Was macht ein Werk zum Kunstwerk - Betrachtungen zu Duchamp
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<strong>Was</strong> <strong>macht</strong> <strong>ein</strong> <strong>Werk</strong> <strong><strong>zu</strong>m</strong> <strong>Kunstwerk</strong>?<br />
<strong>Betrachtungen</strong> <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em Objekt von Marcel <strong>Duchamp</strong>: "Fountain"<br />
von Uli Schuster (KUSEM – Kunstseminar Luitpold Gymnasium, München, http://www.kusem.de/lk)<br />
Die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts revolutionieren das Verständnis von Kunst. Die Generation<br />
der Impressionisten tritt ab. Cezannes Tod 1906 bezeichnet <strong>ein</strong>en der markanteren Wendepunkte. Bereits im Jahr<br />
davor tritt auf dem Pariser Herbstsalon <strong>ein</strong>e Gruppe junger Maler mit <strong>ein</strong>er neuen Malerei in Ersch<strong>ein</strong>ung, die<br />
wegen ihrer grell-bunten Farbigkeit mit dem Titel „les fauves“, „die Wilden“ tituliert werden und den<br />
Expressionismus begründen. Leitfigur der Gruppe ist Henri Matisse. 1907 arbeitet <strong>ein</strong> in Paris lebender Spanier<br />
an <strong>ein</strong>em Bild, das den Beginn <strong>ein</strong>er neuen Epoche darstellt, Picasso, s<strong>ein</strong>e "Demoiselles d'Avignon" und der<br />
Kubismus. Zwischen 1913 und 1917 experimentiert <strong>ein</strong> Franzose mit "Plastiken", die er aus Gebrauchsgegenständen<br />
montiert, bzw. im Kaufhaus erwirbt, Marcel <strong>Duchamp</strong>. Auch er kann als Beispiel für <strong>ein</strong>e<br />
Bewegung genommen werden, den Dadaismus. Jede der genannten Richtungen zeichnet sich dadurch aus, daß<br />
sie traditionelle Glaubenssätze des Kunstverständnisses in Frage stellt. Ein Brennpunkt ist das traditionelle<br />
<strong>Werk</strong>verständnis.<br />
<strong>Was</strong> ist <strong>ein</strong> <strong>Kunstwerk</strong> aus traditioneller Sicht?<br />
1. These<br />
Der Begriff des <strong>Kunstwerk</strong>s impliziert seit Beginn der Neuzeitlichen Kunst im 14. Jahrhundert <strong>ein</strong> absichtsvolles<br />
und aus außerordentlicher Vorstellungskraft geplantes, in <strong>ein</strong>em edlen Material, eigenhändig und durch<br />
kunstfertige Beherrschung von <strong>Werk</strong>zeugen und Verfahrensweisen <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em historischen Zeitpunkt realisiertes<br />
und in s<strong>ein</strong>er Fertigung abgeschlossenes Produkt <strong>ein</strong>es ebenso ingeniösen wie kundigen = ausgebildeten und<br />
erfahrenen Menschen und Autors (Meisters, Urhebers, Schöpfers).<br />
2. These<br />
Ein <strong>Kunstwerk</strong> unterscheidet sich von <strong>ein</strong>em <strong>Werk</strong> anderer Art durch <strong>ein</strong>e besondere Weise des Gebrauchs und<br />
der Wertschät<strong>zu</strong>ng.<br />
3. These<br />
Zum <strong>Kunstwerk</strong> wird <strong>ein</strong> <strong>Werk</strong> nicht durch die künstlerische Kraft <strong>ein</strong>es Autors oder durch <strong>ein</strong> künstlerisches<br />
Verfahren. Der Prozess der Wert<strong><strong>zu</strong>m</strong>essung ist vielmehr <strong>ein</strong> gesellschaftlicher Akt, an dem der Künstler, aber<br />
auch der Kunstmarkt, die Kunstwissenschaft, Kuratoren und Publizisten und das Publikum mitwirken.<br />
4. These<br />
Die Wertschät<strong>zu</strong>ng des Originals sagt uns: Zwei Dinge können materiell völlig ununterscheidbar und gleich s<strong>ein</strong><br />
und doch messen wir ihnen völlig unterschiedlichen Wert <strong>zu</strong>, bezeichnen das <strong>ein</strong>e z.B. als <strong>ein</strong> <strong>Kunstwerk</strong>, das<br />
andere z.B. als <strong>ein</strong>e Fälschung, <strong>ein</strong>e Kopie, <strong>ein</strong> Ready-made, oder <strong>ein</strong>en simplen Gegenstand.<br />
"Marcel <strong>Duchamp</strong> (1887-1968): "Springbrunnen", 1917. Ready-made. Urinoir aus Sanitärporzellan,<br />
Höhe 62, 5 cm. Replik 1964. Privatsammlung" (Abb. aus: Klant/Walch, "Grundkurs Kunst")<br />
1
In der vierzehnten Auflage der Encyclopaedia Britannica wird Fountain als <strong>ein</strong>e Vorrichtung definiert, die da<strong>zu</strong><br />
dient, <strong>Was</strong>ser in <strong>ein</strong> Zierbecken sprudeln <strong>zu</strong> lassen..."(Danto, "Die philosophische Entmündigung der<br />
Kunst", 1993, S.63).<br />
Betrachten wir <strong>ein</strong>e Abbildung im Buch von Klant/Walch, "Grundkurs Kunst", Band 2 auf Seite 166. In dem<br />
zweiseitigen Text unter der Überschrift "Die Umwertung aller Werte" ist davon die Rede, dass <strong>Duchamp</strong><br />
"Gebrauchsgegenstände (...) durch ihre Ausstellung <strong>zu</strong> <strong>Kunstwerk</strong>en erklärte". Gehen wir <strong>ein</strong>mal davon aus,<br />
dass in der von uns ins Auge gefassten Abbildung also <strong>ein</strong> <strong>Kunstwerk</strong> abgebildet ist. Wir haben bereits gelernt,<br />
wie man <strong>Kunstwerk</strong>en beschreibend und analytisch auf den Leib rücken kann. Wir werden unseren ersten<br />
Eindruck formulieren, dann das Objekt mit Kategorien der Plastik beschreiben und danach prüfen, ob wir es als<br />
<strong>Kunstwerk</strong> gelten lassen können.<br />
Erster Eindruck<br />
Auch wenn es in ungewöhnlicher Sicht (auf dem Rücken liegend und von hinten gesehen) dargeboten ist, kommt<br />
das Ding in s<strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>deutigen Physiognomie doch sofort bekannt vor. Stellt man die Abbildung auf den Kopf,<br />
dann eröffnet sich der gewöhnliche Anblick <strong>ein</strong>es Urinals, etwa aus der Sicht der gewöhnlichen Benut<strong>zu</strong>ng. Auf<br />
eigenartige Weise verschwindet allerdings der dann <strong>zu</strong> erwartende Boden des Raums in <strong>ein</strong>em Verlauf von Weiß<br />
nach Blau in unbestimmte Tiefe, die den Betrachter schweben lässt, ihm <strong>ein</strong> Gefühl von Schwindel vermittelt.<br />
Sofort fällt die runde Öffnung oben im Objekt auf. Ganz offensichtlich fehlt hier der <strong>Was</strong>seranschluss für die<br />
Spülung, und dort, wo das Porzellanbecken mit vier Schrauben an der Wand befestigt s<strong>ein</strong> müsste, fallen die<br />
leeren Schraublöcher ins Auge. <strong>Was</strong> man an so <strong>ein</strong>em Ding erwarten kann: Mit Filzstift hat irgend<strong>ein</strong> 'Writer'<br />
s<strong>ein</strong> tag hinterlassen, es ist nicht <strong>zu</strong> entziffern. Unbenutzt und sauber sieht das Teil aus. Ganz im Gegensatz <strong>zu</strong><br />
dem kaputten Eindruck, den die fehlende Zuleitung hinterlässt, steht hier weder das <strong>Was</strong>ser, noch schwimmen<br />
Kippen. Das makellose Weiß des Porzellans hinterlässt vor dem kräftigen Blau des Hintergrunds <strong>ein</strong>en<br />
klinischen, sterilen Eindruck. Springbrunnen? Nichts springt hier, und so clean wie das Ding aussieht, sprang<br />
hier auch nie etwas. <strong>Was</strong> oben nicht angeschlossen ist, dürfte auch unten nicht dicht s<strong>ein</strong>. Eine Nut<strong>zu</strong>ng im Sinne<br />
des Gebrauchswerts sch<strong>ein</strong>t nicht angeraten, der Künstler hat <strong>ein</strong> Objekt, das wir Tag für Tag demütigen, in die<br />
Freiheit entlassen. Allerdings sind wir vielleicht als Betrachter aufgefordert, unsere Vorstellungskraft im Sinne<br />
<strong>ein</strong>es "Infinito" als Produzenten mit <strong>ein</strong><strong>zu</strong>bringen. Unsere Phantasie als der sprudelnde Quell, für den uns der<br />
Künstler <strong>ein</strong> Auffangbecken anbietet?<br />
Betrachten wir es wieder wie im Buch präsentiert: Der Titel im Original ist "fountain", die Gattung demnach<br />
Brunnenplastik. Wir erinnern uns auch an Gemälde wie den Schmadribachfall [Josef Anton Kochs heroischklassizistisches<br />
Landschaftsgemälde <strong>ein</strong>es grandiosen Gebirgswasserfalls] und erleben das Objekt, wie es sich<br />
steil aufragend erhebt und sich (...) in das kühle Blau hin<strong>ein</strong> schiebt. Aber im Unterschied <strong><strong>zu</strong>m</strong> Schmadribachfall<br />
erhebt es sich nur selbst, und ohne unsere großen Gefühle an<strong>zu</strong>sprechen. Es sind eher die kl<strong>ein</strong>en Bedürfnisse,<br />
an die sich das Objekt wendet. Philosophisch ist es damit eher dem Realismus verpflichtet als der Romantik.<br />
Der Urinal ist für die Franzosen maskulin, <strong>ein</strong> Objekt, an dem die Grenzen zwischen den Geschlechtern<br />
unauflösbar werden! Erschließt sich das ästhetische Objekt Männern wie Frauen gleichermaßen oder sind Frauen<br />
auf versteckt sexistische Art vom Genuss solcher Kunst ausgeschlossen?<br />
Beschreibung:<br />
Der Fotograf bietet uns <strong>ein</strong>e eigenartige Ansicht auf <strong>ein</strong> bekanntes<br />
Objekt. Indem er es auf den Kopf und im lang gezogenen Hochformat<br />
vor <strong>ein</strong>en blauen Hintergrund stellt, schafft er die Assoziation <strong>ein</strong>es<br />
steil aufragenden, schneebedeckten Bergs vor strahlend blauem<br />
Himmel. Solches kennen wir aus der Romantik, "Dom über <strong>ein</strong>er<br />
Stadt"(Schinkel), "Der Watzman" (Richter). Das gleichseitige Dreieck,<br />
spätestens seit Raffael die Verkörperung harmonisch ausgewogener<br />
Bildordnung, betont gleichermaßen die vertikale Hauptachse, als es<br />
unseren Blick an s<strong>ein</strong>er Basis auf die Stellen der Plastik lenkt, wo<br />
<strong>Duchamp</strong> die Schraublöcher in genialer Absicht unbenützt gelassen hat.<br />
Wie <strong>ein</strong>e Seilschaft von Gipfelstürmern sind genau in Symmetrieachse<br />
und Fall-Linie des Massivs vier schwarze Punkte aufgereiht. Folgt man<br />
der Linie nach unten, dann türmt sich am Fuß des Massivs <strong>ein</strong> Hügel<br />
aus sechs abgestürzten "Bergsteigern". Die klare Symmetrie <strong>macht</strong> aus<br />
dem beschriebenen Drama <strong>ein</strong>e kühle, ornamentale Ordnung. Ist es <strong>ein</strong><br />
Zufall, <strong>ein</strong>e Laune des Fotografen, daß der Bildhorizont die Höhe des<br />
Objekts im goldenen Schnitt teilt (AB:AC=AC:BC)? <strong>Was</strong> man aus<br />
naiver Sicht für dunkle Punkte halten mag, erschließt sich spätestens<br />
wenn man die vertikale Hauptachse des Objekts noch weiter nach unten<br />
verfolgt als Loch.<br />
2
Damit wird klar: Wir haben es hier mit <strong>ein</strong>em Hohlkörper <strong>zu</strong> tun, und hinter der glatten, harten, kalten und<br />
abweisenden Oberfläche, den sanften, kantenlosen Rundungen des Porzellans, "die denjenigen von <strong>Werk</strong>en<br />
Brancusis und Moores ähneln" (Danto), mag sich hinter autistisch verschlossenem Äußeren <strong>ein</strong> reiches<br />
Innenleben abspielen, auf das unsere Phantasie mit Hilfe jener Löcher vom Künstler gelenkt wird, umso mehr,<br />
als er es vor unserem Auge verborgen hält.<br />
Wenn wir die Maßangabe 62.5 cm (Höhe?) nicht hätten, könnten wir leicht annehmen, dass wir es hier mit<br />
<strong>ein</strong>em monumentalen Gebilde im Sinn von Claes Oldenburg <strong>zu</strong> tun haben, denn der Fotograf senkt unser Auge<br />
tief herab. Sollen wir diese Taschenausgabe etwa vergleichen mit dem Wittelsbacher Brunnen oder der Fontana<br />
di Trevi? Wie muß man sich die Situation der Präsentation vorstellen? Das Objekt liegt ohne sichtbaren Sockel<br />
auf <strong>ein</strong>er weißen Fläche. Obwohl es s<strong>ein</strong>er Symmetrie entsprechend sehr frontal ausgeleuchtet ist, wirft es doch<br />
<strong>ein</strong>en Schatten auf s<strong>ein</strong> Auflager wodurch der Eindruck des Schwebens verhindert wird. Die Kontur erfüllt die<br />
klassizistische Forderung nach Klarheit (...). Da wir wissen, um welches Objekt es sich handelt, und wie dieses<br />
Objekt gewöhnlich aussieht, müssen wir uns fragen, warum es in dieser Position präsentiert wird. Hält der<br />
Fotograf diese Ansicht für <strong>ein</strong>e Hauptansicht des Objekts? Gehört das Blau <strong><strong>zu</strong>m</strong> <strong>Werk</strong> oder <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er nahen<br />
Wand? Viele Fragen, die wir so nicht beantworten können, die uns aber möglicherweise interpretatorisch in die<br />
Irre treiben. Warum zeigt er es in liegender Position und nicht hängend, wie wir es gewöhnlich sehen? (...) Das<br />
Liegen [sch<strong>ein</strong>t] k<strong>ein</strong> Zufall [<strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>], sondern in der Absicht der Präsentation begründet liegt. Ein Urinal im<br />
Wartestand, vor jedem Gebrauch. (...) Sollte es, im Sinn <strong>ein</strong>er Rehabilitierung, <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em Kultobjekt erhoben<br />
werden, dann dürften wir <strong>ein</strong>en Sockel erwarten. Den sch<strong>ein</strong>t uns der Künstler allerdings nicht <strong>zu</strong> geben. Liegt es<br />
<strong>ein</strong>fach irgendwo am Boden herum, steht es in <strong>ein</strong>er Vitrine, ist die vom Fotografen gezeigte Augenhöhe die<br />
intendierte Sicht des Künstlers? Der Fotograf lässt uns darüber im Ungewissen. Wir sollten andere Abbildungen<br />
heranziehen.<br />
Zuvor noch <strong>ein</strong> Blick auf die Farben. Weiß und Blau, <strong>ein</strong> kräftiges und frisches Paar. Man riecht die Frische<br />
förmlich. Ein Bild aus der Fernsehwerbung taucht auf: Die Saugfähigkeit von Windeln wird in der Regel mit<br />
blauer Flüssigkeit auf dem weißen Objekt demonstriert, um k<strong>ein</strong>e unappetitlichen Gefühle <strong>zu</strong> wecken.<br />
Vergleichende Betrachtung<br />
Ein zweites Schulbuch wird befragt. "Perspektiven der Kunst" von Winfried Nerdinger enthält auf S. 325 diese<br />
Abbildung in s/w. Die Ansichten ähneln sich, die Symmetrie ist merklich aus der Achse gerückt, aber ganz<br />
offensichtlich handelt es sich um <strong>ein</strong> anderes Modell. Nerdinger <strong>macht</strong> k<strong>ein</strong>e Höhenangabe, aber das Objekt<br />
wirkt insgesamt gedrungener. Die Aufnahme lässt <strong>ein</strong>en pflanzlichen Hintergrund (Garten, Blumenbank oder<br />
Terrasse?) erahnen und ist im Helldunkel deutlich stärker dramatisiert. Das eben noch anvisierte Farbspiel<br />
erweist sich als Sch<strong>ein</strong>problem. Der Hintergrund gehört offenbar nicht <strong><strong>zu</strong>m</strong> Objekt. Von den vier Gipfelstürmern<br />
ist nur <strong>ein</strong>er übrig geblieben aber der behauptet sich tapfer mit <strong>ein</strong>em Lichtsignal gegen die Dunkelheit, die ihn<br />
<strong>zu</strong> verschlingen droht. Der Fotograf arbeitet mit <strong>ein</strong>em Querformat gegen die vertikale Achse an und betont die<br />
Breite des Objekts. Ein Teil der Aufschrift ist hier lesbar: MUTT. Nerdinger gibt uns darüber Auskunft:<br />
<strong>Duchamp</strong> "signierte es mit dem Namen <strong>ein</strong>er bekannten Sanitärfirma (R. Mutt).."<br />
Abb. Aus Nerdinger<br />
Abb. Aus Belting<br />
Eine dritte Abb. aus Hans Belting, "Das unsichtbare Meisterwerk", (1998, S.320) bringt weitere Klarheit, rückt<br />
aber auch die Fragwürdigkeit unseres Unternehmens in <strong>ein</strong> neues Licht. Die Interpretation von Objekten der<br />
Kunstgeschichte anhand von Reproduktionen sch<strong>ein</strong>t sehr fehleranfällig. Beltings Abbildung nennt <strong>ein</strong>en Autor,<br />
den Fotografen Alfred Stieglitz. In s<strong>ein</strong>em Atelier in New York verkehrte <strong>Duchamp</strong> <strong>zu</strong> jener Zeit regelmäßig<br />
und es sch<strong>ein</strong>t sich um <strong>ein</strong>e historische Aufnahme des originalen Objekts <strong>zu</strong> handeln. Der Sockel, den ich oben<br />
herbeibeschworen hatte, ist hier tatsächlich mit abgebildet vorhanden, aber er ist in s<strong>ein</strong>en Abmessungen <strong>zu</strong><br />
3
schmal um das Format des Beckens solide <strong>zu</strong> tragen. Es steht nach allen Seiten über. Die Aufnahme gleicht der<br />
bei Nerdinger, der allerdings den Sockel weggeschnitten hat. Sofort stellt sich die Assoziation mit <strong>ein</strong>er Skulptur<br />
her, kommt der Be<strong>zu</strong>g <strong><strong>zu</strong>m</strong> Denkmal ins Spiel. Den Sockel haben die Bildhauer nicht erfunden, sie haben ihn der<br />
Natur abgeschaut. <strong>Was</strong> in die Höhe ragt, nimmt Kontakt auf <strong>zu</strong> den Göttern. Darum stehen Tempel auf Bergen,<br />
haben Kirchen Türme, ist der Altar <strong>ein</strong> Sockel für das den Göttern geweihte Opfer. Nur auf <strong>ein</strong>em Sockel ist<br />
das Urinal <strong>ein</strong> Monument. Der Sockel und der Ort, an dem er errichtet ist, gibt uns erst den Anlaß, dieses<br />
Objekt als <strong>ein</strong> ästhetisches Objekt <strong>zu</strong> betrachten.<br />
Das wirkliche Ding<br />
Ein Zufall kommt uns <strong>zu</strong>r Hilfe. Das Haus der Kunst, vor unserer Schultür, zeigt in s<strong>ein</strong>er Ausstellung "Dinge"<br />
<strong>Duchamp</strong>s Fountain. Die Ausstellungsmacher befriedigen unser Bedürfnis nach <strong>ein</strong>em repräsentativen Sockel<br />
voll. Anders als in der historischen Aufnahme ist dieser Sockel <strong>ein</strong> würdiges Monument für <strong>ein</strong>en Ahnen, mit<br />
dessen Enkeln und Urenkeln man heute <strong>ein</strong>e ganze Ausstellung und <strong>ein</strong>en fast 400 Seiten starken Katalog füllen<br />
kann. Dieser Sockel steht an der Wand, er gestattet uns k<strong>ein</strong>en Blick von hinten. K<strong>ein</strong>e Freiplastik, sondern <strong>ein</strong><br />
wandnahes Objekt. Doch <strong>ein</strong> Blick in das Auffangbecken liefert <strong>ein</strong>e neue Überraschung. An der runden<br />
Anordnung der Ausflusslöcher erkennen wir: Ein drittes Modell! Das legt nahe, daß wir es mit <strong>ein</strong>er weiteren<br />
Variation des Themas <strong>zu</strong> tun haben. Eine geschmeidigere Form mit längerer 'Nase' und <strong>ein</strong>em gänzlich runden<br />
Rand, auf dem k<strong>ein</strong> Tropfen stehen bleiben kann. <strong>Was</strong> bei den Abbildungen bisher nicht deutlich wurde, ist <strong>ein</strong>e<br />
glänzende Oberfläche, die <strong>ein</strong>em Spiegel gleich den Schatten des Betrachters auf ihn <strong>zu</strong>rückwirft - welch <strong>ein</strong><br />
Leben in <strong>ein</strong>em 'toten' Objekt. Die Legende im Museum stützt die Vermutung nicht, daß wir es hier mit <strong>ein</strong>er<br />
Variante <strong>zu</strong> tun haben, das Ding ist ausgezeichnet als "Fountain, 1917/1964" und die Signatur sagt "R. Mutt<br />
1917".<br />
Der Vergleich sagt: Fountain ist k<strong>ein</strong> singuläres <strong>Werk</strong>, sondern <strong>ein</strong>e Gruppe von Objekten, die nicht nur<br />
unterschiedlich repräsentiert sind, <strong>zu</strong> verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten entstanden,<br />
sondern auch in der Form Unterschiede besitzen. Warum reproduziert <strong>ein</strong> greiser Künstler wie <strong>Duchamp</strong> <strong>ein</strong><br />
halbes Jahrhundert nach <strong>ein</strong>er geistreichen, witzigen und folgenreichen Provokation dieses Objekt? Verknüpfen<br />
sich damit nun Erinnerungen an <strong>ein</strong>e gute alte Zeit, als Provokationen noch riskant und skandalträchtig waren,<br />
fügt der Künstler s<strong>ein</strong>er Theorie von Ready-made dadurch <strong>ein</strong>en neuen, von Altersweisheit getragenen, finalen<br />
Gedanken hin<strong>zu</strong>, ändert er auf unnachahmliche Art und Weise <strong>ein</strong> witziges formales Detail (Lochkreis statt<br />
Dreieck) und <strong>macht</strong> dadurch aus dem <strong>ein</strong>stigen Anti-<strong>Kunstwerk</strong> nun doch <strong>ein</strong> <strong>Kunstwerk</strong>?<br />
Zurück <strong><strong>zu</strong>m</strong> <strong>Werk</strong>begriff<br />
Wir gingen bisher aus von der Bezeichnung '<strong>Werk</strong>'. Als <strong>Kunstwerk</strong> erwarten wir <strong>ein</strong> von der Hand des<br />
Künstlers in <strong>ein</strong>em edlen Material mittels kunstfertiger Beherrschung von <strong>Werk</strong>zeugen und<br />
Verfahrensweisen hergestelltes Produkt. Das sch<strong>ein</strong>t hier nicht der Fall <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>. Der Text im Buch gibt uns<br />
Aufschluss, daß <strong>Duchamp</strong> "aus der Industrieproduktion stammende Gebrauchsgegenstände" nahm.<br />
Edles Material und kunstvolle Verarbeitung wollen wir nicht bestreiten, wenn auch der Kenner Meissner- oder<br />
Nymphenburger Porzellans hier sicher auf erhebliche Unterschiede aufmerksam machen würde. Mithin fehlt<br />
<strong><strong>zu</strong>m</strong> '<strong>Werk</strong>' nicht jede, aber ganz <strong>ein</strong>deutig <strong>ein</strong>e wesentliche Bestimmung. Das Urinoir ist nicht <strong>Duchamp</strong>s<br />
<strong>Werk</strong>, sondern vielleicht <strong>ein</strong> <strong>Werk</strong>stück von Villeroy & Boch oder <strong>ein</strong>er anderen <strong>ein</strong>schlägigen Firma. Welchen<br />
Sinn kann es machen, wenn in unserem Schulbuch, wie auch in anderen <strong>ein</strong>schlägigen Texten, im<br />
Zusammenhang mit <strong>Duchamp</strong>s Urinal dennoch von <strong>ein</strong>em ><strong>Kunstwerk</strong>< gesprochen wird? Ist <strong>Duchamp</strong>s <strong>Werk</strong><br />
die Erfindung <strong>ein</strong>es neuen Namens für <strong>ein</strong> altbekanntes Ding? Könnte er sich den Begriff „Ready-made“<br />
patentieren lassen, wie Yves Kl<strong>ein</strong> s<strong>ein</strong>e blaue Farbe („Ives Kl<strong>ein</strong> Bleu International“)? Eine Schöpfung?<br />
Das Buch sagt, daß <strong>Duchamp</strong> Gegenstände "durch ihre Ausstellung <strong>zu</strong> <strong>Kunstwerk</strong>en erklärte". Wenn das<br />
Urinal denn <strong>ein</strong> <strong>Kunstwerk</strong> ist, so bedurfte es <strong>ein</strong>er Erklärung, um es da<strong>zu</strong> <strong>zu</strong> machen, und vermutlich gilt diese<br />
Erklärung nicht der Gattung Urinal insgesamt, sondern dem Individuum, dem <strong>Duchamp</strong> als Zeichen s<strong>ein</strong>er<br />
4
Adelung und Weihe in <strong>ein</strong>em Akt der Transsubstanziation (Geheimnis der Eucharistie, Letztes Abendmahl) s<strong>ein</strong><br />
neues Ego, und als äußeres Zeichen, <strong>ein</strong> Signet und <strong>ein</strong>en Sockel verpasst hat. <strong>Was</strong> wir an der Abbildung nicht<br />
lesen konnten, ist in der Tat <strong>ein</strong> Signet von <strong>Duchamp</strong> und liest sich "R. Mutt 1917". Hätte er es nicht<br />
gekennzeichnet, so könnten wir heute nicht sagen, welches Urinal nun das verm<strong>ein</strong>tliche <strong>Kunstwerk</strong> ist und<br />
welches nicht. Wir hätten möglicherweise <strong>ein</strong> gewöhnliches Urinal für <strong>Duchamp</strong>s Fountain gehalten.<br />
Wir lernen daraus, daß wir unterscheiden müssen zwischen <strong>Kunstwerk</strong>en, die <strong>ein</strong> Künstler hergestellt hat, und<br />
solchen, die er da<strong>zu</strong> ernannt hat. Wir müssen nun weiter fragen, ob wir nicht bei unserer Beschreibung oben<br />
dem Charakter des <strong>Kunstwerk</strong>s völlig äußerlich geblieben sind. Wir haben das Objekt zwar beschrieben, wie wir<br />
auch andere <strong>Werk</strong>e der Kunst beschrieben haben, den Apoll vom Belvedere oder den David von Michelangelo.<br />
Ganz offensichtlich sind es jedoch nach <strong>Duchamp</strong> nicht die objektiven Eigenschaften des <strong>Werk</strong>s, die es <strong><strong>zu</strong>m</strong><br />
<strong>Kunstwerk</strong> machen, sondern <strong>ein</strong> Status, der <strong>ein</strong>em Objekt verliehen wird, vergleichbar <strong>ein</strong>em Rang, <strong>ein</strong>er<br />
Auszeichnung, <strong>ein</strong>er Ernennung, <strong>ein</strong>er Beseelung, die das Objekt in s<strong>ein</strong>en materiellen Eigenschaften äußerlich<br />
unberührt lässt, ihm aber <strong>ein</strong>e andere Funktion und Sehweise <strong>zu</strong>weist. (...) Ein Uhrmacher kann nicht <strong>ein</strong>en<br />
Dosenöffner <strong>zu</strong>r Taschenuhr erklären ohne ihm <strong>ein</strong> Uhrwerk <strong>ein</strong><strong>zu</strong>pflanzen. Hat <strong>Duchamp</strong> dem Urinal <strong>ein</strong>e<br />
Kunstseele <strong>ein</strong>gehaucht?<br />
Wenn er dies je getan haben sollte, so ist es doch in der Literatur über die Ready-mades nirgendwo als <strong>ein</strong><br />
öffentliches Ritual, etrwa als "Kunsttaufe" beschrieben, er müsste es also heimlich, unter Ausschluss von<br />
Öffentlichkeit getan haben. Es bleibt aber in diesem Zusammenhang die Frage: Woran erkennen dritte dieses<br />
durch <strong>ein</strong>e 'Kunstseele' veredelte Ding, wenn die Veredelung nicht bezeugt, dokumentiert, zertifiziert oder<br />
<strong><strong>zu</strong>m</strong>indest öffentlich behauptet worden wäre?<br />
Wir kennen <strong>ein</strong>e Klasse von Gegenständen, denen wir besonderen Wert <strong><strong>zu</strong>m</strong>essen, weil sie uns erinnern an<br />
Personen oder Ereignisse, die uns wichtig sind. Die Jeans von James Dean, <strong>ein</strong> Schweißtuch von Elvis, das Kleid<br />
von Marilyn Monroe, in dem sie für Kennedy gesungen hat. Dafür zahlen manche Leute viel Geld. <strong>Duchamp</strong> hat<br />
s<strong>ein</strong> Urinal nicht <strong>ein</strong>mal benützt. Das kann es also auch nicht s<strong>ein</strong>, daß er das Ding durch Hinterlassen<br />
persönlicher Spuren des Gebrauchs veredelt hätte, wie das z.B. auch für <strong>ein</strong>ige der Objekte von Beuys gilt, die<br />
als Relikte von Happenings heute im Kunstmuseum bewahrt werden wie Souvenirs. Oder war <strong>Duchamp</strong>s<br />
Einreichung der "Fountain" bei der Ausstellung der Indépendants 1917 <strong>ein</strong> Happening, und das eigentliche<br />
<strong>Kunstwerk</strong> ist nicht das Urinal sondern war <strong>ein</strong> historisches Ereignis?<br />
<strong>Duchamp</strong> signierte nicht mit s<strong>ein</strong>em Namen. Die Differenz zwischen Mutt und Mott vermag ich nicht<br />
auf<strong>zu</strong>lösen, vielleicht war der Firmenstempel schlecht lesbar oder es verbirgt sich hinter dem Buchstabentausch<br />
<strong>ein</strong> geistreiches Wortspiel? Die Holländer sagen "ik mut", wenn sie mal müssen. <strong>Duchamp</strong> hatte <strong>ein</strong>e<br />
dokumentierte Vorliebe für solche Späße. So übersetzt man s<strong>ein</strong>en Begriff Ready-made auch mit dem phonetisch<br />
gleichen ready maid = bereites Mädchen. Eine Signatur verlangt rechtlich gesehen nach Eigenhändigkeit oder<br />
Autorisierung, sonst ist sie <strong>ein</strong>e Fälschung. <strong>Duchamp</strong> benützte auch in anderen Fällen nicht s<strong>ein</strong>en eigenen<br />
Namen sondern erfand <strong>ein</strong> Pseudonym. Im wissenschaftlichen Bereich würde man das, was <strong>Duchamp</strong> ge<strong>macht</strong><br />
hat, als Plagiat bezeichnen. Wenn <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong> <strong>Werk</strong> <strong>ein</strong>es anderen für s<strong>ein</strong> eigenes <strong>Werk</strong> erklärt, ist das der<br />
Tatbestand des Plagiats. Das vermeidet man, indem man <strong>ein</strong>en anderen Urheber zitiert. Kann das Urinal als <strong>ein</strong><br />
Zitat durchgehen, etwa in dem Sinn, wie Manet in s<strong>ein</strong>en "Frühstück im Grünen" Raffael und Michelangelo<br />
zitiert hat?<br />
Ein Objekt der Kunstgeschichte<br />
In diesem Zusammenhang müssen wir der Bedeutung des Signets nachgehen. <strong>Was</strong> sagt uns "R. Mutt 1917".<br />
Nerdinger sagt da<strong>zu</strong>, dies sei "der Namen <strong>ein</strong>er bekannten Sanitärfirma". Warum signiert <strong>Duchamp</strong> mit dem<br />
Namen <strong>ein</strong>es möglichen Herstellers? Danto weiß es anders: Das Urinal sei "produziert von <strong>ein</strong>er Firma Mott<br />
Works" (Danto, "Die Philosophische Entmündigung der Kunst", 1993, S.54) Danto kann auch <strong><strong>zu</strong>m</strong><br />
unterschiedlichen Aussehen der beiden Objekte etwas beitragen: "Tatsächlich ging das Original verloren, doch<br />
<strong>Duchamp</strong> hat (in den 60er Jahren!) für die Janis Gallery noch <strong>ein</strong> weiteres Urinal gekauft und <strong>ein</strong> drittes für<br />
die Galleria Schwartz in Mailand, und später hat er dann sogar <strong>ein</strong>e Auflage von acht Exemplaren<br />
nummeriert und signiert, als handelte es sich um <strong>ein</strong>e limitierte Auflage von <strong>ein</strong>em Kupferstich"...Ganz<br />
offensichtlich kam es ihm dabei nicht auf gleiches Aussehen an, vielleicht nicht <strong>ein</strong>mal auf die gleiche<br />
Herstellerfirma, möglicherweise hat er die Waren auch gar nicht mehr selbst im Warenhaus erstanden, weil das<br />
Schleppen so <strong>ein</strong>es schweren Teils im Einkaufsnetz für <strong>ein</strong>en 77jährigen nicht mehr so <strong>ein</strong>fach gewesen s<strong>ein</strong><br />
dürfte. Entscheidend sch<strong>ein</strong>t die Tatsache <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>, daß man es als Urinal erkennt, als <strong>ein</strong> Behältnis <strong><strong>zu</strong>m</strong><br />
Auffangen männlicher Notdurft, und daß die Signatur R. Mutt 1917 darauf an <strong>ein</strong> historisches Ereignis erinnert,<br />
das für die Kunstwelt von 1964 an Bedeutung gewonnen hat. Die Repliken behoben <strong>ein</strong>e kunsthistorische /<br />
museale Leerstelle in Ermangelung des Originals. Das in München gezeigte Exemplar stammt aus Stockholm,<br />
und es sieht an den Rohrstutzen gebraucht aus. Vielleicht kommt es gar nicht aus dem Kaufhaus. Das<br />
individuelle Objekt versteckt sich hinter <strong>ein</strong>er historischen Maske. Wir benützen es um des historischen Objekts<br />
wegen.<br />
Das Objekt "Fountain" entstand 1917 für die "I. Ausstellung der Indépendants" in New York, deshalb auch die<br />
englische Schreibweise. <strong>Duchamp</strong> war bereits 1913 <strong><strong>zu</strong>m</strong> Star der 'Armory Show' in New York aufgestiegen mit<br />
5
s<strong>ein</strong>er Malerei "Akt <strong>ein</strong>e Treppe herabsteigend". Dasselbe Bild, das in Amerika <strong><strong>zu</strong>m</strong> kubistischen Paradesück<br />
wurde, zog er in Paris von der gem<strong>ein</strong>samen Ausstellung der Kubisten <strong>zu</strong>rück, nachdem <strong>ein</strong>ige der maßgeblichen<br />
Veranstalter insbesondere im Titel des Bildes <strong>ein</strong>e futuristische Verspottung kubistischer Ideen beanstandet<br />
hatten. Für die Ausstellung der Unabhängigen in New York war <strong>Duchamp</strong> für <strong>ein</strong>e Aufnahmegebür von 1$ und<br />
<strong>ein</strong>em Jahresbeitrag von 5$ Mitglied der 'Society of independent Artists' geworden und in den Vorstand<br />
gekommen. Ziel der Gem<strong>ein</strong>schaft war <strong>ein</strong>e jährliche Ausstellung für die Mitglieder, die ohne Jurierung zwei<br />
Arbeiten ausstellen konnten.<br />
Genau an dieser Stelle erweist sich die Rede, <strong>Duchamp</strong> hätte Fountain "durch Ausstellung <strong><strong>zu</strong>m</strong> <strong>Kunstwerk</strong><br />
erklärt" als sehr verkürzte und irreführende Aussage. Im Grund war der Verzicht der Society of Independents<br />
auf <strong>ein</strong>e Jurierung der Einreichungen <strong>zu</strong>r Ausstellung die Vorausset<strong>zu</strong>ng dafür, für <strong>ein</strong>en Betrag von 6 Dollar<br />
zwei beliebige Objekte <strong>ein</strong><strong>zu</strong>reichen, gleichzeitig der Verzicht darauf <strong>Kunstwerk</strong>e von Nichtkunst <strong>zu</strong><br />
unterscheiden. <strong>Duchamp</strong> hat nichts weiter getan als alle anderen 1200 (!) Einreicher <strong>zu</strong>r Ausstellung. Auch sie<br />
mussten k<strong>ein</strong>e Zauberformel über ihren <strong>Werk</strong>en sprechen um sie Ausstellungswürdig <strong>zu</strong> machen, und allen<br />
Berichten nach war die Exhibition <strong>ein</strong> erwartungsgemäßes buntes Sammelsurium. Man könnte also auch sagen,<br />
die Society hat ihre Mitglieder da<strong>zu</strong> autorisiert, gegen Zahlung von 6 Dollar zwei beliebige Dinge <strong>zu</strong><br />
<strong>Kunstwerk</strong>en <strong>zu</strong> erklären.<br />
Nerdinger schreibt:"<strong>Duchamp</strong>... stellte s<strong>ein</strong> Readymade "Springbrunnen" 1917 in New York aus." ...."Er<br />
löste damit <strong>ein</strong>en Sturm der Entrüstung aus." (Perspektiven der Kunst S.277). Auch hier verkürzt die<br />
Darstellung und erweckt falsche Vorstellungen. <strong>Duchamp</strong>, so schreibt Tomkins (s.u. Literatur), ließ das Objekt<br />
von <strong>ein</strong>er Freundin am Grand Central Palace, dem Ort der Ausstellung, anliefern. Aber aus verschiedenen<br />
Quellen geht hervor, dass es letztlich in der Ausstellung nicht <strong>zu</strong> finden war. Die "Entrüstung" hatte demnach<br />
verschiedene Dimensionen: Eine öffentliche Entrüstung des Ausstellungspublikums über <strong>ein</strong> als Kunst<br />
deklariertes Sanitärobjekt fand nicht statt, weil das Objekt nicht ausgestellt wurde und auch nicht im Katalog<br />
vermerkt war, also auch nicht vermisst werden konnte. <strong>Duchamp</strong> selbst spielte den Entrüsteten, weil die<br />
Society sich nicht an ihre eigenen Regeln hielt und plötzlich vorgab, was ausgestellt werden konnte und was<br />
nicht. Einige für die Hängung verantwortliche Mitglieder der Society waren möglicherweise in ihrer<br />
Künstlerehre getroffen und entrüstet über die Zumutung an sie, <strong>ein</strong> "Badezimmer<strong>zu</strong>behör" neben Objekten<br />
der Malerei und Skulptur in <strong>ein</strong>er erklärten Kunstausstellung präsentieren <strong>zu</strong> sollen. (...) Die Zeitschrift 'The<br />
Blind Man' gab sich in ihrer zweiten und letzten (!) Nummer empört über den Fall und pochte auf die<br />
Regularien der Teilnahme: "They say any artist paying six dollars may exhibit."<br />
Mit dem Pseudonym R. Mutt verschleierte <strong>Duchamp</strong> s<strong>ein</strong>e 'Autorenschaft'. Jedenfalls war "Fountain" in der<br />
Ausstellung nicht <strong>zu</strong> sehen und auch im da<strong>zu</strong> erschienenen Katalog nicht erwähnt. Um diese Tatsache herum<br />
wurden durch den Freundeskreis <strong>Duchamp</strong>s unterschiedlichste Gerüchte in die Welt gesetzt, aus denen die<br />
Kunstgeschichte die Legende <strong>ein</strong>es 'Skandals' gesponnen hat. <strong>Duchamp</strong> nahm den Verstoss gegen die Regeln<br />
der Independents ostentativ <strong><strong>zu</strong>m</strong> Anlass, s<strong>ein</strong>en Austritt aus der Society <strong>zu</strong> erklären. Zum "Fall" wurde die<br />
Angelegenheit erst durch <strong>ein</strong>e Zeitschrift "The Blind Man", die von <strong>Duchamp</strong>s Freunden herausgegeben wurde<br />
und in der man die von Stieglitz ge<strong>macht</strong>e Fotografie (s.o.) veröffentlichte.<br />
Das Urinal teilt mit anderen Ready-mades <strong>ein</strong> gem<strong>ein</strong>sames Schicksal, den Verlust des 'Originals'. Die Objekte<br />
waren als Provokation und Antikunst gedacht. Aussteller und Käufer fanden sich <strong>zu</strong>nächst ganz<br />
offensichtlich nicht, und so sind sie wohl allesamt <strong>ein</strong>er Aufräumaktion <strong><strong>zu</strong>m</strong> Opfer gefallen und beim Sperrmüll<br />
gelandet, oder sie wurden von <strong>ein</strong>em praktisch denkenden Amerikaner <strong>ein</strong>er nützlichen Bestimmung <strong>zu</strong>geführt.<br />
Art-Recycling? <strong>Duchamp</strong> selbst spricht nicht von <strong>Kunstwerk</strong>en, sondern nennt sie "diese Art von<br />
Manifestation" und "Ready-made", was soviel heißt wie 'gebrauchsfertig'. <strong>Duchamp</strong> wird mit "dieser Art von<br />
Manifestation" <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em Anführer der Antibewegung, die unter dem Namen New York - Dada in die<br />
Kunstgeschichte <strong>ein</strong>gegangen ist. Dada blieb bis in die 50er Jahre <strong>ein</strong>e von der Kunstgeschichte wenig ernst<br />
genommene Protestbewegung im Umfeld des ersten Weltkriegs und am Rande des Expressionismus. Erst die<br />
amerikanische Popart hat Dada in den 60er Jahren aus der Versenkung geholt und als ihre eigene Legitimation<br />
philosophisch und kunsttheoretisch ins Spiel gebracht.<br />
<strong>Duchamp</strong>s Aktion gegen die Kunst im Jahr 1917, von der das Urinal <strong>ein</strong> gegenständliches Bestandteil war, ist<br />
k<strong>ein</strong> <strong>Kunstwerk</strong> im traditionellen Sinn, aber sie ist <strong><strong>zu</strong>m</strong> Gegenstand von Kunstgeschichte in zahllosen Texten<br />
und in der Abbildung von Stieglitz geworden. Die Repliken stellen Illustrationen <strong>ein</strong>er Kunsttheorie dar, die<br />
sich nicht mehr in <strong>Werk</strong>en darstellen kann, sondern die in Texten, Gesten, Aktionen repräsentiert wird und sich<br />
in Objekten „illustriert“. Für Viele sch<strong>ein</strong>t dies k<strong>ein</strong>en Unterschied <strong>zu</strong> machen <strong><strong>zu</strong>m</strong> Begriff des <strong>Kunstwerk</strong>s. Sie<br />
tun damit sowohl den alten Meistern unrecht, als sie auch <strong>Duchamp</strong>s witzige, geistreiche und äußerst<br />
folgenreiche Provokation missverstehen.<br />
<strong>Duchamp</strong>s Beispiel hat gezeigt, daß <strong>ein</strong> Ding Gegenstand von Kunstgeschichte und Objekt in Kunstmuseen und<br />
Kunstausstellungen s<strong>ein</strong> kann, ohne daß es <strong>ein</strong> <strong>Kunstwerk</strong> ist. Protest gegen den Kunstbetrieb und Provokation<br />
unter dem Deckmantel von Kunst jedoch wurden als künstlerische Gesten salonfähig und schauen in den<br />
Museen der westlichen Welt in tausenderlei Gestalt von ihren Sockeln und Rahmen auf das Kunstpublikum<br />
herab, manchmal geistreich, hintersinnig und witzig, oft auch etwas hohl. Das eigentliche Problem für das<br />
Ansehen der Kunst, der Kunstschriftstellerei und auch der Kunsterziehung liegt in der Schwierigkeit der<br />
Unterscheidung, Würdigung und Bewertung solcher Vorgänge und Begriffe.<br />
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Eine künstlerische Technik, Praktik, Methode?<br />
"Stellen Sie selbst <strong>ein</strong> Objekt her, indem Sie alltägliche Dinge in neue Zusammenhänge bringen wie Marcel<br />
<strong>Duchamp</strong> oder <strong>ein</strong>er neuen Verwendung <strong>zu</strong>führen wie Pablo Picasso." ("Praktiken der modernen Kunst",<br />
Kirschenmann/Schulz, 1996, S.55)<br />
"Verbinden Sie Alltagsgegenstände <strong>zu</strong> Ready-mades." (Grundkurs Kunst, Klant/Walch S.166)<br />
In der Kunstdidaktik ist die Vorstellung verbreitet, daß aus der Nachahmung derartiger Praktiken <strong>ein</strong><br />
pädagogischer Nutzen gezogen werden könnte. Zweifel sind erlaubt. Wir sollten jedenfalls die Erfindung,<br />
Auswahl, Montage, Kombination etc. nicht ohne die interpretatorische Begleitmusik akzeptieren wollen.<br />
"Erfinden Sie <strong>ein</strong>en Titel" wäre <strong>zu</strong> wenig. Aber: Jedes Ding lässt sich prinzipiell 'wie <strong>ein</strong> <strong>Kunstwerk</strong>' betrachten<br />
und beschreiben. Das eröffnet <strong>ein</strong>er ernsthaften, spekulativen oder ironischen Interpretation zahlreiche<br />
Möglichkeiten und ist sprachlich <strong>ein</strong>e Reflexionsform kunstschriftstellerischen Sprachgebrauchs, die zeigen<br />
könnte, ob <strong>ein</strong> Schüler die Phrasierungen <strong>ein</strong>schlägiger Texte in Be<strong>zu</strong>g auf ihren Gehalt oder ihre Hohlform<br />
durchschauen kann. Ein solcher Text könnte mit Bildern bestückt werden, die den jeweiligen Gehalt <strong>ein</strong>er<br />
Aussage sichtbar machen.<br />
<strong>Duchamp</strong> ist der erste <strong>ein</strong>er ganzen Reihe von Künstlern, die <strong>ein</strong>en nicht handwerklichen aber methodischen<br />
Weg <strong>zu</strong>r Kunst an ihre Person binden und dafür <strong>ein</strong>en Handelsnamen erfinden: "Ready-made". Es ist nicht<br />
bekannt, daß <strong>ein</strong> anderer Künstler diesen Begriff für s<strong>ein</strong>e Hervorbringungen verwendet hätte außer im Sinn<br />
<strong>ein</strong>es Zitats von <strong>Duchamp</strong>. Ready-made begründet [also] k<strong>ein</strong>en Stil etwa im Sinn des Impressionismus, daß <strong>ein</strong>e<br />
ganze Generation von Künstlern nun in Kaufhäusern nach möglichst kunstfernen Dingen Ausschau halten<br />
würde, um ihnen <strong>ein</strong>en Namen und <strong>ein</strong> Signet <strong>zu</strong> verpassen und damit die Museen <strong>zu</strong> verstopfen. Ready-made ist<br />
<strong>ein</strong>e Art brand (engl), <strong>ein</strong> Markenzeichen jenseits <strong>ein</strong>es Stils, das sich Künstler <strong>zu</strong>legen, um <strong>ein</strong>en<br />
Wiedererkennungswert in der Kunstwelt <strong>zu</strong> erreichen. Dali erfand die paranoisch-kritische Methode, Max<br />
Ernst glaubte, die Frottage erfunden <strong>zu</strong> haben. Lichtenst<strong>ein</strong> malte im Stil von Comics, Segal gipste Leute <strong>ein</strong>,<br />
Ücker nagelt, Arman stopfte Vitrinen mit gleichartigen Sammelstücken voll. Und das taten sie, bis jeder<br />
Sammler so <strong>ein</strong> unverkennbares, originales Objekt erworben hatte und <strong>ein</strong>en typischen Lichtenst<strong>ein</strong>, Segal,<br />
Ücker, Arman, etc s<strong>ein</strong> Eigen nannte. Es <strong>macht</strong> sammlerisch [aber] k<strong>ein</strong>en Sinn, <strong>ein</strong> Urinal <strong>zu</strong> besitzen, das<br />
irgend<strong>ein</strong> XY mit den Buchstaben MUTT beschrieben hat.<br />
Quellen<br />
http://www.toutfait.com/issues/issue_3/Collections/rrs/shearer.htm<br />
Eine Seite von Rhonda und Roland Shearer über Marcel <strong>Duchamp</strong>. Unter anderem geht sie hier der Frage nach,<br />
woher <strong>Duchamp</strong> s<strong>ein</strong>en legendären "Springbrunnen" hatte und vergleicht das von Stieglitz dokumentierte<br />
Exemplar mit historischen Abbildungen aus zeitgenössischen Sanitärkatalogen.<br />
"Marcel <strong>Duchamp</strong>", Biografie von Calvin Tomkins, München 1999<br />
http://www.mann-portal.de/publikationen.html<br />
"Marcel <strong>Duchamp</strong>: 1917" von H<strong>ein</strong>z Herbert Mann, München 1999<br />
Manns Arbeit ersch<strong>ein</strong>t mir als <strong>ein</strong>e spannende und sehr sorgfältig recherchierte Untersuchung zahlreicher<br />
Publikationen <strong>zu</strong>r "Fountain" unter Einbeziehung der durch <strong>Duchamp</strong> gesteuerten Publikationen in "The Blind<br />
Man". Außerdem klärt Mann <strong>ein</strong>ige Umstände der historischen Fotografie von Stieglitz auf, die weder in der<br />
Abbildung bei Nerdinger, noch bei Belting <strong>zu</strong> sehen sind. So weist er nach, dass Stieglitz das Urinal vor <strong>ein</strong> Bild<br />
von Marsden Hartley ("The Warriers") platziert hat, und er <strong>macht</strong> auch <strong>ein</strong>e Art Packzettel am Objekt sichtbar,<br />
der offenbar die Einreichung des Objekts <strong>zu</strong>r Ausstellung der Independents belegt.<br />
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