheorie kann nicht begründet werden,<br />
ohne sich intensiv mit den Merkmalen auseinanderzusetzen,<br />
die bisher ganz überwiegend als verbrechenskonstituierend<br />
angesehen werden. Ehe er seinen machtfundierten<br />
Verbrechensbegriff vorstellt (S. 271 ff.), der in erheblichem<br />
Maße von der Zurechnungslehre Hegels beeinflusst ist (vgl.<br />
S. 277-288), 3 befasst sich Sinn folgerichtig im vierten Teil<br />
seiner Arbeit zunächst mit dem gegenwärtig weitgehend<br />
anerkannten Verständnis der Straftat (S. 225-270) und kritisiert<br />
dieses namentlich im Hinblick auf zwei, eng miteinander<br />
verknüpfte Aspekte:<br />
An der klassischen Verbrechenslehre, für die insbesondere<br />
die Namen Ernst Beling und Franz von Liszt stehen und<br />
die bis heute in Form des gängigen Fallprüfungsschemas<br />
fortlebt, bemängelt Sinn die Doppelfunktion des (kausalen)<br />
Handlungsbegriffs und die Beziehungslosigkeit der einzelnen<br />
Verbrechensmerkmale (vgl. S. 254 ff.): Einerseits gilt das<br />
Vorliegen einer Handlung bekanntlich allgemein als Grundvoraussetzung<br />
einer Straftat; andererseits beschreibt die<br />
Handlung jedoch auch das Verbrechen selbst, das seinerseits<br />
die Eigenschaften tatbestandsmäßig, rechtswidrig und<br />
schuldhaft in sich vereinigt. Sinn moniert, dass die einzelnen<br />
Bausteine von den Anhängern des klassischen Verbrechensbegriffs<br />
meist zur Straftat zusammengefügt würden, ohne<br />
dass eine innere Verbindung erkennbar sei (vgl. S. 259). Den<br />
Verfechtern einer finalen Handlungslehre, wie etwa Welzel,<br />
bescheinigt Sinn zwar die „methodische Anlehnung an strukturell<br />
in der Gesellschaft vorhandene und allgegenwärtige<br />
Machtverhältnisse“ (S. 263); allerdings würden sie die „gesellschaftliche<br />
Determination des Einzelnen“, also die Eingebundenheit<br />
seiner Handlungen in die Gesellschaft, zu wenig<br />
berücksichtigen (S. 264). Um diesen Schwachpunkten der<br />
klassischen und der finalen Lehre angemessen zu begegnen,<br />
empfiehlt Sinn unter Berufung auf Hegel und in Anlehnung<br />
an Dahms und Schaffstein, „das Verbrechen als soziales Phänomen<br />
in seiner Ganzheit zu begreifen“ (S. 276). Da die<br />
3<br />
Sinn erläutert nicht nur die Zurechnungslehre Hegels<br />
(S. 235-243), sondern geht darüber hinaus auch ausführlich<br />
auf andere Zurechnungslehren, wie etwa die Imputationslehre<br />
Feuerbachs, ein (S. 229-234).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
172<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
bloße Häufung sinnfremder Einzelteile naturgemäß kein<br />
sinnvolles Ganzes ergebe, sei es unerlässlich, die Straftat „als<br />
Einheit und als Ganzheit“ zu betrachten (S. 274). Methodisch<br />
könne dies – wie die Verbrechenskonzeption Schilds zeige –<br />
durch ein „Denken in Momenten“ gelingen: Die einzelnen,<br />
unselbständigen Momente der strafrechtlichen Zurechnung<br />
müssten zu einer sinnvollen Einheit, dem Verbrechen, zusammengeschlossen<br />
werden.<br />
Der zweite Hauptkritikpunkt Sinns an der herrschenden<br />
Strafrechtsdogmatik betrifft die Trennung von (objektivem)<br />
Unrecht und (subjektiver) Schuld, für die es nach seiner Auffassung<br />
nur zwei (wenig überzeugende) Gründe gibt: erstens<br />
den „Einfluss des Zivilrechts […] auf das Strafrecht“; zweitens<br />
den „Drang nach Systematisierung des Verbrechens in<br />
seine Bestandteile und die naturwissenschaftliche Erfassung<br />
menschlichen Verhaltens“ (S. 271). Mit Hilfe einer dogmengeschichtlichen<br />
Analyse (S. 244-254) sowie einer Untersuchung<br />
der gegenwärtigen Strafrechtstheorie anhand der Konzeptionen<br />
von Roxin und Jakobs (S. 264-270) versucht Sinn<br />
nachzuweisen, dass der heute so selbstverständliche Deliktsaufbau<br />
nicht zwingend ist. Der Unrechtsbegriff des Strafrechts<br />
unterscheide sich von dem des Zivilrechts in funktionaler<br />
Hinsicht, da mit der Bestrafung des Täters die spezifisch<br />
strafrechtliche Aufgabe verfolgt werde, die Unverbrüchlichkeit<br />
der Norm kenntlich zu machen. Die Rechtsfolge<br />
Strafe – so Sinn unter erneuter Bezugnahme auf Hegel – sei<br />
jedoch nur zu rechtfertigen, wenn man das Handlungssubjekt<br />
in die Unrechtsbestimmung einbezieht; andernfalls würde<br />
man dem binären Schematismus von Recht und Unrecht<br />
widersprechen, dessen Bedeutung Sinn anhand der rechtsphilosophischen<br />
Überlegungen Luhmanns verdeutlicht (vgl.<br />
S. 271 ff.).<br />
Seine zentralen Ziele, nämlich die ganzheitliche Betrachtung<br />
der Straftat und die Überwindung der Trennung von<br />
Unrecht und Schuld, glaubt Sinn erreichen zu können, indem<br />
er den Faktor „Macht“, verstanden als verhaltenssteuerndes,<br />
soziales Phänomen, ins Zentrum der strafrechtlichen Betrachtung<br />
rückt und das Verbrechen als Machtmissbrauch begreift<br />
(vgl. S. 288-294). Unter „Machtmissbrauch“ versteht Sinn<br />
dabei den „Missbrauch eigener Freiheitsfähigkeit, der sich im<br />
Verbrechen objektiviert“ (S. 289).<br />
Auf der Handlungsebene würden aus machttheoretischer<br />
Sicht jene Verhaltensweisen ausgeschieden, bei denen die<br />
betreffende Person nicht zu einer Machtäußerung fähig sei,<br />
weil sie nicht auf die anthropologisch grundsätzlich jedem<br />
Menschen gegebenen Machtgrundlagen zurückgreifen könne<br />
(S. 307 f.).<br />
Der objektive Tatbestand eines Delikts beschreibt nach<br />
Ansicht Sinns einen gesellschaftsplanwidrigen und daher<br />
gefährlichen Machtgebrauch. Bei der Verwirklichung eines<br />
Tatbestands werde durch eine konkrete Machtäußerung ein<br />
bestimmtes Machtverhältnis begründet. In der Regel sei die<br />
Aktualisierung einer bestimmten Machtquelle erforderlich;<br />
nur ausnahmsweise – nämlich bei sehr großer Wahrscheinlichkeit<br />
einer solchen Aktualisierung – genüge bereits die<br />
Verfügbarkeit einer Machtressource (S. 290, 309 ff.).<br />
Dementsprechend besteht der Normbruch bei den Unterlassungsdelikten<br />
nach Auffassung Sinns in der nicht erfüllten
Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Erwartung, der Täter werde seine Macht aktualisieren und so<br />
den Taterfolg verhindern (S. 304 f.).<br />
Im Rahmen der Vorsatzdelikte misst Sinn der Machtquelle<br />
„Wissen“ eine besondere Bedeutung bei: Über die erforderliche<br />
Normverletzungsmacht verfüge nur derjenige, dessen<br />
Wissen sich zum einen auf die im objektiven Tatbestand<br />
beschriebene Machtäußerung und deren Folgen, zum anderen<br />
auf die Normwidrigkeit dieser Machtäußerung beziehe. Die<br />
herrschende Lehre von der Doppelfunktion des Vorsatzes als<br />
Verhaltensform einerseits und Schuldtypus andererseits lehnt<br />
Sinn also ab (S. 290, 311 ff.; 316 f.). Dem Vorsatztäter ist<br />
nach Auffassung Sinns der Vorwurf zu machen, dass er sich<br />
nicht zu gesellschaftsverträglichem Verhalten motiviert hat,<br />
obgleich er die Folgen seines Machtgebrauchs kannte. Dem<br />
fahrlässig Handelnden sei hingegen vorzuwerfen, dass er die<br />
Möglichkeit, über die Folgen seiner Machtäußerung Kenntnis<br />
zu erlangen, infolge eines Organisationsdefizits nicht genutzt<br />
habe. (S. 299-304). Als maßgebliches Kriterium der Abgrenzung<br />
zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit betrachtet Sinn<br />
also das Wissen, während er dem Wollen eine geringe Bedeutung<br />
beimisst (vgl. S. 304). Dies halte ich nicht für richtig,<br />
den der weitgehende Verzicht auf ein voluntatives Element<br />
erschwert die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz<br />
und bewusster Fahrlässigkeit. Der Handelnde kann den Eintritt<br />
eines tatbestandlichen Erfolgs zwar für möglich oder gar<br />
für wahrscheinlich halten, aber dennoch fest darauf vertrauen,<br />
dass er ausbleibt. Ihn dann wegen vorsätzlicher Tatbegehung<br />
zu bestrafen, erscheint nur wenig sinnvoll. Gerade die derzeitige<br />
Diskussion um den unangemessen weiten Anwendungsbereich<br />
des Untreuetatbestandes 4 zeigt, dass auf einschränkende<br />
Mechanismen, die von der Rechtsprechung bekanntermaßen<br />
allenfalls im subjektiven Bereich gesucht werden, 5<br />
nicht verzichtet werden kann. Die Tatsache, dass eine Vermögensschädigung<br />
offensichtlich nicht gewollt war, erweist<br />
sich hier nicht selten als letzter Rettungsanker für die in den<br />
Fokus der Strafverfolgungsorgane geratenen Entscheidungsträger<br />
in der Wirtschaft. Aus Furcht davor, sich strafbar zu<br />
machen, verzichten diese schon heute häufig auf den Abschluss<br />
von Geschäften, die sich zwar einerseits durch ein<br />
gewisses Risiko, andererseits aber auch durch enorme Chancen<br />
auszeichnen – eine im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit<br />
unserer Wirtschaft fatale Entwicklung.<br />
Den Rechtfertigungsgründen kommt nach der Konzeption<br />
Sinns die Aufgabe zu, dem Einzelnen Gestaltungsbefugnisse<br />
zu verleihen und so bestimmte Verhaltensweisen dem Vorwurf<br />
des Machtmissbrauchs zu entziehen (S. 291, 313 f.).<br />
Gegenstand des Schuldvorwurfs sei, „dass der Täter seine<br />
individuelle Macht missbraucht und deshalb Recht gebrochen<br />
– also unrecht gehandelt hat“ (S. 314). Die Schuld ist demnach<br />
kein Merkmal neben oder außerhalb des Unrechts, sondern<br />
integrativer Bestandteil desselben. Die „Schuldhaftig-<br />
4<br />
Vgl. dazu Beulke, in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift<br />
für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009,<br />
S. 245.<br />
5<br />
In diesem Sinne etwa BGHSt 51, 100 (121) (Fall Kanther/Weyrauch);<br />
BGH NStZ 2007, 704; krit. dazu jedoch<br />
BGH JR 2008, 426 mit krit. Anm. Beulke/Witzigmann.<br />
keit“ des Machtmissbrauchs, also die konstitutionelle Möglichkeit,<br />
das Recht in Frage zustellen, sowie die individuelle<br />
Zumutbarkeit werden von Sinn als ein Moment des Unrechts<br />
gedeutet (S. 314 ff.).<br />
Die einzelnen Unrechtsmomente „vereinen in sich den<br />
Machtmissbrauch einer Person und bilden damit in ihrer<br />
Gesamtheit den das strafrechtliche Unrecht konstituierenden<br />
Verbrechensbegriff“ (S. 317).<br />
Abschließend überträgt Sinn diesen machttheoretischen<br />
Verbrechensbegriff auf die eingangs bereits erläuterten Drittbeteiligungsfälle<br />
(S. 319-372). Zunächst beleuchtet er eine<br />
Reihe konkreter Fälle, die durch interindividuelle Machtverhältnisse<br />
gekennzeichnet sind (S. 322-337). Dabei zeigt sich<br />
einerseits, dass die Ergebnisse, zu denen die ganz herrschende<br />
Meinung bei derartigen Konstellationen gelangt, vielfach<br />
durchaus machttheoretisch begründet werden können. Einleuchtend<br />
ist beispielsweise, dass die mittelbare Täterschaft<br />
in Fällen eines vorsatzlos handelnden Tatmittlers auf das<br />
Auseinanderfallen von aktualisierter Handlungsmacht beim<br />
Vordermann und Folgenkenntnis beim Hintermann zurückgeführt<br />
werden kann (vgl. S. 313, 326). Andererseits wird aber<br />
auch deutlich, wo die Grenzen eines machtfundierten Verbrechensbegriffs<br />
liegen: Die Frage, ob das tatbestandsmäßige<br />
Verhalten eines im Nötigungsnotstand Handelnden gerechtfertigt<br />
oder aber entschuldigt ist, kann – wie Sinn selbst einräumt<br />
– nicht anhand machttheoretischer Erwägungen beantwortet<br />
werden, da insofern nicht allein das Machtverhältnis<br />
zwischen „Täter“ und Drittem ausschlaggebend ist, sondern<br />
auch die Schutzbedürftigkeit des Opfers berücksichtigt werden<br />
muss (S. 332-336). Wie bereits erwähnt, kritisiert Sinn an<br />
anderer Stelle, dass bei der Täterbestimmung gegenwärtig<br />
häufig einseitig darauf abgestellt werde, ob beim Opfer ein<br />
Freiheitsverlust eingetreten sei (vgl. S. 171 f.). Hier zeigt sich<br />
nun, dass seine Konzeption umgekehrt die Gefahr birgt, die<br />
Schutzwürdigkeit des Opfers nicht ausreichend zu berücksichtigen.<br />
Um die Leistungsfähigkeit seiner machttheoretischen<br />
Verbrechenslehre auch anhand derjenigen Fälle nachweisen<br />
zu können, bei denen zwischen den Beteiligten transindividuelle<br />
Machtverhältnisse herrschen, ist Sinn zunächst gezwungen,<br />
sich grundlegende Gedanken über die Beziehung<br />
von Macht und Recht zu machen. Anknüpfend an die Überlegungen<br />
von Luhmann und Habermas versucht er, das Verhältnis<br />
von Macht und Recht auf eine wechselseitige Legitimität<br />
erzeugende, kommunikationstheoretische Basis zu<br />
stellen (S. 338-361). Dabei begreift er das Recht vor allem als<br />
einen „Code der Macht“ (S. 349 ff.). Dieses Verständnis<br />
erlaubt es ihm, bei transindividuellen Machtverhältnissen<br />
eine Freistellung des „Täters“ aufgrund fehlender Gestaltungsmöglichkeiten<br />
anzunehmen; sein Verhalten also als<br />
gerechtfertigt anzusehen, so etwa in den Fällen der Verwaltungsakzessorietät<br />
oder der behördlichen Genehmigung i.S.v.<br />
§ 331 Abs. 3 StGB.<br />
Insgesamt ist festzuhalten, dass Sinn ein äußerst beeindruckendes<br />
Werk geschaffen hat. Die Kühnheit seiner Zielsetzung,<br />
der Tiefgang seiner rechtstheoretischen und -<br />
philosophischen Gedankengänge und die Akribie seiner Argumentation<br />
verdienen höchste Anerkennung. Da der konkre-<br />
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Arndt Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten Beulke<br />
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te Untersuchungsgegenstand auf die sogenannten Drittbeteiligungsfälle<br />
begrenzt ist, lässt sich freilich noch nicht absehen,<br />
inwiefern der im Bereich des Strafrechts völlig neue und<br />
daher ungewohnte machttheoretische Ansatz tatsächlich<br />
universelle Gültigkeit beanspruchen kann. Meine diesbezüglichen<br />
Bedenken habe ich in den vorangegangenen Zeilen<br />
schon hin und wieder durchblicken lassen. Ferner bleiben<br />
Zweifel, ob der Begriff der „Macht“ wirklich hinreichend<br />
bestimmt ist, um als zentraler Freistellungs- und Zurechnungsbegriff<br />
dienen zu können, und ob er im Bereich der<br />
Beteiligungsdogmatik dem gegenwärtig vorherrschenden und<br />
auch von mir favorisierten Begriff der „Tatherrschaft“ überlegen<br />
ist. Unabhängig davon stellt Sinns Habilitationsschrift<br />
aber jedenfalls einen überaus wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen<br />
Diskussion dar, der dazu einlädt, auch längst als<br />
selbstverständlich geltende Dogmen, wie etwa die Trennung<br />
von Unrecht und Schuld, neu zu hinterfragen.<br />
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174<br />
Prof. Dr. Werner Beulke, Passau<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009
Lothar Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen Veh<br />
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B u c h r e z e n s i o n<br />
Lothar Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von<br />
Strafgesetzen, C.F. Müller Verlag, Heidelberg 2006, 112 S.,<br />
€ 34.-<br />
Noch ein Werk zur verfassungskonformen Auslegung? Wer<br />
so fragt kann im Literaturverzeichnis zur anzuzeigenden<br />
Studie von Kuhlen ausreichend Belege dafür finden, dass sich<br />
– gerade auch in jüngster Zeit – eine Vielzahl von Veröffentlichungen<br />
mit Fragen der verfassungskonformen Auslegung,<br />
namentlich auch der von Strafgesetzen, befasst hat.<br />
Was könnte den Leser also dazu bestimmen, gerade die<br />
Studie von Kuhlen zur Hand zu nehmen, die sich – so verrät<br />
es das Vorwort – als der Ertrag eines Forschungsfreisemesters<br />
des Inhabers des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie,<br />
Wirtschafts- und Umweltstrafrecht an der Universität<br />
Mannheim darstellt?<br />
Der Klappentext spricht davon, die Untersuchung wolle<br />
einen „induktiven Beitrag“ zur Lösung methodischer, verfassungsrechtlicher<br />
und strafrechtlicher Probleme leisten, die die<br />
verfassungskonforme Auslegung bzw. Korrektur von Strafgesetzen<br />
aufwirft.<br />
Was heißt das konkret? Kuhlen klärt zunächst den Begriff<br />
der verfassungskonformen Auslegung (etwa in Abgrenzung<br />
zu einer verfassungsorientierten Auslegung) und benennt in<br />
Übereinstimmung mit Rechtsprechung und überwiegendem<br />
Schrifttum sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die<br />
Fachgerichte als Subjekte verfassungskonformer Auslegung.<br />
Als Hauptprobleme sieht Kuhlen die Unbestimmtheit verfassungsrechtlicher<br />
Maßstäbe und die ungeklärte Grenze zwischen<br />
zulässiger richterlicher Gesetzesauslegung und unzulässigem<br />
richterlichem Eingriff in die dem Gesetzgeber vorbehaltene<br />
Normsetzungsbefugnis, aber auch Kompetenzkonflikte<br />
zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit. Diese<br />
Problembenennungen sind, wie auch Kuhlen sieht, keineswegs<br />
neu und auf abstrakter Ebene vielfach erörtert worden,<br />
ebenso wie vielfach einzelne Entscheidungen zur verfassungskonformen<br />
Auslegung von Strafgesetzen in diesem<br />
Kontext kommentiert worden sind.<br />
Kuhlen will Kriterien für eine vernünftige Handhabung<br />
verfassungskonformer Gesetzesauslegung finden, die unterhalb<br />
des bisher berücksichtigten Abstraktionsniveaus liegen.<br />
Er geht induktiv vor, indem er wichtige Entscheidungen des<br />
BVerfG und des BGH darstellt und analysiert. Diese Vorgehensweise<br />
hat ihren Charme, fördert sie doch die Entdeckung<br />
und systematische Ordnung wiederkehrender Konstellationen<br />
und wiederkehrender Begründungstopoi und lädt in vergleichender<br />
Analyse unterschiedlicher Lösungen vermeintlich<br />
gleich oder ähnlich gelagerter Konstellationen zur Diskussion<br />
in Betracht kommender Differenzierungen ein. Ein Beispiel:<br />
Kuhlen zeigt aufgrund seines Rechtsprechungsüberblicks<br />
welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe bei der verfassungskonformen<br />
Auslegung eine Rolle spielen, um einzelne<br />
Auslegungsvarianten als verfassungswidrig anzusehen und<br />
deshalb anderen, verfassungskonformen Auslegungen den<br />
Vorzug zu geben. Er ordnet diese Maßstäbe nach den Prüfungskategorien<br />
materieller Verfassungsmäßigkeit von Ge-<br />
setzesauslegungen (Verstößt die in der angefochtenen Entscheidung<br />
vertretene Rechtsauffassung – als Gesetz gedacht –<br />
gegen das Grundgesetz?) und der formellen Verfassungsmäßigkeit<br />
von Gesetzesauslegungen (Ist es mit dem Grundgesetz<br />
vereinbar, ein bestimmtes Ergebnis gerade durch richterliche<br />
Entscheidung herbeizuführen? Beispiel: Verstoß gegen<br />
das Analogieverbot zur Begründung eines Ergebnisses, welches,<br />
würde es tatsächlich durch den Gesetzgeber normativ<br />
vorgegeben, verfassungsrechtlich keinen Einwänden ausgesetzt<br />
wäre).<br />
Besonders eingehend erörtert Kuhlen die Entscheidungen<br />
des BVerfG zur Geldwäsche durch Strafverteidiger (BVerf-<br />
GE 110, 226) und des BGH zur Vorteilsannahme durch Einwerben<br />
von Wahlkampfspenden (BGHSt 49, 275). Der Intention<br />
der Arbeit gemäß geht es ihm jeweils nicht um die Beurteilung<br />
der Verwerfung einzelner Deutungen als verfassungswidrig,<br />
sondern um die jeweils intendierten „Auslegungs-<br />
“ und Kompetenzfragen.<br />
In Auseinandersetzung mit BVerfGE 110 226 schließt<br />
sich Kuhlen manch grundsätzlicher Kritik an einer „Auslegung“,<br />
die eine nach ihrem nahe liegenden Sinngehalt verfassungswidrige<br />
Norm unter Zugrundlegung eines fern liegenden,<br />
aber verfassungsgemäßen Normgehalts erhält, nicht an.<br />
Das der Praxis entsprechende Gebot richterlicher Gesetzesbindung<br />
sei nur dann verletzt, wenn sich der Richter über den<br />
Wortsinn des Gesetzes und eine klar erkennbare, auf das<br />
spezifische Problem bezogene Entscheidung des Gesetzgebers<br />
hinwegsetze oder der Norm keinen sinnvollen Anwendungsbereich<br />
mehr lasse. Dabei sei dem BVerfG Rechtsfortbildung<br />
ebenso wenig verwehrt wie den Fachgerichten.<br />
An der Entscheidung des BGH zur Einwerbung von<br />
Wahlkampfspenden (BGHSt 49, 275) kritisiert Kuhlen die<br />
verfassungsrechtliche Überhöhung strafrechtlicher Sachargumentation.<br />
Nicht ohne Grund sieht er Verfassungs- und<br />
Fachgerichtsbarkeit in unterschiedlicher Weise legitimiert:<br />
Verfassungsgerichte primär zur Verwerfung bestimmter<br />
Normverständnisse. Fachgerichte primär zur Auswahl unter<br />
mehreren verfassungsgemäßen Deutungen. Zurückhaltung<br />
fordert Kuhlen demgegenüber vom Verfassungsgericht bei<br />
der Vorgabe einer bestimmten Auslegung (nur, wenn dies die<br />
einzige verfassungsgemäße Interpretationsmöglichkeit sei),<br />
von den Fachgerichten dagegen bei der Verwerfung eines<br />
bestimmten Normverständnisses als verfassungswidrig.<br />
Schließlich nimmt Kuhlen zwei Entscheidungen (BVerf-<br />
GE 105, 135 und BGH NStZ 2005, 105) in den Blick, die<br />
sich durch die Verwerfung strafgesetzlicher Normen wegen<br />
ihrer Unbestimmtheit auszeichnen. Vor dem Hintergrund<br />
seiner umfassenden Darstellung von Entscheidungen zur<br />
verfassungskonformen Auslegung zeigt sich gerade hier der<br />
Vorteil seiner induktiven Vorgehensweise. Kuhlen stellt<br />
unterschiedliche Anforderungen an Gesetzesbindung und an<br />
die Bestimmtheit einer Regelung fest, je nachdem ob es um<br />
die Verwerfung eines Gesetzes als zu unbestimmt oder einer<br />
Gesetzesinterpretation als auslegungsüberschreitend oder um<br />
die Akzeptanz normerhaltender Interpretationen geht, an<br />
deren Bestimmtheit und Akzeptanz im Lichte des Gebotes<br />
der Gesetzesbindung weit geringere Anforderungen gestellt<br />
werden. Zu Recht akzeptiert Kuhlen entsprechende Unter-<br />
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Lothar Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen Veh<br />
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schiede, soweit es einerseits um Analogie zu Lasten des Bürgers,<br />
andererseits um Wortlautüberschreitung zugunsten des<br />
Bürgers geht. Ebenso überzeugend fordert Kuhlen dagegen<br />
identische Bestimmtheitsanforderungen.<br />
Insgesamt ist Kuhlen eine gut lesbare, verständliche Studie<br />
gelungen, die ihren Pragmatismus nicht hinter Theoriefloskeln<br />
versteckt. Kuhlen gibt weniger theoretische Steine<br />
als praktisches Brot. Mit seinem induktiven Ansatz erfasst er<br />
allerdings nur Fragestellungen, die im bisherigen Fallmaterial<br />
und der bisherigen Begründungspraxis der Gerichte angelegt<br />
sind.<br />
Die Begrenztheit eines Forschungsfreisemesters lässt aber<br />
auch insoweit noch viele Fragen offen, deren Diskurs der<br />
Autor – nicht immer überzeugend – unter Hinweis auf den<br />
begrenzten Rahmen der Arbeit abbricht. Beispiel: Durchaus<br />
nicht unzweifelhaft erscheint die These des Autors, fern liegende<br />
Gesetzesverständnisse könnten einem strengeren materiellen<br />
verfassungsrechtlichen Maßstab unterliegen als nahe<br />
liegende, weil der richterlichen Gesetzesinterpretation nicht<br />
der gleiche materielle Entscheidungsspielraum zustehe wie<br />
dem Gesetzgeber selbst. Dagegen wäre einzuwenden, dass<br />
das BVerfG, jenseits der Feststellung einer Verletzung des<br />
Analogieverbots, nicht über die Richtigkeit einer Gesetzesauslegung<br />
zu befinden, sondern diese zu akzeptieren und –<br />
als fachrichterliche Erkenntnis der Rechtslage und damit auch<br />
der gesetzgeberischen Entscheidung – seiner verfassungsrechtlichen<br />
Überprüfung zugrunde zu legen hat. Kuhlen eröffnet<br />
dagegen Spielräume, aus Sicht des BVerfG weniger<br />
überzeugende, aber doch immerhin mögliche Normverständnisse<br />
dadurch abzustrafen, dass man sie einem veränderten<br />
materiellen Prüfungsmaßstab unterwirft und einen Norminhalt,<br />
den der Gesetzgeber verabschieden dürfte, nur deshalb<br />
nicht akzeptiert, weil man ihn als Werk des Richters, nicht<br />
des Gesetzgebers interpretiert. Das eröffnet dem Verfassungsgericht<br />
durchaus weitreichende Argumentationslinien in<br />
Richtung einer „Superrevisionsinstanz“. Einem intensiveren<br />
Diskurs zu derartigen Fragen entzieht sich der Autor unter<br />
Hinweis auf den begrenzten Rahmen der Arbeit.<br />
Nichtsdestotrotz: Eine lesenswerte Studie, deren Autor<br />
Appetit macht auf weitere Beiträge und vertiefte Antworten.<br />
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Präsident des Landgerichts Dr. Herbert Veh, Augsburg<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
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Buchrezension<br />
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision)<br />
Minderjähriger als verfassungs- und sozialrechtliches<br />
Problem, dissertation.de – Verlag im Internet GmbH, Berlin<br />
2008, 132 S., € 39,-<br />
I. Es gibt unterschiedliche Gründe, eine Monografie zu besprechen.<br />
Erstens kann es sich um ein Thema handeln, worüber<br />
zu berichten sich lohnt. Dies trifft im vorliegenden Fall<br />
zu. Denn für die rechtliche Problematik der Zirkumzision an<br />
nicht einwilligungsfähigen Jungen hat sich die Rechtswissenschaft<br />
lange Zeit überhaupt nicht interessiert. Inzwischen ist<br />
das Thema fast schon en vogue: Seit Anfang des Jahres 2008<br />
sind mehrere Aufsätze dazu erschienen. 1 Ende Oktober 2008<br />
hat Jochen Schneider das hier im Mittelpunkt stehende Buch<br />
veröffentlicht, 2 worin er sich auf 132 Seiten der verfassungs-<br />
und sozialrechtlichen Problematik widmet. Ein zweiter möglicher<br />
Grund, sich einer Publikation zu widmen, kann sein,<br />
dass die darin enthaltenen Thesen Widerspruch provozieren<br />
und Vertreter der Gegenmeinung auf den Plan rufen. Sie<br />
nutzen eine Rezension, um alte Argumente zu erneuern und<br />
neue vorzutragen – bis hin zu einem Verriss. Das von<br />
Schneider bearbeitete Thema bietet dafür reichlich Gelegenheit.<br />
Immerhin geht es nicht um abstrakte, lebensfremde<br />
Materie, sondern um religiöses Verhalten, das von Juden und<br />
Muslimen praktiziert wird. Dieser Aspekt ist indessen nicht<br />
der Grund für die vorliegenden Anmerkungen, denn mit der<br />
veröffentlichten Meinung des Rezensenten stimmen die von<br />
Schneider gefundenen Ergebnisse voll und ganz überein.<br />
Bleibt ein drittes mögliches Rezensionsmotiv: Es kann sich<br />
um eine vorzügliche Arbeit handeln, weshalb es lohnt, sie<br />
einer breiten Leserschaft vorzustellen und darauf hinzuweisen.<br />
In solchen Besprechungen sind viel Lob und das übliche<br />
Maß an Kritik zu finden. Um es vorwegzunehmen: Lob wird<br />
es hier kaum geben, dafür umso mehr Kritik. Und der totale<br />
Verfall wissenschaftlicher Standards ist es, der die Kritik<br />
nicht gerade zimperlich ausfallen lässt. Jeder, der ehrliches<br />
Interesse für die Problematik aufbringt, weiß, dass es sich um<br />
ein reizvolles Thema handelt. Es derart schlampig behandelt<br />
zu sehen, ist enttäuschend.<br />
Manche werden sich vielleicht fragen, warum der Rezensent<br />
derart gründlich zu Werke geht, zuerst mit Blick auf die<br />
Formalien (II.) und dann bei der inhaltlichen Kritik (III.).<br />
Ganz einfach: Wer ein Buch lobt, ist frei von jeder Nachweispflicht;<br />
wer hingegen Kritik übt, trägt die Beweislast. So<br />
etwas lässt sich nicht mit wenigen Sätzen erledigen. Und<br />
möglicherweise hat diese Besprechung das an Seiten und<br />
1<br />
Vgl. etwa (in der Reihenfolge des Erscheinens) Putzke, in:<br />
ders. u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum<br />
70. Geburtstag, 2008, S. 669; Jerouschek, NStZ 2008, 313;<br />
Schwarz, JZ 2008, 1125; Herzberg, JZ 2009, 332.<br />
2<br />
Es lag der Juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität<br />
Frankfurt am Main im Jahr 2007 als Dissertation<br />
vor (Erstgutachter: Prof. Dr. Ingwer Ebsen, Zweitgutachterin:<br />
Prof. Dr. Ute Sacksofsky).<br />
Genauigkeit zu viel, was der Arbeit von Schneider schon im<br />
Ansatz fehlt.<br />
II. Eine Arbeit verdient nur dann den Zusatz „wissenschaftlich“,<br />
wenn bestimmte Anforderungen eingehalten<br />
werden. Am Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann<br />
Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main regelt dies<br />
§ 2 Abs. 2 der Promotionsordnung, worin geschrieben steht:<br />
„Die Dissertation muß wissenschaftlichen Ansprüchen genügen<br />
und einen Beitrag zum Fortschritt der rechtswissenschaftlichen<br />
Erkenntnis liefern.“ Dazu zählt auf jeden Fall der Umgang<br />
mit wissenschaftlichen Quellen, aber auch eine klare<br />
und fehlerfreie sprachliche Gestaltung gehört dazu. Die Arbeit<br />
von Schneider missachtet schon diese formalen Aspekte<br />
gründlich.<br />
Im Einzelnen: Die Gliederung ist uneinheitlich und unvollständig.<br />
So gliedert Schneider die erste Ebene unterhalb<br />
eines Kapitels im 1. Kapitel mit arabischen Ziffern, in allen<br />
anderen Kapiteln aber mit Großbuchstaben. Zudem gibt es an<br />
drei Stellen keine Gegenpositionen (etwa im 4. Kapitel unter<br />
A, im 7. Kapitel unter C. II. und im 12. Kapitel unter B.).<br />
Das Literaturverzeichnis spielt normalerweise bei Rezensionen<br />
keine große Rolle. Bei der Arbeit von Schneider provozieren<br />
die vielen offensichtlichen Fehler aber einen genaueren<br />
Blick. Was dann zutage tritt, ist erschreckend. Von 98<br />
Einträgen sind knapp 40 fehlerhaft. Etwa scheint sich Schneider<br />
bei Namenszusätzen und akademischen Graden nicht<br />
ganz sicher zu sein: Den Strafrechtskommentar von<br />
Lackner/Kühl zitiert er mit „Lackner, Dr., Karl/ Kühl, Dr. Dr.<br />
Kristian“. Der Doktortitel findet sich auch noch an diversen<br />
anderen Stellen (etwa bei Ebsen, Jauernig und Larsen). Beim<br />
Namenszusatz „von“ heißt es mal „Mangold [sic!], Hermann<br />
v.“, mal „Münch, Ingo, von“ und auch einmal korrekt „v.<br />
Münch, Ingo“. Ob ein Eintrag mit einem richtigen und vollständigen<br />
Namen angegeben wird, scheint auch eher zufallsabhängig<br />
zu sein. Bei manchen Einträgen ist ein falscher<br />
Name zu finden (Peter Antes statt Günter Mayer), teilweise<br />
fehlen Mitautoren bzw. -herausgeber (etwa Jutta Bernhard<br />
und Hubert Mohr beim Eintrag „Auffahrt“; Heinrich de Wall<br />
bei „v. Campenhausen“; Burkhard Ubrig u.a. bei „Roth“;<br />
Astrid Stadler bei „Rüthers“ sowie Niels M. Bleese und Ulrich<br />
Mommsen bei „Schumpelick“).<br />
Zufallsabhängig scheint auch zu sein, ob Autoren bzw.<br />
Herausgeber überhaupt einen Vornamen erhalten („v. Campenhausen“,<br />
„Dietlein“) oder er nicht ausgeschrieben wird –<br />
mal mit, mal ohne Punkt („Doenicke, A“, „Dreher, E.“, „Häring,<br />
R/Zilch, H.“). Auf den Zusatz „Begr.“ oder „Hrsg.“ wird<br />
ebenfalls teilweise verzichtet („v. Mangoldt/Klein/Starck“,<br />
„Palandt“, „Schmidt-Bleibtreu/Klein“, „Schönke/Schröder“).<br />
Auch bei den Titeln nimmt es Schneider nicht so genau:<br />
Aus „Handbuch des Staatsrechts“ wird „Handbuch des<br />
Staatsrechtes“ (S. VII) 3 , aus „Die Lehre von den grundrechtlichen<br />
Schutzpflichten“ macht Schneider „Lehre der grundrechtlichen<br />
Schutzpflichten“ (S. III) und beim Titel „Die<br />
rechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der weiblichen<br />
3<br />
Auf Stellen der hier besprochenen Arbeit wird im Folgenden<br />
mit eingeklammerten Seitenzahlen verwiesen.<br />
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Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
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Verstümmlung“ (Fn. 3) hätte es „Genitalverstümmelung“<br />
heißen müssen.<br />
Besonders auffällig ist die Tatsache, dass Schneider veraltete<br />
Auflagen verwendet, und zwar in ungefähr 70 Prozent<br />
der Fälle. 4 Wohlgemerkt legt der Rezensent keinen kleinlichen<br />
Maßstab an, sondern geht vom Jahr 2006 aus (Schneider<br />
hat seine Arbeit 2007 der Fakultät vorgelegt und Ende 2008<br />
veröffentlicht). Zu den alten Auflagen gesellen sich fehlerhafte<br />
Angaben: Das Strafrechtslehrbuch von Kühl zum Allgemeinen<br />
Teil wird angegeben mit „25. Auflage, München<br />
2004“. Korrekt gewesen wäre „5. Auflage, München 2005“,<br />
das Werk von Wessels/Beulke wird nicht in München verlegt,<br />
sondern in Heidelberg, und der von Rudolf Wassermann<br />
herausgegebene Alternativkommentar zum GG ist nicht in<br />
„n.n.“ erschienen, sondern in Neuwied/Darmstadt.<br />
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Zitierweise. Schneider<br />
gibt im Literaturverzeichnis bei jedem Eintrag an, wie er ihn<br />
zu zitieren gedenkt. An manches muss man sich gewöhnen.<br />
Etwa daran, dass Aufsätze (z.B. von Erichsen, Jura 1997,<br />
S. 85 ff. oder Hassemer, wistra 1995, S. 41 ff.) von Schneider<br />
in den Fußnoten wie folgt zitiert werden: „Erichsen:<br />
Schtzpfl., Seite“ bzw. „Hassemer, Professionelle Adäquanz/1,<br />
Seite“. Das ist zumindest unüblich. Der Zusatz „zitiert:<br />
…“ wäre allerdings auch gänzlich überflüssig gewesen.<br />
Zum einen hat er generell keinerlei Nutzen, wenn es um das<br />
Auffinden der zitierten Fundstellen geht. 5 Zum andern hält<br />
Schneider sich nicht einmal an seine eigenen Angaben. Etwa<br />
gibt er die Zitierweise für den Eintrag „Coenen, Theologisches<br />
Begriffslexikon zum Neuen Testament“ an mit „Coenen<br />
u.a., Bearb. …“. Später in den Fußnoten heißt es dann:<br />
„Hahn und Avemarie in ‚Theolog. Begriffslexikon zum NT’<br />
…“ (Fn. 42). Ein einziges Mal abzuweichen, scheint Schneider<br />
offenbar aber nicht zu reichen. Als Zitierweise für den<br />
Kommentar zum Strafgesetzbuch von Tröndle/Fischer gibt<br />
der Autor an „T/F, §, Rndnr.“ (S. XVI). In den Fußnoten sind<br />
später vier verschiedene Versionen zu finden. 6 Fünf sind es<br />
bei dem Kommentar zum Grundgesetz von Sachs. 7 Manchmal<br />
wird es auch redundant, etwa in Fn. 113: „Fichte in Erlenkämper/Fichte,<br />
SR, Bearb.: Fichte, S. 339“. Das soll genügen<br />
– die Liste ließe sich erweitern.<br />
4<br />
Siehe die Bücher von Brodag, v. Campenhausen/de Wall,<br />
Dietlein, Erlenkämper/Fichte, Fichtner/Wenzel, Frei/Jonmarker/Werner,<br />
Gropp, Häring/Zilch, Ipsen, Jarass/Pieroth,<br />
Katz, Larsen usw.<br />
5<br />
Vgl. Putzke, Juristische Arbeiten erfolgreich schreiben,<br />
2. Aufl. 2009, Rn. 222.<br />
6<br />
„Tröndle in Tröndle/Fischer“ (Fn. 464); „Tröndle/Fischer“<br />
(Fn. 465); „Tröndle/Fischer, StrR-Komm“ (Fn. 490) und<br />
„Tröndle in Tröndle/Fischer, StGB-Komm“ (Fn. 494).<br />
7<br />
Angegeben im Literaturverzeichnis mit „Sachs, GG-Komm,<br />
Bearb.: Art. , Rndnr.“. Spätere Varianten: „Murswiek in<br />
Sachs, GG-Komm., Art. 2, Rndnr. 34“ (Fn. 385); „Murswiek<br />
in ‚Sachs: GG-Komm.’, Art. 2 GG, Rndnr. 30“ (Fn. 249, 251,<br />
397); „Höfling in Sachs, GR-Komm, Art. 1, Rndnr. 28“ (Fn.<br />
407); „Kokott in Sachs, Art. 4 Rndnr. 17“ (Fn. 267) und<br />
„Murswiek in, GG-Komm, Art. 2, Rndnr. 34“ (Fn. 217).<br />
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Wenn man sich bei Schneider auf etwas verlassen kann,<br />
dann ist es die Uneinheitlichkeit. Seitenzahlen in den Fußnoten<br />
werden manchmal mit Komma (siehe etwa Fn. 136, 263,<br />
521), manchmal mit Klammern (etwa Fn. 236, 254, 516)<br />
getrennt. Im Text heißt es teilweise „BVerfG“ (etwa S. 86,<br />
90, 96, 105, 107), teilweise „Bundesverfassungsgericht“<br />
(etwa S. 61, 77). Gänzlich uneinheitlich handhabt Schneider<br />
das Setzen von Punkten bei Abkürzungen. 8 Nicht anders bei<br />
Kommata: Mal setzt er vor die Abkürzung „u.a.“ ein Komma,<br />
etwa bei Eckhoff, Häring, Erlenkämper, mal (korrekterweise)<br />
keines (etwa bei Bleckmann und Ebner). Auch der Schrägstrich<br />
wird uneinheitlich verwendet: Mal heißt es „Fichtner/Wenzel“,<br />
mal „Eicher/ Spellbrink“ (Fn.124) und ein<br />
anders Mal „Fichtner /Wenzel“ (Fn. 117). Leerzeichen werden<br />
manchmal gesetzt, oft aber auch nicht (besonders plastisch<br />
in Fn. 459, 462 und 463). Punkte bei Ordnungsnummern<br />
sind ebenfalls nicht immer vorhanden (S. 62: „18 Jahrhundert“,<br />
S. XI: „45 Erg.-Lieferung“, S. XVI: „2 Auflage“).<br />
Zu solchen Uneinheitlichkeiten gesellen sich Fehler und<br />
Ungenauigkeiten in den Fußnoten. 9<br />
Besonders fällt ins Gewicht, dass Schneider nicht gerade<br />
wenige Fundstellen (etwa 35) zwar in den Fußnoten erwähnt,<br />
sie aber nicht im Literaturverzeichnis aufführt. 10 Aber mögli-<br />
8<br />
„DVBl“ oder „DVBl.“ (S. IV, jeweils bei Ebsen); „Art“<br />
(S. 61, 64, 71, 91, 97; Fn. 375, 378) oder „Art.“ (etwa S. 97,<br />
Fn. 380); „S“ (etwa Fn. 384) oder „S.“ (etwa Fn. 387).<br />
„Rndnr“ (etwa Fn. 386) oder „Rndnr.“ (etwa Fn. 134), „etc“<br />
(S. 39) oder „etc.“ (S. 29).<br />
9<br />
Beispielhaft: „Darauf weist P. Heine in @ einfügen’, S. 123<br />
hin.“ (Fn. 84); „So Frank in Leth in ‚Wenig Gründe für die<br />
Beschneidung’ in FNP“ (Fn. 91); „Gleicher Ansicht ist P.<br />
Heine in ‚einfügen’, S. 122“ (Fn. 96); „Fichte in Erlenkämper/Fichte,<br />
SR, Bearb.: Fichte, S. 339“ (Fn. 113); „BverWG“<br />
(Fn. 118); Fn. 125 ist leer; „Dies wurde erstmals in der<br />
BVerfGE 29.07.68 - 24, 119= NJW 68/223-entschieden …“<br />
(Fn. 147); „BVerGE“ (Fn. 151); „BVerG“ (Fn. 210, 365,<br />
366); „BVergG“ (Fn. 231 und Fn. 345); „Muckel W 2000,<br />
698“ (Fn. 270); „BVerwG in JW 2002, S. 3344“ (Fn. 284,<br />
siehe auch Fn. 455); „BVerfG W 1995, 2477“ (Fn. 291);<br />
„BVerwG 1995, 2477, 2478“ (Fn. 292); „BVerFGE“ (Fn.<br />
338, 339, 340); „Loschfelder in Loschfelder u. Redner …“<br />
(Fn. 342); „S.§ 30, Rndnr. 751“ (Fn. 353); „BVERWG“<br />
(Fn. 374); „BVerfG 2001, 594; BVerfG 2001, 2957“<br />
(Fn. 399); „Kühl in La, § 223 …“ (Fn. 464); „Haro, StrR …“<br />
und „Haro, § 14 …“ (Fn. 531, 532). Mit „Haro“ meint<br />
Schneider übrigens den renommierten Strafrechtler Harro<br />
Otto.<br />
10<br />
Etwa Rosenke (Fn. 3, 418), Abu-Salieh (Fn. 8), Jacobs und<br />
Westermann (Fn. 15), Ramadan (Fn. 18), Spiegel (Fn. 22),<br />
Antes (Fn. 27), Pschyrembel (Fn. 43), Palitzsch (Fn. 81),<br />
Wiemer/Willmann (Fn. 93), Heine (Fn. 96), Krasney und<br />
Schulin (Fn. 109), Eicher/Spellbrink (Fn. 124 und 126), Staudinger<br />
(Fn. 142), Gereuter (Fn. 147), Kern (Fn. 205), Isensee<br />
und Murswiek (Fn. 213), Stern (Fn. 221), Steinberg<br />
(Fn. 223), Enders, Schütz und Abel (Fn. 262), Alpmann<br />
Brockhaus (Fn. 253), Sacksofsky (Fn. 274), Badura (Fn. 313),<br />
Siedhoff/Scherer (Fn. 324), Eberbach (Fn. 327), Perschel
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
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cherweise hätten das manche der betroffenen Autoren gar<br />
nicht gewollt, denn man sieht seinen Namen ungern verfälscht.<br />
So heißt es etwa bei Schneider: Loschfelder statt<br />
Loschelder (S. X, Fn. 357), Lübbe-Wolf statt Lübbe-Wolff<br />
(S. X et passim), Mangold statt Mangoldt (S. X et passim),<br />
Weigand statt Weigend (S. VIII, Fn. 492, 493, 520), Kreise<br />
statt Kreiser (S. IX), Peter statt Peters (S. XII), Schmidt-<br />
Kammler statt Schmitt-Kammler (Fn. 149, 294, 316, 320),<br />
Callies statt Calliess (Fn. 218, 235), Kallmeyer statt Kallmayer<br />
(S. II), Haro statt Otto (Fn. 531/532), Siekman statt<br />
Siekmann (Fn. 271), Hillgrüber statt Hillgruber (Fn. 354),<br />
Abu Sahlieh statt Abu Salieh (Fn. 372), Bleckman statt<br />
Bleckmann (Fn. 404) sowie Campenhausen statt von Campenhausen<br />
(etwa Fn. 264, 272, 273).<br />
Nicht nur die Einhaltung solcher wissenschaftlichen Standards<br />
ist unverzichtbar. Zu einer Grundbedingung wissenschaftlichen<br />
Arbeitens gehört auch und vor allem die Sprache.<br />
Schneider ist weit davon entfernt, die deutsche Sprache<br />
fehlerfrei und verständlich zu gebrauchen, von Schönheit im<br />
Ausdruck nicht zu reden.<br />
Fehlende Satzzeichen sind dabei noch relativ harmlos<br />
(siehe etwa S. 40, 54, 70, 111). Die geradezu massenhaft<br />
auftretenden Rechtschreibfehler (allein in der Danksagung<br />
sind es deren drei, z.B. „Denkanstösse“) stören gewaltig.<br />
Besonders eigenwillige Beispiele sind: „Heildelberg“<br />
(S. XVII) und „omnimodo factorus“ (Fn. 219). Aus der rheinland-pfälzischen<br />
Stadt Mülheim-Kärlich macht Schneider<br />
„Mühlheim-Klärlich“ (S. 124) und aus einem Zirkumzidierten<br />
gar einen „Zirkumzisionierten“ (S. 68 und S. 116: „eines<br />
zirkumzisionierten Gliedes“). Manche Aussagen sind auch<br />
schlicht unverständlich: „Bzgl. der staatlichen Neutralität vgl<br />
die ‚Kruzifix-Entscheidung’ entschieden“ (Fn. 391). Weitere<br />
verunstaltete Sätze sprechen für sich selbst: „Auch der Vorwurf<br />
anderer Aktivisten […] bleiben Einzelfälle“ (S. 2 bei<br />
Fn. 6 im Text); „Erschreckender Weise werden neben dem<br />
Hygieneargument auch die Gründe aufgeführt, […] die ihren<br />
Ursprung eher in moralischen als tatsächlich religiösen Motivation<br />
finden lassen“ (S. 8); „Ausnahmen davon stellt Kanada<br />
dar […]“ (S. 15 in Fn. 61); „Die Beschneidung tangiert<br />
zum einen mit dem Selbstbestimmungsrecht“ (S. 91); „Die<br />
Beschneidung im Judentum […] versteht die Zirkumzision<br />
jedoch als ein Schlüsselzeichen […]“ (S. 112); „Der Erfolg<br />
beruht kausal […]“ (S. 110); „Unabhängig der Notwendigkeit<br />
von Schmerzempfindungen […]“ (S. 110); „Durch ihre Tatbestandsmäßigkeit<br />
und dem Fehlen eines darüber hinaus<br />
gehenden Zweckes […]“ (S. 117); „Jedoch unterliegen auch<br />
Erziehungsziele, hier z.B. zu einem bestimmten Glauben oder<br />
einer bestimmten Kultur dem Grundgesetz und damit den<br />
Rechten des Kindes, als Korrektiv“ (S. 125); „Unabhängig<br />
der Frage, ob […], entschuldigt dies demnach keine Strafbarkeit<br />
nach § 223 StGB“ (S. 127). – Wie gesagt, das sind nur<br />
einige (wenige) Beispiele.<br />
Nur am Rande sei erwähnt, dass die Arbeit von Schneider<br />
mit 132 Seiten nicht lang ist. Und sie wäre wahrlich noch viel<br />
kürzer, wenn man berücksichtigt, dass Schneider auf einigen<br />
(Fn. 351), Dörr und Schöbener (Fn. 460), Streinz (Fn. 461),<br />
Krey (Fn. 469), Tiedemann (Fn. 504), Beulke (Fn. 522).<br />
Seiten nahezu sämtliche Sätze als Absätze formatiert hat<br />
(etwa S. 2, 4, 14), dass jede Menge textfreier Platz und Leerseiten<br />
vorhanden sind (S. 12, 15, 16, 24, 36, 40, 44, 60, 87,<br />
88, 94, 104, 108, 129, 130), ganze Textpassagen nahezu<br />
wörtlich wiederholt werden (vgl. S. 58 mit 86), dass Silbentrennung<br />
nicht vorkommt (was zu hässlichen Lücken im Text<br />
führt, siehe S. 25, 26, 39, 65, 131) sowie ein sehr breiter<br />
Seitenrand und ein 1,5-facher Zeilenabstand gewählt wurde.<br />
Nun ist allein der Umfang einer Arbeit kein geeigneter Maßstab,<br />
um auf deren Qualität und das wissenschaftliche Niveau<br />
zu schließen. Zieht man jedoch in Erwägung, dass Schneider<br />
ein Thema bearbeitet hat, das bis zur Abgabe seiner Dissertation<br />
von Seiten der Rechtswissenschaft keine Aufmerksamkeit<br />
erfahren hatte, das neben schwierigen strafrechtlichen<br />
auch komplexe verfassungsrechtliche Aspekte enthält, dann<br />
können zumindest Zweifel aufkommen, ob sich ein solches<br />
Thema angemessen auf knapp 100 realen Seiten bearbeiten<br />
lässt.<br />
III. Nun soll der <strong>Inhalt</strong> der Arbeit vorgestellt und beleuchtet<br />
werden. Dabei wird sich klären, ob Schneider wenigstens<br />
insoweit die Voraussetzungen von § 2 Abs. 2 der Promotionsordnung<br />
des Fachbereichs, der ihn promoviert hat, erfüllt.<br />
Die Erfahrung lehrt, dass man in der Regel von einer schlechten<br />
Form auf den <strong>Inhalt</strong> schließen kann. Wer es mit den Formalien<br />
nicht so genau nimmt, dem fehlt meist auch bei der<br />
Auseinandersetzung mit der Sache die nötige Sorgfalt. Um es<br />
vorwegzunehmen: Schneider bestätigt diese Beobachtung.<br />
Im ersten Kapitel geht der Autor auf die „Ausgangsituation<br />
und Motivation der Beschneidung“ ein (S. 1-12). Er erwähnt,<br />
dass Zirkumzisionen in anderen Ländern, etwa den<br />
USA, mehr oder weniger routinemäßig vorgenommen werden,<br />
sich aber auch eine breite Gegenbewegung gebildet<br />
hat. 11 Gleichzeitig bemängelt er die Datenlage in Deutschland,<br />
was ihn feststellen lässt: „Sie [die medizinisch nicht<br />
indizierten Beschneidungen, (H. P.)] befinden sich damit in<br />
einem unüberprüfbaren, scheinbar rechtsfreien Raum“ (S. 3).<br />
Diese Schlussfolgerung ist nicht plausibel, denn die statistische<br />
Erfassung bzw. Nichterfassung eines Phänomens sagt<br />
rein gar nichts darüber aus, wie mit diesem Phänomen umgegangen<br />
wird und umzugehen ist. Ein Beispiel mag das verdeutlichen:<br />
Die Tatsache, dass Straftaten deutscher Staatsbürger<br />
mit Migrationshintergrund statistisch nicht ausdrücklich<br />
als solche ausgewiesen und separat erfasst werden, macht<br />
das Verhalten noch lange nicht „unüberprüfbar“ und diese<br />
Personen bewegen sich auch nicht in einem „scheinbar<br />
rechtsfreien Raum“. Der dürftigen Datenlage begegnet<br />
Schneider mit einer eigenen Erhebung, wobei er Daten vom<br />
Universitätsklinikum Frankfurt am Main aus den Jahren 2000<br />
bis 2004 vorlegt. Obwohl die Aussagekraft der Zahlen beschränkt<br />
sein dürfte (weil die Erfassung, etwa mit Blick auf<br />
das Alter der Bezugsgruppe, anscheinend fragmentarisch ist),<br />
zeigt sich, dass pro Jahr durchschnittlich etwa 20 medizinisch<br />
11<br />
Ob allerdings die Angabe von Adressen und Telefonnummern<br />
(Fn. 9-12) der betreffenden Organisationen in einer<br />
wissenschaftlichen Ausarbeitung am Platze ist, darf bezweifelt<br />
werden. Schließlich handelt es sich nicht um eine Broschüre<br />
für Hilfe suchende Betroffene.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
179
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
nicht indizierte Zirkumzisionen an nicht einwilligungsfähigen<br />
Kindern durchgeführt werden. Bedenkt man, dass es sich<br />
dabei nur um Zahlen eines einzigen Krankenhauses handelt,<br />
wird zum einen die Verbreitung des Phänomens deutlich,<br />
zum andern die Notwendigkeit, Ärzten Rechtssicherheit zu<br />
verschaffen. 12<br />
Nachdem Schneider die Ausgangssituation umschrieben<br />
und mit Fallzahlen veranschaulicht hat, 13 befasst er sich mit<br />
der Motivation für die Vornahme von Beschneidungen und<br />
sagt, die Motive seien „nach einhelliger Auffassung unterschiedlicher<br />
Natur und teilweise nicht klar abzugrenzen,<br />
übergreifend“. Zum einen ist der Satz verworren und es bleibt<br />
im Dunkeln, warum Schneider etwas Banales mit einer „einhelligen<br />
Auffassung“ flankiert. Zum andern stimmt die Aussage<br />
im zweiten Teil des Satzes nicht. Ob jemand einen medizinischen,<br />
hygienischen, ästhetischen, kulturellen, rituellen<br />
oder religiösen Grund hat, lässt sich sehr wohl abgrenzen.<br />
Gerade bei einer religiös motivierten Beschneidung ist allein<br />
der religiöse Aspekt handlungsleitend. Abgesehen davon gibt<br />
es gar keine Notwendigkeit der Abgrenzung. Die Frage ist<br />
vielmehr, ob einzelne Aspekte (Hygiene, Ästhetik, Religion<br />
etc.) den Eingriff zu rechtfertigen vermögen. Wäre dies zu<br />
bejahen (etwa mit Blick auf Art. 4 und 6 GG), stünden weitere<br />
Gründe, also ein Motivbündel, einer Rechtfertigung nicht<br />
entgegen.<br />
Unbestritten ist der Eingriff gerechtfertigt, wenn er medizinisch<br />
motiviert, genauer indiziert ist. Schneider nimmt<br />
insoweit eine einseitige Differenzierung vor. Abzugrenzen sei<br />
„zwischen sogenannten Heilbehandlungen nach § 11 I S. 1<br />
SGB V […] und vorbeugenden Maßnahmen nach § 11 I S. 2<br />
SGB V“ (S. 10). Abgesehen davon, dass § 11 Abs. 1 SGB V<br />
aus nur einem einzigen Satz besteht, dafür aber aus fünf<br />
Nummern, ist die Differenzierung zwar wichtig für die Frage,<br />
ob ein Versicherter einen Leistungsanspruch hat, hilft jedoch<br />
überhaupt nicht weiter für die Frage einer rechtlich relevanten<br />
Rechtfertigung des Eingriffs. Anders als Schneider annimmt,<br />
ist insoweit nicht „abzugrenzen“, sondern „einzugrenzen“,<br />
d.h. es ist zu klären, ob Aspekte der Vorbeugung<br />
unter „Heilbehandlung“ zu subsumieren sind und also eine<br />
medizinische Indikation vorliegt. Behandelt wird dieser wichtige<br />
Aspekt allerdings kaum (S. 10/11, 21/22, 27/28). 14 Insoweit<br />
fällt auf, dass ein Standardwerk fehlt: Es handelt sich um<br />
das Buch von David L. Gollaher, Das verletzte Geschlecht.<br />
Die Geschichte der Beschneidung, 2002. Darin werden Vorbeugungsmaßnahmen<br />
und ihre Relevanz ausführlich thematisiert.<br />
Zudem hat Schneider die übrige Literatur offenbar nicht<br />
ausgewertet, sonst hätte er auf einschlägige medizinische<br />
Beiträge zum Thema der Zirkumzision stoßen und sie auswerten<br />
müssen. 15 Das gilt umso mehr, als das Argument der<br />
12<br />
Dazu Stehr/Putzke/Dietz, Deutsches Ärzteblatt 2008, A 1778.<br />
13<br />
Die Fundstellenangaben (Fn. 9, 13 und 14) genügen wissenschaftlichen<br />
Standards allerdings nicht. So heißt es etwa<br />
in Fn. 14: „Zahlen der British Medical Assoziation, London“.<br />
14<br />
Eingehend Putzke (Fn. 1), S. 669 (688).<br />
15<br />
Siehe nur Ehreth/King, in: Thüroff/Schulte-Wissermann<br />
(Hrsg.), Kinderurologie in Klinik und Praxis, 2. Aufl. 2000,<br />
S. 506; Riccabona, in: Steffens/Langen (Hrsg.), Komplikati-<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
180<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
Vorbeugung für die sozialrechtliche Problematik, die Schneider<br />
im Titel seiner Dissertation ausdrücklich nennt, unverzichtbar<br />
ist. Wer auch nur flüchtig einen Blick auf den Diskussionsstand<br />
wirft, weiß, dass sich dieser Punkt nicht mit 18<br />
Sätzen erledigen lässt (S. 26-28).<br />
Noch kürzer ist das „Kapitel 2: Die historische Entwicklung<br />
der Beschneidung“ (S. 13-15). Zutage tritt ein krasses<br />
Missverhältnis, wenn man das einschlägige („Die Geschichte<br />
der Beschneidung“), 314 Seiten umfassende Werk von Gollaher<br />
den 14 Sätzen von Schneider gegenüberstellt. Der<br />
Grund für das Missverhältnis ist ganz sicher nicht bei Gollaher<br />
zu suchen! Nun ist es keine Schande, eine wissenschaftliche<br />
Arbeit „schlank“ zu gestalten und zielstrebig die Probleme<br />
zu lösen, ohne historische oder sonstige Entwicklungen<br />
nachzuzeichnen. Genauso wenig ist es tadelnswert, eine<br />
Problematik mit solchen Gesichtspunkten zu flankieren. 14<br />
Sätze indes sind weder „Fisch noch Fleisch“ und verdienen<br />
nicht, „Kapitel“ genannt zu werden! Aber auch die wenigen<br />
Sätze sind mangelhaft. Schneider schreibt: „Die Beschneidung<br />
– medizinisch bei Männern auch Zirkumzision und<br />
Klitoridektomie bei Frauen genannt – […]“ (S. 14 am Anfang).<br />
Die weibliche Beschneidung auf die Klitoridektomie<br />
zu beschränken, ist falsch. Es handelt sich dabei lediglich um<br />
eine spezielle Form der Beschneidung. 16 Unterhalb wissenschaftlicher<br />
Standards bewegt sich auch die Quellenarbeit des<br />
Autors. Etwa hätte die Aussage „Noch heute ist [in, (H. P.)]<br />
einigen Gottesstaaten die Beschneidung gesetzlich vorgeschrieben“<br />
untermauert werden müssen, abgesehen von dem<br />
unklaren Gebrauch des Begriffs „Gottesstaat“. Schließlich<br />
behauptet Schneider: „Neben der fast überall anerkannten<br />
und praktizierten Beschneidung als medizinischen Heilbehandlung,<br />
ist kein Ort ausfindig zu machen, bei dem es nicht<br />
auch religiös praktizierte Beschneidung, sei es legal oder<br />
illegal, gibt“ (S. 15). In der Fußnote zu „Heilbehandlung“<br />
heißt es: „Ausnahmen davon stellt Kanada dar, wo zunächst<br />
versucht wird, durch Salben und Dehnungsmaßnahmen der<br />
Phimose zu begegnen“ (Fn. 61). Vom sprachlichen Missgriff<br />
abgesehen, sind beide Aussagen problematisch. Einerseits<br />
bietet Schneider für die behauptete Verbreitung („ist kein Ort<br />
ausfindig zu machen“) weder einen Beleg noch ließe sich für<br />
eine solche Behauptung ein empirisch belastbarer Nachweis<br />
führen. Andererseits findet die Salbenbehandlung als weniger<br />
intensiver Eingriff im Vergleich zur Zirkumzision z. B. auch<br />
in Deutschland statt. 17<br />
Den historischen Ausführungen folgt das 3. Kapitel, überschrieben<br />
mit „Die medizinische Betrachtung der Beschneidung“<br />
(S. 17-24). Zu Recht weist Schneider auf die Risiken<br />
hin, die bei jedem medizinischen Eingriff bestehen. 18 Abge-<br />
onen in der Urologie 2, 2005, S. 318; Stehr/Schuster/Dietz/<br />
Joppich, Klinische Pädiatrie 2001 (Nr. 213), 50.<br />
16<br />
Siehe dazu nur Kentenich/Utz-Billing, Deutsches Ärzteblatt<br />
2006, A 842; Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824.<br />
17<br />
Dazu Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde<br />
2008, 783 (786 in Fn. 19) m.w.N.<br />
18<br />
Der Autor hätte noch die Gefahr einer Verengung der<br />
Harnröhrenmündung (Meatusstenose) erwähnen können, die<br />
bei Neugeborenen in bis zu 32 Prozent der Fälle berichtet
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
sehen von dem richtigen Hinweis als solchem sind die sonstigen<br />
Ausführungen von Schneider laienhaft. Zunächst ist<br />
dem Autor offenbar der Unterschied zwischen „ambulant“<br />
und „Krankenhausaufenthalt“ nicht geläufig. Er schreibt: „Es<br />
sind jedoch gerade die ängstlichen Kinder, die aufgrund ihres<br />
renitenten Verhaltens nicht ambulant beschnitten werden<br />
können und wegen der Möglichkeit einer Vollnarkose ins<br />
Krankenhaus geschickt werden“ (S. 18). Erstens: Die sog.<br />
Allgemeinanästhesie ist nicht allein Krankenhäusern vorbehalten.<br />
Vielmehr gibt es jede Menge Arztpraxen, in denen die<br />
Möglichkeit besteht, Patienten in ein pharmakologisch induziertes,<br />
reversibles Koma (= Vollnarkose) zu versetzen.<br />
Zweitens: Selbst wenn Patienten zwecks einer Zirkumzision<br />
in einem Krankenhaus eine Vollnarkose erhalten, kann es<br />
sich um eine ambulante Beschneidung handeln. Das ist der<br />
Fall bei sog. tageschirurgischen Patienten, die nach dem<br />
Eingriff entlassen werden, also nicht über Nacht bleiben (das<br />
hieße dann „stationär“). Drittens: Als Quelle sich auf eine<br />
Fernsehreportage zu berufen (Fn. 64), ist nicht gerade überzeugend,<br />
geschweige denn wissenschaftlich.<br />
Unmittelbar im Anschluss hieran schreibt Schneider:<br />
„Um den unteren Eichelring wird dann der zweite Schnitt<br />
[…] vorgenommen“ (S. 18). Was der Autor wohl meint, ist<br />
die sog. Kranzfurche – einen „unteren Eichelring“ gibt es<br />
nicht. Wenig später ist zu lesen: „Schon die Narkose selbst ist<br />
mit erheblichen Risiken verbunden […]“ Auch hier muss der<br />
Autor sich vorwerfen lassen, keine Quelle anzugeben, ganz<br />
zu schweigen, dass er eine Erklärung dafür schuldig bleibt,<br />
wann ein Risiko erheblich ist. Eine Seite später (S. 19) wird<br />
es nicht besser: „Das Risiko einer Narkose wird nach neueren<br />
Erkenntnissen bei 1-2 Fällen auf 10000 Narkosen angenommen<br />
[…]“ Erstens: Welches Risiko? Zweitens: Neuere Erkenntnisse?<br />
Schneider zitiert eine Quelle von 1999. Das ist in<br />
der Medizin alles andere als „neu“. Noch „aktueller“ ist die<br />
Fundstelle in Fußnote 74 – das zitierte Buch stammt aus dem<br />
Jahr 1992. Auch der Satz, den die Fußnote ziert, ist falsch:<br />
Die Gefahr von Nachblutungen sei so hoch, „dass Chirurgen<br />
grds. eine Übernachtbehandlung bei der Beschneidung indiziert<br />
scheint“. Die deutschen Krankenhäuser würden aus<br />
allen Nähten platzen, wenn bei Eingriffen mit einprozentigem<br />
Nachblutungsrisiko allein ein stationärer Aufenthalt lege artis<br />
wäre. Das Gegenteil ist richtig: Die meisten kinderchirurgischen<br />
Zirkumzisionen werden ambulant durchgeführt. 19 Dazu<br />
im Widerspruch steht auch die Behauptung auf S. 25: „Ambulante<br />
Beschneidungen sind zwar möglich, werden aber [...]<br />
selten durchgeführt“ (S. 25). Riccabona schreibt dazu, dass<br />
Zirkumzisionen „häufig ambulant in den Praxen der niedergelassenen<br />
Kollegen durchgeführt“ werden. 20 Es bedarf aber<br />
auch gar keines Rückgriffs auf die Erfahrungen eines namhaften<br />
Kinderchirurgen, weil es Schneider selbst ist, der seine<br />
Aussage widerlegt, indem er auf S. 42 schreibt, dass die Be-<br />
wird (siehe Riccabona, in: Steffens/Langen [Fn. 15], S. 219,<br />
320: „eine der häufigsten Komplikationen“; Stehr/Schuster/<br />
Dietz/Joppich, Klinische Pädiatrie 2001, 50).<br />
19 Siehe nur Albrecht/Hoffmann, in: Nürnberger/Hasse/Pommer<br />
(Hrsg.), Klinikleitfaden Chirurgie, 4. Aufl. 2006, 225 (245).<br />
20 In: Steffens/Langen (Fn. 15), S. 318.<br />
schneidung bei „Juden durch einen Rabbi […] oder durch<br />
niedergelassene Ärzte“ vorgenommen wird.<br />
Geradezu abenteuerlich sind die Ausführungen auf S. 20.<br />
Schneider konstatiert mit Blick auf die Uniklinik Frankfurt<br />
und die von ihm dort erhobenen Zahlen, dass es in einem<br />
Zeitraum der letzten drei Jahre statistisch von 1.000 Operierten<br />
4,35 Kinder mit Nachblutungen und 2,175 Kinder mit<br />
Narbenbildung und Wundheilungsstörungen gab. Wenn man<br />
nun bedenkt, dass, so Schneider, „bis zu einem Viertel der<br />
Beschneidungen an männlichen Kleinkindern ohne medizinische<br />
Indikation vorgenommen wurden“, dann hätten „diesem<br />
Viertel beschnittener Jungen solch erhebliche Komplikationen<br />
[…] erspart werden können“. Dabei übersieht Schneider,<br />
dass man von einer statistischen Wahrscheinlichkeit (es handelt<br />
sich um ein Komplikationsrisiko) nicht auf tatsächliche<br />
Fälle schließen darf (was sich möglicherweise mit der latent<br />
vorhandenen Dramatisierungstendenz 21 erklären lässt). Auch<br />
mutet es seltsam an, das Risiko von Kastrationsängsten im<br />
gleichen Atemzug mit lymphatischen Ödemen (also einfachen<br />
Schwellungen) zu nennen (S. 20).<br />
Wenig später wird der Leser erneut Zeuge des wissenschaftlichen<br />
Tiefstandes. Schneider führt „einige Studien“ an,<br />
die zu dem Ergebnis gekommen sind, dass „sich beschnittene<br />
Männer seltener mit HIV infizieren als unbeschnittene“. Ein<br />
Beleg dafür ist nicht zu finden. Stattdessen behauptet Schneider<br />
einfach, dass „solche Studien häufig nicht ausreichend<br />
oder fehlerhaft“ sind. Ein solcher Vorwurf wiegt schwer – die<br />
an den Studien beteiligten Wissenschaftler und die sich auf<br />
die Ergebnisse berufende Weltgesundheitsorganisation werden<br />
begeistert sein, vor allem wenn sie realisieren, aus welcher<br />
Quelle die Schneidersche Kritik entspringt: aus zwei<br />
Zeitungsartikeln der Frankfurter Neuen Presse, genauer aus<br />
der Lokalausgabe „Höchster Kreisblatt“ (siehe Fn. 90 und<br />
91). Welchen Wert solche Verweise wissenschaftlich haben,<br />
muss man nicht kommentieren. 22<br />
Dass Schneider wenig davon hält, sich klar und richtig<br />
auszudrücken, wird auch auf S. 23 deutlich. Dort schreibt er<br />
zunächst: „Kritisch werden des Weiteren die möglichen<br />
Traumata der Kleinkinder betrachtet, die bis zu einer Hirnschädigung<br />
führen können“. Ungeklärt lässt er, um welche<br />
Traumata es geht: um medizinische (in Form einer Schädigung<br />
des Körpers, die durch Gewalt von außen entsteht) oder<br />
um Psychotraumata? Ein Blick in die angegebene Quelle<br />
(Fn. 93: ein Zeitungsartikel …) offenbart, dass es um<br />
Schmerzen geht. Darauf musste man erst einmal kommen:<br />
Einen Satz vorher werden Schmerzen ausdrücklich genannt<br />
und die Wendung „des Weiteren“ im nächsten ließ Neues<br />
vermuten. Wenig später widmet er sich der Eichel, „die von<br />
Natur aus als inneres Organ […] angelegt“ sei. Ob die Eichel<br />
ein Organ ist, darüber mag man streiten, ein inneres ist sie<br />
21<br />
Von einer „erheblichen Komplikation“ kann man etwa bei<br />
Auftreten einer Harnröhrenfistel sprechen (siehe Stark, in:<br />
Steffens/Langen [Fn. 15], S. 343 f.), nicht aber bei Nachblutungen<br />
oder Wundheilungsstörungen.<br />
22<br />
Ausführlich (und mit Nachweisen) zu den Studien und den<br />
Gründen, warum die Ergebnisse für die Rechtslage in Deutschland<br />
nicht relevant sind: Putzke (Fn. 1), S. 669 (689 ff.).<br />
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181
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
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ganz sicher nicht. Schließlich (mit Blick auf S. 23) hat<br />
Schneider sich noch einen Nachteil ausgedacht (das muss<br />
man so sagen, weil für die folgende Behauptung keine Fundstelle<br />
angegeben ist): „Zudem entfällt die Abroll- und Gleitfunktion,<br />
damit wird in aller Regel der Einsatz von Gleitmitteln<br />
bei Masturbation und Verkehr notwendig“. Dass mit<br />
einem zirkumzidierten Penis der Gebrauch von Gleitmitteln<br />
die Regel sein soll, ist – mit Verlaub – grober Unfug.<br />
Nicht überzeugend sind auch die Ausführungen zu den<br />
„ethischen Aspekten“ (S. 23/24). Was Schneider dort an<br />
Bedenken vorträgt, lässt sich generell auf jeden medizinischen<br />
Eingriff übertragen, in den Eltern anstelle ihres nicht<br />
einwilligungsfähigen Kindes willigen. Auch dort wird der<br />
Eingriff „fremdbestimmt vorgenommen“, weshalb er nach<br />
Schneider mit „dem Grundsatz der besonders schutzwürdigen<br />
Nähebeziehung zwischen Patient und Arzt“ unvereinbar sei.<br />
Der sozialrechtlichen Problematik widmet Schneider sich<br />
in Kapitel 4 auf insgesamt fünfeinhalb Seiten (S. 25-30). Dort<br />
schildert er die aktuelle Rechtslage. Worin aber genau die<br />
sozialrechtlichen Probleme liegen sollen, erfährt der Leser<br />
allenfalls mittelbar: „Dennoch hat sich damit das Problem,<br />
dass die männliche Beschneidung durch Zutun des Staates<br />
unterstützt oder gar erst ermöglicht wird, nicht erledigt.“ Es<br />
lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass Schneider die<br />
männliche Beschneidung und damit zusammenhängende<br />
Leistungen der öffentlichen Hand zum Problem an sich erklärt,<br />
ehe er auch nur ein Wort dazu verloren hat, ob und<br />
warum es sich überhaupt um ein Problem handelt.<br />
Um welche Probleme es sich handeln könnte, erfährt der<br />
Leser ausdrücklich erstmals im 5. Kapitel: „Übersicht der<br />
juristisch relevanten Probleme der Beschneidung“ (S. 31-36).<br />
Dort wird die Klärung folgender Aspekte in Aussicht gestellt:<br />
Grundrechtseingriffe am Kind, konkret die Würde des Menschen,<br />
die körperliche Unversehrtheit, die Religionsfreiheit,<br />
das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit. 23 Sodann will Schneider verfassungsrechtlichen<br />
Rechtfertigungen nachgehen, insbesondere mit Blick<br />
auf das elterliche Recht auf ungestörte Religionsausübung<br />
(Art. 4 Abs. 1, 2 GG) und die Bestimmung der Religion des<br />
Kindes. 24 Schließlich soll untersucht werden, ob sich ein<br />
Recht der Eltern zur Beschneidung ihres Kindes aus Art. 6<br />
Abs. 1, 2 GG ergibt und inwieweit Ärzte sich strafbar machen,<br />
wenn sie eine solche Operation durchführen.<br />
Schneider hätte gut daran getan, das gesamte 5. Kapitel an<br />
den Anfang seiner Arbeit zu setzen. Denn wer sofort klare<br />
Fragen formuliert, gerät nicht in Gefahr, über etwas zu<br />
schreiben, das die Klärung der eigentlichen Fragestellung<br />
nicht voranbringt. Dieses Vorgehen hätte den ersten 30 Seiten<br />
(möglicherweise) eine inhaltliche Struktur verschafft, und der<br />
23<br />
Ohne erkennbaren Grund hält Schneider sich an die im<br />
5. Kapitel vorgestellte Reihenfolge später allerdings nicht<br />
mehr.<br />
24<br />
Dass mit der Abkürzung „RKEG“ das „Gesetz über die<br />
religiöse Kindererziehung“ vom 15. 7. 1921 gemeint ist, setzt<br />
Schneider einfach als bekannt voraus. Es gibt in der gesamten<br />
Arbeit kein Verzeichnis der Abkürzungen, obwohl der Autor<br />
davon nicht gerade wenige verwendet.<br />
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182<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
Leser wüsste nach dem Studium von knapp einem Viertel der<br />
Arbeit, worum es eigentlich geht. Auch bleibt unklar, ob<br />
Schneiders Ausführungen sämtliche Zirkumzisionen (also<br />
auch die hygienisch, kosmetisch, ästhetisch oder sozial motivierten)<br />
erfassen oder allein oder hauptsächlich auf religiöse<br />
Beschneidungen zielen. Auch insoweit wäre eine Differenzierung<br />
und Klarstellung dringend vonnöten gewesen. 25<br />
Im 6. Kapitel beschäftigt Schneider sich mit „Grundrechtsverletzungen<br />
an Minderjährigen“ (S. 37-40). Zunächst<br />
stellt er fest, dass Minderjährige im Jahr 2000 einen Anteil<br />
von 19 Prozent an der Gesamtbevölkerung einnahmen. Er<br />
fährt fort: „Damit sind 15.642.023 Personen unter 18 Jahren,<br />
davon 20% – 8.029.885 Personen – männlich“. Man muss<br />
nicht viel von Statistik verstehen, um zu erkennen, dass die<br />
Zahlenangaben nicht stimmen. Im nächsten Satz stellt der<br />
Autor fest, dass 15,7 Prozent jünger als 14 Jahre alt seien.<br />
Anschließend ist zu lesen: „In Zahlen sind das 12.897.014,<br />
davon 16,5 %, also 6.619.145 Personen männlich“. Auch hier<br />
bleibt rätselhaft, wie Schneider zu dieser Prozentaussage<br />
kommt. Leider hilft auch ein Blick in die genannten Belege<br />
(Fn. 144, 145) nicht weiter, denn die Angabe „Auskunft des<br />
statistischen Bundesamtes, Stand 2000“ verrät weder etwas<br />
über den (üblicherweise anzugebenden) Stichtag noch die<br />
genaue Fundstelle. Bei aller Kritik an der Darstellung und<br />
den Quellenangaben ist die Frage nach dem Sinn der Auflistung,<br />
wie viele Minderjährige in Deutschland unter 14 Jahre<br />
alt sind, noch gar nicht gestellt.<br />
Im Anschluss daran greift Schneider auf die Zahlen kein<br />
einziges Mal zurück, leitet vielmehr über zur Grundrechtsfähigkeit<br />
und -mündigkeit. Er schließt sich der – angeblich nur<br />
„herrschenden“ – Meinung an, die auch Kindern die Fähigkeit<br />
zuspricht, Träger von Grundrechten zu sein (S. 37). Abrupt<br />
leitet er sodann über zur Einwilligungsfähigkeit bei ärztlichen<br />
Eingriffen, um die Frage aufzuwerfen, „ob eine Operation<br />
wie die Beschneidung einen Eingriff in die Grundrechte<br />
des Kindes darstellen kann und inwieweit die Eltern durch<br />
Einwilligung diesen gestatten können.“ (S. 38). Schneider<br />
begeht den gleichen Fehler, dem auch Schwarz 26 kürzlich<br />
erlegen ist. In seiner Erwiderung auf Schwarz hat Herzberg 27<br />
die Sache klargestellt: „Nach einer Legitimierung kann man<br />
sinnvollerweise nur fragen, wenn etwas ihrer bedürftig ist.<br />
25 Mit Blick auf den wissenschaftlichen Anspruch ist auch im<br />
5. Kapitel die Frage zu stellen, warum zwingend zu belegende<br />
Aussagen ohne Fundstelle vorkommen: „Die Messung der<br />
Cortisonwerte während und nach der Beschneidung hat gezeigt,<br />
dass der Patient trotz Betäubung Schmerz empfindet.<br />
Dieser dauert […] noch mindestens zwei Wochen an, bis die<br />
Wunde verheilt ist“ (S. 32, ähnlich auf S. 110). Im Übrigen<br />
hätte dieser durchaus wichtige Aspekt bereits im 3. Kapitel<br />
(„Die medizinische Betrachtung der Beschneidung“) erwähnt<br />
werden können und sollen. Dort ist lediglich ganz allgemein<br />
die Rede von Schmerzen (S. 23), wobei Schneider wiederum<br />
keinerlei Belege liefert (einschlägig und leicht zu finden wäre<br />
etwa der Aufsatz von Kropp gewesen; in: Monatsschrift Kinderheilkunde<br />
2003, 1075).<br />
26 In: JZ 2008, 1125.<br />
27 In: JZ 2009, 332.
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Manche rituelle Einwirkung auf einen menschlichen Körper<br />
ist das nicht, weil sie außerhalb aller rechtlichen Relevanz<br />
liegt. Etwa das Ausgießen geweihten Wassers auf den Kopf<br />
des Täuflings oder der ‚Wangenstreich’, der zum Sakrament<br />
der Firmung gehört […] Solche Taten ‚verfassungsrechtlich<br />
legitimieren’ zu wollen, hieße auf Spatzen mit der Kanone<br />
schießen. Die juristische Frage […] erledigt sich mit der<br />
Feststellung, dass die Einwirkung den Körper nicht ‚misshandelt’<br />
(§ 223 StGB) und nicht ‚verletzt’ (§ 823 BGB), also<br />
unterhalb der tatbestandlichen Erheblichkeitsschwelle bleibt<br />
und deshalb keiner ‚Legitimierung’ bedarf.“<br />
Schneider sieht diesen Zusammenhang nicht, benennt aber,<br />
was die Einwilligungsproblematik betrifft, den richtigen<br />
Ansatz: Auszugehen ist nämlich vom Kindeswohl, zu finden<br />
in § 1627 S. 1 BGB (Schneider nennt fälschlich § 1626 BGB<br />
[siehe S. 39 und 98]). Insoweit weist er darauf hin, dass ein<br />
medizinisch indizierter Eingriff stets dem Kindeswohl entspreche.<br />
In einem solchen Fall müssen die Eltern 28 , so<br />
Schneider, in einen entsprechenden operativen Eingriff sogar<br />
willigen (S. 39). Dass dies nicht stimmt, zeigen sämtliche<br />
Beispiele, bei denen ein Eingriff medizinisch indiziert ist, es<br />
den Eltern gleichwohl freisteht, sich dagegen zu entscheiden<br />
(etwa bei Impfungen) 29 . Nach derzeitiger Rechtslage käme<br />
niemand auf die Idee, den Eltern in solchen Fällen einen<br />
Beurteilungsspielraum abzusprechen und eine Einwilligungspflicht<br />
aufzuerlegen. Anschließend ist zu lesen, dass „im<br />
Umkehrschluss“ die Eltern „medizinisch nicht-indizierte<br />
Eingriffe initiieren oder in diese einwilligen“ dürfen. Das<br />
Gegenteil ist richtig. Wer das Kindeswohl an eine medizinische<br />
Indikation knüpft, 30 der verwehrt den Personensorgeberechtigten<br />
gerade, dass sie bei fehlender Indikation operative<br />
Eingriffe „initiieren oder in diese einwilligen“ dürfen.<br />
Schneider erwähnt sodann eine „andere Auffassung“, die<br />
Ausnahmen zulasse. Einen Beleg für diese Auffassung sucht<br />
man vergebens. Auch stellt Schneider eine gewagte These<br />
auf: Es sei „wohl herrschende Meinung“, dass die rituelle<br />
Beschneidung unter den Begriff „Schönheitsoperation“ falle<br />
(S. 39/40, 54 und 73). In der betreffenden Fußnote (160)<br />
nennt er ein Urteil des Landgerichts Frankenthal und des<br />
OVG Lüneburg 31 . Von „Schönheitsoperation“ ist in der Entscheidung<br />
des OVG freilich nichts zu lesen. Und auch die<br />
Berufung auf das Landgericht Frankenthal hält einer Über-<br />
28<br />
Warum Schneider die Problematik auf die Eltern beschränkt,<br />
ist nicht erkennbar. Dafür gibt es sachlich auch<br />
keinen Grund. Die von Schneider aufgeworfenen Fragen<br />
stellen sich bei sämtlichen Fällen der Personensorge (näher<br />
Putzke [Fn. 1], S. 669 [683 in Fn. 72]).<br />
29<br />
Dazu Putzke (Fn. 1), S. 669 (692).<br />
30<br />
So etwa Kern, NJW 1994, 753 (756).<br />
31<br />
Nur am Rande sei erwähnt, dass Schneider das OVG mal<br />
als „OVG Lüneburg“ (etwa Fn. 19 und 194), mal als „Niedersächsisches<br />
OVG“ (siehe Fn. 160, 201, 227 und 383)<br />
bezeichnet. Beides ist richtig, weshalb man zwar Einheitlichkeit<br />
vermissen, die unterschiedlichen Namen aber hinnehmen<br />
mag. Weniger schön ist, dass Schneider den zitierten Beschluss<br />
des OVG vom 23.7.2002 (NJW 2003, 3290) auch als<br />
„Urteil“ bezeichnet (so etwa in Fn. 19, 119, 194 und 204).<br />
prüfung nicht stand. In der zitierten Entscheidung heißt es:<br />
„Nach dem Personensorgerecht haben Eltern nicht die Befugnis,<br />
unvernünftige Entschlüsse zum Nachteil ihrer Kinder<br />
zu treffen, weshalb ihre Entscheidungsfreiheit in aller Regel<br />
auf medizinisch indizierte Eingriffe beschränkt ist und<br />
Schönheitsoperationen nur ganz ausnahmsweise zulässig<br />
sind“ 32 . Aus dem Textzusammenhang wird deutlich, dass das<br />
Gericht Schönheitsoperationen beispielhaft für medizinisch<br />
nicht indizierte Eingriffe nennt, es aber mitnichten rituelle<br />
Beschneidungen dieser Fallgruppe zuordnet.<br />
Im Zusammenhang mit der Grundrechtsmündigkeit ist eine<br />
weitere Angabe des Autors zu korrigieren. Er schreibt:<br />
„Die Beschneidung wird häufig direkt nach der Geburt<br />
durchgeführt […]“ (S. 38). Die gleiche Bemerkung findet<br />
sich schon früher: „Die Beschneidung wird in der Regel<br />
stationär im Krankenhaus vorgenommen, häufig direkt im<br />
Anschluss an die Geburt“ (S. 25). – Wie muss man sich das<br />
vorstellen? Übergibt die Hebamme das Kind direkt dem Chirurgen,<br />
der nicht nur die Nabelschnur durchtrennt, sondern<br />
auch die Vorhaut? Welchen Arzt man in Deutschland auch<br />
fragt – niemand vermag von solchen Fällen zu berichten.<br />
Wahrscheinlich meint Schneider Zirkumzisionen an Neugeborenen,<br />
also innerhalb der ersten vier Wochen – aber das ist<br />
etwas ganz anderes als „direkt im Anschluss an die Geburt“.<br />
Am Ende des 6. Kapitels kommt Schneider zu dem Ergebnis,<br />
dass eine Beschneidung ohne medizinische Indikation<br />
nicht ohne weiteres dem Kindeswohl entspreche, vielmehr<br />
das Kind in seinen Grundrechten verletzt sein könne.<br />
Er leitet damit über zum „Kapitel 7: Schutz durch Eingriffsabwehr,<br />
Drittwirkung oder Schutzpflichtenlehre?“<br />
(S. 41-60). Eingangs umschreibt er die Problematik: Der<br />
Staat habe einen Handlungsauftrag, die Beschneidung zu<br />
unterbinden, wenn „die Verletzungshandlung durch den Staat<br />
vorgenommen wird, diesem zugerechnet wird oder er sie aus<br />
einer Fürsorgepflicht heraus nicht mehr dulden darf“. Eine<br />
unmittelbare staatliche Beteiligung an Beschneidungen verneint<br />
Schneider, auch für staatliche Krankenhäuser, weil dort<br />
privatrechtliche Behandlungsverträge geschlossen würden<br />
(S. 42, 43). 33 Sodann widmet er sich der Zurechnungsfrage<br />
und formuliert folgende Prämisse: „Die Duldung der Beschneidung<br />
dem Staat als ein Unterlassen zuzurechnen, wäre<br />
jedoch nur möglich, wenn das Grundrecht den Staat zur<br />
Erbringung von Leistungen verpflichtet, also über den reinen<br />
Abwehrcharakter hinausgeht.“ (S. 43, 44). An dieser Stelle<br />
wird erneut sichtbar, dass Schneider das Pferd beim Schwanz<br />
aufzäumt. Ob staatliche Organe eine Handlungspflicht haben,<br />
ergibt sich zunächst einmal aus den geltenden Gesetzen.<br />
Dazu zählt § 223 StGB. Wenn nun die religiöse Beschnei-<br />
32<br />
MedR 2005, 243 (244).<br />
33<br />
Das „Zwischenergebnis“ irritiert allerdings schon wieder.<br />
Dort heißt es: „Ein unmittelbarer staatlicher Eingriff liegt<br />
mangels hoheitlicher Anordnung der Beschneidung bzw. der<br />
Einwilligung nicht vor“. Was meint Schneider mit „hoheitlicher<br />
Anordnung der Einwilligung“? Auch die andere Lesart<br />
(„Ein unmittelbarer staatlicher Eingriff liegt mangels der<br />
Einwilligung nicht vor.“) ergibt keinen Sinn.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
183
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
dung generell tatbestandlich eine Körperverletzung 34 darstellt<br />
und speziell bei Minderjährigen eine Einwilligung von Personensorgeberechtigten<br />
nicht rechtfertigend wirkt, 35 dann<br />
sind die Staatsanwaltschaften verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen<br />
und, soweit hinreichender Tatverdacht gegeben ist,<br />
Anklage zu erheben. Es bedarf in diesem Fall gar keines<br />
Umweges über Grundrechte. Die Handlungspflicht des Staates<br />
ist somit keine Konsequenz der Schutzpflichtenlehre,<br />
sondern ergibt sich schlicht und einfach aus dem Legalitätsprinzip,<br />
also dem einfachgesetzlichen Recht. Gäbe es § 223<br />
StGB nicht oder ließe sich die religiöse Beschneidung nicht<br />
subsumieren, bestünde für die von Schneider angestellten<br />
Überlegungen ein Bedürfnis. Schneider sieht auch diesen<br />
Zusammenhang nicht, verneint vielmehr die Zurechnung,<br />
weil es an einer sich direkt aus Grundrechten ergebenden<br />
Handlungspflicht des Staates fehle (S. 44).<br />
Auch die Beantwortung der Frage, ob eine eingriffsähnliche<br />
Beeinträchtigung aufgrund der Drittwirkung von Grundrechten<br />
gegeben ist (S. 45-49), hätte Schneider sich einfacher<br />
machen können. Denn es geht ja darum zu klären, ob etwa<br />
ein Behandlungsvertrag gültig ist oder Sozialleistungen für<br />
religiöse Beschneidungen zu gewähren sind. 36 Beides wäre<br />
ganz klar zu verneinen, wenn es sich bei religiösen Beschneidungen<br />
um Unrecht nach § 223 StGB handeln würde. Dass<br />
dies so ist, bejaht Schneider – allerdings erst im zwölften und<br />
damit letzten Kapitel.<br />
Spätestens die Beschäftigung mit der Schutzpflichtenlehre<br />
(S. 50-60) hätte Schneider nachdenklich stimmen müssen.<br />
Dort zitiert er das Bundesverfassungsgericht, das zu den<br />
verfassungsrechtlichen Schutzpflichten folgendes ausgeführt<br />
34<br />
H.M., siehe nur Brodag, Strafrecht, Besonderer Teil,<br />
9. Aufl. 2004, S. 151 in Fn. 26; Fischer, Strafgesetzbuch und<br />
Nebengesetze, Kommentar, 56. Aufl. 2009, § 223 Rn. 6b;<br />
Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2001, 6/231;<br />
Herzberg, JZ 2009, 332 f.; Jerouschek, NStZ 2008, 313 (317<br />
f.); Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 8. Aufl.<br />
2009, § 223 Rn. 22a; Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/<br />
ders. (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl.<br />
2005, § 223 Rn. 17; Putzke, MedR 2008, 268 (269); Rohe, JZ<br />
2007, 801 (802) in Fn. 7; Scheinfeld, in: Putzke u.a. (Fn. 1),<br />
S. 843 (859); Sternberg-Lieben, in: Böse u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />
für Knut Amelung zum 70. Geburtstag, 2009, 325<br />
(352, 353); a.A. Haft, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 8.<br />
Aufl. 2005, S. 145; Tröndle, in: Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch,<br />
Kommentar, 49. Aufl. 1999, § 223 Rn. 16a; wohl auch<br />
Schwarz, JZ 2008, 1125 (1128).<br />
35<br />
So Herzberg, JZ 2009, 332 (334 ff.); Jerouschek, NStZ<br />
2008, 313 (319); Putzke (Fn. 1), 707; Scheinfeld (Fn. 36), S.<br />
843 (859); Stehr/Putzke/Dietz, Deutsches Ärzteblatt 2008,<br />
A 1778, A 1780; Sternberg-Lieben (Fn. 34), 325 (352, 353);<br />
a.A. Gropp (Fn. 34), 6/231; Rohe, Alltagskonflikte und Lösungen,<br />
2. Aufl. 2001, S. 208; wohl auch Fischer (Fn. 34),<br />
§ 223 Rn. 6b; Joecks (Fn. 34), § 223 Rn. 22a; schwammig,<br />
im Ergebnis sich aber gegen eine Rechtsverletzung aussprechend<br />
Schwarz, JZ 2008, 1125 (1129).<br />
36<br />
Dazu LG Frankenthal MedR 2005, 243 (245) bzw. OVG<br />
Lüneburg NJW 2003, 3290.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
184<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
hat: „Ob, wann und mit welchem <strong>Inhalt</strong> sich eine solche<br />
Ausgestaltung von Verfassungs wegen gebietet, hängt von<br />
der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der<br />
Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten<br />
Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen<br />
ab.“ 37 Klarer kann man es nicht formulieren: Bevor Schutzpflichten<br />
ins Spiel kommen, sind die „schon vorhandenen<br />
Regelungen“ in den Blick zu nehmen. Weil Schneider die<br />
Frage der Strafbarkeit offenbar für nachrangig befindet, ist er<br />
gezwungen, im Abschnitt „Qualität der bereits vorhandenen<br />
Regelungen“ bei dem Satz „Die Beschneidung erfüllt den<br />
Straftatbestand der Körperverletzung“ (S. 58) nach hinten,<br />
auf das 12. Kapitel zu verweisen (ebenso auf S. 86). Spätestens<br />
an dieser Stelle hätten Schneider Zweifel an dem von<br />
ihm gewählten Aufbau seiner Arbeit kommen müssen. Stringenter<br />
wäre es gewesen, zuerst vorhandene Regelungen zu<br />
untersuchen (§ 223 StGB), sodann deren Effektivität zu prüfen<br />
(Praxis bei den Strafverfolgungsorganen, Verhalten der<br />
Gerichte und anderer staatlicher Institutionen etc.) und anschließend,<br />
falls Handlungsbedarf besteht, auf mögliche<br />
Schutzpflichten des Staates einzugehen. Wohlgemerkt: Der<br />
Aufbau, den Schneider gewählt hat, ist nicht falsch – er ist<br />
aber suboptimal. 38<br />
Nicht ideal sind auch die Widersprüche im 7. Kapitel. Auf<br />
Seite 58 ist zu lesen: „Allein das Vorliegen von Verstößen<br />
gegen eine solch allgemeine Strafrechtsnorm, indiziert noch<br />
keinen Anspruch gegenüber dem Staat auf weitergehende<br />
Schutzmaßnahmen.“ Im übernächsten Satz heißt es hingegen:<br />
„Allerdings besteht auch bei Vorliegen einer Schutznorm die<br />
Verpflichtung für den Staat, die Eingriffsverbote effektiv<br />
durchzusetzen, die die Integrität der Schutzgüter sicherstellen.“<br />
Abgesehen davon, dass die Aussage des zuerst zitierten<br />
Satzes höchst fraglich ist, handelt es sich um das genaue<br />
Gegenteil zum zweiten Satz. Ein solcher Widerspruch muss<br />
ins Auge fallen! Warum er es trotzdem schafft, in einer Dissertation<br />
veröffentlicht zu werden, ist dem Rezensenten ein<br />
Rätsel. Versteckter ist der zweite Widerspruch, wenige Zeilen<br />
später: Dort konstatiert Schneider, dass der Staat medizinisch<br />
nicht indizierte Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen<br />
Kindern nicht verfolge, sie vielmehr sogar dulde. Es folgt<br />
37<br />
BVerfGE 49, 89 (142).<br />
38<br />
Im Übrigen ist die Behandlung der Schutzpflichtenlehre<br />
bemerkenswert kurz. Wo andere sich mit Zweifeln plagen,<br />
macht Schneider die Sache auf zweieinhalb Seiten mal soeben<br />
klar. Flankiert wird alles mit ein paar Entscheidungen<br />
des Bundesverfassungsgerichts sowie mit einer Hand voll<br />
Literaturhinweisen. Andere einschlägige Abhandlungen sind<br />
nicht zu finden, etwa Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit<br />
des Grundgesetzes, 2006, S. 607 ff.; Cremer,<br />
Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 228 ff., 267 ff.; Dolderer, Objektive<br />
Grundrechtsgehalte, 2000, S. 354 ff.; Krings, Grund<br />
und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003; Preu,<br />
Subjektivrechtliche Grundlagen des öffentlichrechtlichen<br />
Drittschutzes, 1992, S. 120 ff.; Reiling, Zu individuellen<br />
Rechten im deutschen und im Gemeinschaftsrecht, 2004;<br />
Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten,<br />
1996; siehe auch Klein, NJW 1989, 1633.
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
der Satz: „Deutlich wird dies an den hohen Zahlen der medizinisch<br />
nicht indizierten Beschneidungen, den offenen Anfragen<br />
bei Krankenkassen nach Übernahme der Kosten, wenn<br />
kein medizinischer Heilanspruch der Zirkumzision vorliegt,<br />
sowie den eindeutig geführten Akten der Kliniken, die als<br />
Beschneidungsgrund ‚Beschneidungswunsch der Eltern’<br />
angeben und keine medizinische Indikation eines Heileingriffes<br />
vorweisen können“ (S. 58). 55 Seiten zuvor (auf S. 3)<br />
hieß es noch: Während „Zahlen über Operationen aufgrund<br />
medizinischer Notwendigkeit vorliegen […], fehlen entsprechende<br />
Daten über die medizinisch nicht indizierten Beschneidungen<br />
völlig“. Woher kommen also plötzlich die<br />
„hohen Zahlen“? Auch von der Tatsache „offener Anfragen<br />
bei Krankenkassen“ berichtet Schneider zum ersten Mal. Erst<br />
recht wundert man sich über die Aktenführung der „Kliniken“,<br />
wo der Autor doch lediglich von einer einzigen Klinik<br />
Informationen eingeholt hat. All das hat mit Wissenschaft<br />
wenig zu tun.<br />
Bei aller Kritik darf und soll nicht vergessen werden, dass<br />
Schneider intuitiv die meines Erachtens richtigen Ergebnisse<br />
gefunden hat: Religiöse Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen<br />
Jungen erfüllen den Straftatbestand der Körperverletzung<br />
(S. 58). Der Staat hat die Pflicht, dieses Verhalten<br />
als Straftat zu verfolgen. Bislang kommt er diesem<br />
Schutzauftrag nicht nach (S. 60). – Freilich steckt der Teufel<br />
wieder im Detail: Zwar ist es richtig, dass den Staat eine<br />
Schutzpflicht trifft. Aber allein aus dem Erfülltsein eines<br />
Straftatbestandes kann sich keine Verfolgungs- oder gar<br />
Schutzpflicht ergeben. Andernfalls müsste der Staat einen<br />
Räuber vor dem Notwehr übenden Bankangestellten schützen.<br />
Schneider hätte nicht nur auf den Straftatbestand abstellen<br />
dürfen, sondern auf das Unrecht. Erneut rächt sich der<br />
unglückliche Aufbau.<br />
Ohne Überleitung widmet sich Schneider im 8. Kapitel<br />
der Frage „Verletzung von Art. 4 GG durch die Beschneidung?“<br />
(S. 61-87). Was der Leser anfangs sucht, ist eine<br />
Hilfestellung, worum es als nächstes geht. Er muss sich selbst<br />
klarmachen, dass anscheinend die vom Bundesverfassungsgericht<br />
aufgestellten Voraussetzungen (Art, Nähe und Ausmaß<br />
der Gefahren, vorhandene Regelungen, Rang des verfassungsrechtlich<br />
geschützten Rechtsguts) abgearbeitet werden<br />
und als nächstes geprüft wird, aus welchem verfassungsrechtlich<br />
geschützten Rechtsgut sich eine Schutzpflicht ergeben<br />
könnte und welchen Rang dieses Rechtsgut (unter Berücksichtigung<br />
kollidierender Grundrechtspositionen Dritter)<br />
hat. 39<br />
In diesem Zusammenhang bejaht Schneider die Eröffnung<br />
des Schutzbereiches von Art. 4 GG, weil die religiöse Be-<br />
39<br />
Ins Grübeln gerät man allerdings auf S. 85. Plötzlich geht<br />
es wieder um das „Bestehen einer Schutzpflicht“, die „Qualität<br />
des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgutes“ sowie<br />
die „Qualität der bereits vorhandenen Regelungen“. Der<br />
Leser sieht sich zurückgeworfen auf einen Punkt, den er<br />
längst überwunden glaubte, zumal die Ausführungen teilweise<br />
wörtlich mit bereits Gesagtem übereinstimmen (vgl. S. 86<br />
mit S. 58), ohne dass die spätere Passage als Zusammenfassung<br />
gedacht wäre.<br />
schneidung als irreversibler Eingriff die passiv-negative<br />
Glaubensfreiheit betrifft. Dem Kind werde nämlich „das<br />
irreversible Merkmal eines Bekenntnisses aufgezwungen“<br />
(S. 66); es gebe keinerlei Ausweichmöglichkeit (S. 67), der<br />
Eingriff habe sogar „zwangsmissionarische Züge“, weshalb<br />
es sich nicht nur um eine „bloße Belästigung“, sondern um<br />
eine „massive Störung der Grundrechtsposition aus Art. 4<br />
GG“ handele (S. 70). Schneider wählt die richtigen Worte,<br />
um die religiöse Beschneidung als das zu beschreiben, was<br />
sie ist: ein blutiges Ritual im Interesse der Eltern und ihrer<br />
Religion.<br />
Nicht plausibel ist hingegen, dass der Autor im Rahmen<br />
von Art. 4 GG auch noch nicht religiös, sondern hygienisch<br />
oder sozial begründete Zirkumzisionen problematisiert und<br />
prüft, ob sie der religiösen Beschneidung gleichzustellen<br />
sind. Er begründet dies damit, dass „die sozial motivierte<br />
Beschneidung […] faktisch dem Eingriff einer religiös motivierten<br />
Beschneidung“ gleicht. Aber was ist das für ein Ansatz?<br />
Der Gottesdienst in einem Theaterstück hat doch nicht<br />
deshalb etwas mit Religionsausübung zu tun, weil er „faktisch“<br />
einer katholischen Messe gleicht. Nichts anderes gilt<br />
für evident nicht religiös motivierte Zirkumzisionen. Erwartungsgemäß<br />
verneint Schneider eine Verletzung von Art. 4<br />
GG (S. 69).<br />
Im Anschluss an diese Feststellungen geht Schneider auf<br />
mögliche kollidierende Grundrechtspositionen ein, zunächst<br />
das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 GG. Ihm stellt er die<br />
Operationsrisiken und die Irreversibilität des Eingriffs gegenüber,<br />
weshalb die rituelle Beschneidung nicht über Art. 6<br />
GG gerechtfertigt sei (S. 70-75). Gestützt werde dieses Ergebnis<br />
durch die Aufschiebbarkeit des Eingriffs bis zu dem<br />
Zeitpunkt, an dem das Kind selbst fähig ist, wirksam einzuwilligen.<br />
Schon an dieser Stelle hätte der Autor auf die Problematik<br />
eingehen müssen, dass es im Judentum mit dem achten<br />
Tag nach der Geburt einen im Alten Testament festgelegten<br />
Zeitpunkt gibt, an dem die religiöse Beschneidung vorgenommen<br />
werden solle, der Islam hingegen keine solche Vorgabe<br />
macht (darauf geht Schneider erst ein auf den S. 78, 79<br />
bei der elterlichen Religionsausübung). Aber auch dieser<br />
Gesichtspunkt gibt den Eltern nicht das Recht, in den Eingriff<br />
zu willigen. Herzberg hat klar herausgearbeitet, dass religiöse<br />
Aspekte bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen für die<br />
Beurteilung des Kindeswohls außer Betracht bleiben müssen,<br />
sie kindeswohlneutral sind. 40 Dass Schneider auf diese Problematik<br />
erst eingeht, wenn er die elterliche Grundrechtsposition<br />
aus Art. 4 GG derjenigen des Kindes gegenüberstellt,<br />
zeigt erneut, dass seiner Arbeit eine innere Struktur fehlt.<br />
Deutlich zutage tritt dieser Umstand auch, weil Schneider<br />
dem auf Seiten des Kindes von ihm für verletzt gehaltenen<br />
Art. 4 GG sowohl das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6<br />
GG gegenüberstellt als auch das Recht der Eltern auf ungestörte<br />
Religionsausübung aus Art. 4 GG. Nicht ein einziges<br />
Mal erwähnt der Autor in diesem Zusammenhang das Grundrecht<br />
des Kindes auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2<br />
GG. Natürlich ist es ein gangbarer Weg, eine selektive Gegenüberstellung<br />
zu wählen, wenn sich bereits daraus ergibt,<br />
40 In: JZ 2009, 332 (335 f.).<br />
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Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
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dass die Abwägung zugunsten des Kindes ausfällt. Effektiv<br />
ist ein solches Herangehen indes nicht.<br />
Verblüfft zu werden, ist der Leser nach der Lektüre der<br />
bisher besprochenen Kapitel einigermaßen gewohnt. Schneider<br />
lässt aber nicht locker, die Sache immer wieder auf die<br />
Spitze zu treiben. Bei der rituellen Beschneidung sei nämlich<br />
zu differenzieren nach der „Durchführung und Beiwohnung<br />
an der Beschneidung“ (S. 75). Die Beiwohnung sei vom<br />
elterlichen Recht der religiösen Erziehung gedeckt (S. 76),<br />
die Durchführung müsse sich der Knabe allerdings nicht<br />
gefallen lassen (S. 82). Schneider spaltet nicht nur die Persönlichkeit,<br />
sondern auch die Haare. Wenn er mit seinen<br />
Ausführungen allerdings anspielt auf die passive Teilnahme<br />
an Beschneidungen Dritter, etwa der Geschwister, dann produziert<br />
er Probleme, die es vor ihm nicht gab. Was der Argumentation<br />
von Schneider, wo es darauf ankäme, sonst an<br />
Tiefe fehlt, kompensiert er woanders mit abenteuerlichen und<br />
überflüssigen Ausschweifungen. So widmet er sich auf anderthalb<br />
Seiten der Frage, ob die religiöse Beschneidung<br />
vergleichbar ist mit anderen religiösen Handlungen, etwa<br />
Taufe, Konfirmation oder Kommunion (S. 82, 83). Sicher,<br />
diesen Punkt muss man erörtern, weil selbst die Richter eines<br />
Oberverwaltungsgerichts Unterschiede nicht erkennen wollten.<br />
41 Allemal überflüssig ist aber, dafür Art. 3 GG zu bemühen<br />
und lehrbuchartig Allgemeinplätze abzuliefern („Der<br />
Gleichheitsgedanke gilt für alle Menschen, nicht nur für<br />
Deutsche.“ oder: „Er enthält ein subjektiv-öffentliches Recht<br />
auf Gleichbehandlung […]“ oder: „Dennoch bleibt ein weiter<br />
Entscheidungs- und Ermessensspielraum für den Gesetzgeber.“).<br />
Was die Abwägung der Grundrechtspositionen von Kind<br />
und Eltern angeht, kommt Schneider schließlich zu folgendem<br />
Ergebnis: „Die Gewährleistungen des Art. 4 GG für die<br />
Eltern haben also keinen Vorrang vor den Verbürgungen des<br />
Art. 4 GG für das Kind.“ (S. 78). Wer nun glaubt, damit sei<br />
die Sache ausgestanden, wird enttäuscht. Denn zwei Sätze<br />
später ist zu lesen: „Auf keinen Fall darf die Festsetzung des<br />
Schutzbereiches der beliebigen Interpretation des Grundrechtsträgers<br />
anheim gestellt werden.“ (S. 78). Das stiftet<br />
mehr Verwirrung als es Klarheit schafft. War nicht soeben<br />
die Rede davon, dass es keinen Vorrang gebe? Erneut sieht<br />
der Leser sich zurückversetzt an einen Punkt, den er glaubte,<br />
überwunden zu haben. Natürlich ist es richtig, dass Schneider<br />
sich mit der Verbindlichkeit der religiösen Beschneidung im<br />
Islam und Judentum beschäftigt. Geschehen müssen hätte<br />
dies – wie oben bereits gesagt – aber schon bei der Frage<br />
nach der Aufschiebbarkeit.<br />
Im 9. Kapitel fragt Schneider: „Verletzung der Menschenwürde<br />
durch die Beschneidung?“ (S. 89-94). Leider<br />
folgt eine Floskel der nächsten, ohne dass die Frage ihrer<br />
Klärung spürbar näher kommt. In der Sache bejaht Schneider<br />
eine Verletzung der Menschenwürde und eine daraus folgende<br />
Schutzpflicht des Staates. Es schließen sich zwei Kapitel<br />
an, worin der Autor den Fragen nachgeht: „Eingriff in die<br />
körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG durch die<br />
Beschneidung?“ (S. 95-103) und „Eingriff in das allgemeine<br />
41 So OVG Lüneburg NJW 2003, 3290.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
186<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
Persönlichkeitsrecht gem. Art. 1 I GG i.V.m. 2 I GG; die allg.<br />
Handlungsfreiheit und EMRK durch die Beschneidung?“. Zu<br />
Recht weist Schneider darauf hin, dass Art. 2 GG der Vorrang<br />
gebührt vor dem elterlichen Erziehungsrecht. Das gelte<br />
sowohl bei religiösen, sozial und hygienisch motivierten<br />
Beschneidungen. Der von Schneider gewählte Aufbau bringt<br />
es mit sich, dass sich viele Aspekte wiederholen.<br />
Im 12. und letzten Kapitel geht Schneider schließlich auf<br />
die „Beschneidung als Körperverletzung“ ein (S. 109-130).<br />
Sein wie in einem Fallgutachten formulierter Obersatz enthält<br />
folgende Normenkette: 㤤 223 I, 224 I Nr. 2, 5, 226 I Nr. 2<br />
StGB“. Bereits an dieser Stelle muss man stutzen. Will<br />
Schneider ernsthaft erwägen, in der Zirkumzision eine „das<br />
Leben gefährdende Behandlung“ (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB)<br />
zu sehen und die Vorhaut als „wichtiges Glied“ (§ 226 Abs. 1<br />
Nr. 2 StGB) einzustufen? Trotz fehlender Sympathie für<br />
religiöse Beschneidungen – man sollte Synagogen und Moscheen<br />
im Dorf lassen. Abgesehen davon taucht in der späteren<br />
Prüfung § 224 StGB nur noch kurz und § 226 StGB gar<br />
nicht mehr auf. Schneider schreibt dazu: „Da der Grundtatbestand<br />
weder in Versuch noch Vollendung vorliegt, scheiden<br />
auch Qualifikation und Regelbeispiel aus.“ Es sei dazu lediglich<br />
angemerkt, dass es bei den Körperverletzungsdelikten<br />
keine Regelbeispiele gibt. 42<br />
Die weitere Prüfung der Tatbestandsmerkmale erwartet<br />
man allenfalls in Klausuren oder Hausarbeiten von Studienanfängern:<br />
„Dazu müsste er zunächst tatbestandlich handeln.<br />
Für ein vorsätzliches, vollendetes Begehungsdelikt bedeutet<br />
dies die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes.“ Das<br />
ist banal und bringt die Sache keinen Schritt voran.<br />
Wie planlos der Autor vorgeht, zeigt sich auch dort, wo er<br />
zweimal die Kausalität und objektive Zurechnung bejaht<br />
(S. 110 und 111). Der zweite Satz lautet: „An der Kausalität<br />
und der objektiven Zurechnung der Operation zum Beschneidungserfolg,<br />
also daran, dass sie diesen begünstigt, bestehen<br />
keinerlei Zweifel.“ Diese Beschreibung ist laienhaft. Weder<br />
Kausalität noch objektive Zurechnung lassen sich durch das<br />
Kriterium des Begünstigens erklären. Dass Schneider strafrechtsdogmatisch<br />
nicht sattelfest ist, zeigt sich an anderer<br />
Stelle noch deutlicher. Der bejahten objektiven Zurechnung<br />
lässt er die Frage nach der Sozialadäquanz folgen. Diesen<br />
Punkt zu problematisieren, ist richtig und wichtig. Wer sich<br />
aber sozialadäquat verhält, der schafft schon kein unerlaubtes<br />
Risiko, weshalb ihm der Erfolg objektiv nicht zurechenbar<br />
ist. Im Ergebnis verneint Schneider die Sozialadäquanz, wobei<br />
seine Argumentation nicht in die Tiefe dringt. 43 Auf der<br />
Ebene der Rechtswidrigkeit beschäftigt der Autor sich mit der<br />
42 Zudem hätte Schneider wenigstens prüfen müssen, ob das<br />
Unrecht des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vorliegt (dazu Putzke<br />
[Fn. 1], S. 669 [681, 682]), weil dies ggf. für Anstiftung oder<br />
Beihilfe wichtig sein könnte. Auch hängt von der Intensität<br />
des Unrechts die Höhe der Anorderungen an eine Rechtfertigung<br />
ab. Nicht zuletzt ist das von ihm gefundene Ergebnis<br />
(unvermeidbarer Verbotsirrtum) lediglich eine Momentaufnahme.<br />
43 Eingehend Herzberg, JZ 2009, 332 f.; siehe auch Putzke<br />
(Fn. 1), S. 669 (675 ff.).
Jochen Schneider, Die männliche Beschneidung (Zirkumzision) Minderjähriger Putzke<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Einwilligung. Sie wirksam zu erteilen, wird zu Recht sowohl<br />
für das Kind als auch für die Eltern verneint (S. 118, 119). 44<br />
Auf der Ebene der Schuld bejaht Schneider allerdings einen<br />
unvermeidbaren Verbotsirrtum für den Operateur und die<br />
einwilligenden Personensorgeberechtigten, weil der Staat<br />
zum einen religiöse Beschneidungen dulde, zum andern sie<br />
sogar unterstütze (S. 121). An dieser Stelle zeigt sich, dass<br />
Schneider gute Gründe gehabt hätte, seine Dissertation vor<br />
ihrer Veröffentlichung auf den neuesten Stand zu bringen.<br />
Wer für seine Arbeit das Publikationsverfahren „Book-on-<br />
Demand“ wählt und sie erst Ende Oktober 2008 veröffentlicht,<br />
der hätte allemal die Möglichkeit gehabt, den aktuellen<br />
Stand der Wissenschaft zu berücksichtigen. Die Unvermeidbarkeit<br />
eines Verbotsirrtums hätte sich unter Berücksichtigung<br />
der neuen Entwicklungen nämlich nicht mehr en passant<br />
begründen lassen. Erst recht verbietet sich zum jetzigen<br />
Zeitpunkt ein Rückgriff auf § 17 StGB. Unter Ärzten ist das<br />
Strafbarkeitsrisiko inzwischen bekannt, nicht zuletzt, weil auf<br />
Fortbildungsveranstaltungen darüber kontrovers diskutiert<br />
wird.<br />
IV. Das hier Geschilderte macht eines deutlich: Diese<br />
Dissertation erfüllt nicht einmal im Ansatz die Standards,<br />
denen eine wissenschaftliche Arbeit genügen muss. Neben<br />
den formalen Fehlern und Merkwürdigkeiten fehlt es ihr über<br />
weite Strecken an Plausibilität und flächendeckend an wissenschaftlicher<br />
Akribie – von rhetorischem Schwung ganz zu<br />
schweigen. Wohlgemerkt: Niemand ist gefeit davor, Fehler<br />
zu machen – sie finden sich nahezu in jeder Arbeit. Und kein<br />
redlicher Rezensent wird sich an verstreuten Formatierungs-<br />
oder Rechtschreibfehlern ergötzen. Aber Schneider hat die<br />
Toleranzgrenze allzu weit überschritten.<br />
Wiss. Assistent Dr. Holm Putzke, LL.M., Bochum<br />
44<br />
An dieser Stelle wären Ausführungen am Platze gewesen,<br />
ab welchem Alter die Einwilligungsfähigkeit gegeben ist<br />
(ausführlich dazu Putzke, NJW 2008, 1568, speziell 1570: „in<br />
der Regel zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr“).<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
187
Stefan van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts Gärditz<br />
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188<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Stefan van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen<br />
Völkerstrafrechts. Von den ad hoc Tribunalen der Vereinten<br />
Nationen zum ständigen Internationalen Strafgerichtshof<br />
unter besonderer Berücksichtigung des Ermittlungsverfahrens,<br />
Schriften zum Völkerrecht, Band 168, Duncker & Humblot-<br />
Verlag, Berlin 2006, 758 S., € 98,-<br />
Seit der Einrichtung der Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige<br />
Jugoslawien und für Ruanda durch Beschlüsse des UN-<br />
Sicherheitsrats und vor allem seit der Schaffung eines selbstständigen<br />
Internationalen Strafgerichtshofs durch das Römische-Statut<br />
genießt auch das Völkerstrafrecht eine wissenschaftliche<br />
Renaissance. Im Vordergrund des akademischen<br />
Interesses stand hierbei vor allem das materielle Völkerstrafrecht.<br />
Das Völkerstrafverfahrensrecht führte demgegenüber<br />
lange Zeit eher ein kümmerliches Dasein, bis von Christoph<br />
Safferling eine eingehende Untersuchung veröffentlicht wurde<br />
(Towards an International Criminal Procedure, Oxford/<br />
New York, 2001), die bis heute unübertroffene Maßstäbe<br />
gesetzt hat. Stefan van Heeck legt nunmehr mit der hier besprochenen<br />
Untersuchung erstmals auch ein deutschsprachiges<br />
Kompendium zum formellen Völkerstrafrecht vor, unter<br />
das er zum einen das Gerichtsverfassungs-, zum anderen das<br />
Strafprozessrecht fasst. <strong>Inhalt</strong>lich beschränkt der Verfasser<br />
das Thema im Wesentlichen auf das Recht des Ermittlungsverfahrens,<br />
da ihm dieses nachvollziehbar als Schlüssel zur<br />
Durchsetzung des Völkerstrafrechts erscheint (vgl. S. 24 f.).<br />
Die Untersuchung beruht auf einer Bochumer Dissertation<br />
aus dem Jahr 2005, die von Knut Ipsen betreut wurde, also<br />
ihrer Herkunft nach völkerrechtlich und nicht strafrechtlich<br />
ist (was im Übrigen auch für die von Bruno Simma betreute<br />
Dissertation von Safferling gilt).<br />
Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt in der Darstellung<br />
des positiven Rechts, das nach organisations- und verfahrensrechtlichen<br />
Gesichtspunkten systematisiert wird. Der<br />
Sache nach ist das Buch vor allem eine systematische Kommentierung<br />
der Statute und Verfahrensregeln der internationalen<br />
Strafgerichtsbarkeit, wobei der Verf. die Regelungen<br />
der Ad-hoc-Tribunale einerseits und des Internationalen<br />
Strafgerichtshofs andererseits jeweils gegenüberstellt. Insgesamt<br />
behält die Arbeit einen überwiegend deskriptiven Stil<br />
bei. Der Verf. beschreibt also den <strong>Inhalt</strong> des geltenden Gerichtsorganisations-<br />
und Prozessrechts vor allem rechtsanwendungsbezogen<br />
und wohl auch, soweit dies hier beurteilt<br />
werden kann, praxisnah. Die klare und griffige Strukturierung<br />
des Rechtsstoffes vermag zu überzeugen.<br />
Der erste Teil der Arbeit fasst „(g)rundlegende Aspekte<br />
des Völkerstrafrechts“ zusammen. Damit meint der Verf.<br />
weniger theoretische oder ideelle Aspekte, die einen (im<br />
Einzelnen durchaus umstrittenen) Grund für ein Strafrecht<br />
auf völkerrechtlichem Fundament legen. So wird etwa die<br />
theoretische Kontroverse in der Strafrechtswissenschaft über<br />
Grund und Berechtigung des Völkerstrafrechts, die namentlich<br />
durch eine Fundamentalkritik von Günther Jakobs angestoßen<br />
wurde, ebenso wenig aufgegriffen wie die völkerrechtspolitische<br />
Kritik am Völkerstrafrecht, die gerade im<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
internationalen Diskurs ungeachtet der Fortentwicklung des<br />
positiven Völkervertragsrechts aus gutem Grund auch heute<br />
noch fortgeführt wird. Dem Verf. geht es im ersten Kapitel<br />
vielmehr darum, den Untersuchungsgegenstand zu definieren<br />
und dies am positiv-rechtlichen Gerüst des formellen Völkerstrafrechts<br />
anzubinden. Historische Bezüge des Völkerstrafrechts,<br />
die möglicherweise zur Freilegung eines ideellen<br />
Substrats hätten beitragen können, werden eher kursorisch<br />
behandelt (S. 56-61), ohne auf die wenig erforschten und<br />
gerade im vorliegenden Kontext potentiell ergiebigen spezifisch<br />
prozessrechtlichen Konzepte von Vorläuferinstitutionen<br />
der modernen Völkerstrafgerichtsbarkeit näher einzugehen.<br />
Auf den ersten Blick ergiebiger erscheint der zweite Teil<br />
(„Strafverfahren und Gerichtsorganisation im modernen<br />
Völkerstrafrecht“; vgl. aber auch die abweichende Überschrift<br />
„Gerichtsorganisation“ auf S. 98), der sich dem Gerichtsverfassungsrecht<br />
zuwendet. Das Organisationsrecht ist<br />
bislang wissenschaftlich eher am Rande behandelt worden,<br />
sodass der Arbeit hier fraglos für die weitere Diskussion sehr<br />
hilfreiche Beschreibungen zu entnehmen sind. Zu vermissen<br />
ist freilich eine kritische und durch Rechtsvergleichung informierte<br />
Auseinandersetzung mit den inhärenten (nicht zuletzt<br />
auch rechtskulturellen) Konflikten, die gerade in das<br />
Organisationsrecht hineingetragen wurden. Beispielsweise<br />
Funktion und Status der Anklagebehörde sind bis heute sehr<br />
umstritten geblieben. Etwa die (nicht ganz von der Hand zu<br />
weisende) Besorgnis, eine unabhängige Staatsanwaltschaft<br />
könne in den Händen eines politischen ‚Aktivisten’ zu einer<br />
Gefahr für die internationalen Beziehungen mutieren, wurde<br />
durch das Statut des Strafgerichtshofs gerade nicht ausgeräumt.<br />
Die eher spärlichen Beschreibungen der Anklagebehörden<br />
(S. 107 f. bzw. S. 116 f.) werden der Brisanz der<br />
organisationsrechtlichen Fragen kaum gerecht, zumal es<br />
angesichts der Schwerpunktsetzung der Arbeit auf das Ermittlungsverfahren<br />
nahe gelegen hätte, sich gerade den dortigen<br />
Hauptakteuren etwas problemsensibler zu nähern.<br />
Der dritte Teil behandelt die „Einleitung des Ermittlungsverfahrens“.<br />
Hier werden präzise und mit beachtlicher Detailkenntnis<br />
die prozessualen Voraussetzungen einer Strafverfolgung<br />
durch die Anklagebehörde ausgebreitet, die es dem<br />
Benutzer des Buches ermöglichen, die relevanten Prüfungspunkte<br />
‚abzuarbeiten’. Die Arbeit enthält hier zahlreiche<br />
wertvolle Auslegungshinweise, aber auch kenntnisreiche<br />
Facetten praxisrelevanter Regelungen des Ermittlungsverfahrens.<br />
Etwa das Kapitel über „Untersuchungen an Ort und<br />
Stelle“ (S. 238 ff.) erfasst anschaulich die rechtlichen<br />
Schwierigkeiten internationaler Strafverfolgungsbehörden,<br />
die insbesondere zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen<br />
auf die Rechtshilfe der nationalen Stellen angewiesen bleiben.<br />
Gleichermaßen anschaulich und detailliert fallen die<br />
Teile 4 und 5 aus, die sich der „Durchführung des Ermittlungsverfahrens“<br />
und der „Beendigung des Ermittlungsverfahrens“<br />
zuwenden. Die staatliche Kooperation mit den internationalen<br />
Strafgerichten (S. 213-238) nimmt in der Justizpraxis<br />
sicherlich einen zentralen Stellenwert ein, da die Gerichtshöfe<br />
von der Durchsetzungsbereitschaft und -fähigkeit<br />
nationaler Behörden abhängig sind. Dass hierbei die grundlegende<br />
Monographie von Jörg Meißner (Die Zusammenarbeit
Stefan van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts Gärditz<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
mit dem Internationalen Strafgerichtshof nach dem Römischen<br />
Statut, 2003) nicht berücksichtigt wird, verwundert.<br />
Auch über das Beweisrecht als Herzstück des Ermittlungsverfahrens<br />
ließe sich sicherlich mehr diskutieren, als dies auf<br />
sechs Seiten (S. 269-274) möglich ist. Eine Gesamtdarstellung<br />
des formellen Völkerstrafrechts, wie sie van Heeck<br />
vorgelegt hat, kann selbstverständlich nicht zugleich auch<br />
eine fundierte Aufarbeitung aller kardinalen Einzelprobleme<br />
des Prozessrechts leisten. Jedoch provoziert dies die Frage,<br />
ob solche holistisch angelegten Untersuchungen überhaupt<br />
noch eine angemessene wissenschaftliche Durchdringung<br />
eines Sachgebiets ermöglichen oder ob nicht angesichts der<br />
noch unzureichenden Aufarbeitung des Themas vielmehr die<br />
Konzentration auf überschaubare Probleme (z.B. Rolle der<br />
Anklagebehörde, Beweisverwertungsverbote, Schweigerecht)<br />
sinnvoller wäre. Ungeachtet dessen hat die Vorgehensweise<br />
des Verf. freilich den unbestreitbaren Vorzug, aus dem wenig<br />
durchdrungenen Geflecht des Völkerstrafprozessrechts überhaupt<br />
erst einmal Strukturen herauszuschälen, auf die dann<br />
künftige Detailuntersuchungen dankbar zurückgreifen können.<br />
Der 6. Teil der Untersuchung („Zusammenfassung und<br />
Bewertung“) liefert die wohl interessantesten wissenschaftlichen<br />
Erträge der Arbeit. Hier führt der Verf. die Ergebnisse<br />
seiner Analyse vor allem unter vergleichenden Gesichtspunkten<br />
zusammen, indem nach den Unterschieden zwischen dem<br />
formellen Recht der Ad-hoc-Tribunale und des Internationalen<br />
Strafgerichtshofs gefragt wird. Der Verf. zeigt hier unterschiedliche<br />
Entwicklungspfade auf, die das formelle Völkerstrafrecht<br />
seit der Tribunaleinsetzung 1993/94 genommen<br />
hat. Mit Gespür für das Detail werden relevante Divergenzen<br />
aufgespürt und jeweils kompakten Bewertungen unterzogen.<br />
Die Arbeit enthält schließlich Anhänge mit den einschlägigen<br />
Statuten und Verfahrensregeln der beiden Tribunale<br />
sowie des Internationalen Strafgerichtshofs. Zusammen machen<br />
die Anhänge 350 Seiten aus, was ziemlich genau dem<br />
Umfang des wissenschaftlichen Teils entspricht. Der Käufer<br />
erwirbt daher zugleich eine (nicht ganz billige) Textausgabe<br />
zum internationalen Strafprozessrecht. War dies wirklich<br />
notwendig? Die verschiedenen Quellen sind immerhin alle<br />
durch das Internet bestens verfügbar. Der Anhang unterstreicht<br />
jedenfalls im Zusammenspiel mit der systematischen<br />
Struktur des Buches dessen praktischen Handbuchcharakter,<br />
was zumindest den Nutzwert für die (wenigen deutschsprachigen)<br />
Praktiker des Völkerstrafprozessrechts erhöhen dürfte.<br />
Resümierend lässt sich festhalten: An der ambivalenten<br />
Arbeit van Heecks werden sich absehbar die Geister scheiden:<br />
Wer eine kritisch-distanzierte Auseinandersetzung mit<br />
den theoretischen, historischen und politischen Grundlagenkonflikten<br />
erwartet, die auch das formale Völkerstrafrecht<br />
durchziehen und bislang (im Kontrast zum materiellen Recht)<br />
noch kaum ergründet sind, wird von der Arbeit eher enttäuscht<br />
sein. Doch solche spezifisch akademischen Erkenntnisinteressen<br />
verfolgte van Heeck mit seiner praxisorientierten<br />
Untersuchung ersichtlich von vornherein nicht. Der Verf.<br />
liefert vielmehr einen soliden, klar strukturierten und kompakt<br />
gefassten Kurzkommentar zum Völkerstrafprozessrecht.<br />
Wer einen solchen sucht, dem kann die Anschaffung des<br />
Buches vorbehaltlos nahegelegt werden.<br />
Privatdozent Dr. Klaus Gärditz, Bayreuth/Bonn<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
189
Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur Neumann<br />
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190<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur.<br />
Zur Ausübung hoheitlicher Gewalt durch Staatsanwaltschaft<br />
und erkennendes Gericht im deutschen Strafverfahren,<br />
Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2008, 508 S., € 109,-<br />
Die Struktur des heutigen deutschen Strafverfahrens ist mit<br />
der Verfassung der Bundesrepublik nicht vereinbar – das ist<br />
die provozierende These der Tübinger Habilitationsschrift<br />
von Volker Haas. Verantwortlich für den Verfassungsverstoß<br />
sind nach Haas Strukturelemente, die dem Gericht eine aktiv<br />
strafverfolgende Rolle zuweisen, wie insbesondere der Untersuchungsgrundsatz<br />
(Inquisitionsmaxime, § 244 Abs. 2 StPO).<br />
In Hinblick auf die darin und in anderen Elementen des geltenden<br />
Strafverfahrensrechts zum Ausdruck kommende Aufgabe<br />
der Strafverfolgung müsse die Tätigkeit des Strafrichters<br />
im System der Gewaltenteilung (nicht der Judikative,<br />
sondern) der Exekutive zugeordnet werden. Es handle sich<br />
also nicht um Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG.<br />
Darin liege zwar kein Verstoß gegen Art. 92 GG, dem zufolge<br />
die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist.<br />
Wohl aber sei Art 19 Abs. 4 GG verletzt, der dem Betroffenen<br />
bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt den<br />
Rechtsweg garantiert. Denn unabhängig von der umstrittenen<br />
Frage, ob Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz grundsätzlich auch<br />
gegen richterliche Akte garantiere: Jedenfalls dann, wenn die<br />
Tätigkeit des Richters materiell eine Maßnahme der Exekutive<br />
darstelle, müsse der Weg zu einem Gericht eröffnet sein,<br />
dessen Tätigkeit Rechtsprechung im materiellen Sinne darstelle.<br />
Das aber sei bei den Strafgerichten (auch der höheren<br />
Instanzen) nicht der Fall – siehe oben.<br />
Die zentrale These lautet also, dass nach der gegenwärtigen<br />
Struktur des deutschen Strafverfahrens das Strafgericht<br />
nicht Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG ausübe, sondern<br />
als Exekutivorgan tätig werde. Zur Begründung dieser<br />
These ist zweierlei erforderlich. Zum einen müssen die strukturellen<br />
Voraussetzungen herausgearbeitet werden, unter<br />
denen eine gerichtliche Tätigkeit als Ausübung von „Rechtsprechung“<br />
erscheint. Zum andern muss in einer Analyse der<br />
Struktur des deutschen Strafverfahrens gezeigt werden, dass<br />
diese Voraussetzungen nach den gegenwärtig geltenden<br />
strafprozessualen Regeln nicht erfüllt sind. Mit der ersteren<br />
Aufgabe befasst sich Haas zu Beginn des fünften und letzten<br />
Kapitels der Arbeit, wo der von ihm zugrunde gelegte Rechtsprechungsbegriff<br />
herausgearbeitet wird. Einer detaillierten,<br />
die historische Entwicklung mit einbeziehenden Strukturanalyse<br />
des deutschen Strafverfahrens sind die ersten vier Kapitel<br />
der Arbeit gewidmet, deren Ergebnisse im zweiten Teil<br />
des fünften Kapitels aufgenommen und zur These der Verfassungswidrigkeit<br />
des gegenwärtigen Strafverfahrens verdichtet<br />
werden. Dabei steht bei der Analyse des Strafverfahrens<br />
durchgehend der Gesichtspunkt im Hintergrund, dass die<br />
aktive, inquirierende Funktion des Strafgerichts nicht mit der<br />
Ausübung von „Rechtsprechung“ vereinbar sei, die nach der<br />
Ansicht von Haas einen als unbeteiligter Dritter urteilenden,<br />
einem „Passivitätsgebot“ unterliegenden Richter voraussetzt.<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
Diese Voraussetzung eines als unbeteiligter Dritter agierenden<br />
Richters wird idealtypisch im System des strafprozessualen<br />
Parteiprozesses verwirklicht, in dem der Richter nicht<br />
über den Angeklagten, sondern über die Berechtigung der<br />
Anklage zu urteilen hat und das Beweismaterial nicht sammelt,<br />
sondern lediglich bewertet. Im Mittelpunkt des ersten<br />
Kapitels steht deshalb die Frage, ob sich das deutsche Strafverfahren<br />
angesichts seiner Ausgestaltung als Anklageprozess<br />
als Parteiprozess einordnen lässt, in dem die Staatsanwaltschaft<br />
als Partei dem Angeklagten bzw. der Verteidigung<br />
als der anderen Partei gegenüber steht. Die Frage wird in<br />
Hinblick auf die Aufgabenverteilung zwischen Gericht und<br />
Staatsanwaltschaft verneint. Maßgeblich ist für Haas insofern,<br />
dass die Verfahrensherrschaft mit Beginn des Hauptverfahrens<br />
auf das Gericht übergeht, dass dem Gericht die Aufklärung<br />
des Sachverhalts obliegt (§ 244 Abs. 2 StPO) und<br />
dass das Gericht nicht an den Strafantrag des Staatsanwalts<br />
gebunden ist (zusammenfassend S. 63).<br />
Weiter ausgeführt und historisch vertieft wird diese Analyse<br />
im zweiten Kapitel, das sich mit dem Einfluss des<br />
Staatsverständnisses auf die Ausgestaltung des reformierten<br />
deutschen Strafverfahrens befasst. Die Halbherzigkeit der<br />
Reform, die das Inquisitionsprinzip zwar als Prinzip der Einleitung<br />
des Verfahrens durch den Anklagegrundsatz (und die<br />
Einrichtung einer zur Anklageerhebung berufenen Staatsanwaltschaft)<br />
ersetzte, aber als Untersuchungsgrundsatz (Instruktionsmaxime)<br />
beibehielt, wird überzeugend in einen<br />
Zusammenhang mit der „inneren Widersprüchlichkeit der<br />
konstitutionellen Monarchie“ (S. 65) gestellt, in der die<br />
Strafgerichte einerseits unabhängig urteilen, andererseits aber<br />
doch die Strafgerichtsbarkeit im Namen des Monarchen ausüben<br />
sollten. Der aktiven Stellung des Gerichts in diesem<br />
Verfahrensmodell entspricht, dass die Staatsanwaltschaft<br />
zwar die Anklage erhebt, diese aber nach Eröffnung des<br />
Hauptverfahrens nicht mehr zurücknehmen kann (§ 156<br />
StPO). Der Anklagegrundsatz ist insofern nur formell verwirklicht,<br />
er ist als Anklageform, nicht aber als Anklageprinzip<br />
ausgestaltet (zu dieser Unterscheidung mit Verweis auf<br />
die zeitgenössische Diskussion näher S. 107 ff.).<br />
Haas sieht die Instruktionsmaxime des geltenden Strafverfahrensrechts<br />
aber nicht nur in der Staatstheorie der konstitutionellen<br />
Monarchie, sondern auch in der „absoluten“<br />
Straftheorie des deutschen Idealismus verwurzelt. Diesem<br />
Zusammenhang geht das dritte Kapitel nach, das dem „Einfluss<br />
des Strafbegriffs auf die Ausgestaltung des deutschen<br />
Strafverfahrens“ gewidmet ist. Haas bezieht sich hier auf die<br />
Renaissance absoluter Straftheorien Ende des 18. und Anfang<br />
des 19. Jahrhunderts, für die insbesondere Kant und Hegel<br />
stehen. Entgegen neueren Kant-Deutungen, die versuchen,<br />
Kant in erster Linie als Anhänger einer relativen Straftheorie<br />
zu erweisen, besteht Haas mit Recht darauf, dass sich zentrale<br />
Texte von Kant zur Notwendigkeit staatlichen Strafens nur<br />
unter der Voraussetzung eines primär präventiv orientierten<br />
Strafverständnisses sinnvoll interpretieren lassen (vgl. etwa<br />
S. 191 zum Insel-Beispiel). Das schließt freilich die Annahme<br />
präventiver Elemente im Strafverständnis von Kant<br />
(S. 191) ebenso wenig aus wie in der Straftheorie Hegels,<br />
deren „absolute“ Ausrichtung Haas gleichfalls akzentuiert.
Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur Neumann<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Jedenfalls ideengeschichtlich überzeugend erscheint auch der<br />
Zusammenhang, den Haas zwischen der Renaissance absoluter<br />
Straftheorien und dem Festhalten an der Inquisitionsmaxime<br />
herstellt: Hat der Staat dafür zu sorgen, dass durch die<br />
Bestrafung des Schuldigen Gerechtigkeit geschehe, dann ist<br />
das staatliche Gericht, das den Urteilsspruch zu fällen hat,<br />
notwendiger Weise für die Voraussetzungen eines gerechten<br />
Urteils, also auch für die korrekte Ermittlung des Sachverhalts,<br />
verantwortlich. Es kann die Beschaffung des Beweismaterials,<br />
das zur Überführung des schuldigen Angeklagten<br />
dienen soll, dann nicht einer anderen Institution (der Staatsanwaltschaft)<br />
überlassen.<br />
Im Anschluss an die institutionengeschichtlichen und ideengeschichtlichen<br />
Ausführungen des zweiten und dritten<br />
Kapitels versichert sich der Autor im vierten Kapitel der<br />
„gegenwärtigen Validität der für die Struktur des Strafprozesses<br />
verantwortlichen historischen Legitimationsgründe“. Im<br />
Zentrum stehen dabei Überlegungen zu „Wesen und Zweck“<br />
staatlicher Strafe nach den liberal-rechtstaatlichen Vorgaben<br />
des Grundgesetzes. Haas wendet sich hier zunächst klar<br />
gegen eine Rechtfertigung der Strafe über transzendente<br />
Gerechtigkeitskriterien nach dem Muster der absoluten Straftheorien<br />
(S. 237). Der Kritik verfallen insbesondere die<br />
Strafkonzeptionen, die in den Schriften von Ernst Amadeus<br />
Wolff und Michael Köhler sowie in den früheren Arbeiten<br />
von Arthur Kaufmann entwickelt werden. Haas sieht aber<br />
auch bei dem heute verbreitet akzeptierten Verständnis der<br />
Strafe als Tadel, als sozialethische Missbilligung, Elemente<br />
einer absoluten Straftheorie am Werk. Der Begriff der sozialethischen<br />
Missbilligung wird dabei, m. E. verfehlt, in einen<br />
Zusammenhang mit einer im Namen der Sittlichkeit oder der<br />
Religion ausgeübten Strafgewalt gestellt. Zulässig sei allein<br />
ein rechtlicher Tadel; auf den Begriff der sozialethischen<br />
Missbilligung solle verzichtet werden (S. 259).<br />
Diese strikte Ablehnung der absoluten wie der ihnen,<br />
nach Ansicht des Autors, verdächtig nahestehenden Straftheorien<br />
bedeutet nicht, dass Haas bei der Festlegung der Strafzwecke<br />
auf das Element der Vergeltung verzichten würde.<br />
Ansatzpunkt für die Verteidigung der vergeltenden Komponente<br />
staatlicher Strafe ist die prominent von Arthur Kaufmann<br />
vorgetragene Erwägung, dass das Schuldprinzip als<br />
strafbegrenzendes Prinzip nur dann überzeugend gerechtfertigt<br />
werden kann, wenn Schuld Strafe zugleich in einem normativ<br />
relevanten Sinne begründet (S. 260 ff.). Positiv begründet<br />
wird die mit dem „Schuldausgleich“ identifizierte<br />
Vergeltung unter dem Gesichtspunkt eines „berechtigten (!)<br />
Genugtuungsbedürfnisses der Allgemeinheit“ (S. 263). Durch<br />
die Auferlegung des Strafübels werde der „distributive Verhaltensvorteil“,<br />
den sich der Täter durch seine rechtswidrige<br />
Tat auf Kosten der Rechtsgemeinschaft verschafft habe,<br />
kompensiert. Auf diese Weise werde das Überordnungsverhältnis,<br />
das sich der Täter gegenüber der Rechtsgemeinschaft<br />
angemaßt habe, symbolisch aufgehoben (S. 262/263). In<br />
diesem Sinne bekennt sich der Verf. ausdrücklich zu einer<br />
„Vergeltungstheorie“ (S. 268). Die Lehre von der positiven<br />
Generalprävention wird demgegenüber als eigenständige<br />
Strafzwecktheorie ausdrücklich abgelehnt; sie beschreibe<br />
lediglich einen (wichtigen) tatsächlichen Effekt, der durch die<br />
als Mittel des Schuldausgleichs (aber auch: der Abschreckung)<br />
verstandene Strafe ausgelöst werde (S. 274).<br />
Das Problem dieser Strafkonzeption dürfte bei der Annahme<br />
eines „berechtigten“ Genugtuungsbedürfnisses der<br />
Allgemeinheit liegen. Dass dieses Genugtuungsbedürfnis<br />
nicht nur als sozialpsychologisches Phänomen existent, sondern<br />
auch legitim sein soll, wird nicht begründet. Zwar ist<br />
richtig, dass man den Gesichtspunkt des gerechten Ausgleichs<br />
durch Strafe auf den „distributiven Verhaltensvorteil“<br />
beziehen kann, den sich der Täter im Vergleich zu den<br />
rechtstreuen Bürgern durch die Straftat (jedenfalls in vielen<br />
Fällen) verschafft oder verschaffen will. Aber ganz abgesehen<br />
davon, dass dann detailliert zu begründen wäre, weshalb<br />
der Gerechtigkeit nicht durch den bloßen Entzug der angemaßten<br />
Vorteile Genüge geschehen kann: wie sich dieser<br />
Gesichtspunkt zu dem Aspekt des „berechtigten“ Genugtuungsbedürfnisses<br />
verhält, bleibt unklar. In diesem Teil lässt<br />
die Arbeit die sonstige Klarheit der Gedankenführung vermissen.<br />
Das gilt nicht für die in diesen Abschnitt integrierten Ausführungen<br />
zu den unterschiedlichen Modellen der Strafzumessung<br />
(Spielraumtheorie, Theorie der Punktstrafe, Stellenwerttheorie,<br />
Theorie der tatproportionalen Strafzumessung).<br />
Gleichgültig, ob man dem Verf. bei seiner Verteidigung<br />
der Spielraumtheorie im Ergebnis folgt oder nicht: die<br />
Argumente pro und contra werden scharfsinnig erörtert, und<br />
jedenfalls de lege lata dürfte in Hinblick auf die Regelung des<br />
§ 46 StGB ein anderes Modell als Theorie des positiven<br />
Rechts kaum in Betracht kommen.<br />
Das fünfte Kapitel, dem die Aufgabe zukommt, die These<br />
der Verfassungswidrigkeit des heutigen deutschen Strafverfahrens<br />
zu entfalten und zu belegen, konzentriert sich zunächst<br />
auf die Frage, „ob die Funktion, die der Richter im<br />
deutschen Strafprozess ausübt, den Kriterien der Rechtsprechung<br />
im Sinne von Art. 92 GG genügt“ (S. 305). Die Antwort<br />
darauf hängt natürlich maßgeblich von dem in Art. 92<br />
GG zugrunde gelegten Rechtsprechungsbegriff ab, mit dem<br />
sich der Verf. im Folgenden ausführlich beschäftigt. Im Streit<br />
zwischen einem formellen und einem materiellen Rechtsprechungsbegriff<br />
optiert er überzeugend für den letzteren. In der<br />
Tat würde ein formeller Rechtsprechungsbegriff (dem zufolge<br />
Rechtsprechung als die Tätigkeit der Gerichte zu definieren<br />
wäre) Art. 92 GG zu einer tautologischen und damit inhaltsleeren<br />
Norm degradieren (S. 308). <strong>Inhalt</strong>lich wird Rechtsprechung<br />
in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen<br />
im Schrifttum als „Entscheidung über das Bestehen<br />
eines Rechtsverhältnisses durch einen unbeteiligten Dritten“<br />
definiert (S. 339). Voraussetzung für eine Entscheidung als<br />
unbeteiligter Dritter ist dabei nicht nur Objektivität, wie sie<br />
auch von einer Verwaltungsbehörde verlangt wird (S. 338),<br />
sondern auch Neutralität im Sinne der Abwesenheit eines<br />
eigenen Interesses an dem Ergebnis der Entscheidung. Neutralität<br />
setze „schon begrifflich als spezifische Einstellung des<br />
gerichtlichen Organs die Existenz mehrerer Rechtssubjekte<br />
voraus, über deren Rechtsverhältnis durch den Prozess<br />
rechtskräftig entschieden wird“ (S. 339). Die für den derzeitigen<br />
Strafprozess schicksalhafte Frage heißt dann, ob diese<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
191
Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur Neumann<br />
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Voraussetzungen in Bezug auf die richterliche Entscheidungstätigkeit<br />
im deutschen Strafverfahren gegeben sind.<br />
Diese Frage wird im anschließenden zweiten Abschnitt<br />
des fünften Kapitels, der teilweise auf die vorhergehenden<br />
Kapitel Bezug nimmt, verneint. Das erkennende Gericht<br />
fungiere nicht als unbeteiligter Dritter, sondern als „Sachwalter<br />
des staatlichen Strafrechts“ und gehöre deshalb funktionell<br />
zur Exekutive (S. 349). Besonders herausgestellt wird die<br />
aktiv gestaltende Rolle, die dem Gericht bei der Strafzumessung<br />
zukomme: Strafzumessung sei ein Willensakt (S. 389<br />
u.ö.), dessen (auch) präventive Orientierung der Strafzumessung<br />
eine kriminalpolitische Dimension verleihe (S. 396).<br />
Auch bei gerichtlichen Entscheidungen im Rahmen der<br />
§§ 153, 153a StPO handele es sich nicht um Erkenntnis-,<br />
sondern um Willensakte (S. 400). Schließlich sei die aktive<br />
Rolle, die das Gericht derzeit bei strafprozessualen Absprachen<br />
in der Hauptverhandlung spiele, mit der Stellung eines<br />
neutralen Dritten nicht vereinbar (S. 403).<br />
Dieser Befund führt, wie schon eingangs festgestellt, noch<br />
nicht zur Diagnose der Verfassungswidrigkeit des Strafverfahrens<br />
in der Ausgestaltung durch die geltende Strafprozessordnung.<br />
Denn Art. 92 GG schließt, wie Haas richtig sieht,<br />
die Zuweisung exekutiver Aufgaben an die Gerichte nicht<br />
aus. Wohl aber liege ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG<br />
vor, weil gegen das Strafurteil als Maßnahme der Exekutive<br />
nicht der Weg zu Gerichten gegeben sei, die Rechtsprechung<br />
im materiellen Sinne ausübten. Als Ergebnis wird daher festgehalten,<br />
dass „im Bereich der Strafgerichtsbarkeit der durch<br />
Art. 19 IV GG gewährte Anspruch auf materielle Rechtsprechung<br />
bis heute nicht eingelöst worden ist, weil der Strafrichter<br />
nicht als unbeteiligter Dritter über ein fremdes [subjektives,<br />
U. N.] Strafrecht urteilt“ (S. 421). Die Verfahrensänderungen,<br />
die nach dieser Diagnose erforderlich wären, um den<br />
Strafprozess verfassungskonform auszugestalten werden am<br />
Ende der Arbeit explizit in Form einer „Skizze“ präsentiert.<br />
Vorgeschlagen wird ein zweiteiliges, in ein Eingriffs- und ein<br />
Rechtsschutzverfahren gestuftes Verfahren, in dem das<br />
Rechtsschutzverfahren als Parteiprozess ausgestaltet werden<br />
und damit der Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG entsprechen<br />
soll. Der Untersuchungsgrundsatz soll nur für die Tätigkeit<br />
des Staatsanwalts gelten, der Richter bei der Strafzumessung<br />
an den Strafantrag des Staatsanwalts gebunden sein. Da das<br />
Gericht nach dem von Haas vorgeschlagenen Modell auf die<br />
Überprüfung des Handelns der Staatsanwaltschaft beschränkt<br />
ist, also nicht selbst die Verantwortung für den in der Strafverhängung<br />
liegenden Grundrechtseingriff übernimmt, stellt<br />
sich bei Freiheitsstrafen das Problem ihrer Vereinbarkeit mit<br />
Art. 104 Abs. 2 GG, dem zufolge über die Zulässigkeit einer<br />
Freiheitsentziehung nur der Richter zu entscheiden hat. Der<br />
Verf. hält dieses Problem aber auch de constitutione lata für<br />
lösbar (S. 426).<br />
Der Verf. hat eine hochinteressante, materialreiche und in<br />
vielen Punkten (z.B. zur Geschichte des reformierten Strafverfahrens,<br />
zur Strafzumessung und zur Theorie der unbestimmten<br />
Rechtsbegriffe [S. 398 ff.]) auch unabhängig von<br />
der spezifischen Stoßrichtung der Arbeit weiterführende<br />
Untersuchung vorgelegt. Dass man an vielen Punkten mit<br />
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192<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />
guten Gründen anderer Meinung sein kann, versteht sich bei<br />
einer Arbeit, die es unternimmt, eine höchst eigenwillige<br />
These zu begründen, von selbst. So überzeugt mich etwa das<br />
für Haas zentrale Argument, der Untersuchungsgrundsatz sei<br />
mit der Stellung des Richters als unbeteiligter Dritter im<br />
Sinne (seiner Interpretation) des Art. 92 GG unvereinbar<br />
(S. 354 u.ö.), nicht. Denn die Verpflichtung des Gerichts auf<br />
Wahrheit (als Voraussetzung der Gerechtigkeit), die sich in<br />
diesem Prinzip widerspiegelt, impliziert noch nicht die Ausübung<br />
eines Strafverfolgungsinteresses, sondern dient in<br />
gleicher Weise dem Schutz des unschuldig Angeklagten vor<br />
einer ungerechtfertigten Verurteilung. Wenn der Verf. demgegenüber<br />
auf die Unschuldsvermutung verweist und aus<br />
dieser ableitet, dass die gerichtliche Untersuchung nur den<br />
Zweck haben könne, den Angeklagten zu überführen<br />
(S. 420), so überzeugt das nicht. Denn die Unschuldsvermutung<br />
steht funktional im Kontext eines Verfahrens, das der<br />
Klärung der Schuldfrage und insofern der Ermittlung der<br />
Wahrheit dient, und wäre außerhalb dieses Kontextes nicht<br />
lebensfähig. Man kann also nicht, wie von Haas nahe gelegt,<br />
argumentieren, ohne Untersuchungsgrundsatz müsste das<br />
Gericht den Angeklagten aufgrund der Unschuldsvermutung<br />
sowieso freisprechen, so dass die gerichtliche Untersuchung<br />
nur der strafrechtlichen Verfolgung dienen könne. Aber diese<br />
und andere Fragen sollten in einer ausführlichen wissenschaftlichen<br />
Diskussion geklärt werden, die der beeindruckenden<br />
Arbeit von Haas zu wünschen und zu prophezeien<br />
ist.<br />
Prof. Dr. Ulfrid Neumann, Frankfurt am Main
Klaus Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess Pühringer<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Klaus Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess, C.F.<br />
Müller Verlag, Heidelberg 2005, 338 S., € 39,-<br />
Die verstärkte Einbeziehung des Opfers in den Strafprozess<br />
begann in Deutschland Mitte der 80er Jahre. Für diese Entwicklung<br />
waren neben Initiativen der Opferschutzorganisationen<br />
und Erkenntnissen der jungen Viktimologie insbesondere<br />
auch zahlreiche internationale Rechtsakte der Vereinten<br />
Nationen und des Europarats verantwortlich. Den Höhepunkt<br />
dieser internationalen Entwicklung setzte der Rahmenbeschluss<br />
des Rates der europäischen Union vom 15.3.2001<br />
über die Stellung des Opfers im Strafverfahren. Aufgrund der<br />
damit verbundenen Umsetzungsverpflichtung war auch in<br />
Deutschland eine umfassende Reform der Opferrechte notwendig<br />
geworden, die mit dem Opferrechtsreformgesetz<br />
2004 erfolgte. Spätestens seit der mit dem Opferrechtsreformgesetz<br />
einhergehenden Aufwertung des Opfers kommt<br />
der im Strafverfahren tätige Verteidiger nicht mehr umhin,<br />
sich mit der Rolle des Opfers als Subjekt im Verfahren auseinanderzusetzen,<br />
wofür sich das vorliegende Werk besonders<br />
eignet. Neben der entsprechend dem Titel zu erwartenden<br />
Darstellung der Rechte des Opfers im Strafprozess fügen sich<br />
praktische und auch taktische Hinweise zu einem für den<br />
Rechtsanwender besonders wertvollen Konglomerat.<br />
Nach einem knappen Überblick über die Entwicklung der<br />
Opferrechte folgt eine kurze Begriffsklärung der involvierten<br />
Verfahrensbeteiligten, wobei naturgemäß der Begriff des<br />
Verletzten an dieser Stelle keiner abschließenden Klärung<br />
zugeführt werden kann. Für die Rolle des Verteidigers sicherlich<br />
von besonderem Interesse ist das daran anschließende<br />
Kapitel über die Vorgehensweise von der Mandatsübernahme<br />
bis zur Einleitung des Strafverfahrens. Gerade in diesem<br />
Stadium erfolgt die wesentliche Weichenstellung für das<br />
gesamte Verfahren. Die Einhaltung aller notwendigen Schritte<br />
wird durch eine im Anhang abgedruckte „Checkliste“<br />
erleichtert. Da dem Opfer nach wie vor eine wichtige Rolle<br />
als Zeuge im Verfahren zukommt, befasst sich der Autor in<br />
einem der ersten Kapitel mit den Rechten des Opferzeugen<br />
und des anwaltlichen Zeugenbeistands und insbesondere mit<br />
den Regelungen über die Vernehmung des Opferzeugen.<br />
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass der Autor<br />
auch auf die zu beachtende Ambivalenz bezüglich des Einsatzes<br />
von Videotechnik näher eingeht, und die Problematik<br />
für den Rechtsanwender verständlich aufzeigt. Im Umfang<br />
erheblich kürzer werden die allgemeinen Rechte des Verletzten<br />
dargestellt. Sehr ausführlich befasst sich der Autor hingegen<br />
mit den rechtlichen Rahmenbedingungen für den Täter-<br />
Opfer-Ausgleich (TOA), wobei sogleich in der Einleitung die<br />
Vor- und Nachteile für den Beschuldigten und das Opfer, und<br />
die generell vor Einleitung eines TOA anzustellenden Überlegungen<br />
genannt werden. Die vielfältigen Anwendungsbereiche<br />
des TOA werden systematisch dargestellt und erleichtern<br />
somit den Einstieg in dieses Rechtsinstrument erheblich.<br />
Den Schwerpunkt des vorliegenden Werkes bilden eindeutig<br />
die unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten (Klageerzwingungsverfahren,<br />
Nebenklage, Adhäsionsverfahren, Pri-<br />
vatklage), die dem Opfer einer Straftat je nach Sachlage offen<br />
stehen, wobei sich der Autor nicht auf die Darstellung der<br />
Rechte des Verletzten beschränkt, sondern auch Empfehlungen<br />
zu praktischen und taktischen Vorgehensweise gibt. Je<br />
nach Art der Teilnahme des Verletzten am Verfahren werden<br />
die zu setzenden Verfahrenshandlungen Schritt für Schritt<br />
und unter Einbeziehung der Rechtsprechung erklärt und auf<br />
ihre Bedeutung hin analysiert, wobei auch die Vor- und<br />
Nachteile einzelner Verfahrensschritte für das Opfer genannt<br />
und gegeneinander abgewogen werden. Der Autor begnügt<br />
sich dabei nicht mit bloßen Ausführungen über die einzelnen<br />
Rechten des Opfers; vielmehr finden sich zahlreiche Hinweise<br />
zur Behandlung und Einbeziehung des Verletzten bei den<br />
einzelnen Verfahrensschritten und praktische Empfehlungen<br />
an den Verteidiger, wie er die dem Opfer eingeräumten Rechte<br />
effektiv im Verfahren einsetzen kann, um den gewünschten<br />
Erfolg zu erreichen. Dies geht mitunter soweit, dass sich<br />
neben den Ausführungen zu den formellen Anforderungen an<br />
bestimmte Schriftsätze Hinweise zu den empfohlenen Eintragungen<br />
in den Fristenkalender finden. Jede Beteiligungsmöglichkeit<br />
des Verletzten wird auch in Bezug auf die Kosten des<br />
Verfahrens und der Rechtsanwaltsvergütung im Besonderen<br />
untersucht; ist doch dieser Punkt sowohl für den Verteidiger<br />
als auch für den Verletzten selbst von großer Bedeutung.<br />
Daneben finden sich auch vereinzelt kritische Anmerkungen<br />
zur derzeitigen Rechtslage (z.B. zum TOA), sowie Ausführungen<br />
zu den praktischen Schwierigkeiten in der Umsetzung<br />
(Stichwort: Klageerzwingungsverfahren) mit denen sich ein<br />
Verteidiger eines Opfers konfrontiert sieht.<br />
Erwähnenswert ist zudem, dass der Autor in seinem letzten<br />
Kapitel über den eigentlichen Titel des Werks hinausgeht<br />
und in einem Exkurs neben den Möglichkeiten der staatlichen<br />
Opferentschädigung noch weitere Rechte des Opfers außerhalb<br />
des Strafprozesses beleuchtet, wie beispielsweise den<br />
sehr wichtigen und in mehrere Rechtsbereiche hineinragenden<br />
Opferschutz bei häuslicher Gewalt, und somit eine umfassende<br />
Information über das Strafverfahren hinaus ermöglicht.<br />
Ganz allgemein ist als positiv hervorzuheben, dass der<br />
Autor auch versucht, die Interessen des Beschuldigten im<br />
Auge zu behalten und kontinuierlich auf die Bedeutung des in<br />
der Praxis notwendigen Interessensausgleichs hinweist.<br />
Aufgrund der klaren und verständlichen Formulierung ist<br />
dieses Werk auch für Mitarbeiter von Opferschutzeinrichtungen<br />
und Beratungsstellen geeignet, um sich mit den einschlägigen<br />
Regelungen vertraut zu machen. Die sehr detaillierte<br />
Gliederung der einzelnen Kapitel ermöglicht ein rasches<br />
Auffinden der benötigten Informationen. Weiters finden sich<br />
an den jeweils passenden Stellen Verweise auf die im Anhang<br />
abgedruckten Muster; diese werden sich in der Praxis<br />
als besonders hilfreich erweisen.<br />
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass das vorliegende<br />
Werk nicht zuletzt den Opfern von Straftaten eine wertvolle<br />
Hilfe leistet, hängt doch die mit dem Gang des Verfahrens<br />
verbundene und unter allen Umständen zu verhindernde<br />
Sekundärviktimisierung eng mit der Qualität der Vertretung<br />
des Opfers im Verfahren zusammen.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Klaus Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess Pühringer<br />
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Es bleibt zu hoffen, dass ein Werk mit einer derart kompakten<br />
Darstellung der Rechte von Opfern im Strafverfahren<br />
kombiniert mit praxisrelevanten Informationen alsbald auch<br />
in die österreichische Literatur Eingang findet.<br />
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Mag. Lisa Pühringer, Wien<br />
<strong>ZIS</strong> 4/2009