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Anette Horn

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<strong>Anette</strong> <strong>Horn</strong><br />

Warum so hart! - Sprach zum Diamanten<br />

einst die Küchen-Kohle<br />

Aufsätze zur neueren deutschen Literatur


"'Warum so hart! - Sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle: sind wir denn nicht<br />

Nah-Verwandte?' Nietzsches Argumente gegen den Populismus." .....................5<br />

"Nietzsches Dekadenz-Begriff und Darwins Evolutionstheorie"....................................19<br />

"Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct für eine persönliche Diät ist?"<br />

Krankheit und Gesundheit im Denken Nietzsches..............................................35<br />

Radical Perspectivism and the End of Theory: Nietzsche and Foucault.........................49<br />

Metaphorische Gratwanderungen göttlichen Scheiterns .................................................55<br />

Sprache und Paranoia: J.M. Coetzee in Kafkas Erzählung "Der Bau"............................61<br />

"Immoralität als Gedankenexperiment. Musils Törleß und Nietzsches Machtbegriff." .69<br />

Der Mythos von den Ahnen: Nongqawuse und der Selbstmord der Nation als antiimperialer<br />

Aufstand. ............................................................................................85<br />

Die Rezeption Hermann Hesses im südlichen Afrika ....................................................89<br />

Die Fremden spielen mit: Schlaglichter auf einige Schauplätze kolonialer Gewalt (mit<br />

Peter <strong>Horn</strong>) ..........................................................................................................93<br />

"Reisen in der vierten Dimension. Anna Seghers' Subversion der objektiven Zeit in der<br />

Erzählung Die Reisebegegnung."......................................................................107<br />

"Im Schnittpunkt von Geschichte und weiblicher Identität: Anna Seghers' Erzählung<br />

"Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft" ..............................................125<br />

"'Poesie heißt nämlich nichts anderes als Schöpfung durch Verlust' Die 'chaotische'<br />

Zirkulation der Zeichen in Uwe Timms Roman Kopfjäger. Bericht aus dem<br />

Inneren des Landes". (mit Peter <strong>Horn</strong>)..............................................................135<br />

"Von keinem Diskurs beherrscht: Nicht Alle von Jürgen Fuchs"..................................151<br />

An end to conformity: Jürgen Fuchs' experience of the army in Fassonschnitt (Crewcut)<br />

and Das Ende einer Feigheit (An end to cowardice).........................................163<br />

Die unschuldigen Intellektuellen: Kanon und Macht....................................................173<br />

Rocko oder die Ikonographie des Deutschen im Lehrbuch...........................................181


„Warum so hart! - sprach zum Diamanten einst die Küchen-<br />

Kohle: sind wir denn nicht Nah-Verwandte?” Nietzsches<br />

Argumente gegen den Populismus<br />

Immer wieder betont Nietzsche, daß seine Schriften nur für Wenige bestimmt seien, ja<br />

daß seine Leser vielleicht noch gar nicht existierten. (AC, 167) Ist das als bloße Attitüde<br />

zu verstehen, mit der Nietzsche sich von der Masse seiner Zeitgenossen, dem „Pöbel”<br />

absetzt? Diese antipopulistische Haltung war unter den Intellektuellen seiner Zeit<br />

gängig, wie etwa das Zitat Flauberts andeutet: „Die Masse, die Zahl ist immer idiotisch”<br />

.(Michel 1965, 102). Renate Werner (1978 II, 87f.) meint, daß die elitäre Kunstkritik der<br />

literarischen Avantgarde der späten achtziger und beginnenden neunziger Jahre als<br />

„oppositive Denkmöglichkeit angesichts der damals in Deutschland erstmals in aller<br />

Schärfe zutage tretenden Probleme einer sich etablierenden Industriegesellschaft im<br />

Schwange waren, wobei hinzuzufügen ist, daß es sich durchweg um Spielarten einer<br />

konservativen, gegen den ideell-ideologischen wie sozial-institutionellen Prozeß einer<br />

allmählichen Demokratisierung gerichteten Kultur-Kritik handelt.” Daß die Avantgarde<br />

sich dabei auf Nietzsches Polemik gegen die Massen und die Demokratie berief, ist<br />

nicht verwunderlich, obwohl ihre Kritik der bürgerlichen Gesellschaft nicht die<br />

„Radikalität und Tiefenschärfe” Nietzsches erreichte. (Ebd., 88)<br />

Nimmt Nietzsche in seinen polemischen antipopulistischen Sentenzen aber nicht<br />

auch scharfsinnig seine Wirkung vorweg? Zumal er ja tatsächlich von seinen deutschen<br />

Zeitgenossen und ihren Nachkommen, die seine Philosophie in den Dienst des<br />

Nationalsozialismus zu stellen versuchten, mißverstanden wurde, falls er überhaupt<br />

gelesen wurde. 1 Allerdings gab es vor dem Faschismus eine kritische und extensive<br />

Auseinandersetzung mit Nietzsches Werk: Hugo von Hoffmannsthal, Alfred Döblin,<br />

Robert Musil, Thomas und Heinrich Mann, Gottfried Benn deuten das Ausmaß dieser<br />

Rezeption in der deutschen Literatur an. So sieht z.B. Thomas Mann (1978 I, 183)<br />

Nietzsche als Sprachkünstler, der der deutschen Prosa ganz neue Dimensionen<br />

eröffnete: „Er verlieh der deutschen Prosa eine Sensivität, Kunstleichtigkeit, Schönheit,<br />

Schärfe, Musikalität, Akzentuiertheit und Leidenschaft - ganz unerhört bis dahin und<br />

von unentrinnbarem Einfluß auf jeden, der nach ihm deutsch zu schreiben sich<br />

erkühnte.”<br />

Eine Neubewertung Nietzsches wurde erst durch die historisch-kritische<br />

Gesamtausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari in den späten sechziger<br />

Jahren ermöglicht. Bezeichnenderweise gingen die Impulse dieser Neubewertung nicht<br />

von Deutschland, sondern von Frankreich und Italien aus. Hängt das damit zusammen,<br />

daß die Franzosen und Italiener nicht in demselben Maße wie die Deutschen von dem<br />

Stigma des Faschismus belastet waren, und es sich daher leisten konnten, Nietzsche<br />

unbefangener zu lesen, oder damit, daß die Deutschen, wie Nietzsche schon behauptete,<br />

nicht genau, d.h. philologisch, zu lesen verstanden? Die philologische Lesart sei ihnen<br />

von den Priestern, vor allem Luther, ausgetrieben worden.


6 Nietzsche<br />

Haben sich die Voraussetzungen, unter denen Nietzsche verstanden werden kann,<br />

also grundlegend verändert, oder hat sich inzwischen eine Gruppe von Lesern<br />

herausgebildet, die den Anforderungen Nietzsches genügt? Er nennt folgende geistige<br />

und psychologische Voraussetzungen seines idealen Lesers:<br />

Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine<br />

Leidenschaft auszuhalten. Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben - das erbärmliche<br />

Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehn. Man muß gleichgültig<br />

geworden sein, man muß nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängniss wird… Eine<br />

Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen Niemand heute den Muth hat; der Muth zum Verbotenen;<br />

die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten. Neue Ohren für<br />

neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene<br />

Wahrheiten. Und der Wille zur Ökonomie grossen Stils: seine Kraft, seine Begeisterung<br />

beisammen behalten… Die Ehrfurcht vor sich; die Liebe zu sich; die unbedingte Freiheit gegen<br />

sich… (AC, 167)<br />

Dieses Zitat enthält Nietzsches anti-populistisches Programm als Schriftsteller und<br />

„Philosoph" .Er weiß, daß nur ein paar Auserwählte, falls überhaupt jemand, seinen<br />

hohen Anforderungen gewachsen sind. Die Selbstsucht dieser Auserwählten, die er zum<br />

Gesetz erhebt, unterscheidet sich von der Selbstsucht der Massen, d.h. der Äußerung<br />

ihres politischen Willens, dadurch, daß die Auserwählten sich ihr eigenes Gesetz<br />

schaffen, dem sie sich dann aber genauso bedingungslos unterwerfen, als wäre es ein<br />

despotisches. Darin liegt ihre Einzigartigkeit, während die Masse sich einem Gesetz<br />

unterwirft, das auf einem allgemeinen Konsensus beruht oder ihnen von oben her<br />

aufgezwungen wird. Dieses demokratische oder despotische Gesetz kann aber nur die<br />

Mittelmäßigkeit garantieren. Es bringt daher den Durchschnittsmenschen hervor.<br />

Nietzsche sieht ein dialektisches Verhältnis zwischen dem allgemeinen und dem<br />

individuellen Gesetz, oder zwischen dem Durchschnittsmenschen und dem Genie (das<br />

er ausschließlich als „männlich” kennzeichnet, worauf ich noch zurückkommen werde).<br />

Dem liegt ein hierarchisches Konzept von Kultur zugrunde. Die breite Masse der<br />

Mittelmäßigen, zu denen Nietzsche auch die Spezialisten zählt, die nur eine ausgeprägte<br />

Fähigkeit besitzen, ermöglicht die Entfaltung des überdurchschnittlich Begabten, des<br />

Genies. Die Masse bildet also die Grundlage der Kultur-Pyramide. Zugleich heben die<br />

Auserwählten aber das Niveau des Durchschnittsmenschen an, indem ihr eigenes Gesetz<br />

zum allgemeinen Gesetz wird. Dadurch wird das Gesetz des Einzelnen und der Masse<br />

historisch relativiert. Nietzsche schreibt dem Genie einen ungeheuren Willen zur Macht<br />

zu, der ihn von den Zwängen der Vergangenheit befreien und die Zukunft bestimmen<br />

soll. Dieser Wille wird durch Adjektive wie „hart", „scharf", „hoch” und „kalt”<br />

umschrieben. In dieser Härte gegen sich selbst und die Masse ist aber auch eine<br />

ambivalente destruktive-kreative Lust enthalten, die Nietzsche als Seligkeit bezeichnet:<br />

„Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, - härter als Erz,<br />

edler als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste.” (GD, 161)<br />

Was Nietzsche somit scheinbar verachtet, ist das Weiche, Nachgiebige, Feminine,<br />

Kranke, das er unter die Begriffe der Demokratie und der décadence subsumiert. Zur<br />

Décadence gehören alle Symptome der Auflösung einer hierarchischen, aristokratischen<br />

Ordnung; d.h. die gesamte Moderne als kulturelles Phänomen. Nietzsche verwendet den


Nietzsches Argumente gegen den Populismus 7<br />

Begriff der décadence seit seiner Lektüre Paul Bourgets im Winter 1883/84<br />

(Borchmeyer 1989, 85) jedoch nicht mehr im herkömmlichen abwertenden Sinne.<br />

Borchmeyer (1989, 88) zufolge ist die décadence für Nietzsche nun „ein polarisierender<br />

Begriff, der alles, was er bezeichnet, ins Zwielicht rückt, jede eindeutige Wertung<br />

ausschließt” . (Borchmeyer 1986, 179) Trotzdem lasse sich eine Wertung erkennen, die<br />

von Nietzsches jeweiliger Perspektive abhänge: „Je nachdem, welchen Aspekt<br />

Nietzsche ins Auge faßt, ob er die Décadence an der Gegenwart mißt, in der sie absolut<br />

notwendig ist, an der ‘klassischen’ Vergangenheit, von der aus betrachtet sie ‘Verfall’<br />

ist, oder an der Zukunft, in der sie durch das wiederaufsteigende Leben aufgehoben<br />

wird, wechseln die Wertungsvorzeichen” .(Borchmeyer 1989, 93) Die Ansätze des<br />

Verfalls der aristokratischen Werte siedelt Nietzsche bereits in der sokratischen<br />

Dialektik und später im Christentum an. Von hier aus zieht er eine Linie über Kant und<br />

Hegel zur Demokratie und zum aufkommenden Sozialismus seiner Zeit. Er sieht sich<br />

selbst als ein décadent, der versucht, über seine Zeit hinauszuweisen und eine neue<br />

Wertehierarchie aufzustellen. Daraus geht seine ambivalente Haltung zur Gegenwart<br />

hervor. Er schreibt:<br />

Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von<br />

heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnisvoll gleichzeitig bin. Der Mensch von heute - ich<br />

ersticke an seinem unreinen Athem… Gegen das Vergangene bin ich, gleich allen Erkennenden,<br />

von einer grossen Toleranz, das heisst grossmüthigen Selbstbezwingung: ich gehe durch die<br />

Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende, heisse sie nun ‘Christentum’, ‘christlicher Glaube’,<br />

‘christliche Kirche’ mit einer düsteren Vorsicht hindurch, - ich hüte mich, die Menschheit für ihre<br />

Geisteskrankheiten verantwortlich zu machen. Aber mein Gefühl schlägt um, bricht heraus, sobald<br />

ich in die neuere Zeit, in unsre Zeit eintrete. Unsre Zeit ist wissend… Was ehemals bloss krank<br />

war, heute ward es unanständig, - es ist unanständig, heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein<br />

Ekel. - Ich sehe mich um: es ist kein Wort von dem mehr übrig geblieben, was ehemals ‘Wahrheit’<br />

hiess, wir halten es nicht einmal mehr aus, wenn ein Priester das Wort ‘Wahrheit’ in den Mund<br />

nimmt. (AC, 209f.)<br />

Nietzsche wirft seinen Zeitgenossen vor, daß ihr ganzes Wissen sie nicht davor<br />

bewahren konnte, auf dieselben Lügen und Vorurteile wie ihre Vorfahren<br />

hereinzufallen. Daher könnten sie sich aber auch der Vergangenheit gegenüber keines<br />

Fortschritts rühmen. Nietzsche bezieht sich wohl vor allem auf die<br />

Geisteswissenschaften im Zuge der Aufklärung, die die Vernunft zur Grundlage alles<br />

Handelns machen wollten und dabei die Realität aus dem Auge verloren. „Realität”<br />

bedeutet für Nietzsche aber das, was der Theorie entgeht, nämlich der Körper und die<br />

Triebe. Da die Triebe sich in einem ständigen Fluß befinden, lassen sie sich nicht auf<br />

vereinheitlichende Konzepte wie „Subjekt” oder „Objekt” fixieren. Diese Opposition<br />

scheint Nietzsche völlig zu verwerfen. Er ist sich jedoch darüber im klaren, daß auch<br />

Begriffe wie „Realität", „Körper” und „Triebe” sprachliche Konstrukte sind und nicht<br />

einfach auf das Ding selbst verweisen. Die „Wahrheit” sprechen wäre demnach der<br />

Versuch, das, was der Sprache ständig entflieht, in den Griff zu bekommen, was im<br />

Grunde ein absurdes Verlangen ist. Dennoch sieht Nietzsche sein höchstes Ziel als<br />

„Philosoph” darin, die „Wahrheit” zu sagen, auch wenn diese „Wahrheit” auf einem<br />

Mangel der Sprache (nicht der „Realität", die er als Überfluß definiert) beruht. Sie ist<br />

niemals als Ganzes sichtbar, sondern immer nur als Teil, der von der jeweiligen


8 Nietzsche<br />

Perspektive des Subjekts bedingt ist. Nietzsche führt somit Begriffe der Optik in die<br />

Philosophie ein, um ihre Erkenntnisse zu relativieren. Er weist auf die blinden Flecken<br />

der Philosophie im Zuge der Aufklärung hin (Kant, Hegel, selbst Schopenhauer), d.h.<br />

auf ihre unreflektierten Glaubenssätze. Geht Nietzsche damit hinter die Aufklärung<br />

zurück, oder überwindet er sie? Welche Implikationen haben die jeweiligen Positionen<br />

für Nietzsches Einstellung zum Populismus?<br />

Die erste Position würde zu einer Verherrlichung der aristokratischen oder<br />

oligarchischen Ordnungen der Vergangenheit führen, z.B. der antiken griechischen<br />

„Demokratie", in der nur die einheimischen, freien Männer der Stadt ihre Beamten<br />

wählen und auf dem Markt politische Entscheidungen fällen durften. Auswärtige,<br />

Frauen und Sklaven waren von dieser Form der Mitbestimmung ausgeschlossen,<br />

obwohl sie durch ihre Arbeit zum Reichtum der Stadt beitrugen. Das Wahlrecht galt als<br />

Privileg der Wenigen, durch Geburt und Stand gewährleistet, und nicht als<br />

grundlegendes Menschenrecht wie es die Ideologie des bürgerlichen demokratischen<br />

Staates will. Nietzsches Auffassung zufolge liegt jedem System, selbst dem<br />

demokratischen, ein Herrschaftsverhältnis zugrunde, ob es sich um den Gegensatz von<br />

freien Athenern und Sklaven oder von Bürgern und Arbeitern handelt. Er bejaht diese<br />

sozialen Unterschiede als Ausdruck des Willens zur Macht, obwohl er die antike Form<br />

der Demokratie der modernen bürgerlichen vorzuziehen scheint. 2 An der bürgerlichen<br />

Demokratie setzt Nietzsche aus, daß sie das Mittelmaß, aber nicht den<br />

überdurchschnittlich Begabten fördert. 3 Zwischen Nietzsches Affirmation des Lebens<br />

(nicht des Bestehenden) und seiner Kritik an der Gegenwart öffnet sich ein<br />

Widerspruch, der sich vielleicht durch die Frage „Wie kann der Einzelne sein höchstes<br />

Potential erreichen?” umschreiben ließe. 4<br />

Die zweite Position, die Überwindung der Aufklärung, enthält ein befreiendes<br />

Moment, weil sie von der Unmöglichkeit ausgeht, für „die Masse” oder „die<br />

Menschheit” zu sprechen. Indem das Subjekt für die „die Masse” oder „die Menschheit”<br />

spricht, setzt es sich von ihr ab, d.h. es entsteht ein Machtunterschied. Um sprechen zu<br />

können, verurteilt das Subjekt die anderen zum Schweigen. Damit nimmt es die<br />

Position der Autorität ein. Der Diskurs der Aufklärung verwischt die Grenze zwischen<br />

dem sprechenden Subjekt und den schweigenden anderen, indem er sich auf eine<br />

außerdiskursive „objektive Wahrheit” beruft. Das Subjekt, das sich dem Diskurs<br />

unterwirft und ihn beherrscht, spricht also nicht bloß seine Meinung aus, sondern die<br />

„objektive Wahrheit” äußert sich unmittelbar in ihm. Die Identität des Zeichens und des<br />

Bezeichneten wird somit durch das sprechende Subjekt gewährleistet. Nietzsche<br />

entlarvt diese Konstitution des Subjekts als eine Fiktion, die dem modernen,<br />

demokratischen Staat zugrundeliegt. Das Bürgertum regiert im Namen der<br />

„Menschheit” und legitimiert somit seine Herrschaft sowohl über das Proletariat als<br />

auch über die Wenigen, die Genies.<br />

Für Nietzsche sind der moderne Staat und das Christentum untrennbar verknüpft<br />

(Vgl. Kaufmann 1974, 184). In der bürgerlichen Demokratie sieht er die Herrschaft der<br />

Vielen, der Sklaven, über die Wenigen, die eigentlich einen Anspruch auf Herrschaft<br />

hätten, da sie die überdurchschnittliche Begabung (sowohl geistig als auch körperlich)<br />

dazu besitzen. Nietzsches Begriff der Macht schließt ein biologistisches Moment ein. Er


Nietzsches Argumente gegen den Populismus 9<br />

meint, daß die Sklaven kein hohes Maß an Kultur hervorbringen könnten, da sie in<br />

ihrem Instinkt vom Ressentiment gegen alles Privilegierte geprägt seien. Um jedoch<br />

neue Werte setzen zu können, müsse man im Instinkt aktiv sein, d.h. über einen<br />

gesunden Körper und Verstand verfügen. Die von Natur aus Privilegierten sind also<br />

dazu vorherbestimmt, zu regieren. Die Zu-Kurz-Gekommenen rächen sich an den<br />

Privilegierten, indem sie das Mittelmaß als einzigen Maßstab gelten lassen. 5 Die<br />

moderne bürgerliche Demokratie bewahrt somit die prästabilisierte Harmonie der<br />

Mittelmäßigkeit.<br />

Im Christentum sieht Nietzsche das Ressentiment und die Rache der niederen Stände<br />

und der Kranken, Mißratenen zur Moral erhoben. Die Aufwertung der Nächstenliebe<br />

und des Mitleids impliziert die Verneinung der gesunden, selbsterhaltenden Instinkte.<br />

Mitleiden heißt, die Grenzen zwischen den Starken und den Schwachen verwischen,<br />

den gesunden Körper von dem kranken anstecken lassen. Dadurch findet eine<br />

Schwächung und Verweichlichung des Willens zur Macht statt, den Nietzsche als<br />

Instinkt begreift. Der Christ will nicht die Krankheit heilen, denn er verachtet den<br />

Körper und die Instinkte. Sie gelten ihm als sündig, dämonisch und müssen durch den<br />

Tod gesühnt werden. Erst jenseits des Todes ist eine Erlösung vom Leiden als<br />

Versöhnung zwischen Mensch und Gott möglich. Nietzsche zufolge ist die christliche<br />

Umwertung der aristokratischen Werte Symptom eines kulturellen Wahnsinns, der<br />

décadence.<br />

Er unterscheidet zwischen der Praxis des Evangeliums, wie Christus es lebte, und<br />

dem Dogma des Christentums, das erst von Paulus begründet wurde. Der milde, sanfte<br />

Umgang Christi selbst mit seinen Feinden widerspreche der Rache und dem<br />

Ressentiment gegen die Reichen und Mächtigen, das erst von Paulus zum Dogma<br />

erhoben wurde. Nietzsche meint daher, daß Christus eher buddhistisch als christlich<br />

gehandelt habe. Das Christentum als Lehre gehe aber erst aus der Notwendigkeit<br />

hervor, den sinnlosen Tod Christi am Kreuz zu interpretieren. Der Tod eines einfachen<br />

Verbrechers forderte den Glauben der Apostel heraus. Wie konnte Gott es zulassen, daß<br />

sein Sohn starb? Sie deuteten den Tod Christi also als einen Opfertod, der alle weiteren<br />

Opfer aufwog: Gottes auserwählter Sohn starb für die Sünden der gesamten<br />

Menschheit. Dieser unverständliche, grausame Akt wird also als Zeichen der Liebe<br />

gedeutet. Nietzsche fällt auf diese Interpretation nicht herein, die mit allen Regeln der<br />

Vernunft bricht, sondern behauptet, daß sich Gott durch den Opfertod seines Sohnes<br />

selbst ans Kreuz nageln ließ. Christi Tod markiert somit den Tod Gottes. Dadurch<br />

entlarvt Nietzsche den nihilistischen Grundzug des Christentums, denn wenn Gott nicht<br />

existiert, warum hofft der Mensch dann noch auf eine Erlösung im Jenseits? Nietzsche<br />

meint, daß Paulus und später die christlichen Priester die gesunden, aristokratischen<br />

Werte auf den Kopf stellen mußten, um dem Tod Christi einen Sinn zu verleihen. Dafür<br />

wählten sie sich als Verbündete die Armen, Kranken, die Zu-Kurz-Gekommenen. Die<br />

Priester stehen an der Spitze des Sklavenaufstands in der Moral und lenken das<br />

Ressentiment der Masse. In ihnen sieht Nietzsche den Prototyp des décadents.<br />

Nietzsche zitiert Paulus (1 Cor. 1, 20ff), den er den „grössten aller Apostel der Rache”<br />

nennt, um diese These zu belegen:


10 Nietzsche<br />

Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Thorheit gemacht? Denn dieweil die Welt durch ihre<br />

Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch thörichte Predigt selig<br />

zu machen die, so daran glauben. Nicht viel Weise nach dem Fleische, nicht viel Gewaltige, nicht<br />

viel Edle sind berufen. Sondern was thöricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er die<br />

Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er zu<br />

Schanden mache, was stark ist. Und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott<br />

erwählet, und das da Nichts ist, dass er zu nichte mache, was etwas ist. Auf dass sich vor ihm kein<br />

Fleisch rühme. (in AC, 223)<br />

Nietzsche argumentiert, daß die philosophische Tradition des Sokratismus der<br />

Instinktverirrung des Christentums zuvorkam, und daß diese beiden Traditionen sich<br />

gegenseitig verstärkten, um den Verfall der aristokratischen Werte zu beschleunigen. In<br />

der sokratischen Dialektik und Ironie sieht er das Mittel der Schwachen, die Stärkeren<br />

zu überlisten, indem sie die Grenzen der Kategorien verwischen, die den Werten<br />

zugrundeliegen. Sie enthält somit den Keim zum Aufstand gegen die bestehende<br />

Ordnung. Sokrates, der seiner Herkunft nach zum niedersten Volk gehört, markiert eine<br />

Wende in der Antike:<br />

Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um: was geschieht da<br />

eigentlich? Vor Allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der<br />

Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren<br />

ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch<br />

misstraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe. (GD, 69)<br />

Nietzsche sieht in der Dialektik die Rache der Schwachen gegen die Starken,<br />

Privilegierten, da sie sie zum Nachweis ihrer Intelligenz zwingt, aber auch eine neue<br />

Form des Agon, des Wettstreits, der die Hellenen faszinierte, denn „er brachte eine<br />

Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen” .(GD, 71) Diese<br />

Faszination sei eine erotische.<br />

Nietzsche macht Sokrates nicht für die Degeneration verantwortlich, die bereits in<br />

Athen reif war. Er meint jedoch, daß die sokratische Formel „Vernunft = Tugend =<br />

Glück” diese Notlage nicht bekämpfen konnte.<br />

Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence<br />

herauszutreten, dass sie gegen dieselbe den Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer<br />

Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence —<br />

sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein<br />

Missverständniss; die ganze christliche Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein<br />

Missverständniss… Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell,<br />

kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine<br />

Krankheit, eine andre Krankheit — und durchaus kein Rückweg zur ‘Tugend’, zur ‘Gesundheit’,<br />

zum ‘Glück’… Die Instinkte bekämpfen müssen — das ist die Formel für décadence: so lange das<br />

Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt. — (GD, 72f.)<br />

Nietzsches Verwendung des Begriffspaars „Gesundheit-Krankheit” scheint ein<br />

metaphysischer Begriff der Physiologie zugrundezuliegen. Inwiefern können geistigmoralische<br />

Wertvorstellungen Ursache von Krankheiten sein? Verwechselt Nietzsche<br />

hier nicht gesellschaftlich-historische Vorgänge mit physiologischen? Nietzsche<br />

definiert den Körper jedoch auf eine eigensinnige Weise, weder rein empiristisch, noch


Nietzsches Argumente gegen den Populismus 11<br />

im herkömmlichen metaphysischen Sinne, demzufolge der Körper sich vom Geist<br />

unterscheidet. Vielmehr sieht Nietzsche den Körper als ein Feld teils sich<br />

widersprechender und teils zusammestimmender Reize, eine Einsicht Freuds über die<br />

Konstitution des Ichs vorwegnehmend: „Das alte Wort ‘Wille’ dient nur dazu, eine<br />

Resultante zu bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die nothwendig auf eine<br />

Menge theils widersprechender, theils zusammenstimmender Reize folgt: - der Wille<br />

‘wirkt’ nicht mehr, ‘bewegt’ nicht mehr ...” (AC, 180) Aus dieser Perspektive stellt der<br />

Geist einen Fehlgriff der Natur dar: „das Bewusstwerden, der ‘Geist’, gilt uns gerade als<br />

Symptom einer relativen Unvollkommenheit des Organismus, als ein Versuchen,<br />

Tasten, Fehlgreifen, als eine Mühsal, bei der unnöthig viel Nervenkraft verbraucht wird,<br />

- wir leugnen, daß irgend Etwas vollkommen gemacht werden kann, so lange es noch<br />

bewusst gemacht wird.” (AC, 181)<br />

Somit kann es aber auch nicht als ein moralischer Mangel des<br />

Durchschnittsmenschen verstanden werden, wenn er reaktiv denkt und handelt.<br />

Nietzsche zeigt nur die biologischen, philosophischen und religiösen Prozesse auf, die<br />

zur Situation der décadence führten und eine Möglichkeit, sie zu überwinden.<br />

Borchmeyer (1989, 85) leitet aus Nietzsches Definition des Willens eine Dialektik<br />

zwischen Stärke und Schwäche, Fortschritt und décadence ab:<br />

Dem von der Stärke diktierten Darwinschen Selektionsprinzip tritt die Schwäche als Bedingung<br />

der Möglichkeit des Fortschritts gegenüber. Schwäche verstanden als moralische wie physische<br />

Einbuße und Abnormität. In ihren semantischen Umkreis gehören ‘Abartung’, ‘Entartung’,<br />

‘Verstümmelung’, ‘Wunde’, ‘Krankheit’, ‘Laster' .Die sittliche und körperliche Schwäche ist die<br />

felix culpa des Fortschritts - freilich nur, solange das Gemeinwesen als ganzes Kraft genug besitzt,<br />

sie zu verkraften, solange es ihr nicht gelingt, sich zu verabsolutieren und die Stabilität der<br />

allgemeinen Grundsätze außer Kraft zu setzen. Die schwächere Natur ist die zartere und freiere,<br />

das letztere, weil sie sich nicht dem gesellschaftlichen Konsensus beugt, das erstere, weil durch die<br />

angegriffene Physis, durch das gestörte Gleichgewicht der körperlichen und geistigen Kräfte eben<br />

diese sich emanzipieren und ‘veredeln' .<br />

Als Begleiterscheinungen der Demokratie greift Nietzsche den Feminismus und den<br />

Sozialismus an. Der Vorstoß der Frauen in die ehemals männlichen Bereiche der Kunst<br />

und der Wissenschaft zerstört die reine Kontemplation des Wahren und Schönen, das<br />

die Frauen repräsentieren. Der Künstler oder Philosoph verhüllt die Wahrheit oder<br />

Realität mit dem schönen Schleier, um sie von sich zu distanzieren und damit besser<br />

beherrschen zu können. In einem Abschnitt voller Gedankenstriche und Ellipsen, die<br />

Nietzsches Sprachlosigkeit und Empörung angesichts der emanzipierten Frau andeuten,<br />

reflektiert er das Verhältnis der Frau zur Wahrheit:<br />

Ist es nicht vom schlechtesten Geschmacke, wenn das Weib sich dergestalt anschickt,<br />

wissenschaftlich zu werden? Bisher war glücklicher Weise das Aufklären Männer-Sache, Männer-<br />

Gabe - man blieb damit „unter sich”; und man darf sich zuletzt, bei Allem, was Weiber über das<br />

„Weib” schreiben, ein gutes Misstrauen vorbehalten, ob das Weib über sich selbst eigentlich<br />

Aufklärung will - und wollen kann..… Wenn ein Weib nicht damit einen neuen Putz für sich sucht<br />

- ich denke doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen? - nun, so will es vor sich Furcht<br />

erregen: - es will damit vielleicht Herrschaft. Aber es will nicht Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn<br />

an dem Weib fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, - seine grosse Kunst ist die Lüge, seine<br />

höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. (JGB, 171)


12 Nietzsche<br />

Wenn sich diese Wahrheit nun aber selbst als Schein, als Lüge entlarvt? Wird die<br />

Opposition von Wahrheit und Schein dann nicht hinfällig? Derrida argumentiert, daß<br />

dies eine Konsequenz des Eintritts der Frau in das männliche Spiel der Repräsentation<br />

sei: „Denn wenn die Frau Wahrheit ist, weiß sie, daß es die Wahrheit nicht gibt, daß die<br />

Wahrheit nicht stattfindet und daß man die Wahrheit nicht hat. Und sie ist Frau,<br />

insofern sie ihrerseits nicht an die Wahrheit glaubt, also an das, was sie ist, an das, was<br />

man glaubt, daß sie sei, das sie also nicht ist.” (Derrida 1986, 136) Die Teilnahme der<br />

Frau am männlichen Diskurs entlarvt die männliche Kunst und Philosophie als das was<br />

sie ist, aber nicht sein will: Arbeit oder Schauspiel. Die Wissenschaft wird zu einer<br />

Anhäufung und Auswertung von Fakten, von Spezialisten betrieben, die im Dienste<br />

aller, des Staates, arbeiten, während die Kunst zum Schauspiel und die Künstler zu<br />

Schauspielern werden, die vorgeben, zu wissen, wovon sie reden. Als hervorragendstes<br />

Beispiel dafür gilt Nietzsche Wagner.<br />

Nietzsche bejaht die Frau als Nicht-Wahrheit, die die männlichen Repräsentationen<br />

ihrer selbst verlachen würde. Er beneidet sie um ihre Fülle, um ihre Fähigkeit zu<br />

gebären. Sie sei das eigentlich produktive Geschlecht, das der scheinbaren Produktionen<br />

der Männer, der Kunst und Philosophie, nicht bedürfe. Er bezeichnet die Künstler und<br />

Philosophen aber auch als männliche Mütter. Alison Ainley macht darauf aufmerksam,<br />

daß Nietzsche durch die Metapher der Schwangerschaft die Einheit des philosophischen<br />

Subjekts subvertiert: „Hence the singular, full presence which is the lynchpin and<br />

promulgator of phallophilosophy is potentially put into question by the symbolism of<br />

pregnancy. The suppression of that which is different and diverse in pregnancy - the<br />

laughing, desiring, orgasmic mother - has ensured the continuity of the patrilinear<br />

descent, the father’s name, through successive generations, which is a relation of<br />

sameness.” (Ainley 1988, 124f.)<br />

Es scheint so, als ob Nietzsche die Position der Frau einnimmt, während er den<br />

umgekehrten Prozeß bei den Feministinnen kritisiert, nämlich die Identifikation mit der<br />

männlichen Rolle. Derrida stellt Nietzsches vermeintliche Frauenfeindlichkeit so dar:<br />

„Und wirklich sind die Frauenrechtlerinnen, gegen die Nietzsche seinen Sarkasmus vervielfacht,<br />

Männer. Der Feminismus ist das Verfahren, durch das die Frau dem Mann, dem dogmatischen<br />

Philosophen ähneln will, indem sie die Wahrheit, die Wissenschaft, die Objektivität fordert, das<br />

heißt zusammen mit der gesamten männlichen Illusion, auch den Kastrationseffekt, der ihr<br />

anhaftet. Der Feminismus will die Kastration - auch der Frau. Verliert den Stil.” (Derrida 1986,<br />

140)<br />

Das könnte (in Nietzsches und Derridas Fall) als Bestätigung des „weiblichen Wesens”<br />

als Unterpfand des phallozentrischen Diskurses gelesen werden, oder aber als<br />

Dekonstruktion eben dieses Diskurses. Wie kann man/frau diesen Diskurs aber<br />

dekonstruieren, ohne ihn erst zu beherrschen, oder ist diese Herrschaft selbst eine<br />

Täuschung? Wer täuscht wen?<br />

Nietzsche setzt der Erkenntnis der „reinen, objektiven Wahrheit” seine eigene, im<br />

Negativen umrissene Art zu verstehen entgegen, wie Klossowski (28) meint: „ridere,<br />

lugere, detestari - verlachen, beklagen, verwünschen” .Daran knüpft Klossowski die<br />

Frage an:


Nietzsches Argumente gegen den Populismus 13<br />

Aber was ist eine Wissenschaft, die lacht, klagt und verwünscht? Eine pathetische Erkenntnis?<br />

Unser Pathos erkennt, aber wir können an seiner Erkenntnisform nie teilhaben. Für Nietzsche<br />

entspricht jeder geistige Akt nur einer Änderung der Stimmungslage; dem Pathos aber einen<br />

absoluten Wert zuzusprechen, würde die Unparteilichkeit des Erkennenden zerstören, während<br />

man doch vom erreichten Grad der Unparteilichkeit aus die Unparteilichkeit selber in Frage<br />

gestellt hat. (Klossowski, 28)<br />

Wenn die Wahrheit einem Trieb entspringt, kann das Subjekt sie nicht für sich in<br />

Anspruch nehmen. Sie kann aber auch niemals eine objektive, „unparteiliche” sein, weil<br />

sie Ausdruck eines Triebes zur Herrschaft ist, der ganz bestimmte Ziele erreichen will.<br />

Das Subjekt kann sie höchstens verschleiern als allgemeine „Wahrheit", um andere<br />

Subjekte von ihr zu überzeugen und somit zu beherrschen. Das Subjekt wird jedoch<br />

selbst von dem Trieb zur Wahrheit beherrscht. Obwohl die „unparteiliche Wahrheit”<br />

einen Irrtum darstellt, da der Instinkt nicht über sich selbst hinausgelangen kann, ist<br />

dieser Irrtum lebenserhaltend, da er ein zielgerichtetes Handeln ermöglicht, auch wenn<br />

dieses Ziel den Erwerb von Macht bedeutet.<br />

Als Kehrseite des zahmen Durchschnittsmenschen in der modernen Demokratie sieht<br />

Nietzsche im Sozialismus die Herrschaft des ungebändigten Arbeiters, der um so<br />

strengere Gesetze aufstellt, als er die Macht zum ersten Mal probiert. Als<br />

Schreckensvision schwebt Nietzsche die „Pariser Kommune und die Entwicklung der<br />

sozialistischen Massenparteien, besonders in Deutschland, sowie Art und Erfolg des<br />

bürgerlichen Kampfes gegen sie” (Lukács 1962, 11) vor. 6 Dabei sieht er in der<br />

Herrschaft des Proletariats, gemäß der bürgerlichen Ideologie, eine bloße Terrorschaft,<br />

wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht: „Und nun! Entsetzen! Gerade der ‘Arbeiter’ ist<br />

gefährlich geworden! Es wimmelt von ‘gefährlichen Individuen’ !Und hinter ihnen die<br />

Gefahr der Gefahren - das Individuum!” (MR, 154) Die Masse der Arbeiter kann man<br />

verachten, da sie form- und lenkbar ist, aber sobald sie sich zu einem revolutionären<br />

Subjekt herausbildet, wird sie bedrohlich. In dem Abschnitt „Der Staat als Erzeugniss<br />

der Anarchisten” wird die Angst vor einem Arbeiterstaat besonders scharf formuliert:<br />

In den Ländern der gebändigten Menschen giebt es immer noch genug von den rückständigen und<br />

ungebändigten: augenblicklich sammeln sie sich in den socialistischen Lagern mehr als irgendwo<br />

anders. Sollte es dazu kommen, dass diese einmal Gesetze geben, so kann man darauf rechnen,<br />

dass sie sich an eine eiserne Kette legen und furchtbare Disciplin üben werden: - sie kennen sich!<br />

Und sie werden diese Gesetze aushalten, im Bewusstsein, dass sie selber dieselben gegeben haben,<br />

- das Gefühl der Macht, und dieser Macht, ist zu jung und entzückend für sie, als dass sie nicht<br />

Alles um seinetwillen litten.” (MR, 159f.)<br />

Das impliziert, daß Nietzsche das Reich Bismarcks trotz der Mängel, die er in seinen<br />

Tiraden gegen Deutschland identifiziert, als Rückhalt sieht, von dem aus er seine<br />

Attacken gegen die sozialistische Revolution führen kann. Er zieht somit die alte Macht,<br />

die décadence, der jungen Macht vor.<br />

Nietzsche schien 1871 mehr über die Zerstörung der „herrlichsten Kunstwerke” der<br />

europäischen Kultur als über die Zerschlagung der Pariser Kommune erschrocken<br />

gewesen zu sein, wie aus einem Brief an Carl von Gersdorff vom 21 Juni 1871


14 Nietzsche<br />

hervorgeht. Dennoch verurteilt er nicht einfach das Ereignis, sondern sieht es als<br />

Symptom einer „allgemeinen Schuld” .Er schreibt:<br />

Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet und<br />

aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische<br />

Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja<br />

ganze Perioden der Kunst austilgen konnte; ich klammerte mich mit ernster Überzeugung an den<br />

metaphysischen Werth der Kunst, die der armen Menschen wegen nicht da sein kann, sondern<br />

höhere Missionen zu erfüllen hat. Aber auch bei meinem höchsten Schmerz war ich nicht im<br />

Stande, einen Stein auf jene Frevler zu werfen, die mir nur Träger einer allgemeinen Schuld<br />

waren, über die viel zu denken ist! (B 3, 204)<br />

Dagegen ist Flauberts Urteil über die Pariser Kommune sehr viel entschiedener. Er<br />

scheint das Vorgehen der Armee zu unterstützen und kein Mitleid für die<br />

Kommunarden zu verspüren. In einem Brief an George Sand von 1871 breitet er seine<br />

Gedanken zu einer aristokratischen Ordnung aus, an deren Spitze die Gelehrten, die<br />

Mandarins stehen sollen:<br />

Was die im Verröcheln liegende Commune angeht, so ist das die letzte Bekundung des<br />

Mittelalters. Die letzte? Hoffen wir es! Ich hasse die Demokratie… An was soll man glauben? An<br />

nichts! Das ist der Beginn der Weisheit. Es war Zeit, sich der Prinzipien zu entledigen und in die<br />

Wissenschaft, die Untersuchung einzutreten. Das einzige Vernünftige (ich komme immer wieder<br />

darauf zurück) ist eine Regierung von Mandarins, vorausgesetzt, daß die Mandarins etwas wissen<br />

und sogar sehr viel wissen. Das Volk ist ewig minderjährig, und es wird immer (in der Hierarchie<br />

der sozialen Elemente) an letzter Stelle stehen, da es die Zahl, die Masse, das Unbegrenzte ist. Es<br />

ist nicht sehr wichtig, ob viele Bauern lesen können und nicht mehr auf ihre Pfarrer hören, aber es<br />

ist von unendlich großer Bedeutung, daß Männer wie Rénan oder Littré leben können und man auf<br />

sie hört. Unser Heil liegt jetzt in einer legitimen Aristokratie, ich verstehe darunter eine Mehrheit,<br />

die sich aus etwas anderem als aus Zahlen zusammensetzt. (nach Michel 1965, 102)<br />

Darin äußert eine romantische Form des Anti-Kapitalismus, die sowohl den Arbeiter<br />

als auch den Unternehmer als die Kehrseite des gleichen „vulgären” Mechanismus der<br />

Gewinnsucht sieht. Dieser Auffassung zufolge hat der Unternehmer keine besonderen<br />

„angeborenen” Fähigkeiten, die ihn vom Arbeiter unterscheiden. Das Geld gilt in dieser<br />

„vornehmen” Wertehierarchie nicht als auszeichnendes Merkmal. Dazu schreibt<br />

Nietzsche:<br />

Vom Mangel der vornehmen Form. - Soldaten und Führer haben immer noch ein viel höheres<br />

Verhalten zu einander, als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens steht alle militärisch<br />

begründete Cultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Cultur: letztere in ihrer jetzigen<br />

Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier wirkt einfach das<br />

Gesetz der Noth: man will leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet Den, der diese Noth<br />

ausnützt und sich den Arbeiter kauft. Es ist seltsam, dass die Unterwerfung unter mächtige,<br />

furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei Weitem nicht so<br />

peinlich empfunden wird, als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante Personen,<br />

wie es alle Grössen der Industrie sind: in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen<br />

listigen, aussaugenden, auf alle Noth speculierenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt,<br />

Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabricanten und Gross-Unternehmern des Handels<br />

fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse,<br />

welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels


Nietzsches Argumente gegen den Populismus 15<br />

im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Socialismus der Massen. Denn diese<br />

sind im Grunde bereit zur Sclaverei jeder Art, vorausgesetzt, dass der Höhere über ihnen sich<br />

beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimiert — durch die vornehme Form! Der<br />

gemeinste Mann fühlt, dass die Vornehmheit nicht zu improvisieren ist und dass er in ihr die<br />

Frucht langer Zeiten zu ehren hat, — aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte<br />

Fabricanten-Vulgarität mit rothen, feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, dass nur Zufall<br />

und Glück hier den Einen über den Anderen erhoben habe: wohlan, so schliesst er bei sich,<br />

versuchen wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! — und der<br />

Socialismus beginnt. (FRW, 407f.)<br />

Döblin moniert, daß Nietzsche zwar die „Verspießerungstendenz” bei den deutschen<br />

Sozialisten sah, aber nicht ihren „kämpferischen, ewig revolutionäre(n) Charakter” und<br />

urteilt: „Gegen den Elan dieser Ideen sind seine eigenen Lehren höchst abseits, muffig<br />

und Stubenweisheit.” (1978 I, 243f.) Er gesteht Nietzsche dennoch zu, daß er<br />

zwischendurch einmal auf unübertroffene Weise gesagt habe, was der wirkliche<br />

Sozialismus zu betreiben habe:<br />

Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit und ebenso als Reaktion die<br />

Friedenspartei. Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern<br />

verbietet, Krieg zu führen, verbietet, sich der Gerichte zu bedienen, welche den Kampf, den<br />

Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört, eine Partei der Unterdrückten, alsbald<br />

die große Partei. Gegnerisch gegen Rache und Rachegefühle. (nach Döblin, ebd.)<br />

Nietzsches Argumente gegen den Populismus bilden kein in sich geschlossenes System:<br />

Sie bestehen aus Aphorismen, die mal die eine, mal die andere Seite des Problems<br />

beleuchten. Widersprüche und Extreme werden nicht aufgehoben, sondern in ihrer<br />

ganzen Schärfe ausgestellt. Peter Pütz (1978 II, 145) formuliert das so: „Es ist schwer,<br />

eine systematische Ordnung in die Fülle seiner Gedanken zu bringen. Nietzsche mag<br />

sein Urteil noch so apodiktisch formulieren - an anderer Stelle widerruft er es und<br />

behauptet das genaue Gegenteil. Einheitlichkeit ist auch dann nicht zu finden, wenn<br />

man sich auf begrenzte Themen, etwa die der Ästhetik beschränkt” .Ebenso verhält es<br />

sich mit Nietzsches Äußerungen zur Demokratie und zum Volk. Er verzichtet auf die<br />

historisierende Darstellung der Demokratie: So betrachtet er sie einmal im Kontext der<br />

griechischen Antike und dann wieder im zeitgenössischen Kontext des verspäteten<br />

deutschen Nationalstaats, der die Überreste des Feudalismus noch nicht ganz<br />

abgeworfen hat. Er sieht die Geschichte nicht als eine lineare, teleologische<br />

Entwicklung, sondern als einen genealogischen Prozeß, der sowohl biologische als auch<br />

kulturelle Aspekte einschließt. Je nach seiner Perspektive erscheinen die antike und die<br />

moderne Demokratie, der Fortschritt und die décadence, der Arbeiterstaat und der<br />

Feminismus in einem positiven oder negativen Licht. Henry Staten (1990, 9) bezeichnet<br />

diese psychodialektische Struktur als „double investment", d.h. daß entgegengesetzte<br />

libidinöse Energien in Nietzsches Texten parallel geschaltet sind.


16 Nietzsche<br />

Anmerkungen<br />

1 Als Hauptvertreter der Präfaschismus-Theorie sei hier Lukács erwähnt, der Nietzsche in dem WerkDie<br />

Zerstörung der Vernunft selbst zum Begründer des Nihilismus und der décadence erklärt. Damit<br />

unterschlägt er das Ambivalente an Nietzsches décadence-Begriff und setzt ihn in starre Opposition zu<br />

seinem klassizistischen ästhetischen Ideal, das er für den Sozialismus zu retten versucht. Obwohl Jost<br />

Hermand (148) sich von Lukács distanziert, reagiert er doch irritiert auf marxistische Annäherungen an<br />

Nietzsche: „Man kann doch nicht Nietzsche einerseits als exquisiten Prosakünstler hochjubeln - und ihn<br />

andererseits als gewalttätigen Präfaschisten verdammen [...] Und obendrein: Wer kann sich heute noch<br />

ästhetisch an Dingen erfreuen, die durch den Faschismus, die brutalste Terrorherrschaft des 20.<br />

Jahrhunderts, total korrumpiert worden sind?” Hermand (ebd.) meint, daß Nietzsche junge Leser zu<br />

„Hochmut, Brutalität, Sexismus, Massenhaß, Arbeiterverachtung und Antidemokratismus” verführe, und<br />

schlägt Brecht als kulturelles Erbe vor. Dabei unterschlägt er jedoch sexistische Züge bei Brecht. Für eine<br />

ausgezeichnete Darstellung der deutschen Nietzsche-Rezeption, siehe Montinari (1979).<br />

2 Walter Kaufmann (1974, 187) weist darauf hin, daß Nietzsche in seiner Schrift Menschliches,<br />

Allzumenschliches die Mängel aller bisherigen Demokratien kritisiert und auf eine zukünftige Demokratie<br />

hofft, in der soviel Menschen wie möglich unabhängig sein werden.<br />

3 Lukács (1962, 28) argumentiert jedoch überzeugend, daß Nietzsche in der zweiten Hälfte der siebziger<br />

Jahre einen Kompromiß mit der Bismarckschen Demokratie einging, da er in ihr das „wirksamste<br />

Gegenmittel gegen den Sozialismus erblickt” .<br />

4 Nietzsche hat den Wert der Geschichte nicht als Entwicklung auf ein Ziel verstanden, sondern in den<br />

höchsten Menschen begründet, die sie hervorbrachte. Siehe Kaufmann (1974, 149)<br />

5 Nietzsche zufolge toleriert das Genie jedoch den Mittelmäßigen und zwingt ihm nicht sein eigenes<br />

strenges Gesetz auf. (Vgl. Kaufmann 1974, 384)<br />

6 Sloterdijk (1986, 60f.) weist darauf hin, daß sich folgende Betrachtung Nietzsches über den<br />

griechischen Chor wie ein sozialistisches Manifest liest: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt<br />

sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete,<br />

feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem<br />

Menschen … Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen<br />

Abgrenzungen, die Noth, Willkür und ‘freche Mode’ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei<br />

dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt,<br />

verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem<br />

geheimnisvollen Ur-Einen herumflatterte. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied<br />

einer höheren Gemeinsamkeit ...” (GT 29f.) Dieser Zauber dauert aber nur für den Augenblick, während<br />

der Chor aus der Ferne eine Einheit bildet. Sloterdijk (ebd., 123) meint, daß Nietzsche, wenn auch<br />

widerwillig, eine Form der plebejischen Größe anerkennt, und zwar in Anlehnung an Diogenes, den<br />

Kyniker.


Nietzsches Argumente gegen den Populismus 17<br />

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Berlin/New York: Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter 1975-1984<br />

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(Staten 1990): Henry Staten, Nietzsche’s Voice. Cornell University Press: Ithaca and London


Nietzsches Décadence-Begriff und Darwins Evolutionstheorie<br />

Darwins Hypothese, daß sich das Leben nach eigenen Gesetzen der Selektion und<br />

Adaptation in einem langwierigen Prozeß entwickelte, die er in seinem Epochenwerk<br />

The Origin of the Species (1888) vertrat, stellte eine wissenschaftliche Revolution dar,<br />

die, ähnlich der kopernikanischen Wende, das geo- und anthropozentrische Weltbild des<br />

Menschen aufs Tiefste erschütterte. (Vgl. Sulloway 1982: 385) Besonders kühn an<br />

Darwins Methode schien, daß er keine Rücksicht auf die religiösen und moralischen<br />

Implikationen seiner Lehre nahm, sondern sich in seinen Deduktionen allein auf die<br />

empirischen Daten stützte. Darwins genetisches Erklärungsmodell wurde bereitwillig<br />

von einer Reihe von Biologen, Soziologen und Psychologen des 19. Jahrhunderts<br />

übernommen, wo es allerdings bald zur pseudowissenschaftlichen Ideologie des<br />

Sozialdarwinismus verkam.<br />

Darwins Einfluß auf Nietzsches Denken wurde schon früh in der<br />

Rezeptionsgeschichte erkannt. Pütz schreibt:<br />

Als einer der ersten weist Hans Vaihinger (1902) auf den Einfluß des Engländers mit seiner Lehre<br />

von der Auswahl des Stärkeren hin. Nietzsche habe hieraus die Feier des Lebens, das dionysische<br />

Prinzip abgeleitet. Das Ja zum Leben, als Widerspruch gegen Schopenhauer, entstamme dem<br />

Vertrauen, daß nach dem Gesetz Darwins ein natürlicher Sieg des Stärksten und Besten zu<br />

erwarten sei. (Pütz 1967: 9)<br />

Vaihinger überträgt das darwinistische Selektionsprinzip jedoch zu reduktionistisch auf<br />

Nietzsches Begriff des Lebens. Dabei übersieht er sowohl Nietzsches Zweifel am<br />

natürlichen Sieg der Stärkeren und Besseren in der modernen Gesellschaft, die seiner<br />

Kritik der décadence des späten 19. Jahrhunderts zugrundeliegt, als auch die<br />

polemischen Pointen gegen Darwin. Nietzsches Einstellung zu Darwin ist ambivalenter,<br />

widersprüchlicher und indirekter als Vaihinger vermuten läßt. Im Folgenden soll diese<br />

Beziehungen in ihrer Relevanz für Nietzsches Begriff der décadence untersucht werden.<br />

In der Nietzsche-Forschung wird angenommen, daß Nietzsche Darwins The Origin<br />

of the Species wahrscheinlich nicht selbst gelesen hatte, sondern darwinistische Ideen<br />

vor allem über Hartmann und Lange rezipierte. 1 Nietzsche schien ihrer oft unkritischen<br />

Übertragung der Darwinschen Lehre auf die Gesellschaft und die Psyche skeptisch<br />

gegenüberzustehen. Ich vertrete die These, daß Nietzsches antidarwinistische<br />

1 Nach Claudia Crawford (1988: 67) haben Schlechta und Anders (1962) auf Langes Werk History of<br />

Materialism: Criticism of its Present Importance als Nietzsches Quelle für darwinistisches Gedankengut<br />

hingewiesen. Die Vermutung, daß Nietzsche Darwin nicht direkt gelesen hatte, stützt sich auf eine<br />

Durchsicht der vorhandenen Quellen (Nietzsches Briefwechsel, die Vorlesungsmanuskripte der Basler<br />

Zeit, die Kollegnachschriften, das Verzeichnis der Bibliothek Nietzsches, das Verzeichnis der von<br />

Nietzsche aus der Bibliothek der Landesschule Pforta 1863-69 entliehenen Werke, die Mitteilungen des<br />

Direktors der Leipziger Stadtbibliothek über die Entleihungen Nietzsches während der Leipziger<br />

Studienjahre und das Ausleihregister der Basler Universtitätsbibliothek). Trotzdem lassen sich die von<br />

Nietzsche benutzten Arbeitsmittel "weder vollständig rekonstruieren, noch läßt sich der Umfang der<br />

tatsächlichen Benutzung zuverlässig bestimmen", wie von Reibnitz (1992: 351) zu Recht behauptet.


20 Nietzsche<br />

Polemiken sich in erster Linie gegen die Popularisierer von Darwins Gedankengut<br />

wandten.<br />

Aus dem folgenden Fragment aus dem Nachlaß vom Sommer 1872 - Anfang 1873<br />

geht hervor, daß Nietzsche Darwins Lehre grundsätzlich zustimmt und durchaus ihre<br />

revolutionäre Bedeutung für die Moral, Religion und Philosophie erkannte: "Die<br />

entsetzliche Consequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte. Alle unsre<br />

Verehrung bezieht sich auf Qualitäten, die wir für ewig halten: moralisch, künstlerisch,<br />

religiös usw." (VII, 19[132]: 461) Der Darwinismus erforderte für Nietzsche eine<br />

Umstellung seiner Perspektive auf Moral, Kunst und Religion. So löst er den Begriff der<br />

absoluten Wahrheit aus dem Bereich des Ewig-Seienden und siedelt ihn im materiellen<br />

Bereich des Werdens an.<br />

Nietzsche steht dieser Auflösung der Begriffe und Traditionen jedoch ambivalent<br />

gegenüber: Einerseits kommt sie seinem Interesse der Kritik an den überkommenen<br />

moralischen Werturteilen entgegen, andererseits sieht er in ihr ein Symptom der<br />

Krankheit seiner Zeit, der décadence. Er schreibt:<br />

Die Sympathie für die Urzustände ist recht die Liebhaberei der Zeit. So ein Unsinn, dass eine<br />

Descendenzlehre gar religionsmässig gelehrt werden kann! Die Freude liegt darin, dass nichts<br />

Festes da ist, nichts Ewiges und Unverbrüchliches. (VII, 30 [27]: 742)<br />

Nietzsche kritisiert hier nicht die Descendenzlehre, sondern die "dekadente" Sehnsucht<br />

nach den Urzuständen. In seiner Kritik fungiert der Begriff des Lebens als positiver,<br />

affirmativer Wert in Opposition zum lebensfeindlichen Prinzip der Moral. Indem<br />

Darwin die historische Methode auf das Leben selbst anwendet, verschiebt sich der<br />

Ursprung des Lebens in einem unendlichen Regreß. Dieser darwinistische<br />

Lebensbegriff scheint Nietzsche keinen Standort zu bieten, von dem er die Werte der<br />

abendländischen Kultur kritisch hinterfragen kann. In ihm sieht er ein weiteres<br />

Symptom der historistischen Krankheit seiner Zeit. Das heißt jedoch, daß Nietzsche, der<br />

sonst jeden Begriff einer kalten, nüchternen Analyse unterzieht, vor dem eigenen<br />

Begriff des Lebens Halt macht.<br />

Im kulturhistorischen Kontext stellt die décadence eine Übergangsphase dar, in der<br />

die alte Autorität als im Kern verdorben durchschaut wird, aber noch keine neue<br />

Autorität an ihre Stelle getreten ist. Es werden neue Wertungsweisen erprobt, ohne daß<br />

sich eine als verbindlich erweist. Nietzsches Experimentalphilosophie ist sich dieses<br />

Dilemmas selbst bewußt und entwirft als Gegenperspektive den Übermenschen als<br />

Überwinder der décadence jenseits einer toten Tradition und einem haltlosen<br />

Experimentieren.<br />

Natürliche Auslese<br />

Selektion ist zentral für Nietzsches Begriff der Rangordnung, doch ist sie nicht mit<br />

Darwins Konzept der natürlichen Auslese identisch. Nietzsche fragt nach dem Wert der<br />

natürlichen Auslese, während Darwin diesen Selektionsprozeß wertfrei beschreibt.<br />

Nietzsche bezweifelt, daß die natürliche Auslese zugunsten der Tüchtigsten ausfalle,<br />

wie von Darwin behauptet wurde. Ich werde versuchen zu zeigen, daß Nietzsche nicht


Darwins Evolutionstheorie 21<br />

so sehr Darwins Theorie angreift als Herbert Spencers These vom Sieg der "Stärksten<br />

und Besten" im Überlebenskampf. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />

zwischen Darwin und Nietzsche sichtbar. Ähnlich wie Darwin konstatiert auch<br />

Nietzsche, daß die Mittelmäßigen, d.h. die am besten Angepaßten, den Sieg im<br />

Überlebenskampf davontragen, doch im Unterschied zu Darwin sieht Nietzsche in ihnen<br />

nicht das Ziel (Telos) der Entwicklung, sondern in den "großen Individuen". Nach<br />

Nietzsche haben die Schwachen den Überlebenskampf durch ihren schärfer<br />

entwickelten Geist und ihre Überzahl gewonnen. Darin sieht Nietzsche den<br />

wesentlichen Unterschied zwischen der Natur- und der Kulturgeschichte. Der Geist in<br />

seiner höheren Komplexität zeichnet das "große Individuum" aus, das in Nietzsches<br />

Rangordnung den höchsten Rang einnimmt. Zwischen dem mittelmäßigen und dem<br />

großen Individuum gibt es für Nietzsche keinen Übergang. Diese absolute<br />

Gegenüberstellung von mittelmäßiger Masse und großem Individuum stellt Nietzsche<br />

vor ein Problem, das er in seinen Spätschriften dadurch löst, daß er sie dialektisch<br />

aufeinander bezieht. Damit revidiert er seine frühere radikale Position.<br />

In seiner Definition der natürlichen Auslese benutzt Darwin weder die Werturteile<br />

der "Stärksten und Besten" noch unterschiebt er dem evolutionären Prozeß ein Ziel. Er<br />

spricht lediglich von der Erhaltung günstiger und der Ausscheidung schädlicher<br />

Variationen:<br />

This preservation of favourable variations, and the rejection of injurious variations, I call Natural<br />

Selection. Variations neither useful nor injurious would not be affected by natural selection.<br />

(Darwin 1866: 91)<br />

Die natürliche Auslese kann nur auf Grund der zufälligen individuellen Variationen<br />

einer Art in Kraft treten. Die Auslese fungiert somit als Steuerungsmechanismus<br />

innerhalb der ständig neuen Variationen, der die Fortpflanzung und das Überleben der<br />

Gattung garantiert, indem er die günstigsten Adaptationen selegiert und erhält. Darwin<br />

(1866: 93) betont, daß die Auslese zugunsten der besseren Anpassung eines Organismus<br />

an seine Umwelt ausfalle:<br />

[E]very slight modification, which in the course of ages chanced to arise, and which in any way<br />

favoured the individuals of any of the species, by better adapting them to their altered conditions,<br />

would tend to be preserved; and natural selection would thus have free scope for the work of<br />

improvement. [...] unless profitable variations do occur, natural selection can do nothing.<br />

Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen unaufhörlichen, linearen Fortschritt.<br />

Darwin macht darauf aufmerksam, daß die Selektion immer mit der Anpassung an die<br />

Umgebung gepaart geht. So kann z.B. ein "niedrigerer" Organismus perfekt an seine<br />

einfache Umgebung angepaßt sein, während ein sehr viel komplexerer Organismus<br />

völlig unangepaßt sein und aussterben kann, es sei denn, er kann sich an seine<br />

Umgebung anpassen. Das setzt die Möglichkeit einer Rückentwicklung voraus. Sie ist<br />

die Kehrseite der Theorie des evolutionären Fortschritts. In seiner Theorie der<br />

décadence lehnt Nietzsche diese Dialektik des Fortschritts ab, die auf dem Darwinismus<br />

beruht und beschreibt die décadence stattdessen als Hemmung einer Entwicklung, die<br />

bereits solche "Blütezeiten" wie das antike Griechenland und Rom, aber auch die


22 Nietzsche<br />

italienische Renaissance hervorgebracht hat. Damit scheint er die Leibnitz'sche<br />

Monadentheorie der darwinistischen Evolutionstheorie vorzuziehen.<br />

Wenn eine Adaptation perfekt ist, kann sie über große Zeiträume unverändert<br />

bleiben. Das zeigen relativ einfache Organismen, wie Ritvo feststellt:<br />

Darwin stressed that his theory of natural selection includes 'no necessary and universal law of<br />

advancement of development.' It only 'takes advantage of such variations as arise and are<br />

beneficial to each creature under its complex relations of life.' Therefore the 'present existence of<br />

lowly organized productions offers no difficulty' and requires no resort to scientifically discredited<br />

spontaneous generation. If there were no advantage to 'an infusorian animalcule -- to an intestinal<br />

worm -- or even to an earth-worm, to be highly organized,' then 'these forms would be left by<br />

natural selection unimproved or but little improved' for 'indefinite ages.' And that is just what<br />

geology shows us, that 'some of the lowest forms, as the infusoria and rhizopods,' have remained<br />

in 'nearly their present state' for an 'enormous period' (1861 [1859], pp. 134-35). They were neither<br />

newly formed by spontaneous generation nor predestined to advance to perfection. (Ritvo 1990:<br />

37f.)<br />

Am Beispiel der Larven zeigt Darwin, daß auch innerhalb der Entwicklung eines<br />

individuellen Organismus die natürliche Auslese Veränderungen erzielen kann, die nur<br />

für diese Entwicklungsphase günstig sind, aber keinen Zweck für den erwachsenen<br />

Organismus haben. Damit scheint sie eher kontingent als teleologisch vorzugehen:<br />

"Natural selection may modify and adapt the larva of an insect to a score of<br />

contingencies, wholly different from those which concern the mature insect." (Darwin<br />

1866: 98)<br />

Wenn man die Überfülle der Variationen in Betracht zieht, die nur dazu bestimmt<br />

sind, wieder zu verschwinden, so fällt eher die Kostspieligkeit als die Zweckmäßigkeit<br />

der natürlichen Auslese auf. Bestenfalls halten sie sich die Balance. Es ließe sich vor<br />

diesem Hintergrund schwerlich behaupten, daß die Natur ein Ziel verfolge, wie das<br />

Überleben der Besseren und Stärkeren. Dieses Telos wird höchstens vom Menschen in<br />

die Natur hineinprojiziert. Die Evolution richtet sich gegen etwas Schädliches, wie die<br />

Dummheit, wenn sie das Überleben des Menschen gefährdet, und bevorzugt nicht von<br />

vornherein die Intelligenz. Diese Interpretation des Darwinismus stimmt mit Nietzsches<br />

eigener Auffassung überein, daß die menschliche Kultur und Gesellschaft eine<br />

kostspielige Ökonomie darstellt. Er reflektiert diese Kostspieligkeit im Zusammenhang<br />

der guten und bösen Triebe, die für ihn beide eine Funktion für die Erhaltung des<br />

Menschen haben:<br />

Auch der schädlichste Mensch ist vielleicht immer noch der allernützlichste, in Hinsicht auf die<br />

Erhaltung der Art; denn er unterhält bei sich oder, durch seine Wirkung, bei Anderen Triebe, ohne<br />

welche die Menschheit längst erschlafft oder verfault wäre. Der Hass, die Schadenfreude, die<br />

Raub- und Herrschsucht und was Alles sonst böse genannt wird: es gehört zu der erstaunlichen<br />

Oekonomie der Arterhaltung, freilich zu einer kostspieligen, verschwenderischen und im Ganzen<br />

höchst thörichten Oekonomie: -- welche aber bewiesener Maassen unser Geschlecht bisher<br />

erhalten hat. (III, 1/1: 370)<br />

Die Natur geht für Nietzsche nicht vernünftig, sondern zufällig, kapriziös und<br />

verschwenderisch vor. Mit der kostspieligen Ökonomie meint er nicht nur das Leiden,


Darwins Evolutionstheorie 23<br />

die Krankheit, den Tod und den Energieverlust, sondern auch das Böse in der Form der<br />

ungezähmten Triebe, die dem Leben zugrundeliegen. Biologisch gesehen ist die<br />

Verschwendung und der Energieverlust zur Erhaltung der Arten und des Lebens aber<br />

notwendig.<br />

Am Beispiel der sexuellen Paarung will Nietzsche Darwins These der natürlichen<br />

Auslese zugunsten der Stärksten und Besten widerlegen. Er kritisiert in diesem Kontext<br />

auch die Anpassungsfähigkeit als Kriterium der Evolution:<br />

Man findet aber Beispiele der unbewußten Selektion nirgendwo (ganz und gar nicht). Die<br />

disparatesten Individuen einigen sich, die extremen mischen sich in die Masse. Alles konkurriert,<br />

seinen Typus aufrecht zu erhalten; Wesen, die äußere Zeichen haben, die sie gegen gewisse<br />

Gefahren schützen, verlieren dieselben nicht, wenn sie unter Umstände kommen, wo sie ohne<br />

Gefahr leben... Wenn sie Orte bewohnen, wo das Kleid aufhört, sie zu verbergen, nähern sie sich<br />

keineswegs dem Milieu an.<br />

Man hat die Auslese der Schönsten in einer Weise übertrieben, wie sie weit über den<br />

Schönheitstrieb unsrer eigenen Rasse hinausgeht! Tatsächlich paart sich das Schönste mit sehr<br />

enterbten Kreaturen, das Größte mit dem Kleinsten. Fast immer sehen wir Männchen und<br />

Weibchen von jeder zufälligen Begegnung profitieren und sich ganz und gar nicht wählerisch<br />

zeigen.<br />

Modifikation durch Klima und Nahrung: -- aber in Wahrheit absolut gleichgültig. (XIII, 14[133],<br />

315f.)<br />

Nietzsche erhebt gegen die (vom ihm so verstandene) darwinistische These, daß sich die<br />

Natur ständig verbessere, den Einwand, daß der Mensch sich in seiner langen<br />

Entwicklung schon längst hätte perfektionieren müssen. Stattdessen befänden sich aber<br />

die Mittelmäßigen und Schwächeren in der Mehrzahl und der "höhere Typus" des<br />

Menschen stelle immer noch die Ausnahme dar. Er sei nur als Glücksfall der<br />

Geschichte vorgekommen. Gegen das Überleben der Mittelmäßigen fragt Nietzsche, ob<br />

die moralischen Werte das Leben und den Willen zur Macht steigern oder ob sie sie<br />

herabsetzen. Die Werte-Ordnung begünstigt entweder die Mittelmäßigen oder den<br />

höheren Typus. Nietzsche meint, daß die christlich-moralischen Werte seiner Zeit die<br />

Schwachen fördern, und sieht die Gegenwart nicht als Fortschritt gegenüber früheren<br />

Zeiten, sondern als eine Zeit des Niedergangs und der décadence. Nietzsche kehrt somit<br />

die optimistische, teleologische Naturauffassung des Darwinismus um, indem er<br />

behauptet, daß die "Herdenmenschen" die besten Überlebenschancen in den modernen<br />

westlichen Demokratien hätten.<br />

Nietzsche übersieht jedoch, daß Darwin nicht notwendigerweise die Stärksten,<br />

sondern die am besten angepaßten meint. Daraus erhebt sich die Frage, wer am besten<br />

angepaßt ist. Die Antwort lautet: offensichtlich die Mittelmäßigen und das Mittel dieser<br />

Anpassungsfähigkeit ist der Geist. Nietzsche wirft den Sozialdarwinisten vor, daß sie<br />

den Geist vergessen hätten, der die natürliche Rangordnung der Starken und Schwachen<br />

auf den Kopf stellt. Im folgenden Fragment entwickelt Nietzsche eine hypothetische<br />

Situation, in der die Schwachen die Oberhand über die Starken im Überlebenskampf<br />

gewinnen, indem sie den Geist als Waffe einsetzen:


24 Nietzsche<br />

Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf -- und in der That, er kommt vor --, so läuft er leider<br />

umgekehrt aus als die Schule Darwin's wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte:<br />

nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die<br />

Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die<br />

Starken Herr, -- das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch klüger... Darwin hat den Geist<br />

vergessen (-- das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist... Man muss Geist nöthig haben,<br />

um Geist zu bekommen, -- man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nöthig hat. Wer die Stärke<br />

hat, entschlägt sich des Geistes (-- 'lass fahren dahin! denkt man heute in Deutschland -- das Reich<br />

muss uns doch bleiben'...). Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die<br />

List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem<br />

gehört ein grosser Theil der sogenannten Tugend). (VI, Streifzüge 14, 120) 2<br />

Ironischerweise wirft Nietzsche in einem Zuge der Schule Darwins vor, daß sie den<br />

Geist vergessen habe, während er im nächsten Zuge selbst den Geist abwertend auf die<br />

Seite der Schwachen schlägt. Er scheint den Geist in diesem Zusammenhang als einen<br />

Anpassungsmechanismus zu verstehen, der das Überleben der Masse der Schwachen<br />

garantiert. Zu den geistigen Tarnungen der Schwachen zählt aber auch die Tugend. Für<br />

Nietzsche durchkreuzen der Geist und die Moral die natürliche Selektion, die hier mit<br />

dem Überlebenskampf identifiziert wird. Die Moral und der Geist stellen die<br />

Rangordnung der Natur auf den Kopf.<br />

Es stellt sich die Frage, in welche geistigen Tarnungen Nietzsche selbst in diesem<br />

Argument schlüpft. Die Ironie scheint zu sein, den Sozialdarwinismus genau das<br />

Gegenteil dessen sagen zu lassen, was seine Vertreter intendierten. Damit stiftet<br />

Nietzsche Verwirrung im binären Diskurs des Sozialdarwinismus und stellt die einfache<br />

Übertragung der Biologie auf die Geisteswissenschaft in Frage. Gegen die<br />

Geistlosigkeit des Sozialdarwinismus scheint sich Nietzsche selbst mit den Schwachen<br />

und dem Geist zu identifizieren, der, wie er pointiert sagt, neben der Vorsicht und<br />

Geduld auch die "List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was<br />

mimicry ist", zu der auch die "sogenannte" Tugend gehört, einschließt. Zugleich scheint<br />

Nietzsche aber zu bemängeln, daß die von Natur aus Starken und Bevorzugten, d.h. die<br />

Ausnahmen, im sozialen Überlebenskampf unterliegen.<br />

Für Nietzsche gibt es individuelle Unterschiede in der Intelligenz, Begabung und<br />

Kraft, die weder vererbbar sind, noch in der modernen demokratischen Gesellschaft<br />

anerkannt werden. Nietzsche schwebt eine Gesellschaft vor, die auf der Anerkennung<br />

dieser Rangunterschiede beruht. Die Erzeugung des höheren Typus bedeutet für<br />

Nietzsche scheinbar eine Umwertung der Werte, in der die physiologisch starken<br />

Menschen begünstigt und im Sinne einer Bereicherung und Steigerung des Lebens<br />

erzogen würden. Nur durch diese Umwertung wäre das Umschlagen der décadence in<br />

eine neue kulturelle Renaissance, den der Typus des Übermenschen verkörpert,<br />

möglich. Nach Nietzsche schließt eine solche Wertordnung das Mitleiden aus:<br />

Das Mitleiden kreuzt im Ganzen Grossen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der<br />

Selection ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist, es wehrt sich zu Gunsten der Enterbten und<br />

2 Siehe auch: "Gerade das Gegentheil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die<br />

Unnützlichkeit der höher gerathenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der<br />

untermittleren Typen." (XIII, 14[123], 303)


Darwins Evolutionstheorie 25<br />

Verurtheilten des Lebens, es giebt durch die Fülle des Missrathenen aller Art, das es im Leben<br />

festhält, dem Leben selbst einen düsteren und fragwürdigen Aspekt. (VI, 7, 173)<br />

Es erscheint paradox, daß Nietzsche sozialdarwinistische Begriffe, wie das "Gesetz der<br />

Entwicklung" oder das "Gesetz der Selection" zustimmend verwendet, wenn er gegen<br />

das Christentum und die Moral polemisiert. Das heißt aber, daß er den Darwinismus nur<br />

selektiv rezipiert und oft im diametralen Gegensatz zu seinen Vertretern interpretiert. In<br />

seiner Polemik gegen das Christentum und die Moral mißversteht Nietzsche die<br />

Selektion absichtlich als Selektion des Stärkeren und nicht als Selektion des am besten<br />

Angepaßten. Damit will er sagen, daß das Christentum und die Moral gegen das<br />

natürliche Gesetz der Entwicklung verstoßen. Er zeigt aber auch, daß die<br />

Naturwissenschaften sich für einander entgegengesetzte gesellschaftliche Zwecke<br />

mißbrauchen lassen.<br />

Es ist wichtig, den Zusammenhang zu berücksichtigen, in dem Nietzsche diese<br />

Aussage macht. Er verurteilt den Wert des Christentums und der Moral nicht aus einer<br />

ewigen, statischen Perspektive, sondern aus der Perspektive des Lebens, das für ihn in<br />

einem ständigen Wandel begriffen ist. Dieses Leben scheint ihm im gegenwärtigen<br />

Moment durch die Niedergangs-Werte der décadence bedroht zu sein. Das Mitleiden<br />

scheint ihm nicht das geeignete Heilmittel gegen die décadence. Nietzsche untersucht<br />

hier die physiologische Grundlage der christlichen Moral. Im Gegensatz zu den<br />

Christen, die ihren moralischen Grundsätzen nur ein Lippenbekenntnis spenden, sieht<br />

Nietzsche das Mitleid als tatsächliches Mit-Leiden, d.h. als eine Verschmelzung der<br />

Gesunden mit den Kranken, oder der Starken mit den Schwachen. Damit nivelliert das<br />

Christentum die "natürlichen", physiologischen Rangunterschiede. Nietzsche wendet<br />

gegen eine solche Moral ein, daß sie die Schwachen nicht stark macht, außer in einem<br />

moralischen Sinne, wohl aber, daß sie die Starken schwächt, indem sie ihren Willen zur<br />

Macht beeinträchtigt. Für Nietzsche verleiht die Moral dem Leben einen fragwürdigen<br />

Aspekt, indem sie die "Mißrathenen" und "Enterbten" den Glücksfällen und Ausnahmen<br />

vorzieht.<br />

Es ist unklar, ob Nietzsche den Begriff der Enterbung oder Degeneration in diesem<br />

Zusammenhang physiologisch, moral-psychologisch oder politisch meint, oder ob er<br />

nur den Positivismus und Fortschrittsglauben der Darwinisten, dessen geistlose<br />

Auffassungen auch von den Vertretern des Deutschen Reiches geteilt werden,<br />

herausfordern wollte. Auch wenn er den moralisch-psychologischen Aspekt hervorhebt,<br />

schwingen die anderen Bedeutungen immer mit. Implizit sagt Nietzsche, daß die<br />

"Mißratenen" von der Gesellschaft ausgeschieden werden müßten. Die fatalste Folge<br />

solcher Äußerungen war die Eugenik und der Holocaust. Diese Interpretation setzt<br />

jedoch voraus, daß man Nietzsches Perspektive verabsolutiert, einzelne Äußerungen aus<br />

dem Zusammenhang reißt und nicht der widersprüchlichen, labyrinthischen Bewegung<br />

seines Denkens folgt.<br />

Da die Mittelmäßigkeit nicht in Nietzsches Werteschema paßt, stellt er den<br />

Darwinismus in Frage, oder genauer, dessen Nützlichkeit für seine neue, anti-christliche<br />

Wertehierarchie, in der er den "großen Individuen" den höchsten Wert zuschreibt. Auf<br />

ihnen soll der eigentliche Wert des historischen Prozesses beruhen. Potentiell würden


26 Nietzsche<br />

die großen Individuen allerdings das Überleben der Gattung gefährden. Nietzsche aber<br />

stellt das große Individuum über das Überleben der Gattung. Das ist die paradoxe<br />

Konsequenz von Nietzsches Wertungsweise.<br />

Als Gegenzug zur Aufwertung des hohen Individuums scheint Nietzsche aber in<br />

seinen späteren Schriften wieder die Masse der Mittelmäßigen neu zu bewerten. Nicht<br />

die Komplexität des höheren Typus vererbt sich nach Nietzsches Auffassung, sondern<br />

das Mittelmaß der Gattung, das daher auch in der Mehrzahl ist. Die Masse der<br />

Mittelmäßigen garantiert somit das Fortleben der Gattung. Eine Gesellschaft, die nur<br />

aus komplexen oder starken Individuen bestünde, ginge offenbar zugrunde. Nietzsche<br />

scheint das einerseits zu befürworten, wenn er mit Schopenhauer feststellt, "lieber nicht<br />

sein, als sein", andererseits setzt er die Existenz des höheren Typus implizit in ein<br />

dialektisches Verhältnis zur Masse der Mittelmäßigen: Sie bewahren die<br />

Kulturleistungen der Vergangenheit und ermöglichen dadurch erst die Neuerungen des<br />

höheren Typus. Je nach seiner Perspektive wechselt der Wert, den Nietzsche den<br />

Mittelmäßigen oder dem höheren Typus beimißt. Beide scheinen für das Leben gleich<br />

notwendig zu sein. Nietzsche führt diese These in seiner Polemik gegen Darwin aus, die<br />

von einem entschiedenen "Nein" zu einem "Vielleicht doch" übergeht:<br />

Anti-Darwin. -- Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten<br />

überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehn von Dem, was heute Darwin mit seiner<br />

Schule sieht oder sehen will: die Selektion zugunsten der Stärkeren, Besser-Weggekommenen, den<br />

Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der<br />

Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der<br />

mittleren, selbst unter-mittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der<br />

Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins<br />

sich überall getäuscht hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller<br />

Veränderung wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion<br />

zugunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statt hat: die Stärksten und Glücklichsten sind<br />

schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, die<br />

Überzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt der Welt der Werte zeigt, daß in den obersten<br />

Werten, die über die Menschen heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen,<br />

die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, -- vielleicht gibt es nichts Interessanteres<br />

in der Welt, als dieses unerwünschte Schauspiel...<br />

So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen die Schwachen; die<br />

Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich-<br />

Belasteten. Will man die Realität zur Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren sind<br />

mehr wert, als die Ausnahmen; die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille zum<br />

Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben -- und das Gesamtziel ist, nun, christlich,<br />

buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: 'besser nicht sein, als sein'. (XIII, 14[123], 303)<br />

Daß Nietzsche sich hier in einen Selbstwiderspruch hineinargumentiert, ist<br />

unübersehbar, denn eben der Wille "nicht zu sein" würde ja biologisch zum Untergang<br />

der Masse führen, wenn sie tatsächlich von diesem Willen getrieben wäre. Nietzsche<br />

wendet hier seine Argumente gegen den religiösen und philosophischen Nihilismus in<br />

einem Kontext an, in dem sie sinnlos werden. Aber es geht ihm darum, unter allen<br />

Umständen zu beweisen, daß die "Angepaßten" nicht die "Besten" sind:


Darwins Evolutionstheorie 27<br />

Daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt:<br />

einstweilen stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den niederen sich<br />

entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt. Ich sehe, daß die niederen durch die<br />

Menge, durch die Klugheit, durch die List im Übergewicht sind, -- ich sehe nicht, wie eine<br />

zufällige Veränderung einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für lange Zeit: diese wäre wieder<br />

ein neues Motiv, zu erklären, warum eine zufällige Veränderung derartig stark geworden ist.<br />

Ich finde die 'Grausamkeit der Natur', von der man soviel redet, an einer anderen Stelle: sie ist<br />

grausam gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles.<br />

In summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz ihrer Glückskinder,<br />

ihrer Starken vielleicht weniger garantiert, als durch die Präponderanz der mittleren und niederen<br />

Typen... In letzeren ist die große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die<br />

rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung. (XIII, 14[123], 303)<br />

Diese Leugnung eines guten, vernünftigen Naturplans kann als pessimistische Einsicht<br />

in die tragischen, triebhaften Grundlagen der Kultur interpretiert werden, oder aber als<br />

zynische Verachtung der Massenmenschen. Das heißt, daß es immer dort, wo Nietzsche<br />

gegen den Darwinismus kämpft, auch um sozio-politische Fragen geht. Nietzsche<br />

scheint den Darwinismus als Ideologie der Demokratisierungsprozesse in Europa zu<br />

sehen. Bedrohlich daran erscheint ihm die Auflösung einer als natürlich verstandenen<br />

aristokratischen Rangordnung. Deshalb sieht er auch die demokratische Masse als<br />

schwach, während er das aristokratische Individuum als stark sieht. Nietzsches Darwin-<br />

Kritik trägt somit einen ideologisch restaurativen Zug. 3<br />

Die Kulturpessimisten des 19. Jahrhunderts kehren den sozialdarwinistischen<br />

Fortschrittsglauben einfach um, indem sie die Kultur unter dem Zeichen der<br />

Degeneration betrachten. Im Gegensatz zu den Kulturpessimisten scheint Nietzsche<br />

diesen Verfall aber als notwendig anzusehen, weil er von alten Werteordnungen befreit.<br />

Mit seiner "Ökonomie der Verschwendung" wollte Nietzsche offenbar den<br />

demokratischen Geist des 19. Jahrhunderts provozieren, trug aber gleichzeitig zur<br />

Enthemmungspolitik des deutschen Imperialismus bei. Damit ist kein direkter Einfluß<br />

von Nietzsches Philosophie auf den deutschen Imperialismus gemeint, wie Lukàcs ihn<br />

konstatiert, doch verlieh sie vielleicht gerade seinen jungen Anhängern, die später zu<br />

Führern der kolonialen Armeen oder der deutschen Industrie avancierten, eine<br />

intellektuelle Legitimität. Am Deutlichsten kommt dieser Aspekt im deutschen<br />

Faschismus zum Vorschein.<br />

Überlebenskampf ("survival of the fittest")<br />

Der Begriff "survival of the fittest" stammt von Herbert Spencer und nicht von Darwin,<br />

wie Darlington (1980: 245) feststellt. Er diente dazu, den zügellosen Wettbewerb der<br />

3 Falcke (1992: 140) betont meines Erachtens diesen Aspekt von Nietzsches Verwendung biologischer<br />

Begriffe zu stark, wenn er meint: "Nietzsches Weg von der 'Krankheit' zur 'grossen Gesundheit' führt über<br />

das Innewerden seiner sozialen Rolle und ihrer Problematik wieder hinter das Bewußtsein der<br />

ausschließlich krisenhaft erfahrenen sozialen Verfaßtheit des Lebens zurück in einen Raum der<br />

Simplifikation, in dem historische Erfahrung sistiert ist im restaurativen Klischee von überholten<br />

Herrschaftsmodellen, die als wiedergefundene Seinswahrheiten annonciert werden."


28 Nietzsche<br />

industriellen Revolution zu legitimieren, die bereits ein Jahrhundert vor Darwins<br />

Entwicklung der Evolutionstheorie einsetzte.<br />

Der Überlebenskampf ist oft als Dominanz einer höheren Art über eine niedrigere,<br />

oder eines Stärkeren über einen Schwächeren mißverstanden worden. Darwin weist<br />

darauf hin, daß der Überlebenskampf zwischen Individuen der gleichen Art am<br />

härtesten ausgetragen werde, da sie um denselben Raum kämpfen, in dem die ihnen<br />

günstigsten Bedingungen herrschen. (Darwin 1866: 124) Das bedeutet aber noch nicht,<br />

daß sie sich untereinander bekämpfen, sondern nur, daß sie durch mangelnde<br />

Anpassung an ihre Umgebung nicht die Reife erreichen, um sich fortzupflanzen. Der<br />

Überlebenskampf schließt für Darwin sowohl den Willen zum Überleben oder<br />

Selbsterhaltungstrieb als auch den Willen zur Fortpflanzung oder Fortpflanzungstrieb<br />

ein.<br />

Nietzsche kritisiert am Überlebenskampf, daß er auf dem Mangel beruhe, während<br />

die Natur durch Überfülle geprägt ist. Er argumentiert, daß der Überlebenskampf daher<br />

nur eine nebensächliche Rolle spiele, ja, die Ausnahme darstelle:<br />

Anti-Darwin. -- Was den berühmten Kampf um's Leben betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr<br />

behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesammt-Aspekt des Lebens ist<br />

nicht die Noth-Lage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde<br />

Verschwendung, -- wo gekämpft wird, kämpft man um Macht... Man soll nicht Malthus mit der<br />

Natur verwechseln. -- (VI, Streifzüge 14, 120)<br />

Zuchtwahl und Züchtung<br />

Darwin sieht in der Zuchtwahl ein mindestens ebenso wichtiges Prinzip wie in der<br />

natürlichen Auslese. Sulloway (1982: 354) weist auf Darwins weniger bekanntes Werk<br />

The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871) hin, in der die<br />

entscheidende Botschaft war, daß "ein 'geschlechtliche Zuchtwahl' genanntes Phänomen<br />

unabhängig vom Darwinschen Prinzip der natürlichen Auslese wirksam sein kann und<br />

es auch ist. Aber Darwin sagte sogar mehr als nur das -- nämlich daß das entscheidende<br />

Kriterium des biologisches Erfolges in der Fortpflanzung liegt, nicht im 'Überleben der<br />

Tüchtigsten'. Denn wenn sich die Tüchtigsten nicht fortpflanzen, sind sie, wie er nur zu<br />

gut wußte, für die Spezies im allgemeinen ohne evolutionäre Bedeutung."<br />

Auch Nietzsche spricht von der Zucht eines höheren Menschentyps. Ein Mittel zu<br />

diesem Ziel scheint die soziale Auswahl der Ehepartner zu sein, da die Menschen nach<br />

Nietzsche auf dem Gebiet der Partnerwahl bisher zu wenig wählerisch gewesen seien.<br />

Die menschliche Fortpflanzung beruhe zu oft auf zufälligen Begegnungen, sodaß sich<br />

Höheres mit "Enterbtem" mische. In einem Fragment aus dem Nachlaß von 1888 äußert<br />

Nietzsche "Zur Zukunft der Ehe", daß ein ärztliches Protokoll vor der Ehe nötig sei, in<br />

dem die Familiengeschichte enthalten sein solle. Er sieht auch Ehen auf Frist, mit<br />

Garantie für die Kinder, vor. Es sollen Vorteile für die Väter, die Knaben in die Welt<br />

setzen, dabei herausspringen! An die Mütter wird gar nicht gedacht! Die Zuchtwahl<br />

erscheint somit als rein männliches Geschäft:<br />

Zur Zukunft der Ehe:


Darwins Evolutionstheorie 29<br />

eine Steuer-Mehrbelastung bei Erbschaften usw. auch Kriegsdienst-Mehrbelastung der<br />

Junggesellen von einem bestimmten Alter an und anwachsend (innerhalb der Gemeinde)<br />

Vortheile aller Art für Väter, welche reichlich Knaben in die Welt setzen: unter Umständen<br />

eine Mehrheit von Stimmen<br />

ein ärztliches Protokoll, jeder Ehe vorangehend und von den Gemeinde-Vorständen<br />

unterzeichnet: worin mehrere bestimmte Fragen seitens der Verlobten und der Ärzte beantwortet<br />

sein müssen ('Familien-Geschichte' )--<br />

als Gegenmittel gegen die Prostitution (oder als deren Veredelung): Ehen auf Frist, legalisirt<br />

(auf Jahre, auf Monate, auf Tage), mit Garantie für die Kinder<br />

jede Ehe verantwortet und befürwortet durch eine bestimmte Anzahl Vertrauens-Männer<br />

einer Gemeinde: als Gemeinde-Angelegenheit (XIII, 16[35], 495)<br />

Es scheint, daß durch dieses Mittel die Bevorzugten als eine Art "höherer Rasse" wie<br />

Tiere gezüchtet werden sollen. Das scheint aber zu allem, was Nietzsche über die<br />

Vererbung sagt, im Widerspruch zu stehen.<br />

Dieses Fragment steht nicht vereinzelt da. Schon in seiner frühen Schrift, Über die<br />

Zukunft unserer Bildungsanstalten, entwirft Nietzsche eine Vision, derzufolge eine<br />

Bildungselite gezüchtet werden soll, obwohl er Zucht hier im Sinne von Erziehung<br />

versteht. Diese Elite soll den Rücksichten auf sozialen, wissenschaftlichen und<br />

ökonomischen Nutzen enthoben sein. Sie sind den Gelehrten in Platos idealem Staat<br />

insofern ähnlich, als sie auch über den politischen Machthabern stehen. Es geht<br />

Nietzsche aber scheinbar nicht so sehr um ihr Leben im Dienst der Wahrheit, als um die<br />

allseitige Entwicklung ihrer Persönlichkeit, d.h. ihrer intellektuellen, künstlerischen und<br />

körperlich-sinnlichen Fähigkeiten. Diese Vision erinnert an die sozialistische Utopie der<br />

allseitig gebildeten Persönlichkeit, obwohl sie bei Nietzsche nur einer privilegierten<br />

Gruppe vorbehalten ist.<br />

Was diese Überlegungen zur Zucht eines "höheren Typus" von den späteren<br />

Äußerungen unterscheidet, ist zunächst das sozialdarwinistische Vokabular der<br />

Zuchtwahl, das auch die Eugenik einschließt. Eugenik bedeutet, daß die Menschen, die<br />

den Kriterien der Zuchtwahl nicht entsprechen, d.h. die Degenerierten, von der<br />

Gesellschaft ausgeschieden werden, ein Euphemismus für Mord. Dahinter scheint aber<br />

auch eine Ungeduld im Hinblick auf die Erzeugung und Erhaltung dieses "höheren<br />

Menschentypus" zu stehen. Mit anderen Worten, soziale Selektionsmechanismen wie<br />

Schulen und Universitäten reichen nicht mehr aus; die Gesellschaft muß bereits bei der<br />

Partnerwahl eingreifen, die hier rein biologistisch der Fortpflanzung dient, um die<br />

Degeneration der Rasse zu verhindern. Diese Akzentverschiebung verrät die sozialen<br />

Ängste der Zeit, daß die europäische Kultur in einem Prozeß des Verfalls, der<br />

décadence, gefangen sei. Als Anzeichen dieses Verfalls galt der Sittenverfall, wie er<br />

sich z.B. in der Prostitution manifestierte. Jaques Barzun beschreibt diese Ängste wie<br />

folgt:<br />

In the press of Europe, the fin de siècle was greeted with cries of 'decadence,' the signs of which<br />

were read on every hand: a decreasing birth rate in France; the wretched size and health of Boer<br />

War recruits in England; increasing homosexuality in Germany and neuroses at the Salpêtrière;<br />

corruption in politics and perversion in the literature and art of every country. And the only flicker


30 Nietzsche<br />

of faith in this mass of dispirited mortals was the faith of drifting - a progress measured by pig-iron<br />

production and fated from the beginning of animal life upon earth. (1942: 112)<br />

Mit seiner Rede von der Zucht eines "höheren Typus", den er auch als "blonde Bestie"<br />

bezeichnet, scheint Nietzsche den Rassismus des Wagner-Kreises zu unterstützen.<br />

Rasch (1986: 117) macht auf Graf Gobineaus Einfluß auf den Wagner-Kreis<br />

aufmerksam. Graf Gobineau "sucht in dem 'Essai sur l'inégalité des races humaines'<br />

(1853-55) die Décadence aus einer Mischung hoher und minderwertiger Rassen<br />

herzuleiten. [...] Der dilettantische Versuch, den Verfall der Nationalkulturen aus der<br />

Vermischung der Rassen zu erklären, hat bekanntlich auf Richard Wagner und seinen<br />

Kreis gewirkt." Obwohl Nietzsche auch den Begriff der Rasse benutzt, sieht er in der<br />

Rassenvermischung keine Ursache der décadence. Er empfiehlt sie vielmehr als Mittel<br />

der Regeneration der dekadenten, europäischen Kultur, was besonders provozierend auf<br />

den Wagner-Kreis gewirkt haben muß. Auch den Antisemitismus und Nationalismus,<br />

wie ihn z.B. seine Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche und ihr Mann vertraten,<br />

lehnte Nietzsche entschieden ab. Hier stimmt Nietzsche mit der darwinistischen These<br />

überein, daß die Kreuzung verschiedener Individuen einer Art einen positiven Effekt<br />

auf die Nachkommen habe. (Darwin 1866: 104)<br />

Mit Rasse meint Nietzsche scheinbar die Auswirkungen der physiologischen<br />

Bedingungen, z.B. Diät, Klima und Geographie, die einen Menschentyp fördern. In<br />

seiner Polemik gegen die gegenwärtigen Deutschen führt Nietzsche als schlagende<br />

Beweise für ihre physiologische "Verkommenheit" ihre ungenießbare Diät<br />

(Mehlspeisen), das nasse, kalte Klima sowie ihre ungesunden Lebensgewohnheiten<br />

(Stubenhocker) an. Es versteht sich von selbst, daß auf diesem Boden weder die "blonde<br />

Bestie" mit ihrer aggressiven Körperlichkeit noch die vornehmen, männlichen<br />

Tugenden, die Nietzsche so lobt, gedeihen können.<br />

Im Gegensatz zu der von ihm gepriesenen "blonden Bestie" definiert Nietzsche aber<br />

dann den höheren Typus auch durch eine höhere Komplexität als die des<br />

Durchschnittsmenschen. Von Natur aus und der Gesellschaft zu gefährdet, um Einfluß<br />

auf das Gattungsniveau zu üben, ist er die Ausnahme oder der Glücksfall der Evolution.<br />

Die Erblichkeit ist Nietzsches Meinung nach zu kapriziös, um in einem langsamen<br />

Prozeß auf den höheren Typus hinzuarbeiten. Die Natur kann diese Komplexität nicht<br />

reproduzieren, da in ihr höchstens eine einmalige, zufällige Anordnung der Variablen<br />

zustandekommt, die sich künstlich nicht wiederholen läßt.<br />

Nietzsche zufolge muß der Natur durch die Zucht dieses höheren Typus<br />

nachgeholfen werden, da die Natur seiner Meinung nachzu unwählerisch vorgehe:<br />

Nicht was die Menschen ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem, das ich<br />

hiermit stelle (- der Mensch ist ein Ende -): sondern welchen Typus Mensch man züchten soll,<br />

wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren.<br />

Dieser höherwertigere Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine<br />

Ausnahme, niemals als gewollt. [...] Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren<br />

oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der 'Fortschritt' ist<br />

bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee. Der Europäer von Heute bleibt, in seinem


Darwins Evolutionstheorie 31<br />

Werthe tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit<br />

irgend welcher Nothwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung. (VI, 4, 171)<br />

Diese Kritik ist hauptsächlich gegen die Sozialdarwinisten gerichtet, die die<br />

Fortentwicklung als einen notwendigen Fortschritt sahen. Sie verstanden die gegebene<br />

Welt als die beste aller Welten. Nach Nietzsche gibt es aber keinen graduellen<br />

Unterschied zwischen dem mittelmäßigen Menschen und dem höheren Typus, sondern<br />

nur einen absoluten Rangunterschied:<br />

Es gibt keine Übergangsformen.. [...]<br />

Man behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder Typus hat<br />

seine Grenze: über diese hinaus gibt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit.<br />

[...]<br />

Meine Gesamtansicht. -- Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere<br />

Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht<br />

gehoben. [...]<br />

Dritter Satz: die Domestikation (die 'Kultur') des Menschen geht nicht tief... Wo sie tief geht, ist<br />

sie sofort Degenereszenz (Typus: der Christ). Der 'wilde' Mensch (oder, moralisch ausgedrückt:<br />

der böse Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur -- und, in gewissem Sinne, seine Wiederherstellung,<br />

seine Heilung von der 'Kultur'... (XIII, 14[133], 316)<br />

Der Massenmensch der modernen Demokratie und der höhere Typus stellen für<br />

Nietzsche zwei verschiedene Arten dar. Hier hält er an einem vordarwinistischen<br />

Klassifikationsmodell der Natur fest. Das bedeutet aber auch, daß er den Übermenschen<br />

nicht als Nachfolger des Menschen in einer evolutionären Reihe sieht, wie aus dem<br />

folgenden Fragment hervorgeht:<br />

Was für ein Typus die Menschheit einmal ablösen wird? Aber das ist bloße Darwinisten-Ideologie.<br />

Als ob je eine Gattung abgelöst wurde! Was mich angeht, das ist das Problem der Rangordnung<br />

innerhalb der Gattung Mensch, an deren Vorwärtskommen im Ganzen und Großen ich nicht<br />

glaube, das Problem der Rangordnung zwischen menschlichen Typen, die immer dagewesen<br />

[sind]und immer dasein werden.<br />

Ich unterscheide einen Typus des aufsteigenden Lebens und einen anderen des Verfalls, der<br />

Zersetzung, der Schwäche.<br />

Sollte man glauben, daß die Rangfrage zwischen beiden Typen überhaupt noch zu stellen ist? ...<br />

Dieser stärkere Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, -<br />

- niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten bekämpft worden, verhindert worden, -- er<br />

hatt immer die große Zahl, den Instinkt jeder Art Mittelmaß, mehr noch er hatte die List, die<br />

Feinheit, den Geist der Schwachen gegen sich und -- folglich -- die 'Tugend' ... er war beinahe<br />

bisher das Furchtbare: und aus der Furcht heraus hat man den umgekehrten Typus gewollt,<br />

gezüchtet, erreicht, das Hausthier, das Heerdenthier, das kranke Tier, den Christen ... (XIII,<br />

15[120], 481)<br />

Darwin meint dagegen, daß der Unterschied zwischen der individuellen Vielfalt, der<br />

Spezies und dem Genus ein gradueller sei. (Darwin 1888: 125) Darwin verweist darauf,<br />

daß die natürliche Auslese häufig auf scheinbar unwichtige Variationen einwirke, sodaß<br />

der Vorteil für den Organismus nur ein minimaler ist:


32 Nietzsche<br />

Although natural selection can act only through and for the good of each being, yet characters and<br />

structures, which we are apt to consider as of very trifling importance, may thus be acted on.<br />

(Darwin 1866: 96)<br />

Das erklärt, weshalb neue Arten nicht plötzlich entstehen können:<br />

Natural selection can act only by the preservation and accumulation of small inherited<br />

modifications, each profitable to the preserved being; [...] banish the belief of the continued<br />

creation of new organic beings, or of any great and sudden modifications in their structure.<br />

(Darwin 1866: 108)<br />

Ein günstiger Strukturwandel setzt sich nur dann durch, wenn ein Organismus dadurch<br />

eine größere Überlebens- und Fortpflanzungschance gewinnt. (Darwin 1866: 103)<br />

Angesichts der Zweifel, die Nietzsche sowohl an der Sozialisierung des Menschen<br />

als auch an der Erblichkeit äußert, stellt sich die Frage, ob die Zucht des höheren Typus<br />

möglich oder gar wünschenswert wäre. Die Komplexität des "höheren Menschen" läßt<br />

ihn nämlich in der Gesellschaft, die das stabile Mittelmaß begünstigt, als<br />

verschwenderisch und gefährlich erscheinen. Diese Nähe des Genies zum<br />

Degenerierten, die Nietzsche damit berührt, aber nicht weiter verfolgt, stellt seine<br />

gesamte Wertehierarchie potentiell in Frage. An den Rändern seiner Darwin-Kritik<br />

beginnen die Begriffe und Unterscheidungen zu verschwimmen. Das suggeriert aber,<br />

daß er die Oppositionen des sozialdarwinistischen Diskurses (stark - schwach, gesund -<br />

krank) auflöst, die noch als Reste seinem Diskurs anhaften. Nietzsche meint, daß der<br />

höhere Typus durch seine Komplexität fast schon zum Untergang bestimmt sei:<br />

Zweiter Satz: Der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgend einem<br />

andern Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum<br />

Höheren... Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander.<br />

Die reichsten und komplexesten Formen -- denn mehr besagt das Wort 'höherer Typus' nicht --<br />

gehen leichter zu Grunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit fest.<br />

Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben eine komprimittierende<br />

Fruchtbarkeit für sich. -- Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die<br />

höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zu Grunde.<br />

Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon<br />

décadents... Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Cäsar ist sui generis: dergleichen<br />

vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein 'Glücksfall'...<br />

Das liegt an keinem besonderen Verhängnis und 'bösen Willen' der Natur, sondern einfach am<br />

Begriff 'höherer Typus': der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Komplexität, -- eine<br />

grössere Summe koordinierter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich<br />

wahrscheinlicher.<br />

Das 'Genie' ist die sublimste Maschine, die es gibt, -- folglich die zerbrechlichste. (XIII, 14[133],<br />

316f.)<br />

Damit scheint Nietzsche Darwins These, daß die Mittelmäßigen als die am besten<br />

Angepaßten die besten Überlebens- und Fortplanzungschancen hätten, doch implizit<br />

Recht zu geben.


Darwins Evolutionstheorie 33<br />

Literatur<br />

Barzun, Jaques. Darwin, Marx, Wagner. Critique of a Heritage. London: Secker and Warburg<br />

1942.<br />

Darlington P.J. Jr. Evolution for Naturalists: The Simple Principles and Complex Reality. New<br />

York: John Wiley, 1980.<br />

Darwin, Charles. The Origin of the Species by means of natural selection. London: John Murray<br />

1866.<br />

Falcke, Eberhard. Die Krankheit zum Leben. Krankheit als Deutungsmuster individueller und<br />

sozialer Krisenerfahrung bei Nietzsche und Thomas Mann. Frankfurt a.M.: Peter Lang 1992.<br />

Nietzsche, Friedrich. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino<br />

Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, 1988. Im Text wird der<br />

Band in römischen Zahlen angegeben, gefolgt von der Nummer des Aphorismus oder<br />

Fragments und der Seitenzahl.<br />

Pütz, Peter. Friedrich Nietzsche. Stuttgart: Metzler, 1967.<br />

Rasch, Wolfdietrich. Die literarische décadence um 1900. München: C. H. Beck, 1986.<br />

Ritvo, Lucille B. Darwin's Influence on Freud. A Tale of Two Sciences. New Haven and<br />

London: Yale University Press, 1990<br />

Sulloway, Frank J. Freud. Biologe der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende. (Aus<br />

dem Englischen übersetzt von) Hans-Horst Henschen. Hohenheim Verlag: Köln-Lövenich,<br />

1982.<br />

Vattimo, Gianni. Nietzsche. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1992


"Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct für eine<br />

persönliche Diät ist?"<br />

Krankheit und Gesundheit im Denken Nietzsches<br />

Nietzsche verwendet die Dichotomie "gesund-krank", um so unterschiedliche kulturelle<br />

Phänomene wie die sokratische Philosophie, das Christentum und den modernen<br />

demokratischen Staat des 19. Jahrhunderts anzugreifen. Der problematische<br />

sozialdarwinistische Aspekt dieser Kulturkritik ist zu Recht verurteilt worden, doch<br />

scheint mir dabei ein zumindest ebenso wichtiger Aspekt übersehen worden zu sein, der<br />

vor allem von der jüngeren französischen und amerikanischen Nietzsche-Rezeption<br />

erkannt wurde, nämlich daß Nietzsche auf Grund dieser Opposition die<br />

Präsuppositionen des metaphyischen Diskurses radikal in Frage stellt. Mir geht es in<br />

diesem Aufsatz darum, Nietzsches fluktuierender Verwendung des Begriffspaars<br />

"Gesundheit-Krankheit" nachzugehen und zu untersuchen, inwiefern er damit den<br />

metaphysischen Diskurs unterwandert.<br />

Wenn Nietzsche die Gesellschaft seiner Zeit als krank analysiert, setzt das die<br />

Gesundheit als Wertmaßstab voraus. Heißt das, daß es einen ursprünglichen Zustand der<br />

Gesundheit und Fülle gibt, zu dem der Mensch zurückkehren kann? Obwohl Nietzsche<br />

die Gesundheit als einen positiven Pol der Präsenz, des Lebens und Wachstums zu<br />

setzen scheint und die Krankheit als negativen Pol des Mangels, des Todes und der<br />

Verkümmerung, hütet er sich davor, diese Pole ein für alle mal mit einem Inhalt zu<br />

füllen. So kann z.B. die Krankheit und der Tod ein positives Vorzeichen erhalten, wenn<br />

sie zur Vertiefung des Geistes und Lebens beitragen, und das Leben und Wachstum<br />

können in den negativen Pol umschlagen, wenn sie zur Verflachung und Verarmung des<br />

Lebens führen. Das impliziert, daß das Gesunde nicht einfach als Norm konstatiert wird,<br />

während alles Kranke als Abweichung abqualifiziert wird, wie das in der konservativen<br />

Kulturkritik um die Jahrhundertwende der Fall war. Eine rechtsradikale klassizistische<br />

Kulturauffassung (Spengler, Bäumler usw.) meinte, Nietzsche so für sich reklamieren<br />

zu können, während eine marxistische klassizistische Ästhetik (vor allem Lukács) ihn<br />

daraufhin in das feindliche Lager der dekadenten Moderne relegierte.1 Thomas Anz<br />

argumentiert, daß beide Bewertungen in einem Diskurs der binären Oppositionen<br />

gefangen und somit austauschbar sind. Anz scheint Nietzsche aber selbst in diesen<br />

Diskurs einzubetten, wenn er eine Bemerkung in der Nachschrift zum Fall Wagner,<br />

"Man widerlegt keine Krankheit", so kommentiert:<br />

Krankheiten ist mit vernünftigen Argumenten nicht beizukommen, sie sind ihrer nicht würdig. Das<br />

Krankheitsetikett schließt den, der sich normabweichend verhält, aus dem 'vernünftigen' Diskurs<br />

aus; es ersetzt die Argumente, mit denen die Abwertung andersartigen Verhaltens zu begründen<br />

wäre. (Anz 1986: 241)<br />

Erst am Ende seines Essays gesteht Anz Nietzsche zu, die binäre Opposition zwischen<br />

"gesund" und "krank" ins Wanken gebracht zu haben:


36 Nietzsche<br />

Nietzsches vitalistische Dekadenzkritik repräsentiert eine Form spezifisch moderner Selbstkritik,<br />

eines Zweifels und einer Verzweiflung an sich selbst, die ihn mit anderen bedeutenden<br />

Repräsentanten der Moderne verbindet. [...], sie alle eint das intensive Interesse am<br />

Pathologischen, das sie in ihren Werken mit ähnlich ambivalenten Einstellungen zum Ausdruck<br />

bringen wie Nietzsche. (Anz 1986: 250)<br />

Es ist jedoch fraglich, ob sich Nietzsches Position adäquat mit "Zweifel und einer<br />

Verzweiflung an sich selbst" umschreiben läßt2, wenn das als Ausklammerung des<br />

kranken Philosophen aus dem Diskurs der Gesunden verstanden werden würde. Das<br />

würde den Diskurs unangetastet lassen, in dem diese binären Oppositionen fungieren.<br />

Durch Nietzsches ambivalente Einstellung zum Pathologischen implodiert jedoch der<br />

Diskurs, in dem das Gesunde und Normale scharf von dem Kranken und Abnormen<br />

getrennt ist.<br />

Nietzsche zufolge beruht die Sprache auf der analogischen Denkweise. Das heißt,<br />

daß der Mensch Eigenschaften, die er zu besitzen glaubt (z.B. den Atem, das Leben<br />

usw.), auf andere Dinge überträgt. Danach verwischt er die unlogische Übertragung und<br />

ist überzeugt, daß die anderen Dinge diese Eigenschaften tatsächlich besäßen. Nietzsche<br />

führt das anhand des Begriffs des "Seins" aus:<br />

Den Begriff des Seins! Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der<br />

Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur 'athmen': wenn es der Mensch<br />

von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Überzeugung, daß er selbst athmet und<br />

lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und begreift<br />

ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie. Nun verwischt sich bald die originale<br />

Bedeutung des Wortes: es bleibt aber immer so viel übrig, daß der Mensch sich das Dasein andrer<br />

Dinge nach Analogie des eignen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine<br />

unlogische Übertragung, vorstellt. (PTZG 11)<br />

Nietzsches Beschreibung der modernen Gesellschaft als "krank" liegt gleichfalls eine<br />

Analogie zugrunde, nämlich zwischen dem menschlichen und dem gesellschaftlichen<br />

Körper. Er überträgt biologische Eigenschaften auf die Gesellschaft, wie z.B. Geburt<br />

und Tod, die Möglichkeiten des Wachstums, der Entwicklung, des gesunden Willens<br />

zur Macht, aber auch des Rückgangs, der Fehlentwicklung und der Selbstzerstörung,<br />

des dekadenten Willens zur Macht, kurz das Kräftefeld der Triebe. Damit scheint er<br />

einen Strang innerhalb der Philosophiegeschichte des Abendlandes wiederaufzugreifen,<br />

der von Aristoteles' Konzept des Philosophen als Arzt über Goethes Gegenüberstellung<br />

des Romantischen als dem Kranken und des Klassischen als dem Gesunden bis zu<br />

Nietzsches Zeitgenossen, Pierre Bourgets Theorie der d‚cadence führt.3 Problematisch<br />

an dieser Analogie scheint zum Einen ein sozialdarwinistischer Begriff des<br />

geschichtlichen Fortschritts zu sein, zum Anderen eine anthropomorphe Konzeption des<br />

Seins, die Nietzsche als Kennzeichen der metaphysischen Tradition kritisiert.<br />

Nietzsche scheint den Empirismus hier als Fortschritt gegenüber dem analogischen<br />

Denken zu setzen, da er eine wissenschaftliche Methode begründet, Fakten zu erheben<br />

und logische Beweise zu führen. Er weiß jedoch, daß der Blick des Empirikers selbst<br />

durch die Sprache gefiltert ist, und daß er oder sie durch die wissenschaftlichen Begriffe<br />

unreflektierte Vorstellungen und Wertungen auf den Gegenstand der Untersuchung


Krankheit und Gesundheit im Denken Nietzsches 37<br />

überträgt. Obwohl Nietzsche eine wertfreie Wissenschaft für unmöglich hält, scheint er<br />

zwischen einem empiristischen und einem analogischen, metaphorischen Denken zu<br />

schwanken. Er versucht, in einem analogischen Verfahren die Konsequenzen aus den<br />

empirischen Wissenschaften für die Philosophie zu ziehen, doch zeigt er gleichzeitig die<br />

Grenzen des empiristischen Diskurses auf, indem er ihre unreflektierten<br />

Präsuppositionen entlarvt. Das setzt wiederum eine Distanz voraus, die ihm die<br />

analogische und metaphorische Denkweise gewährt.<br />

So kann Nietzsche die Grundbegriffe des medizinischen Diskurses des 19.<br />

Jahrhunderts in Frage stellen, die auf einer Definition der Krankheit als Abweichung<br />

von einer statischen Norm beruhen. Dagegen wendet Nietzsche ein, "alle Begriffe, in<br />

denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition;<br />

definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat". (GM 2, 13) Der Versuch, die<br />

Begriffe der Krankheit und der Gesundheit ein für alle Mal zu definieren, löst sie aus<br />

ihrem Entstehungsprozeß heraus, und reduziert sie auf einen kohärenten Sinn. Nietzsche<br />

begreift den Krankheitszustand seiner Zeit aber nicht als etwas Gegebenes, sondern als<br />

etwas Gewordenes. Damit verliert die Krankheit ihr eindeutiges negatives Vorzeichen,<br />

denn im Vergleich zu einem vergangenen Zustand der Gesundheit und Fülle erscheint<br />

sie als Verfall, während sie im Hinblick auf eine zukünftige höhere Gesundheit als<br />

notwendiges Intermezzo erscheint. Nietzsche versucht, das Wechselspiel zwischen<br />

Gesundheit und Krankheit anhand der Genealogie aufzuzeigen. Unter Genealogie<br />

versteht er die physio- und psychologischen Bedingungen eines bestimmten<br />

wertesetzenden Blicks. Das heißt, er fragt nicht nur nach den Ursachen der Wertungen,<br />

an denen seines Erachtens die moderne europäische Kultur erkrankt sei, sondern auch<br />

nach dem Willen, der sich in diesen Werten manifestiert.4 Durch die genealogische<br />

Methode löst Nietzsche die Begriffe der Krankheit und der Gesundheit in eine Vielzahl<br />

von "Sinnen" auf, die jeweils von der Perspektive der Genealogen abhängen. In den<br />

frühen Stadien der Genealogie der moralischen Urteile lasse sich die Umwertung von<br />

Fall zu Fall noch leichter nachvollziehen und somit der Wille, der sie trägt, deutlicher<br />

erkennen:<br />

In einem früheren Stadium erscheint dagegen jene Synthesis von 'Sinnen' noch<br />

löslicher, auch noch verschiebbarer; man kann noch wahrnehmen, wie für jeden<br />

einzelnen Fall die Elemente der Synthesis ihre Werthigkeit verändern und sich<br />

demgemäß umordnen, so dass bald dies, bald jenes Element auf Kosten der übrigen<br />

hervortritt und dominiert, ja unter Umständen ein Element [...] den ganzen Rest von<br />

Elementen aufzuheben scheint. (GM 2, 13)<br />

Nun scheint Nietzsche der Geschichte des Abendlandes jedoch gegen seine erklärte<br />

Absicht einen solchen reduktionistischen Sinn überzustülpen, indem er sie als einen<br />

Prozeß der Schwächung und Degeneration des Willens zur Macht charakterisiert. Dieser<br />

Verfall sei durch die Umwertungen des platonischen Idealismus, der sokratischen<br />

Dialektik und des Christentums mit seiner Lehre vom Mitleid und der Nächstenliebe<br />

erfolgt. Zusammen hätten sie zur Herausbildung des asketischen Ideals der<br />

metaphysischen Tradition beigetragen, dessen Höhepunkt und Abschluß der Nihilismus<br />

des 19. Jahrhunderts sei. In der Entstehung des asketischen Ideals sieht Nietzsche den<br />

Ausdruck des Ressentiment der Ohnmächtigen, die an dem Leben selbst litten und sich


38 Nietzsche<br />

zum Trost eine ideale Welt erfanden. Daß er diesen Prozeß nicht einfach negativ<br />

bewertet, wird bei einer Untersuchung seiner Genealogie des asketischen Ideals<br />

deutlich. Er schreibt: "Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne<br />

den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist." (GM 1, 7)5 Jeder<br />

Moment in Nietzsches Genealogie wird von einer solchen komplexen und<br />

widersprüchlichen Umwertung begleitet.<br />

Inwiefern ist das asketische Ideal ein Ausdruck der Schwäche? Zunächst sieht<br />

Nietzsche das Bewußtsein und die Intelligenz überhaupt als eine relativ späte<br />

physiologische Entwicklung und somit als ein unfertiges Organ an, das die besten<br />

(Über-)Lebensformen noch sucht. Das geschieht in einem äußerst kostspieligen Prozeß,<br />

den Nietzsche als Ökonomie des Überflusses bezeichnet. Jedesmal, wenn die Menschen<br />

sich ihre Werturteile bewußt machen, gehen sie ihrer Instinktsicherheit verlustig. Darin<br />

sieht Nietzsche schon ein Zeichen der d‚cadence.6 In diesem Prozeß erscheint die<br />

Entwicklung des asketischen Ideals als ein Irrtum, der überwunden werden muß. Das<br />

asketische Ideal stellt den Versuch der Philosophen dar, ein statisches und ewiges<br />

Konzept des Seins und der Wahrheit aus dem Prozeß des Werdens herauszudestillieren.<br />

Dieses Bedürfnis nach Sicherheit sei ein Ausdruck der Schwachen, die nur in der Masse<br />

oder Herde überleben könnten. Sie könnten sich nicht vorstellen, über andere zu<br />

herrschen, denn das bedeutete, daß sie eigene Werte aufstellen und durchsetzten. Das<br />

hieße aber, daß sie den Rangunterschied zwischen sich und den Herren zunächst<br />

bejahen müßten, um ihn dann umkehren zu können. Dem entspräche eine revolutionäre<br />

Haltung. Da die Sklaven im Christentum die Rache gegen ihre irdischen Herren aber<br />

nur imaginär vollzögen, kennzeichnet Nietzsche ihre Haltung als reaktiv. Er beschreibt<br />

diese Reaktion wie folgt:<br />

Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird<br />

und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der<br />

That, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme<br />

Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral<br />

von vornherein Nein zu einem 'Ausserhalb', zu einem 'Anders', zu einem 'Nicht-Selbst': und dies<br />

Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks - diese<br />

nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber - gehört eben zum Ressentiment:<br />

die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehen, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie<br />

bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, - ihre Aktion ist von<br />

Grunde aus Reaktion. (GM 1, 10)<br />

Um sich an der Macht der irdischen Herren zu rächen, schaffe sich der reaktive Typus<br />

des Sklaven eine jenseitige Welt der ewigen Werte und Ideale. An seiner realen<br />

Ohnmacht ändere er damit scheinbar nichts. Dennoch manifestiere sich in der<br />

Verneinung der Herren-Moral zunächst eine rebellische und subversive Haltung, ein<br />

Wille zur Macht auf Seiten des Sklaven. 7<br />

Dieser Wille zur Macht führt zu einer Umwertung aller Werte. Von nun an gilt, daß<br />

die Wahrheit höher als der Schein, das Bestimmte höher als das Unbestimmte und das<br />

desinteressierte Schauen höher als das interessegeleitete Handeln geschätzt werden.<br />

Dennoch verschwindet das Interesse nicht, das diese Wertschätzungen der Philosophen


Krankheit und Gesundheit im Denken Nietzsches 39<br />

leitet; es wird höchstens durch einen Schleier der geglaubten Gründe und Ziele verhüllt.<br />

Nietzsche formuliert das so:<br />

[D]as meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in<br />

bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit<br />

der Bewegung stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur<br />

Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. (JGB 1, 17)<br />

Für Nietzsche aber ist die Art von Leben, die das asketische Ideal verkörpert,<br />

fragwürdig und "krank" geworden.<br />

Nietzsche behauptet, daß die Geistlichen mit Hilfe des asketischen Ideals den Willen<br />

zur Macht der Herrschenden untergraben hätten, indem sie aktiv Partei für die Armen<br />

und Leidenden ergriffen. Indem sie das Ressentiment der Sklaven gegen alles<br />

Herrschende und Gesunde schürten und ausnutzten, hätten sie zur Verschlechterung der<br />

europäischen "Rasse" beigetragen. Nietzsche zufolge ist es der Kirche gelungen, das<br />

Kranke und Reaktive zum höchsten Wert zu erheben. Mit der folgenden rhetorischen<br />

Frage will er wohl die christlichen Zeitgenossen provozieren, die sich als Höhepunkt<br />

von Gottes Schöpfung sehen:<br />

[W]as mußten sie [die Geistlichen] ausserdem thun, um mit gutem Gewissen dergestalt<br />

grundsätzlich an der Erhaltung alles Kranken und Leidenden, das heisst in That und Wahrheit an<br />

der Verschlechterung der europäischen Rasse zu arbeiten? Alle Werthschätzungen auf den Kopf<br />

stellen - das mussten sie! Und die Starken zerbrechen, die grossen Hoffnungen ankränkeln, das<br />

Glück in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, Erobernde,<br />

Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und wohlgerathensten Typus 'Mensch' zu<br />

eigen sind, in Unsicherheit, Gewissens-Noth, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum<br />

Irdischen und das Irdische verkehren - das stellte sich die Kirche zur Aufgabe und musste es sich<br />

stellen, bis für ihre Schätzung endlich 'Entweltlichung', 'Entsinnlichung' und 'höherer Mensch' in<br />

Ein Gefühl zusammenschmolzen. (JGB 3, 62)<br />

Durch die Wertungen der europäischen Geistesgeschichte der letzten 18 Jahrhunderte<br />

entstand für Nietzsche eine "sublime Missgeburt", "eine verkleinerte, fast lächerliche<br />

Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges, [...] der<br />

heutige Europäer". (JGB 3, 62)<br />

Nietzsche wertet das Leiden durch die Krankheit jedoch nicht einfach negativ, wie<br />

aus den hier angeführten Zitaten leicht abzulesen wäre, sondern lobt auch die "Zucht"<br />

durch das Leiden, das den Übermenschen als den Überwinder der Mittelmäßigkeit erst<br />

ermöglicht. Die geistigen Raffinessen und Subtilitäten, die das Leben erst "verfeinern",<br />

sind dem Menschen erst durch das Leiden anerzogen worden, wie Nietzsche weiß:<br />

Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens - wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle<br />

Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im<br />

Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Augenblick des grossen<br />

Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten,<br />

Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List,<br />

Grösse geschenkt worden ist: - ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen<br />

Leidens geschenkt worden? (JGB 7, 225)


40 Nietzsche<br />

Die Krankheit entpuppt sich als eine wertvolle Erfahrung, weil sie die Menschen<br />

lehrt, über ihre Schwächen Herr zu werden. Das impliziert jedoch, daß sie über<br />

genügend Kräfte verfügen, um das Leiden zu überwinden. Erst so kann die Krankheit<br />

Kräfte im Individuum und der Gesellschaft freisetzen, die das Leben bereichern. 8<br />

Für Nietzsche handelt es sich nicht bloß um eine individuelle, sondern um eine<br />

gesellschaftliche Krankheit, oder wie er sich manchmal ausdrückt, eine Krankheit der<br />

"Rasse", von der die Individuen einer sozialen Klasse angegriffen sind. Genauer gesagt,<br />

geht es um die Werte, die die Gesellschaft zumindest seit Sokrates in verschiedener<br />

Form bestimmen, die Nietzsche als Krankheitssymptome und -verursacher<br />

diagnostiziert. Es ist nicht immer deutlich, ob er die Wertungen der Philosophen,<br />

Künstler und Geistlichen, die die gesellschaftlichen Wertesysteme prägten, als<br />

Anzeichen eines biologischen Zustandes der Rasse "Mensch" sieht, d.h. ob sie als<br />

Wirkungen zu verstehen sind, oder ob sie die Ursachen der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung darstellen. Diese Ambivalenz ist seiner genealogischen Methode aber<br />

selbst eingeschrieben. Sie ermöglicht es ihm, konträre Hypothesen zu untersuchen, ohne<br />

sich für eine "allgemeingültige" zu entscheiden. Er entwickelt sie eher von Fall zu Fall.<br />

Dabei läßt er sich höchstens von einigen Fragen leiten, wie er am Beispiel seiner<br />

Genealogie der Moral ausführt:<br />

[U]nter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurteile gut und böse? und<br />

welchen Werth haben sie selbst? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen?<br />

Sind sie ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt,<br />

verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth, seine Zuversicht, seine<br />

Zukunft? - Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unterschied Zeiten,<br />

Völker, Ranggrade der Individuen, ich spezialisierte mein Problem, aus den Antworten wurden<br />

neue Fragen, Forschungen, Vermuthungen, Wahrscheinlichkeiten. (GM i,3)<br />

Nietzsche unterscheidet zwischen den Bedingungen der moralischen Urteile und ihrem<br />

eigenen Wert. Um den Wert der Werturteile zu ermessen, fragt er, ob sie zur Gesundheit<br />

oder Krankheit, zum kulturellen Aufstieg oder Abstieg, zur Lebensbereicherung oder -<br />

verarmung beigetragen hätten. Er versucht, das anhand einer psychologischen<br />

Untersuchung ihrer Urheber (zu denen er die Priester, Philosophen und Künstler zählt)<br />

festzustellen. Er betrachtet die wertesetzenden Individuen somit nicht als<br />

Ausnahmefälle der Geschichte, sondern als Modellfälle für die größeren sozialen und<br />

historischen Entwicklungen: So berücksichtigt er z.B. historische, nationale und soziale<br />

Differenzen bei seiner psycho-genealogischen Analyse ihrer Wertungen.<br />

Aus Nietzsches Texten läßt sich nicht ohne weiteres ablesen, ob er glaubt, daß das<br />

Individuum für seine Krankheit und implizit für ihre Überwindung verantwortlich ist.<br />

Das würde voraussetzen, daß das Individuum eine Wahl hätte, stark oder schwach zu<br />

sein. Wenn Nietzsche den christlichen Moralisten vorwirft, daß sie die Schwäche höher<br />

bewerteten als die Stärke, weil die Schwachen keinen anderen beherrschten, scheint er<br />

sie für die Konsequenzen dieser Wahl verantwortlich zu machen. Hätten sie sich jedoch<br />

von ihren physiologischen Bedingungen her anders entscheiden können? Solche Fragen<br />

sind aber für Nietzsche von vornherein falsch gestellt. Die Frage der Schuld ist eng mit<br />

dem Komplex von Strafe, schlechtem Gewissen und Moral verknüpft, den Nietzsche


Krankheit und Gesundheit im Denken Nietzsches 41<br />

aufzudröseln versucht. Er entlarvt das Konzept eines wollenden Subjekts, das sich darin<br />

äußert, als einen Irrtum der Vernunft und eine Verführung der Sprache. Anstelle des<br />

Subjekts verwendet er den Begriff der Kraft, den er so definiert:<br />

Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken - vielmehr, es ist gar nichts<br />

anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache<br />

(und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken bedingt durch ein<br />

Wirkendes, durch ein 'Subjekt' versteht und missversteht, kann es anders erscheinen. (GM 1, 13)<br />

Für Nietzsche gibt es keinen Trieb oder Willen, der etwas bewirkt, unabhängig vom<br />

Treiben und Wollen selbst. Daraus folgt, daß auch der Begriff der Handlung, der ja<br />

immer ein Subjekt voraussetzt, sinnlos ist. Krankwerden oder Gesundwerden ist keine<br />

Handlung, die von einem Subjekt gewollt wird, sondern etwas, was mit dem<br />

Individuum geschieht. Krankheit entsteht, wenn der Regelmechanismus<br />

zusammenbricht, der die Gesundheit gewährleistet. Die Überwindung der Krankheit<br />

geht vielmehr von dem Willen zur Macht aus, den Nietzsche zu den Trieben statt zum<br />

Bewußtsein zählt, und ist somit nicht vom Individuum beeinflußbar, ebensowenig wie<br />

es von einem gesellschaftlichen System veränderbar ist. Es kann die lebenserhaltenden<br />

Triebe höchstens durch die Werte negieren oder blockieren, die sein Denken und<br />

Handeln bestimmen. Die Genesung ist eine Frage der Entwicklung und der Stärkung<br />

des Willens zur Macht.<br />

Nietzsches Integration des Kranken in den Diskurs des Gesunden und Normalen, die<br />

den Prozeßcharakter der Gesundheit hervorhebt, produziert ein neues genealogisches<br />

Geschichtsmodell. Wenn Gesundheit die Überwindung der Krankheit bedeutet,9<br />

erscheint die Geschichte als eine ständige Auseinandersetzung zwischen dem gesunden<br />

und kranken Willen zur Macht, um immer höhere und komplexere Formen der<br />

Gesundheit zu erzielen, die aber wiederum zur Norm erstarren und somit degenerieren<br />

können, falls sie nicht auf neue Reize reagieren. Wie weiß ein Zeitalter aber, daß es<br />

erkrankt ist? Nach Nietzsche ist es die Aufgabe der außergewöhnlichen Individuen, die<br />

Krankheitssymptome ihrer Zeit zu erkennen und zu kritisieren. Die Kritik der<br />

herrschenden Werte ist die Voraussetzung für die Umwertung der bestehenden Werte,<br />

die die Überwindung der Krankheit ermöglicht. Durch die Krankheit und den Tod wird<br />

der Wille zur Macht erst entwickelt und gestärkt, der den Fortschritt antreibt. Nietzsche<br />

argumentiert:<br />

[A]uch das theilweise Unnützlichwerden, das Verkümmern und Entarten, das Verlustiggehn von<br />

Sinn und Zweckmäßigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus:<br />

als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu grösserer Macht erscheint und immer auf<br />

Unkosten zahlreicher kleiner Mächte durchgesetzt wird. Die Grösse eines 'Fortschritts' bemisst<br />

sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste; die Menschheit als<br />

Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert ... das wäre ein<br />

Fortschritt ... (GM 2, 12)<br />

Nietzsche scheint hiermit den Tod anderer im Dienste einer herrschenden Elite zu<br />

rechtfertigen. Es geht ihm jedoch nicht darum, den deutschen Nationalismus und Anti-<br />

Semitismus zu legitimieren (dazu steht er ihm viel zu kritisch gegenüber)10, sondern<br />

darum, die Gewalt sichtbar zu machen, die der Geschichte zugrundeliegt. Diese Gewalt


42 Nietzsche<br />

äußert sich sowohl im Krieg gegen andere Staaten, als auch in der Beherrschung der<br />

unteren Klassen im eigenen Staat, die meistens durch "höhere Ideale" legitimiert wird.<br />

Statt diese Gewalt zu leugnen, sieht Nietzsche in ihr den Ausdruck des Willens zur<br />

Macht. Das Christentum stellt für Nietzsche nur ein anderes Mittel dar, gegen eine<br />

vornehme und starke Kultur Krieg zu führen. Indem sie absoluten Gehorsam von Gott<br />

verlangt, versöhnt sie die Ohnmächtigen mit ihren irdischen Herren und hindert sie<br />

daran, ihre Macht auszuüben. Sie trat jedoch zu einem Zeitpunkt ein, da der Wille zur<br />

Macht der römischen Herrschaft schon geschwächt war, und ermöglichte somit deren<br />

Überleben. Aus dieser Perspektive erscheint das Christentum als Heilung der<br />

dekadenten römischen Gesellschaft.<br />

In diesem Sinne definiert Allan Schrift den gesunden und dekadenten Willen zur<br />

Macht in einem nicht-oppositionellen Sinn, indem er "Gesundheit" und "Krankheit"<br />

oder "Bereicherung" und "Verneinung" als Pole eines Kontinuums betrachtet. Eine<br />

solche Interpretation umgeht das Problem einer subjektiven Wahl zwischen Schwäche<br />

oder Stärke, die dem Modell der binären Oppositionen zugrundeliegt. (Vgl. Schrift<br />

1990: 192) Da die Gesundheit situationsgebunden und variabel ist, ("eine Gesundheit an<br />

sich gibt es nicht" [FW 120]), gibt es auch keine einzige richtige Interpretation, die das<br />

Leben bereichern und die Gesundheit für alle Interpreten zu allen Zeiten gewährleisten<br />

kann. Während wir die Gesundheit als einen Maßstab bejahen mögen, wird das, was<br />

jeder von uns für gesund hält, von den Perspektiven abhängen, mit denen wir<br />

arbeiten.11 Aber auch dann garantiert diese Perspektive dem Individuum keine<br />

fortwährende Gesundheit, sondern nur eine vorübergehende. Auch das Individuum<br />

macht in seinem Leben viele Krankheiten und viele Gesundheiten durch.<br />

Nietzsche steht nicht als Arzt außerhalb der Krankheit seiner Zeit, sondern leidet<br />

selbst an ihr. Daher hat er ein persönliches Interesse, ihre Ursachen zu erkennen und sie<br />

zu überwinden. Das Untersuchungsobjekt ist ihm sein eigener Körper und dessen<br />

Genealogie. Er berücksichtigt aber auch das soziale und kulturelle Umfeld, in dem er<br />

lebt. So greift er bestimmte neue gesellschaftliche Tendenzen wie die Demokratie, den<br />

Sozialismus, den Feminismus oder die Spezialisierung in den Wissenschaften als<br />

Endstadium in einer langen Kette des Verfalls an. Ein reaktionärer Zug an dieser Kritik<br />

der schlechten demokratischen Moderne und dem Versuch, die gute alte aristokratische<br />

Ordnung zu retten, ist nicht zu leugnen. Dem entspricht die Trennung zwischen einer<br />

Herren- und Sklavenmoral, und den Herren- und Sklavenmenschen. Dennoch will<br />

Nietzsche nicht einfach zurück in die "gute alte Zeit" (dazu ist sie ihm zu fragwürdig),<br />

sondern in ein Morgen und Übermorgen, in dem die Probleme und Schwächen des<br />

modernen Menschen überwunden sind.<br />

Wichtiger noch als die reaktionären politischen Implikationen der Krankheits-<br />

Analogie ist, daß sie Nietzsche eine Kritik am Idealismus und an der metaphysischen<br />

Tradition ermöglicht. Da er den Metaphysikern vorwirft, daß sie unzulässige Analogien<br />

zwischen dem Menschen und den Dingen hergestellt hätten, übernimmt er eine<br />

Strategie ihres Diskurses, um ihn zu subvertieren und über ihn hinauszuweisen. Durch<br />

die genealogische Untersuchung der Werte, Urteile und Ideale macht er sichtbar, daß sie<br />

nicht von Gott oder der Vernunft gegeben, sondern aus profanen, materiellen<br />

Bedürfnissen entstanden sind, z.B. dem Willen zur Macht. Dadurch wirft er das


Krankheit und Gesundheit im Denken Nietzsches 43<br />

statische und ewige Konzept des Seins in der metaphysischen Tradition um. Körper sind<br />

nicht ewig, sondern sterblich. In ihnen vollziehen sich Prozesse: sie werden geboren<br />

und sterben, sie werden krank und wieder gesund. Das durch Brüche markierte Werden<br />

subsumiert die Metaphysik unter das Sein, das auf ein Ziel gerichtet ist. Körper kennen<br />

keine ethischen Ziele, sondern werden von Trieben und Interessen geleitet, z.B. der<br />

Verringerung von Unlust und Angst und der Erhöhung von Lust und Macht.<br />

Außerdem löst er die binäre Opposition zwischen "Körper" und "Seele" auf, indem<br />

er den Körper als eine Beziehung von aktiven und reaktiven Kräften sieht, zu denen die<br />

Seele und der Geist gehören.12 Auch die Gefühle sind für Nietzsche unbewußte<br />

vererbte Meinungen. Damit siedelt er das Wissen in den Körpern und nicht in einem<br />

transzendentalen Bereich der reinen Ideen an. Es gehört zur unreinen Materie, also zu<br />

den Stoffen, die die Körper aufnehmen und ausscheiden, und an denen sie erkranken<br />

oder genesen.13 So kann Nietzsche auch Fragen des Klimas, der Diät und der Hygiene<br />

in seine Genealogie aufnehmen. Hinter seiner Philosophie vermutet er z.B. einen Trieb<br />

nach einer Diät, die seine besonderen Krankheitssymptome lindern würden. Er fragt, ob<br />

es sich um einen Trieb handele<br />

nach milder Sonne, heller und bewegter Luft, südlichen Pflanzen, Meeres-Athem, flüchtiger<br />

Fleisch-, Eier- und Früchtenahrung, heissem Wasser zum Getränke, tagelangen stillen<br />

Wanderungen, wenigem Sprechen, seltenem und vorsichtigem Lesen, einsamem Wohnen,<br />

reinlichen, schlichten und fast soldatischen Gewohnheiten, kurz nach allen Dingen, die gerade mir<br />

am besten schmecken, gerade mir am zuträglichsten sind? Eine Philosophie, welche im Grunde<br />

der Instinct für eine persönliche Diät ist? Ein Instinct, welcher nach meiner Luft, meiner Höhe,<br />

meiner Witterung, meiner Art Gesundheit durch den Umweg meines Kopfes sucht? Es giebt viele<br />

andere und gewiss auch viele höhere Erhabenheiten der Philosophie, und nicht nur solche, welche<br />

düsterer und anspruchsvoller sind, als die meinen, -- vielleicht sind auch sie insgesammt nichts<br />

Anderes, als intellectuelle Umwege derartig persönlicher Triebe? (MR V, 553)<br />

Die neuen physiologischen und psychologischen Werte werden von Chemikern,<br />

Medizinern, Psychologen und Biologen und nicht von Moralisten erstellt. An die Stelle<br />

der normativen Ethik tritt das Experiment. Zu den neuen Werten gehören aber auch die<br />

Redlichkeit, Gerechtigkeit und Großmütigkeit, die Nietzsche zufolge in der<br />

platonischen, sokratischen und christlichen Lehre keinen Platz hatten.<br />

In Notizen zur zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung beschreibt Nietzsche den<br />

Philosophen als "kulturellen Arzt". Ein Mensch, ein Volk und eine Kultur sind für ihn<br />

auf analoge Weise lebendig. Ein Lebewesen ist aber nur lebendig, wenn es nicht durch<br />

den Tod bedroht ist. Das Wertungskriterium des Lebens ist die Gesundheit. Wenn sein<br />

leben bedeutet, dann muß der Philosoph als Denker des Seins die Vitalität oder die<br />

Lebenschancen des Seienden ermessen. Mit anderen Worten, die gesunden Kräfte in der<br />

Krankheit feststellen. Philosophie als lebensnotwendige Kritik beruht auf der<br />

medizinischen Praxis. Der Arzt spürt die Anzeichen einer möglichen Krankheit auf oder<br />

behandelt die Symptome einer fortgeschrittenen Krankheit. Er stellt eine individuelle<br />

Žtiologie auf und versucht eine Heilung. (Vgl. Lacoue-Labarthe 1990, 211) Die Heilung<br />

kann aber nur gelingen, wenn der Arzt die Heilkräfte des Betroffenen mobilisiert. Sie<br />

setzt die Zustimmung und aktive Teilnahme des Betroffenen voraus.


44 Nietzsche<br />

Nietzsche sieht bereits Ansätze zur Genesung in der Geschichte, z.B. in dem Glauben<br />

der Griechen an den Schein:<br />

Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche,<br />

der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an<br />

den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich - aus Tiefe! (FW<br />

i, 4)<br />

Die Griechen erfanden die Tragödie, um mit dem Chaos und Leiden in der Welt<br />

umzugehen.14 Das impliziert, daß sie den Glauben an eine absolute Wahrheit<br />

überwanden. Nietzsche macht diese Einsicht für seine Zeit geltend:<br />

Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur 'Wahrheit um jeden Preis',<br />

dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit - ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren,<br />

zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief ... Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch<br />

Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben.<br />

Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei<br />

Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und 'wissen' wolle. (Ebd.)<br />

Indem Nietzsche die Wahrheit mit einer Frau vergleicht, die kein Wesen und keine<br />

Wahrheit verkörpert, sondern nur Schein (Putz) ist, das die Philosophen immer wieder<br />

dazu verführte, ihr unter die Kleider zu sehen, macht er deutlich, daß die Philosophen<br />

bisher das Wesentliche übersahen, nämlich den Schein, die Oberfläche.<br />

An die Stelle der absoluten Wahrheit tritt das Spiel des Interpreten mit dem Text und<br />

der Welt. Er oder sie erprobt verschiedene Perspektiven, die jeweils einen anderen Sinn<br />

ergeben, aus Lust am Spiel.15 An dieser Lust des Spiels und des Erkennens ist für<br />

Nietzsche immer auch der Körper beteiligt, wie er mit dem Wortspiel von Sinn und<br />

Sinnen andeutet. Seiner intellektuellen Haltung entspricht das Lachen, der Tanz und das<br />

Bergsteigen.16 So wünscht er sich z.B. einen Leser, der ihn unterwegs beim<br />

Spaziergang oder auf Reisen liest, und nicht sitzend in seiner gewohnten Umgebung. In<br />

einer "Zwischenrede" zur Morgenröte formuliert Nietzsche das so: "Ein Buch, wie<br />

dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich<br />

im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder<br />

hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden." (MR 5, 454)<br />

Anmerkungen<br />

1 Lukács (1962: 1973) sieht in Nietzsches "Irrationalismus" eine philosophische Voraussetzung des<br />

Faschismus. Diesen Irrationalismus wertet er als Symptom der d‚cadence.


Krankheit und Gesundheit im Denken Nietzsches 45<br />

2 Überzeugender erscheint mir dagegen Türckes Darstellung von Nietzsches "Vernunftpassion": "Daß in<br />

Nietzsche etwas ganz Gewöhnliches, die Übersetzung von Physis in Geist und die Materialisierung von<br />

Geist in Physis, eine ganz ungewöhnliche Intensität annahm, daß er an den objektiven Gebrechen der<br />

Vernunft subjektiv, und zwar bis ins Physische hinein, zutiefst leiden konnte und umgekehrt in der Lage<br />

war, aus diesem Leiden heraus eine übermächtige Sensibilität für die Vernunftgebrechen zu entwickeln<br />

und ausgerechnet hierbei der gebrechlichen Vernunft ungeahnte Kräfte zuzuführen - das erst machte seine<br />

Vernunftpassion möglich, in der Vernunft als Schmerzerreger und Opiat praktisch wird und physische<br />

Lust und Qual 'sich beständig in Licht und Flamme' verwandeln." (Türcke 1989: 164)<br />

3 Dieser Genealogie ließe sich Hobbes' Konzept des "body politic" und der Sozialdarwinismus<br />

hinzufügen.<br />

4 Allan Schrift (1990: 173) definiert die Genealogie so: "[G]enealogical analysis seeks not only the<br />

origins of modern convictions but also the reasons and justifications which the proponents of these<br />

convictions haven given in asserting their hegemony. [...] Nietzsche's call for psycho-genealogical inquiry<br />

is thus a call to reflect upon what was ultimately willed in the positing of certain values as valuable."<br />

5 Ebenso: "Der kranke Mensch ist oft an seiner Seele gesünder als der gesunde Mensch." KSA VIII,<br />

17[11]<br />

6 Vgl. dazu: "Andrerseits verrät das Auftreten der moralischen Skrupel (anders ausgedrückt: das<br />

Bewußtwerden der Werte, nach denen man handelt) eine gewisse Krankhaftigkeit; starke Zeiten und<br />

Völker reflektieren nicht über ihr Recht, über Prinzipien zu handeln, über Instinkt und Vernunft. Das<br />

Bewußtwerden ist ein Zeichen davon, daß die eigentliche Moralität, d.h. Instinkt-Gewißheit des<br />

Handelns, zum Teufel geht ... Die Moralisten sind, wie jedesmal, daß eine neue Bewußtseins-Welt<br />

geschaffen wird, Zeichen einer Schädigung, Verarmung, Desorganisation." (WM II, 423)<br />

7 Nietzsche unterscheidet zwischen den frühen Christen, die diese Rebellion noch gelebt haben, und der<br />

institutionalisierten Religion, der Kirche, die ein Bündnis mit den Herrschenden eingegangen ist.<br />

8 Borchmeyer (1989: 85) spricht von Nietzsches "ambivalente[m] oder dialektisch gebrochene[m]<br />

Verhältnis zur d‚cadence" und führt das so aus: "Die sittliche und körperliche Schwäche ist die felix culpa<br />

des Fortschritts - freilich nur, solange das Gemeinwesen als ganzes Kraft genug besitzt, sie zu verkraften,<br />

solange es ihr nicht gelingt, sich zu verabsolutieren und die Stabilität der allgemeinen Grundsätze außer<br />

Kraft zu setzen." (Ebd.)<br />

9 Kaufmann (1974: 131) formuliert das so: "Nietzsche [...] defines health not as an accidental lack of<br />

infection but as the ability to overcome disease; and unlike Lessing's and Kant's conceptions of<br />

providence and nature, this idea of health is not unempirical. Even physiologically one might measure<br />

health in terms of the amount of sickness, infection and disease with which an organism can deal<br />

successfully". Kaufmann weist darauf hin, daß Nietzsche Goethe als Vorbild dieser Art von Gesundheit<br />

sah.<br />

10 Auch Sloterdijk (1983: 317), der Nietzsche sonst sehr positiv bewertet, kritisiert am Willen zur Macht,<br />

daß er der herrschenden Klasse als Aufforderung zur politischen Enthemmung diente.<br />

11 Siehe auch Deleuze (1979: 11), der die Krankheit in Nietzsches Philosophie als "Aussichtspunkt" auf<br />

die gesunden Werte und Begriffe definiert und die Gesundheit als "Aussichtspunkt" auf die dekadenten<br />

Instinkte. Er meint, es gebe keine dialektische Vermittlung zwischen diesen beiden Perspektiven, die<br />

Beweglichkeit zwischen ihnen sei nur der Ausdruck einer höheren Gesundheit.<br />

12 Deleuze (1985: 45) präzisiert diesen Gedanken: "Jede Beziehung zwischen Kräften erstellt einen<br />

Körper, der chemisch, biologisch, sozial, politisch sein kann. Zwei beliebige und ungleiche Kräfte<br />

erstellen von dem Augenblick an einen Körper, da sie in Beziehung zueinander treten: daher ist der<br />

Körper stets eine Frucht des Zufalls im nietzscheschen Sinne und erscheint damit als die erstaunlichste<br />

Sache, viel 'erstaunlicher' zumal als Bewußtsein und Geist."


46 Nietzsche<br />

13 Sloterdijk (1986: 137) beschreibt dies als "Körpergeistigkeit": "Darum ist diese immer eine<br />

Intelligenz auf dem Sprung - eine Intelligenz unterwegs, eine Intelligenz in Szene, eine Intelligenz in<br />

Stimmung. Sie ist etwas, was nicht am Subjekt haftet wie ein Privateigentum, sondern etwas, was ihm<br />

zustößt wie eine Herausforderung und eine Enthüllung."<br />

14 In der griechischen Tragödie sieht Nietzsche das Wechselspiel der appollinischen und dionysischen<br />

Gottheit. In Die Geburt der Tragödie (25) entgegnet ein greiser Athener dem Fremdling (dem modernen<br />

Menschen) auf dessen Ausruf, "Wie gross muss unter euch Dionysos sein, wenn der delische Gott solche<br />

Zauber für nötig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen!" mit der Bemerkung, "[W]ie viel<br />

musste dies Volk leiden, um so schön werden zu können!"<br />

15 Dieses Spiel bewegt sich innerhalb der Grenzen des Textes: "'Responsibility,' as the ability to respond,<br />

serves as a practical guide to insure that the interpretations imposed remain connected with the text. That<br />

is to say, the interpretive 'responsibility' of the philological goldsmith, while not providing a rigid system<br />

of rules to follow, nevertheless acknowledges that its forging of meaning must respond to and fit with the<br />

text. As such, this forging will be both supple and delicate, generously bringing its own perspectives to<br />

the text and animating the text with these new perspectives, while remaining subtle and cautious in its<br />

working creatively with what the text contributes to the interpretive process. It is in the tension between<br />

these two tendencies, between the adventurous, conquering impulse of creativity and invention, and the<br />

delicate, cautious impulse of honesty and justice, that Nietzsche situates the processes of interpretation."<br />

(Schrift 1990: 189)<br />

16 Sloterdijk (1986: 126f.) beschreibt Nietzsches Haltung so: "Er ist ein Moderner mit allen<br />

Konsequenzen und läßt nichts aus, was an Selbstwiderspruch und Ambivalenz zu einem solchen gehört;<br />

er ist ein d‚cadent und Schwerverwundeter der Kultur in allen Aspekten und sämtlichen Folgen - unter<br />

denen die günstigsten mit der Zeit unverkennbar hervortreten [...] Er war in der Tat ein 'schwerer Fall';<br />

doch nichts konnte ihn daran hindern, tiefere Reserven der Gesundheit in sich zu entdecken, als man ihm<br />

angesichts seiner Verwundung zugetraut hätte; sein Lachen war grundlos und durch die Erfahrung seines<br />

Lebens nicht gestützt. [...] Jedenfalls hat er, als überschwerer Geist, eine zauberhafte Unkompliziertheit<br />

im Kompliziertsein erfunden - jene halkyonische Heiterkeit, mit der er die Nachrichten von der<br />

furchtbaren Wahrheit umhüllte. Heiterkeit ist die Höflichkeit der Komplizierten."<br />

Literatur<br />

Die Nietzsche-Zitate beziehen sich auf: Giorgio Colli und Mazzino Montinari: Kritische Studienausgabe.<br />

Nördlingen: dtv/de Gruyter 1988. Schlüssel der Abkürzungen. Der Band der KSA steht in Klammern:<br />

JGB: Jenseits von Gut und Böse. (Bd. 5)<br />

FW: Die fröhliche Wissenschaft. (Bd. 3)<br />

GM: Zur Genealogie der Moral. (Bd. 5)<br />

MR: Morgenröte. (Bd. 3)<br />

PTZG: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. (Bd. 1)<br />

WM: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. (Hrsg. von) Alfred Bäumler.<br />

(Nietzsche-Werkausgabe, Bd. 6). Leipzig: Alfred Kröner Verlag 1930.<br />

Anz Thomas 1986. "Gesund" und "krank". Kriterien der Kritik im Kampf gegen die literarische Moderne<br />

um 1900." In: Walter Haug und Wilfried Barner (Hrsg.), Ethische contra ästhetische Legitimation von<br />

Literatur. Traditionalismus und Modernismus: Kontroversen um den Avantgardismus. Tübingen: Max<br />

Niemeyer.


Krankheit und Gesundheit im Denken Nietzsches 47<br />

Borchmeyer Dieter 1989. Nietzsches Begriff der Decadence. In: Manfred Pfister (Hrsg.), Die<br />

Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Passau:<br />

Richard Rothe.<br />

Deleuze Gilles 1979. Nietzsche - ein Lesebuch von Gilles Deleuze. Berlin: Merve.<br />

Deleuze Gilles 1985. Nietzsche und die Philosophie. (Aus dem Französischen von Bernd Schwibs).<br />

Frankfurt am Main: Syndikat.<br />

Kaufmann Walter 1974. Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist. (Fourth Edition). Princeton,<br />

New Jersey: Princeton University Press<br />

Lacoue-Labarthe Philippe 1990. History and Mimesis. In: Laurence A. Rickels (Hrsg.), Looking after<br />

Nietzsche. New York: State University of New York Press.<br />

Lukács Georg 1973. Nietzsche als Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode. In: Ders.,<br />

Die Zerstörung der Vernunft, Bd. II: Irrationalismus und Imperialismus. Darmstadt und Neuwied:<br />

Luchterhand.<br />

Schrift Alan 1990. Nietzsche and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and<br />

Deconstruction. New York, London: Routledge.<br />

Sloterdijk Peter 1983. Kritik der zynischen Vernunft. (2 Bde.) Frankfurt am Main: edition suhrkamp.<br />

Sloterdijk Peter 1986. Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus. Frankfurt am Main: edition<br />

suhrkamp.<br />

Türcke Christoph 1989. Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft. Frankfurt am<br />

Main: Fischer.


Radical Perspectivism and the End of Theory: Nietzsche and<br />

Foucault<br />

In view of the growing complexity and differentiation of global systems and processes,<br />

it has become increasingly difficult and indeed problematic to propose and to maintain a<br />

coherent and consistent theory of the universe and everything. Although chaos theory<br />

and systems theory have tried to fill the void left by the 'grands récits' of the Western<br />

philosophical canon from Socrates and Plato to Kant and Schopenhauer, they haven't<br />

addressed the question of values and ethics in any convincing way. This is the question<br />

which Nietzsche posed most succinctly in his anti-philosophy with its nomadic attacks<br />

on the sedentary systems of the metaphysical tradition in which he shows up the<br />

underlying value judgements of their founders that reveal the negation of life as the<br />

precondition of their power. He counters this with a life-affirming dietetics that is as<br />

much physiological as it is psychological but can claim any kind of 'truth' only for the<br />

subject from whose perspective it is made. More recently, Foucault seems to have taken<br />

up this dietetic impulse in his History of Sexuality.<br />

In Volume three of this history, entitled The Care of the Self(1), Foucault<br />

investigates the transition from the Greek use of pleasure, which although regimented to<br />

a certain degree, as evidenced by the interpretation of dreams, in which different types<br />

of intercourse between members of the family, household or the community were<br />

considered as good or bad omens, depending on the relationship of dominance between<br />

the dreamer and the object of his or her dreams, were not given much philosophical<br />

attention, as long as social and political relations were kept intact. In Aphorism 170 of<br />

Daybreak, entitled "A different perspective of feeling", Nietzsche points out that the<br />

love of his contemporaries for the ancient Greeks was based on a fallacy, because the<br />

preconditions of their ideal of beauty were radically different from the 19th century<br />

ones. He goes on to say:<br />

What is our chatter about the Greeks! What do we really understand about their art, their soul --<br />

which is the passion for male naked beauty! -- From this point of view only they felt female<br />

beauty. Thus they had a completely different perspective from ours. And it was similar with their<br />

love of woman: they adored differently, they despised differently. (KSA 3.152)(2)<br />

This perspective gave way to a more intense reflection on the relationship between the<br />

spouses in Roman times, as emerges from, amongst others, Plutarch's writings. Foucault<br />

stresses, however, that this sudden interest in the self did not occur at the expense of an<br />

active involvement in public affairs, but rather marks a shift in the organisation of<br />

public and private life. He situates the Greek term 'care of the self' between a political<br />

movement that would be conservative in nature and call for a return to the old ways and<br />

the vague ideological notion of individualism. What is at stake is the claim of<br />

philosophy as an "art of existence". (Foucault, 44.)<br />

The cultivation of the self entailed the view that one had to become master of one's<br />

passions and anxieties in a life-long process of learning that encompassed every aspect<br />

of everyday life from eating and drinking to reading and writing to love and sex. Thus it


50 Nietzsche<br />

was not considered improper for a respected adult man to consult a philosophical<br />

teacher for advice on how to master his life. The philosopher seems to have acted as<br />

philosophical physician, a term that goes back to Plato, much like the psychoanalyst<br />

today, except that the person in need of such care did not consider himself a patient with<br />

a pathological condition, but rather as a pupil in search of illumination and<br />

improvement of his or her self. It is probably because individual salvation was sought in<br />

the privacy of the home that the relationship between husband and wife became<br />

privileged: equal, but also more tender.<br />

As the husband began to share in the domestic affairs with his wife, he also became<br />

more concerned with the soul, that part of the self that is neither entirely physical nor<br />

rational, neither body nor mind, but something in-between that manifests itself in love<br />

and friendship, and which seems to have found its privileged site in marriage. This<br />

Platonic idea of a marriage of souls seems to anticipate the Christian non-sexual idea of<br />

love, but Foucault stresses that this is not the case in late Roman society, where sexual<br />

desires were not frowned upon but were incorporated into a regimen or system of<br />

control that sought to refine them and assign them their rightful place in a hierarchy of<br />

values where austerity, self-restraint and the concentration on marriage and pro-creation<br />

formed part of a new discourse on morality that centered on self-respect. So self-interest<br />

as the driving force of our actions was not repressed, but was carefully balanced by a<br />

system of voluntary restrictions on the self in order to become master of its bodily<br />

passions and desires. This implies that the improvement of oneself became a value<br />

which individuals strove for but also that this was esteemed and emulated by the wider<br />

society. The idea was that one could not govern a city or state, if one was not able to<br />

master one's own life. The idea of the body politic thus subtly insinuates itself into the<br />

discourse on the care of the self. This suggests a new understanding of what constitutes<br />

the political. A system of relays now regulates the play of power from the emperor and<br />

monarch to the senator at the local level. Both are not in power for their own gain but<br />

are governed by a system of rules and regulations themselves. The state is therefore<br />

something that needs to be cared for and improved just as much as the body of the<br />

individual.<br />

Foucault excludes the question whether this rather idealistic view of politics was<br />

likely to have any effect on the way political affairs were conducted, but simply<br />

describes the empirical fact of this discourse on the self and analyses the laws that<br />

underpin it. It could be argued that Machiavelli's political principles which he revealed<br />

in The Prince bear a closer resemblance to the way politics was conducted at the time<br />

and probably still is today. Perhaps this suggests the normative nature of Plutarch's<br />

writings in the sense that he held an ideal mirror up to society to show what it ought to<br />

be like, or it could be read as an insight into the futility of the political endeavour and a<br />

mark of resignation which tries to find a refuge in the sanctity of the home.<br />

But what does this digression have to do with the topic of my paper, radical<br />

perspectivism and an end of theory? Two things: firstly, it traces the break in a belief in<br />

the efficacy of theoretical systems, that seem to turn away from the experience and<br />

perspective of real subjects in terms of their class and gender within a specific culture at<br />

a given historical moment, in favour of an abstract ethical ideal, as emerged e.g. in the


Radical Perspectivism 51<br />

Socratic ideal equation of knowledge, virtue, and happiness or in the Christian ethic of<br />

meekness or the Kantian ethic that one should act in such a way that one's own<br />

behaviour could become the general ethical standard and secondly, it turns our attention<br />

to the actual practices that individuals subjected themselves to willingly because they<br />

believed that they could become better, wiser and more complete in the process.<br />

In his Unpublished Writings, Nietzsche notes that there was as yet never "enough<br />

suspicion amongst thinkers". He explains that "perhaps it was a great danger for<br />

scientifc insight that it wanted to conflate virtue and insight. Things are ordered in an<br />

excessively cruel way -- to speak figuratively". (KSA, 11.183.) Nietzsche saw an<br />

equally great danger in a limitless will to knowledge which characterised the age of<br />

universal suffrage. He warned that his age lived under the "good-natured and<br />

enthusiastic preconditions of the previous century". (KSA, 11.183.)<br />

Whereas the Socratic system and Christian ethic seems to be anchored in such an<br />

abstract knowledge or belief system, from which good actions and happiness will<br />

follow, Nietzsche and Foucault focus on the body and the subject from whose<br />

perspective knowledge and practices are tested in terms of their benefit for the subject<br />

and the heightening or enhancement of its power as a will-to-power and will-to-life.<br />

Nietzsche formulates the insight, that all valuations revolve around a specific<br />

perspective:<br />

Maintenance of an individual, a community, a race, a state, a church, a belief, a<br />

culture - due to forgetting, that there is only a perspectival valuation, everything is<br />

teeming with contradictory valuations and consequently with contradictory drives in a<br />

person. This is the expression of the malady of man, in contrast to the animal, where all<br />

available instincts fulfil certain tasks.<br />

At the same time, Nietzsche sees a chance in the contradictory nature of man which<br />

he elevates to a method of insight:<br />

he feels many pros and cons -- he elevates himself to a position of justice -- to an understanding<br />

beyond valuing as good or bad. The wisest man would be the richest in contradictions, who has, as<br />

it were, sensory organs for all kinds of men: and in-between he has his grand moments of grand<br />

harmony -- the great coincidence within us! -- a kind of planetary movement -- (KSA 11.181.)<br />

A perspective presupposes a horizon, and this is precisely what Nietzsche and Foucault<br />

aim at: to say that what I want to know and want to do it bounded by the limits of what<br />

is good for me, of what enhances my powers to reason, to feel and to act in the world.<br />

This does not imply a purely hedonistic approach to life, as periods of weakness, illness,<br />

lack and even death could strengthen the individual's powers of perception which will<br />

help it avoid the pitfalls in future which have led it into its present state of lack. So<br />

certain deprivations, such as hunger or abstinence are even necessary, as Foucault<br />

points out, to master one's desires and to savour them more intensely.<br />

What Nietzsche suggests, therefore, is that a subject can have different perspectives<br />

at different stages of its life, as he radically questions the concept of the subject as the<br />

free agent of its actions, implying that this is merely a grammatical effect, i.e. the<br />

sentence "I want to climb the Eiger wall" suggests that the grammatical subject "I" is


52 Nietzsche<br />

also the agent of the act to "climb the Eiger wall" or that the act is caused by the free<br />

will of the I. Instead Nietzsche proposes that the subject is the battle-field of many<br />

wills-to-power, which each have their own perspective and depending on which will-topower<br />

is dominant, is also the dominant perspective. Thus he writes:<br />

"While I want, a veritable movement occurs: should this movement unknown to me not be<br />

regarded as efficient cause? After all, the act of willing itself is the conclusion of a 'battle of<br />

motives' - but these themselves -- -- --." He concludes these incomplete reflections with the<br />

following notes: "rejection of final causes" and "rejection of efficient causes: they too are mere<br />

attempts, to -- -- -- to ourselves a process." (KSA 11.184.)<br />

Dominant in this sense does not necessarily mean strong, but simply that it won the<br />

upper hand at a certain moment in time. This could be a weak will-to-power which<br />

triumphed over the self due to negative influences, such as the wrong career-choice,<br />

animosities within the family, a society which suppresses individual freedoms, or<br />

physiological factors such as diet and physical movement, or climate. A first step<br />

towards changing this parlous state of affairs would be to change some or all of these<br />

factors by moving to another place or choosing another occupation, in which one's<br />

strong will-to-power and will-to-life can once again re-emerge. A different mental<br />

outlook or perspective might also help, as Nietzsche knew when he suggested: "Fun and<br />

jokes serve recovery, they are a kind of cure, whereby we regain strength for new<br />

activity. 'Serious is better' -- is Aristotelian." (KSA 11.183.)<br />

Foucault and Nietzsche seem to agree that this cannot happen through political<br />

action, perhaps because modern politics always turns its attention away from the<br />

individual in favour of the masses, who will decide which party will win in a<br />

democratic system or it will rule in the name of the masses as in the case of socialism or<br />

fascism. It is therefore based on the premise that everyone is the same, whereas<br />

Nietzsche and Foucault are concerned with the individual and the ways of strengthening<br />

its stubborn resolve to become itself. This does not mean that everyone can become an<br />

Übermensch but simply that each one finds the courage not to blame one's misfortune<br />

on society or someone else, but that one actively tries to change one's lot in such a way<br />

that one can honestly say that this is the way I wanted to live my life and that I would<br />

want to live it again and again in all eternity in exactly the same way. Nietzsche called<br />

this the "most dangerous point of view": "What I do now or omit, is as important for<br />

everything that is to come as the greatest event of the past: in this enormous perspective<br />

of the effect all actions are equally great and small." (KSA 3. 512.)<br />

With this ethic Nietzsche attempts to transcend the Christian ethic which tried to<br />

teach compassion with our fellow humans as the highest goal. Instead Nietzsche sees<br />

this goal as too easy, because it assumes and accepts the broken nature of the majority.<br />

Against this ethic which he terms an ethic for prostitutes, he holds up his proud ethic of<br />

self-overcoming:<br />

An easy prey is something despicable for proud natures, they have a pleasant feeling only when<br />

looking at unbroken people, who could become their enemies, and similarly when gazing upon all<br />

goods that are hard to gain access to; against the suffering person they are often hard, because he is<br />

not worthy of their striving and pride, -- but against their equals they show themselves all the more


Radical Perspectivism 53<br />

obliging, against whom a battle and wrestling would be honourable, if for once an occasion for it<br />

would present itself. Under the pleasant feeling of this perspective persons of the aristocratic caste<br />

accustomed themselves to an exclusive politeness. -- Compassion is the most pleasant feeling<br />

amongst those, who have little pride and no chance of great conquests: for them an easy prey --<br />

and that includes every sufferer -- is something delightful. One praises compassion as the virtue of<br />

prostitutes. (KSA 3.386.)<br />

Similarly, Foucault speaks of an ethics of control, although in contrast to Nietzsche he<br />

stresses the aspect of self-mastery rather than the agonal; it is the idea of being<br />

answerable to oneself and delighting and taking pleasure in oneself that he finds<br />

articulated in Plutarch's and Seneca's writings:<br />

This relation to self that constitutes the end of the conversion and the final goal of all the practices<br />

of the self still belongs to an ethics of control. Yet, in order to characterize it, moralists are not<br />

content with invoking the agonistic form of a victory over forces difficult to subdue and of a<br />

dominion over them that can be established beyond question. This relation is often conceived in<br />

terms of the juridical model of possession; one 'belongs to himself', one is 'his own master' [...];<br />

one is answerable only to oneself, one is sui juris; one exercises over oneself an authority that<br />

nothing limits or threatens; one holds the potestas sui. But apart from this rather political and<br />

judicial form, the relation to self is also defined as a concrete relationship enabling one to delight<br />

in oneself, as in a thing one both possesses and has before one's eyes. [...] And the experience of<br />

self that forms itself in this possession is not simply that of a force overcome, or a rule exercised<br />

over a power that is on the point of rebelling; it is the experience of a pleasure that one takes in<br />

oneself. The individual who has finally succeeded in gaining access to himself is, for himself, and<br />

object of pleasure. Not only is one satisfied with what one is and accepting of one's limits, but one<br />

'pleases oneself'." (Foucault, 65f.)<br />

This point perhaps also marks an important distinction between Nietzsche and Foucault:<br />

Whereas Foucault appears to yearn for this conservative ideal past where such selfmastery<br />

among great men still seemed possible, Nietzsche invents the goal of being able<br />

to bear as many contradictions in oneself as possible. Perhaps his concept is more<br />

difficult but also more humane because more honest in an increasingly complex world,<br />

in which it becomes imperative to think in a non-linear network? Complexity and many<br />

contradictions as a new value then? Or an openness towards complexity and<br />

contradictions that would be debated and enacted in a polylogue(3) of different<br />

contradictory subject positions as regards culture, class, gender. This could become a<br />

new project for our time.<br />

If one takes Nietzsche´s concept of perspectivism seriously, then there is no<br />

theoretical position from which the perception of an objective truth would be<br />

guaranteed, because the positing of an object always takes place from the point of view<br />

of a subject. Whereas traditional theories of objective truth have led to an<br />

instrumentalisation of subjects in the name of technological progress, the end of theory<br />

neither means the reign of an unfettered subjectivity nor an end of thinking. On the<br />

contrary, it would require a more precise, more intricate and more imaginative response<br />

to the situations real subjects find themselves in. One would have to see what theories<br />

with their globalising tendencies have done at a local level. And one could perhaps learn<br />

to understand how infinitely more complex and beautiful natural and/or existing cultural<br />

systems are if we don't interfere with them. Perhaps an ethics of minimal interference


54 Nietzsche<br />

and respect for the other would flow out of this. Not out of indifference but an active<br />

participation and prevention of a global disaster such as a clash of cultures. Listening,<br />

speaking in many languages, many dialects. Learning to respect diversity just as much<br />

as one's embodied self.<br />

Anmerkungen<br />

1 Michel Foucault, The History of Sexuality, Volume Three: The Care of the Self. Harmondsworth:<br />

Penguin 1984 (1986). Further references to this edition will be given within the text as (Foucault).<br />

2 Nietzsche, Friedrich. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino<br />

Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, 1988. Further references to this edition<br />

will be given within the text as (KSA). Translations of the German quotes by A.H.<br />

3 Cf. Franz Martin Wimmer: Thesen, Bedingungen und Aufgaben interkulturell orientierter Philosophie.<br />

In: Polylog. Forum for International Philosophizing. http://www.polylog.org/them/0101/fcs01-de.htm<br />

[24. August 2000].


Metaphorische Gratwanderungen göttlichen Scheiterns<br />

Berge - im Gegensatz zu den Niederungen und Tälern, die mit der Mittelmäßigkeit des<br />

modernen Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft assoziiert werden - tragen die<br />

Sememe Einsamkeit, Genialität, Überblick und Weitsicht, die allerdings mit großer<br />

Mühe einhergeht, die immer auch ein Gefahrenpotential im wortwörtlichen wie im<br />

metaphorischen Sinne in sich birgt. Daher scheinen diese schmalen Gratwanderungen<br />

mit dem Odium des göttlichen Scheiterns behaftet. Sind sie aber dadurch diskreditiert?<br />

Stehen sie nicht eher in einem dialektischen Verhältnis zur Mittelmäßigkeit der Masse,<br />

die sie in einem langwierigen Prozeß auf ein höheres Niveau anheben?<br />

Daß Berge jedoch auch eine willkommene Befreiung aus dem unglückseligen Alltag<br />

eines Stubengelehrten bedeuten können, reflektiert Nietzsche in der Figur des Anti-<br />

Propheten und Bergsteigers, Zarathustra, seinem wohl berühmtesten, aber auch oft<br />

mißverstandenen Text: "Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem<br />

Herzen, ich liebe die Ebenen nicht, und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen. Und<br />

was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebnis komme - ein Wandern wird darin<br />

sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selber." 1 Hier kontrastiert<br />

Nietzsche die seßhafte Lebensweise des Gelehrten, die sich auf einer Ebene abspielt,<br />

mit einer anderen Form des Lebens und Denkens, die mit der körperlichen Anstrengung<br />

und Gefahr, aber auch der Beweglichkeit und Sprunghaftigkeit der Berge und des<br />

Bergsteigens verbunden ist. Die Berge fordern somit eine körperliche und geistige<br />

Aktivität heraus, die mit Eroberung verglichen werden kann.<br />

Dagegen steht die Passivität des sitzenden Stubengelehrten, der sein Wissen aus<br />

toten Büchern bezieht. Sein Denken ist reaktiv, denn es reagiert nur auf bereits<br />

vorhandenes Wissen, indem er es kommentiert. Gemeint ist damit die Philologie,<br />

Nietzsches Brotstudium. Dem setzt er ein aktives, bewegliches Denken entgegen, das<br />

neue Erkenntnisse hervorbringt. In einem Aphorismus mit der Überschrift Angesichts<br />

eines gelehrten Buches äußert er dazu folgendes: "Wir gehören nicht zu denen, die erst<br />

zwischen Büchern, auf den Anstoß von Büchern zu Gedanken kommen - unsre<br />

Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten<br />

auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich<br />

werden." 2 Aus dieser neuen Daseins- und Denkweise leitet er einen neuen Wertekanon<br />

ab, dem folgende Kriterien zugrundeliegen: "Unsre ersten Wertfragen, in bezug auf<br />

Buch, Mensch und Musik, lauten: ´kann er gehen? mehr noch, kann er tanzen?´ ... Wir<br />

lesen selten, wir lesen darum nicht schlechter - oh wie rasch erraten wir's, wie einer auf<br />

seine Gedanken gekommen ist, ob sitzend, vor dem Tintenfaß, mit zusammengedrücktem<br />

Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie rasch sind wir auch mit seinem<br />

Buche fertig! Das geklemmte Eingeweide verrät sich, darauf darf man wetten, ebenso<br />

wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verrät." 3 Das bedeutet aber, daß die<br />

Physiologie ein Urteil abgeben soll über die Erkenntnis, der Stil über den Inhalt.<br />

Angesichts dieser neuen Daseinsform erscheint der Stubengelehrte in der Rolle des<br />

Totengräbers: "Die Totengräber graben sich Krankheiten an. Unter altem Schutte ruhn<br />

schlimme Dünste. Man soll den Morast nicht aufrühren. Man soll auf Bergen leben. Mit


56 Nietzsche<br />

seligen Nüstern atme ich wieder Berges-Freiheit! Erlöst ist endlich meine Nase vom<br />

Geruch alles Menschenwesens! Von scharfen Lüften gekitzelt, wie von schäumenden<br />

Weinen, niest meine Seele - niest und jubelt sich zu: Gesundheit!" 4 Berge konnotieren<br />

hier die Gesundheit nach der Krankheit, die die Beschäftigung mit den Toten (auch dem<br />

toten Wissen der Gelehrten) in den Tälern auslöst. Bezeichnenderweise gewinnt nun der<br />

Geruchssinn, also der Leib, über den Verstand im menschlichen Zusammenleben die<br />

Oberhand. Es ist fast, als würde die Natur den Sinnen des so befreiten Individuums<br />

zuprosten. Das Niesen befreit es dann von den letzten Überresten des Bücherstaubes<br />

und anderen Krankheitserregern, die in den Städten grassieren.<br />

Dies ist oft als eine anti-moderne Haltung verstanden worden, die sich gegen die<br />

Verstädterung im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts richtete, und eine<br />

Zuflucht in der Natur fand, doch könnte man auch Züge einer asketischen Haltung darin<br />

erkennen, die sich durch die Zivilisationsgeschichte zieht vom Gilgamesh-Epos über<br />

Christus, der sich in die Wüste züruckzog, bis hin zu den christlichen Mystikern des<br />

Mittelalters. Andererseits wertet Nietzsche diese asketische Tradition um im Sinne einer<br />

Bejahung solcher anti-asketischer Werte wie der Körperlichkeit und Sinnlichkeit. Die<br />

scheinbare Askese des in die Berge Flüchtenden wäre somit nur ein Umweg zu einer<br />

Steigerung des Lebens.<br />

Es findet somit eine eindeutige Fluchtbewegung aus einem als unerträglich<br />

empfundenen Alltag statt, der vor allem außergewöhnliche Individuen bedürftig zu sein<br />

scheinen, doch auch eine deutliche Aufwertung der außergewöhnlichen gegenüber den<br />

durchschnittlichen Individuen, die sich deutlich von früheren versöhnlichen<br />

Perspektiven abhebt, wie der Jean Pauls. Über Pope schreibt er, daß er, "wie die meisten<br />

britischen Dichter aus der zugebornen Lebens-Furche und Wolke zu jener Berghöhe<br />

aufsteigt, worauf man Furchen und Wolken überblickt und vergißt". (SW I, 5, 146)<br />

Hiermit wird höchstens ein zeitweiliges Vergessen der alltagsbedingten Schwierigkeiten<br />

und Ärgernisse angestrebt, das dann aber wieder in eine geläuterte Akzeptanz der<br />

Gesellschaft einmündet. Das hängt wohl mit den verschärften Widersprüchen der<br />

Produktionsbedingungen der Intellektuellen in der bürgerlichen kapitalistischen<br />

Gesellschaft zusammen, da sie die Verwirklichung ihrer Ideale wie etwa noch in der<br />

Aufklärung (z.B. eine umfassende Volksbildung) nicht mehr gewährleistet sahen.<br />

Die Intellektuellen sind nun zu Außenseitern geworden, die quer zu ihrer Zeit und<br />

dem Zeitgeist stehen, sei es, daß sie weit in die Zukunft vorausschauen, sei es, daß sie in<br />

der Vergangenheit steckengeblieben scheinen. Diese Unzeitgemäßheit erscheint auch<br />

als Menschenfeindlichkeit, die jedoch eher eine psychohygienische Maßnahme gegen<br />

die Wut auf den herrschenden Ungeist darstellt, als den Nietzsche schon seinerzeit den<br />

Nationalismus und Rassismus erkannte: "Nein, wir lieben die Menschheit nicht;<br />

andererseits sind wir aber auch lange nicht »deutsch« genug, wie heute das Wort<br />

»deutsch« gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhaß das Wort zu<br />

reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können,<br />

derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt,<br />

absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut<br />

unterrichtet, zu »gereist«: wir ziehen es bei weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits,<br />

»unzeitgemäß«, in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die


Metaphorische Gratwanderungen 57<br />

stille Wut ersparen, zu der wir uns verurteilt wüßten als Augenzeugen einer Politik, die<br />

den deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel macht, und kleine Politik außerdem<br />

ist - hat sie nicht nötig, damit ihre eigene Schöpfung nicht sofort wieder<br />

auseinanderfällt, sie zwischen zwei Todhasse zu pflanzen? muß sie nicht die<br />

Verewigung der Kleinstaaterei Europas wollen?..." 5 Besser könnten es heutige Politiker<br />

und Intellektuelle, die sich zu der Idee und Praxis eines vereinigten Europa bekennen,<br />

wohl nicht sagen.<br />

Zweierlei Gründe sprechen für ein geeintes Europa: zum Einen die Durchmischung<br />

aller Rassen auf diesem Kontinent, und zum Anderen die gemeinsame geistig-kulturelle<br />

Tradition, die -- ohne daß sie museal aufbewahrt wird -- in der Überwindung, die eine<br />

gründliche Durcharbeitung voraussetzt, die modernen Europäer definiert: "Wir<br />

Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als<br />

»moderne Menschen«, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-<br />

Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als<br />

Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des »historischen<br />

Sinns« zwiefach falsch und unanständig anmutet. Wir sind, mit einem Worte - und es<br />

soll unser Ehrenwort sein! - gute Europäer, die Erben Europas, die reichen, überhäuften,<br />

aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes:<br />

als solche auch dem Christentum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm<br />

gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit<br />

des Christentums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland<br />

zum Opfer gebracht haben." 6 Damit macht Nietzsche ganz deutlich, daß er nicht in<br />

einen Zustand vor der Moderne und dem Christentum zurückfallen will, sondern daß es<br />

ihm um eine Höherentwicklung der höchsten europäischen Werte und Errungenschaften<br />

geht, und daß dieses Projekt ebensoviel Tapferkeit erfordert, wie seinerzeit die<br />

Durchsetzung des Christentums in Europa.<br />

Angesichts dieser Äußerungen Nietzsches ist es paradox, daß die<br />

nationalsozialistische Ideologie sich seiner Philosophie bemächtigte. Das zeigt einmal<br />

mehr, daß Philosopheme nie aus ihrem Kontext, zu der auch ihre Genealogie gehört,<br />

herausgerissen und einfach zitiert werden können, da in diesem Fall immer der<br />

einfache, alltägliche Sinn ihrer Benutzer in sie hineinprojeziert wird. Gegen diese<br />

Verunglimpfung seiner Gedanken durch die Nazis war Nietzsche leider auch dadurch<br />

nicht gefeit, daß er "dunkel" schrieb, hatte er sich doch diese Devise zustimmend aus<br />

Jean Paul notiert: "Im Ganzen ist es recht, wenn alles Große von vielem Sinn für einen<br />

seltnen Sinn nur kurz und (daher) dunkel ausgesprochen wird, damit der kahle Geist es<br />

lieber für Unsinn erkläre als in seinen Leersinn übersetze. Denn die gemeinen Geister<br />

haben eine häßliche Geschicklichkeit, im tiefsten und reichsten Spruch nichts zu sehen<br />

als ihre eigne alltägliche Meinung." 7 Dem stellt er folgenden Aphorismus Jean Pauls zur<br />

Seite: "Zu den redenden Künsten gehört die schweigende." 8 Das, was Nietzsche an Jean<br />

Paul kritisiert, sein angeblich witzloser gelehrter Stil, der ihn als "Verhängnis im<br />

Schlafrock" erscheinen ließ, hat ihn jedoch auch davor bewahrt, für fragwürdige<br />

ideologische Zwecke mißbraucht zu werden, während Nietzsches Vorliebe für Schneid<br />

ihm wiederum zum Verhängnis geworden ist.


58 Nietzsche<br />

Dieser Schneid äußert sich z.B. in Nietzsches Vorliebe für das Motiv des Kriegers,<br />

wenn er etwa sagt: "Mutig, unbekümmert, spöttisch, gewalttätig - so will uns die<br />

Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann." 9 Damit wollte er<br />

sicherlich eine müde gewordene Zeit provozieren, doch ist diese Haltung auch als<br />

Kriegs- und Gewaltverherrlichung mißverstanden worden. Andererseits birgt die<br />

Metapher des Bergsteigens und Wanderns die Gefahr der Vereinsamung und der<br />

Selbstüberschätzung des großen Einzelnen, die zum Absturz führen. Nietzsche ist sich<br />

dieser Gefahren durchaus bewußt, und nimmt sie ohne Wehleid auf sich. Die Höhe steht<br />

in einem dialektischen Verhältnis zu den Tiefen, die er durchmessen muß. Das<br />

impliziert, daß die Selbsterhöhung durch Leiden erkämpft ist und Teil eines ständigen<br />

Prozesses der Auf- und Abstiegs ist. So heißt es im Zarathustra: "Also sprach<br />

Zarathustra im Steigen zu sich, mit harten Sprüchlein sein Herz tröstend: denn er war<br />

wund am Herzen wie noch niemals zuvor. Und als er auf die Höhe des Bergrückens<br />

kam, siehe, da lag das andere Meer vor ihm ausgebreitet: und er stand still und schwieg<br />

lange. Die Nacht aber war kalt in dieser Höhe und klar und hellgestirnt. Ich erkenne<br />

mein Los, sagte er endlich mit Trauer. Wohlan! Ich bin bereit. Eben begann meine letzte<br />

Einsamkeit. Ach, diese schwarze traurige See unter mir! Ach, diese schwangere<br />

nächtliche Verdrossenheit! Ach, Schicksal und See! zu euch muß ich nun hinabsteigen!<br />

Vor meinem höchsten Berge stehe ich und vor meiner längsten Wanderung: darum muß<br />

ich erst tiefer hinab, als ich jemals stieg: - tiefer hinab in den Schmerz, als ich jemals<br />

stieg, bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal: Wohlan! Ich bin<br />

bereit." 10 Die Dialektik von Höhe und Tiefe, Berg und Tal, wird noch einmal durch den<br />

geologischen Vergleich angesprochen: "Woher kommen die höchsten Berge? so fragte<br />

ich einst. Da lernte ich, daß sie aus dem Meere kommen. Dies Zeugnis ist in ihr Gestein<br />

geschrieben und in die Wände ihrer Gipfel." 11<br />

Der Berg ist somit etwas, das eine Perspektive erlaubt, auf ihn oder von ihm. Damit<br />

kann aber auch eine Enttäuschung einhergehen, wenn nämlich das, was man für Größe<br />

hielt, sich als weniger entpuppt. Daraus leitet Nietzsche ein Absehen von der<br />

Selbsterkenntnis ab: "Aus der Ferne. - Dieser Berg macht die ganze Gegend, die er<br />

beherrscht, auf alle Weise reizend und bedeutungsvoll: nachdem wir dies uns zum<br />

hundertsten Male gesagt haben, sind wir so unvernünftig und so dankbar gegen ihn<br />

gestimmt, daß wir glauben, er, der Geber dieses Reizes, müsse selber das Reizvollste<br />

der Gegend sein - und so steigen wir auf ihn hinauf und sind enttäuscht. Plötzlich ist er<br />

selber, und die ganze Landschaft um uns, unter uns, wie entzaubert; wir hatten<br />

vergessen, daß manche Größe, wie manche Güte, nur auf eine gewisse Distanz hin<br />

gesehn werden will, und durchaus von unten, nicht von oben - so allein wirkt sie.<br />

Vielleicht kennst du Menschen in deiner Nähe, die sich selber nur aus einer gewissen<br />

Ferne ansehen dürfen, um sich überhaupt erträglich oder anziehend und kraftgebend zu<br />

finden; die Selbsterkenntnis ist ihnen zu widerraten." 12 Allerdings wäre eine begrenzte<br />

Selbsterkenntnis die Voraussetzung der Erkenntnis, als Auslöser einer lebenslangen<br />

Reise.<br />

Vielleicht ist es daher ein Vorteil, nicht in den Kanon mit seinen präskriptiven<br />

Normen und Werten aufgenommen zu werden, sondern eher etwas abseits gelegen,<br />

Perspektiven für langsame und genaue Leser zu eröffnen. Statt Bergsteigen also doch


Metaphorische Gratwanderungen 59<br />

wieder die Mühen der Ebenen auf sich nehmen, die sich auf Kamelen oder zu Pferde<br />

reitend auf eine andere nomadisierende Weise den heutigen postmodernen Menschen<br />

erschließen. Statt Einsamkeit und Pathos des großen Einzelnen auf Bergeshöhen<br />

vernetztes Arbeiten in einem Team, in dem die Fähigkeiten jedes/jeder Einzelnen<br />

anerkannt werden. Statt der Pyramide als gesellschaftliches Modell ein Netzwerk mit<br />

möglichst vielen Knoten. Das bedarf jedoch eines hohen, breiten Bildungsniveaus als<br />

Fundament. Dafür lohnt es sich zu arbeiten.<br />

Anmerkungen<br />

1 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Karl<br />

Schlechta, München: Hanser, 1954. Bd. 2, S. 403<br />

2 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Bd. 2, S. 239<br />

3 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Bd. 2, S. 239.<br />

4 Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Bd. 2, S. 434-435.<br />

5 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Bd. 2, S. 253.<br />

6 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Bd. 2, S. 253.<br />

7 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Nachgelassene Schriften,<br />

1870-73, Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München:<br />

Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, 1988. = KSA 1.830<br />

8 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1872- Ende 1874, KSA 7.693<br />

9 Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Bd. 2, S. 306.<br />

10 Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Bd. 2, S. 404-405.<br />

11 Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 404-405.<br />

12 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Bd. 2, S. 48-49.


Sprache und Paranoia: J.M. Coetzee in Kafkas Erzählung Der<br />

Bau Der Bau<br />

In einer linguistischen Studie, die 1981 unter dem Titel Time, Tense and Aspect in<br />

Kafka’s ‘The Burrow’ in der Zeitschrift Modern Language Notes erschienen ist,<br />

versucht der südafrikanische Schriftsteller und Literaturkritiker, John Coetzee, den<br />

Gebrauch des iterativen Präsens in Kafkas letzter Erzählung Der Bau als Ausdruck<br />

einer ‘mystischen’ Zeiterfahrung zu verstehen, die den Rahmen jeglicher historischen,<br />

sozialen oder psychischen Determinanten sprengt. Während Coetzees Unterscheidung<br />

zwischen Zeit, Zeitform und Aspekt des Verbums für eine Analyse des Kafka’schen<br />

Zeitsystems bis heute nichts an Erkenntniswert eingebüßt hat, stimme ich mit dessen<br />

mystischer Deutung nur begrenzt überein, da sie meines Erachtens die paranoiden<br />

Elemente des Textes übersieht. Meine These ist, daß John Coetzee als südafrikanischer<br />

Schriftsteller im politischen Kontext der frühen achtziger Jahre gerade an dieser<br />

„Lösung” des Zeitkonflikts interessiert war, da sich für ihn in der zugespitzten<br />

Konfrontation zwischen dem Apartheidsystem einerseits und dem bewaffneten<br />

Widerstand des African National Congress andererseits keine Alternative bot als der<br />

Rückzug in eine mystische Zeitlosigkeit. Der um diese Zeit entstandene Roman The Life<br />

and Times of Michael K. scheint diese These zu bestätigen. Als ‘Korrektiv’ zu Coetzees<br />

‘mystischer’ Interpretation der Zeitstruktur in Kafkas Bau möchte ich eine<br />

‘psychoanalytische’ Lesart des Textes vorschlagen, die dessen paranoide Symptome<br />

berücksichtigt. Dabei geht es mir jedoch nicht um eine Psychoanalyse des Autors, Franz<br />

Kafka, sondern um die literarische Darstellung eines paranoiden Denksystems, das, wie<br />

die Erzählung impliziert, potentiell jeder sprachlichen Ordnung und Subjektwerdung<br />

zugrundeliegt.<br />

Coetzees Analyse des Zeitsystems im Bau stützt sich auf die Schrift Temps et verbe<br />

(1929), in der der kanadische Linguist, Gustave Guillaume, ein Modell des Verbums<br />

entwickelt, das sich aus einer Universal- und einer Ereigniszeit zusammensetzt. Die<br />

Universalzeit beruht auf dem bekannten irreversiblen Zeitpfeil der Newtonschen<br />

Physik, während die Ereigniszeit die Zeitspanne umschließt, die ein Ereignis braucht,<br />

um zustande zu kommen. Nach Guillaume könnte diese Ereigniszeit unendlich klein<br />

sein, ohne Zwischenraum zwischen Anfang und Ende. Auf grammatikalischer Ebene<br />

werden die Universal- und Ereigniszeit jeweils durch die Tempi und den Aspekt des<br />

Verbums repräsentiert. So vereinen sich im Verbsystem zwei unterschiedliche<br />

Zeitauffassungen.<br />

Guillaumes Begriff der Ereigniszeit ließe sich mit Bergsons Theorie der Erlebniszeit<br />

vergleichen, zu der ihn die „Unerträglichkeit [einer] dinghaft entfremdeten, leeren Zeit”<br />

nötigte. Auf erzähltheoretischer Ebene handelt es sich um den Unterschied zwischen der<br />

erzählten Zeit (dem Präteritum) und der Erzählzeit (dem Präsens), oder anders gesagt,<br />

zwischen dem Schreibprozeß und dem Geschriebenen.


62 Kafka<br />

Bei Kafka reiben die beiden Zeitsysteme aneinander, sodaß die Ereigniszeit die<br />

Universalzeit aushöhlt, ohne daß diese dadurch restlos verschwindet. Kafka reflektiert<br />

diesen Konflikt in seinem Tagebuch wie folgt:<br />

Die Uhren stimmen nicht überein, die innere jagt in einer teuflischen oder dämonischen oder<br />

jedenfalls unmenschlichen Art, die äußere geht stockend ihren gewöhnlichen Gang. Was kann<br />

anders geschehen, als daß sich die zwei verschiedenen Welten trennen, und sie trennen sich oder<br />

reißen zumindest aneinander in einer fürchterlichen Art. Die Wildheit des inneren Ganges mag<br />

verschiedene Gründe haben, der sichtbarste ist die Selbstbeobachtung, die keine Vorstellung zur<br />

Ruhe kommen läßt, jede emporjagt, um dann selbst wieder als Vorstellung von neuer<br />

Selbstbeobachtung weitergejagt zu werden. (T 877)<br />

Kafka nennt bezeichnenderweise die Selbstbeobachtung als Antriebsfeder des<br />

Sturmlaufs der inneren Zeit, der hier eindeutig paranoide Züge aufweist: die Gedanken<br />

verfolgen einander offensichtlich automatisch. Daß der Prozeß der Selbstreflektion zu<br />

keinem Ergebnis führt, weist darauf hin, daß die innere Zeit nicht mehr der Kontrolle<br />

des Ichs unterliegt. Damit wird aber auch die Erlebniszeit bei Kafka zum Ausdruck der<br />

psychischen Entfremdung als Pendant zur „dinghaft entfremdeten, leeren Zeit”<br />

Bergsons.<br />

Der Sturmlauf der inneren Gedanken geht bei Kafka mit dem äußerem Stillstand<br />

einher. Damit deutet er an, daß die kritische Vernunft der Aufklärung, die auf die<br />

Erkenntnis der Wahrheit und die Verbesserung der Gesellschaft zielte, in der Moderne<br />

in krankhafte Selbstbeobachtung umgeschlagen ist, die jeden Bezug zur empirischen<br />

Wirklichkeit grundsätzlich ausschließt. Stattdessen bewegen sich Kafkas Figuren im<br />

System der sprachlichen Repräsentation, aus dem es kein Entrinnen gibt, außer den Tod.<br />

Innerhalb des Spiels des gleitenden Signifikanten sind sie selbst zu Zeichen geronnen.<br />

Das Ich beherrscht nicht mehr die Spielregeln der Sprache, sondern wird wie eine Figur<br />

in einem Spiel bewegt, das nach unbekannten Regeln gespielt wird. Die Erzählung Der<br />

Bau macht die paranoide Struktur des rationalistischen Denkens besonders deutlich<br />

sichtbar, eines Denkens, das darauf hinzielt, eine ihm inkommensurable Realität zu<br />

beherrschen, andererseits sich von dieser Realität in seine in der Sprache selbst<br />

konstruierte Realität zurückzuziehen, wenn diese Realität sich als eine bedrohliche<br />

enthüllt. Die Psychoanalyse kann dazu beitragen, die Zeichen dieser unbewußten Schrift<br />

zu entziffern, doch ist sie selbst, wie Kafka sagt, nur Spiegelschrift einer Spiegelschrift.<br />

Ich meine, daß die Paranoia sich erzähltechnisch im iterativen Präsens und im Irrealis<br />

manifestiert. Um bei der Metapher des stehenden Sturmlaufs zu bleiben, wäre das<br />

immerwährende Präsens der tote Punkt des Sturms, d.h. der unbewußte Konflikt, der<br />

den Sturmlauf der Gedanken generiert, während die einander jagenden Gedanken im<br />

Irrealis artikuliert werden. Coetzee macht darauf aufmerksam, daß das immerwährende<br />

Präsens dazu dient, einen wiederkehrenden Tatbestand zu schildern, wie absurd er auch<br />

sein mag. Coetzee versteht die regelmäßigen Panikausbrüche des Tiers im Bau als<br />

durchaus verträglich mit dem normalen Gebrauch des Präsens. Er zieht als Beispiel den<br />

Satz heran: ‘Jeden Monat laufe ich nackt durch die Straßen’ .Coetzee stellt fest, daß<br />

Kafka das iterative Präsens aber auch benutzt, um plötzliche Ereignisse darzustellen, die<br />

etwa dem folgenden Satz entsprächen: ‘Jeden Monat laufe ich impulsiv nackt durch die


Coetzee in Kafkas Bau 63<br />

Straßen’ .Dieser zweite Satz erscheint widersinnig, da sich das Wiederkehrende und für<br />

die Zukunft Vorhersehbare nicht mit dem Plötzlichen verträgt, das jede Vorraussage der<br />

Zukunft verhindert. Solche Sätze häufen sich jedoch in Kafkas Bau mit der<br />

zunehmenden Unsicherheit des Tieres, die trotz seiner ständigen Sicherheitsbemühungen<br />

sein Bewußtsein beherrscht.<br />

Die Angst des Tieres im Bau vor einem imaginierten Feind ruft jedoch auch<br />

Symptome hervor, wie sie Zwangs- und Angstneurotikern zu eigen sind. Nach Pongratz<br />

ist die Zwangsneurose durch „persistierende Bewußtseinsinhalte, Handlungsimpulse<br />

oder Handlungen charakterisiert, von denen der Betreffende sagt, daß er sie nicht oder<br />

nur schwer kontrollieren könne. Die Symptome werden häufig als unsinnig,<br />

wesensfremd, und angstauslösend erlebt, und sie scheinen gegen den inneren<br />

Widerstand des Zwangsneurotikers aufzutreten. Üblicherweise erfolgt eine Unterteilung<br />

der zwangsneurotischen Symptome in Zwangsgedanken (obsessions) und<br />

Zwangshandlungen (compulsions).” Pongratz fährt fort, die Zwangsgedanken wie folgt<br />

zu definieren: „Zwangsgedanken können sich als Zwangsgrübeln oder als Zwangsideen<br />

manifestieren. Beim Zwangsgrübeln handelt es sich um einen Zustand der<br />

Handlungsunsicherheit und des Handlungsunvermögens. Ein Individuum schwankt<br />

unentschlossen zwischen verschiedenen Handlungsalternativen, prüft endlos ihre Vor-<br />

und Nachteile und gelangt zu keiner Entscheidung; oder vergangene Handlungen<br />

werden in Gedanken immer wieder durchgespielt, und dabei treten Zweifel auf, ob sie<br />

richtig oder ob sie überhaupt ausgeführt wurden.”<br />

Als ein solcher Zwangsgedanke kann die Idee des Feindes und die daraus<br />

resultierenden Sicherheitsbestrebungen angesehen werden, obwohl es hier undeutlich<br />

wird, was Ursache und was Wirkung ist. Die Auflösung solcher Grundkategorien des<br />

rationalen Denkens, wie Zeit, Raum und Kausalität, läßt sich außerdem an dem<br />

Zwangsgrübeln beobachten, das sich vornehmlich des Modus des Konjunktiv<br />

Präteritums bedient, das nicht nur alles bereits Geleistete des Tiers zu nichte zu machen<br />

droht, sondern auch ein vernünftiges Handeln in der Zukunft verhindert. So reflektiert<br />

das Tier noch einmal die Vor- und Nachteile des offenen Eingangs gleich am Anfang<br />

der Erzählung, nachdem es ihn schon eingerichtet hat, und malt sich einen Hohlraum für<br />

seinen Burgplatz aus, der ihn vollkommen schützen soll, obwohl er meint, nicht mehr<br />

die Kraft für die Ausführung dieses Plans zu besitzen. Dies widerspricht der<br />

anfänglichen Behauptung, daß er sich auf dem Höhepunkt seines Lebens befinde. Auf<br />

Zwangshandlungen deuten auch die „fünfzig Vorratsplätze” hin, die das Tier immer<br />

dann anlegt, wenn es wieder einen paranoiden Schub hat, mit der vermeintlichen<br />

Absicht, seinen Feind von dem Hauptvorratsplatz, dem Burgplatz, abzulenken.<br />

Ein weiteres paranoides Symptom besteht in den auralen Halluzinationen des Tieres.<br />

So wird es regelmäßig durch Geräusche geweckt, die es für Zeichen des Feindes hält.<br />

Im Laufe der Erzählung wird dieses Warnsignal eines bevorstehenden Angriffs zu<br />

einem ständigen Zischen, das das Tier bald aus der Ferne, bald in nächster Nähe<br />

wahrzunehmen glaubt. Es versucht, diesem Zischen auf die Spur zu kommen, doch es<br />

gelingt ihm nicht. Stattdessen verläßt ihn das Geräusch am Ende der Erzählung gar<br />

nicht mehr, ja es scheint sich in seinem Körper eingenistet zu haben. Hiebel hat dieses<br />

Zischen biographisch gedeutet, als ein Hinweis auf Kafkas eigenes Lungenleiden: Der


64 Kafka<br />

BAU „ist im letzten Lebensjahr des von Lungentuberkulose gepeinigten Kafka<br />

entstanden. Der herankommende Gegner ist unerkennbar; es geht um ein Tier, das ‘ich<br />

noch nicht kenne’ (ER 433, vgl. 438f.). Die Gefahr wird verdrängt; sie wird<br />

‘verleugnet’, d.h. anerkannt wie abgewehrt zugleich: Das Tier gräbt verzweifelt und<br />

doch ‘glaubt’ es ‘im Grunde nicht’ an ein böses Ende, ein ‘schreckliches Ergebnis’ (ER<br />

434). Der Gegner wohnt im Inneren, daher hört das Tier auch am Ende außerhalb<br />

seines Baues ‘tiefe Stille’ (ER 437), in seinem Bau, der es selbst ist, herrscht Unruhe,<br />

‘Zischen' .Dennoch bleibt der Gegner ‘Anderer’; im ‘Zirkel von Außen und Innen’ ist<br />

der äußere Feind durch den inneren, durch Zwang und Angst, ersetzt, ist Symptom,<br />

Krankheit und Thanatos geworden. Die Geschichte wird zu einem ‘Mythos des<br />

Unbewußten’; nur symbolisch, nur andeutungsweise kann von einem mythischen<br />

Gegner gesprochen werden: ‘Vor dieser Erscheinung versagen meine ersten<br />

Erklärungen völlig’ (ER 433). Die Kausalerklärung wird dem ‘Unerklärlichen’ - in<br />

welches auch die Sagen von PROMETHEUS münden (ER 351f.) - nicht gerecht. Schon<br />

am Beginn der Erzählung gedenkt das Tier der Feinde im ‘Innern der Erde’: ‘Ich habe<br />

sie noch nie gesehen, aber die Sagen erzählen von ihnen’; gleichwohl gilt: ‘nicht einmal<br />

die Sage kann sie beschreiben’ (ER 413).”<br />

Im iterativen Präsens und im Irrealis der Erzählung schlägt die Rationalität in<br />

Irrationalität um, indem sich die Zeitlosigkeit des rationalistischen Diskurses, der den<br />

Anspruch auf ewige Wahrheit erhebt, mit der Zeitlosigkeit des Unbewußten überkreuzt<br />

und verwirrt, sodaß ein einziges Sinnknäuel entsteht. In diesem Moment bricht das<br />

System der Universalzeit zusammen, nach dem sich das Subjekt zwischen<br />

Vorstellungen der Vergangenheit, Präsens und Zukunft bewegen könnte. Stattdessen<br />

fällt das Zeitkontinuum in lauter untereinander unverbundene Jetztmomente<br />

auseinander.<br />

Die Erzählung beginnt zu einem Zeitpunkt nachdem das Tier den Bau eingerichtet<br />

hat. Das wird durch den Übergang von der Perfektform in das Präsens angedeutet: „Ich<br />

habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen.” Das Perfekt könnte hier<br />

bedeuten, daß das Tier den Bau gerade erst fertiggestellt hat, und daher noch nicht die<br />

zeitliche Distanz gewonnen hat, die den Gebrauch des Präteritums rechtfertigen würde.<br />

Das Tier blickt auf seine gerade vollendete Arbeit zurück und hält sie für gelungen.<br />

Wichtig ist die Qualifikation dieses Urteils durch das Verb „scheinen", was die Aussage<br />

als subjektive und widerlegbare ausweist. Damit gibt sich das Ich ausdrücklich nicht als<br />

auktorialer Erzähler zu erkennen. Nach dem ersten Satz wechselt der Ich-Erzähler<br />

bereits ins iterative Präsens über, um die Vor- und Nachteile der<br />

Sicherheitsvorkehrungen zu schildern, die er getroffen hat, um seinen Bau vor äußeren<br />

Angriffen zu schützen. Darüber hinaus geht es dem Tier um Vorsorge für das Alter,<br />

worauf der Burgplatz mit den Nahrungsvorräten hinweist. Daß die Sorge des Tieres das<br />

normale Maß übersteigt, zeigen seine Vorstellungen, in denen sein Bau bereits vom<br />

realen Feind zerstört ist. Diese Halluzinationen, die um den schwächsten Punkt seines<br />

Baues kreisen, nämlich den Eingang, lassen ihm nun keine Ruhe mehr: Mein „Leben<br />

hat selbst jetzt auf seinem Höhepunkt kaum eine völlig ruhige Stunde, dort an jener<br />

Stelle im dunklen Moos bin ich sterblich und in meinen Träumen schnuppert dort oft<br />

eine lüsterne Schnauze unaufhörlich herum” .(360) Die Lücke in seinem


Coetzee in Kafkas Bau 65<br />

Sicherheitssystem erinnert ihn an seine eigene Sterblichkeit. Signifikant ist, daß sich<br />

seine Sterblichkeit in dem Traumsymbol der lüsternen Schnauze äußert, d.h. in einem<br />

Bild des sexuellen Begehrens, das zugleich durch die Todesangst abgewehrt wird.<br />

Damit wird ein Grundthema der Erzählung, nämlich die Verschränkung von Eros und<br />

Thanatos angestimmt. Durch den Hinweis auf den Traum wird jedoch die Quelle der<br />

Unruhe deutlich: Das Unbewußte kann sich während des Schlafes freieren Ausdruck<br />

verschaffen, da die Zensur durch das Über-Ich gelockert ist. Das Unbewußte läßt sich<br />

aber in kein Zeitsystem zwängen, im Unbewußten herrscht die endlose Präsenz alles<br />

Gewesenen, Seienden und Zukünftigen ununterscheidbar, und so bricht es in das<br />

Traumbewußtsein als regelmäßige, doch unberechenbare Macht ein:<br />

Ich weiß nicht, ob es eine Gewohnheit aus alten Zeiten ist oder ob doch die Gefahren auch dieses<br />

Hauses stark genug sind, mich zu wecken: regelmäßig von Zeit zu Zeit schrecke ich auf aus tiefem<br />

Schlaf und lausche, lausche in die Stille, die hier unverhindert herrscht bei Tag und Nacht, lächle<br />

beruhigt und sinke mit gelösten Gliedern in noch tieferen Schlaf. Arme Wanderer ohne Haus, auf<br />

Landstraßen, in Wäldern, bestenfalls verkrochen in einen Blätterhaufen oder in einem Rudel der<br />

Genossen, ausgeliefert allem Verderben des Himmels und der Erde! Ich liege hier auf einem<br />

allseits gesicherten Platz - mehr als fünfzig solcher Art gibt es in meinem Bau und zwischen<br />

Hindämmern und bewußtlosem Schlaf vergehen mir die Stunden, die ich nach meinem Belieben<br />

dafür wähle. (361)<br />

Durch diesen letzten Satz entsteht der widersinnige Eindruck, daß das Tier diese<br />

Panikausbrüche selbst gewollt hat. So behauptet es selbst noch im Schlaf die Kontrolle<br />

über sein Unbewußtes. Es fragt sich, ob das Tier den Feind von außen nach innen<br />

projeziert hat, oder ob er nicht schon immer in seinem Innern vorhanden war, und bloß<br />

durch die äußeren Umstände, die das Tier nicht mehr bewältigen kann, zum Vorschein<br />

kommt. Freud veranschaulicht den atemporalen Charakter des Unbewußten, indem er es<br />

mit der alten Stadt Roms vergleicht, in der sich die Schichten der verschiedenen<br />

historischen Epochen abgelagert haben. Historiker könnten theoretisch die Überreste<br />

der Vergangenheit wiedererkennen, wenn sie nicht durch Kriege und Brände zerstört<br />

wurden. Nach Freud spielen die Traumata eine ähnliche Rollen im Unbewußten wie die<br />

Kriege und Brände, indem sie Gedächtnisspuren auslöschen. Man könnte behaupten,<br />

daß das Trauma eine Regression auf eine frühere Entwicklungsstufe auslöst, so wie die<br />

Erwähnung der Ungeheuer der Tiefe im Bau darauf hinweist, daß die rationalen<br />

Erklärungsmuster des Tieres bereits fundamental verunsichert sind.<br />

Mit der Universalzeit löst Kafka auch die Trennung von Innen und Außen auf, sie<br />

gehen wie ein Möbius-Streifen unmerklich ineinander über. Das Tier spricht von den<br />

mythischen Ungeheuern der Tiefe, die es noch nie gesehen hat, als ob ihnen eine reale<br />

Gefahr innewohne. Das Tier ist offenbar nicht in der Lage, zwischen realer und<br />

imaginierter Gefahr, Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden. Es erscheint<br />

wahnwitzig, daß es beides mit demgleichen Anspruch auf eine vernünftige Realität<br />

behandelt. Ironischerweise macht Kafka den Leser dadurch auf den Zeichencharakter<br />

der Realität aufmerksam.<br />

Freud verweist auf den sprachlichen Charakter der Paranoia, indem er zeigt, wie die<br />

Hauptformen der Paranoia als Widersprüche des einen Satzes: „ich [ein Mann] liebe ihn<br />

[einen Mann] gelesen werden können, ja daß sie „alle möglichen Formulierungen dieses


66 Kafka<br />

Widerspruches erschöpfen” .Freud führt vor, wie der Verfolgungswahn diesem Satz<br />

widerspricht, indem er behauptet: „Ich liebe ihn nicht — ich hasse ihn ja.” Das<br />

bedeutet, daß das Verbum „lieben” in sein Gegenteil „hassen” verkehrt wird. Dieser<br />

Widerspruch könne aber beim Paranoiker in dieser Form nicht bewußt werden. Der<br />

Mechanismus der Symptombildung bei der Paranoia fordere, daß die innere<br />

Wahrnehmung, das Gefühl, durch eine Wahrnehmung von außen ersetzt werde. Somit<br />

verwandele sich der Satz „ich hasse ihn ja” durch Projektion in den andern: Er haßt<br />

(verfolgt) mich, was mich dann berechtigen wird, ihn zu hassen. Damit wird nicht nur<br />

das Verbum, sondern auch das Subjekt und Objekt vertauscht. Das treibende unbewußte<br />

Gefühl erscheint so als Folgerung aus einer äußern Wahrnehmung: Ich liebe ihn ja<br />

nicht — ich hasse ihn — weil er mich verfolgt. Freud meint, daß der Satz<br />

noch einen vierten Widerspruch zulasse, nämlich die Ablehnung des ganzen Satzes:<br />

„Ich liebe überhaupt nicht und niemand” .Da man mit seiner Libido aber irgendwohin<br />

müsse, bedeute dieser Satz: „ich liebe nur mich” .Diese Art des Widerspruchs ergebe<br />

den Größenwahn.<br />

Diese vier Stufen der Libidobesetzung und schließlich des Libidoentzugs von der<br />

Außenwelt läßt sich an Kafkas Tier feststellen. Sie erklären zumindest teilweise sein<br />

Schwanken zwischen dem Bedürfnis, einen Freund im Bau aufzunehmen, und der<br />

Unfähigkeit, diesen Wunsch zu verwirklichen. Bezeichnenderweise scheitert diese<br />

Beziehung an der Angst, daß der Freund zu seinem potentiellen Verfolger werden<br />

könne. Damit bleibt aber die Regression der Libido auf das Ich als einzige Möglichkeit<br />

übrig. Kafka stellt die Zeichen des sozialisierten Begehrens im Ich dar, die dem Tier<br />

keine Ruhe lassen, und es immer wieder an die Grenzen seiner Sprache, ohne die es<br />

nicht existieren kann, stoßen lassen. Der Versuch, aus dem Bau auszubrechen, wäre der<br />

Versuch, außerhalb der Sprache zu leben. Dieses Leben am Rande der Gesellschaft und<br />

der Sprache ist dem Tier aber unerträglich, wie sein Fluchtversuch zeigt. Während sein<br />

Bau ihm noch ein relatives Maß an Sicherheit gewährt, steigert sich seine Angst<br />

außerhalb des Baus bis zur Panik, die ihn schließlich völlig erschöpft und ohne<br />

Deckung in seinen Bau zurückkriechen läßt.<br />

Der Unterschied zwischen der klinischen Paranoia und Kafkas Erzählung liegt<br />

jedoch darin, daß Kafka die Reflektionen seines Erzähl-Ichs inszeniert, während ein<br />

klinischer Fall von Paranoia seine Wahnvorstellungen unbewußt hervorbringen würde.<br />

Kafkas literarische Darstellung der Paranoia wirft zudem grundlegende Fragen über<br />

Rationalität und Wahnsinn, Sprache und Geschichte, Begehren und Tod auf.<br />

Meine These ist, daß Coetzee um 1980 an Kafkas ‘Lösung’ des Konflikts zwischen<br />

der Universal- und Ereigniszeit interessiert war, um das Recht südafrikanischer<br />

Schriftsteller auf die Darstellung der Ereigniszeit einzuklagen. Das bedeutet, daß er sich<br />

nicht der Forderung linker Schriftsteller, die Apartheid kritisch zu entlarven,<br />

unterwerfen wollte, was ästhetisch einem kritischen Realismus im Sinne Lukàcs’<br />

entsprach. Der objektiven Realität stellt er die subjektive Zeit des Schreibens entgegen.<br />

Damit stellt er aber auch die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, Sprache<br />

und Realität radikal in Frage. Es ist daher wohl kein Zufall, daß er sich die Erzählung<br />

Der Bau auswählte, in dem das Tier jegliche Beziehung zur Außenwelt abgeschnitten<br />

hat und endlos über seine Lage reflektiert.


Coetzee in Kafkas Bau 67<br />

Coetzee versucht, den Konflikt zwischen den beiden Zeitsystemen zu lösen, indem er<br />

die lineare, historische Universalzeit für nichtig erklärt, während er den gegenwärtigen<br />

Moment als den entscheidenden setzt. In einem Interview mit David Attwell bestätigt<br />

Coetzee das, wenn er meint, daß keiner, der Kafkas Auseinandersetzung mit dem<br />

deutschen Zeitsystem gefolgt wäre, leugnen könne, daß er eine Intuition einer<br />

alternativen Zeit gehabt habe, einer Zeit, die das Alltägliche durchbreche, über die es<br />

aber genauso sinnlos sei, im Deutschen wie im Englischen nachzudenken. Kafka deute<br />

zumindest an, daß es möglich sei, für Augenblicke, wie kurz auch immer, außerhalb der<br />

eigenen Sprache zu denken und vielleicht darüber zu zu berichten, wie es sei, außerhalb<br />

der Sprache überhaupt zu denken. Coetzee fügt jedoch die offene Frage hinzu, warum<br />

man außerhalb der Sprache denken solle, und ob es dort etwas gebe, was sich zu denken<br />

lohne?<br />

Er bezieht sich dabei auf den folgenden Aphorismus Kafkas: „Der entscheidende<br />

Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die<br />

revolutionären Bewegungen, welche alles frühere für nichtig erklären, im Recht, denn<br />

es ist noch nichts geschehen.” Damit verleiht er dem iterativen Präsens in Kafkas<br />

Erzählungen jedoch eine quasi-mystische Bedeutung, statt sie im Lichte der sozialen<br />

Entfremdung oder des psychischen Zusammenbruchs zu sehen. Er erkennt, daß es<br />

Kafka um die Erfahrung eines Zusammenbruchs der Zeit oder des Zeitsinnes gehe: ein<br />

Moment fließe nicht in den nächsten — im Gegenteil, über jedem Moment stehe die<br />

Drohung oder das Versprechen, ein zeitloses Immer zu sein (nicht zu werden), das<br />

weder mit dem vorherigen verbunden noch aus ihm hervorgegangen ist. Man habe nun<br />

die Wahl, dies als Symptom des psychologischen Zusammenbruchs der Person Kafka<br />

zu verstehen, aber nur auf das Risiko hin, jede sogenannte mystische Intuition als<br />

pathologisch abzuwerten.<br />

Coetzee übersieht jedoch, daß dieser Moment der Gnade in Kafkas Erzählung Der<br />

Bau nicht eintritt oder nicht eintreten kann, da das Tier sich in einem psychotischen<br />

Zirkel befindet, aus dem es keine Möglichkeit gibt, auszubrechen. In das<br />

immerwährende Präsens brechen regelmäßig Panikanfälle ein, die ebenfalls im<br />

iterativen Präsens erzählt werden. Die paradoxe Zeitstruktur der Erzählung ist<br />

symptomatisch für psychogene Störungen, wie z.B. Paranoia. Während das Unbewußte<br />

der psychischen Konstitution jedes normalen Individuums zugrundeliegt, reißt es bei<br />

pathogenen Fällen die Schranken des Bewußtseins nieder, das sich im<br />

Koordinatensystem von Zeit, Raum und Kausalität bewegt. Im Bau zeichnet Kafka<br />

den progressiven Abbau der normalen Zeit-, Raum- und Kausalitätsverhältnisse durch<br />

den Verfolgungswahn des Tieres nach.<br />

Der Versuch, die lineare Zeit aus den Angeln zu heben, scheint allein schon deshalb<br />

zum Scheitern verurteilt, da sie spätestens mit dem Tod das Ich einholt. Das<br />

Todesbewußtsein und die Todesangst wird damit zum weiteren Auslöser der paranoiden<br />

Reflektionen des Tieres. Der Tod ist die unschließbare Lücke in jedem<br />

Sicherheitssystem. Dieser Moment der Wahrheit kann höchstens immer wieder<br />

aufgeschoben werden. Da der Tod der Angst aber ein Ende setzen würde, erscheint er<br />

auch begehrenswert. Daraus entsteht die paradoxe Struktur der Erzählung, in der sich<br />

Begehren und Abwehr, Eros und Thanatos verschränken.


68 Kafka<br />

Es fragt sich, ob dieser Konflikt nicht der Sprache und der Ichkonstitution überhaupt<br />

zugrundeliegt, denn die Sprache stellt ja den Versuch des Menschen dar, Kontrolle über<br />

seine Umwelt zu erlangen. Dazu erfindet er sich ein System, um die Zeit zu ordnen, das<br />

wir „Historie” nennen. Dem Ich erscheint die Geschichte seiner Gesellschaft aber zu<br />

abstrakt und allgemein, als daß er sich mit ihr identifizieren könnte, denn sie erinnert<br />

ihn an seine Insignifikanz im Weltgeschehen. Gegen diese universelle Zeit hält der<br />

Dichter nun sein eigenes, subjektives Zeitkonzept, das bestimmte Augenblicke zu einer<br />

Ewigkeit ausdehnt, während es längere Zeitspannen zusammenrafft. Coetzee meint, daß<br />

dieses subjektive Zeitbewußtsein sowohl dem Dichter als auch dem Leser ein Gefühl<br />

der Allmacht vermittle, ohne daß er auf den Anteil des Unbewußten hinweist, wie Freud<br />

ihn in der Traumarbeit und im Witz herausgearbeitet hat.


Immoralität als Gedankenexperiment: Musils Törleß und<br />

Nietzsches Machtbegriff<br />

In Nietzsches Denken ist der Begriff des Willens zur Macht zugleich der kontroverseste<br />

und am meisten mißbrauchte. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß Nietzsche den<br />

Begriff nie theoretisch definiert und konsistent anwendet, zum Teil mit dem von<br />

Elisabeth Förster-Nietzsche und Alfred Bäumler postum herausgegebenen „Hauptwerk”<br />

des gleichen Titels. 1 Dieses fiktive Werk trug dazu bei, daß der Wille zur Macht als<br />

vitalistisches Machtstreben (miß)verstanden werden konnte, das alle Mittel zum<br />

Zwecke der Machtsteigerung einer Herrenrasse rechtfertigt. Der Wille zur Macht galt<br />

damit als Voraussetzung der typologischen Trennung zwischen Herren- und<br />

Sklavenmenschen. In dieser Version konnte der Begriff von der Ideologie des<br />

Faschismus unbesehen übernommen werden. 2 Die verstreuten Äußerungen Nietzsches<br />

zum Willen zur Macht deuten dagegen eher auf ein psychologisches Prinzip hin, der<br />

Libido vergleichbar, nach dem die Stärke und Gesundheit eines Individuums, einer<br />

Klasse oder einer Gesellschaft ermessen werden kann. 3 In diesem zweiten Sinne ist der<br />

Begriff der Maßstab für Nietzsches Kritik der décadence, mit dem er die gesamte<br />

Geschichte Europas seit dem Verfall des Römischen Reiches bis zu seiner Gegenwart<br />

beurteilt. Im folgenden geht es aber nicht so sehr um die Problematik der décadence, als<br />

um die Interpretation und Infragestellung des Begriffs des Willens zur Macht in Musils<br />

Erstlingsroman, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß.<br />

Daß Musil bereits vor der Entstehung des Romans mit Nietzsches Werk vertraut war,<br />

bezeugen die Tagebücher. In der Tagebuchnotiz vom 15.5.1902 mißt Musil seiner<br />

ersten Nietzsche-Lektüre mit achtzehn Jahren eine besondere Bedeutung bei:<br />

Schicksal: Daß ich Nietzsche gerade mit achtzehn Jahren zum ersten Male in die Hand bekam.<br />

Gerade nach meinem Austritt vom Militär. Gerade im so und so vielten Entwicklungsjahr. (MUSIL<br />

1983: 19)<br />

Die Notizen aus diesen Entstehungsjahren des Törleß kreisen um Themen wie<br />

Wahrheit, Stil und décadence. Die Notiz vom 20.2.1902 greift Nietzsches<br />

Infragestellung der Wahrheit auf:<br />

Es giebt Wahrheiten aber keine Wahrheit. Ich kann ganz gut zwei einander völlig entgegengesetzte<br />

Dinge behaupten und in beiden Fällen Recht haben. Man darf Einfälle nicht gegeneinander<br />

abwägen — jeder ist ein Leben für sich. Siehe Nietzsche. Welches Fiasco sobald man in ihm ein<br />

System finden will, außer dem der geistigen Willkür des Weisen. (MUSIL 1983: 12)<br />

Die Auflösung einer absoluten Wahrheit durch den Perspektivismus wird schon als<br />

Kompositionsprinzip im Törleß sichtbar. Auch in seinem Stilempfinden ließ Musil sich<br />

von Nietzsches Devise, „hell, luftig, einräumend [zu] schreiben!” leiten. (2.3.1902) Sie<br />

bildet eine Seite des Zwiespalts des dekadenten Stils, dem „Wurzelfehler unseres Stils”;<br />

die entgegengesetzte Devise lautet, „[m]an müßte finster, dämonisch, mystisch grausam<br />

sein” .(MUSIL 1983: 15)


70 Musil<br />

Die Notiz vom 8.5.1902 verweist auf eine zweite große Nietzsche-Lektüre, in der<br />

Musil seine ersten Eindrücke wohl überprüfen und vertiefen wollte. Sie ist von einer<br />

erwartungsvoll-gespannten Stimmung getragen:<br />

Heute zwei große Bände Nietzsche aus dem Franzensmuseum entliehen. Unwillkürlich heilige<br />

Stimmung, denn wie las ich ihn einst! / Wie wird er wohl dies mal auf mich wirken?! / Jedenfalls<br />

bedeutet er Sammlung, Selbstprüfung und Alles Mögliche Gute. / Die Vorrede zur fröhlichen<br />

Wissenschaft las ich bereits. Sie ist von einer einräumenden Art, [von der] über die [sic] ich<br />

einmal etwas notierte. (MUSIL 1983: 19)<br />

Diese Lektüre führt zu einer kritischeren Einstellung zu Nietzsches<br />

Möglichkeitsdenken. Am 13. 5. 1902 notiert sich Musil:<br />

Kurz: er spricht von lauter Möglichkeiten, lauter Combinationen, ohne eine einzige uns wirklich<br />

ausgeführt zu haben. [...] Es ist nichts Lebendiges in dieser Art — das Gehirn phantasirt. / Hier ist<br />

es ja allerdings noch das +++ Gehirn Nietzsches — aber es giebt Leute, bei denen diese Art ganz<br />

unerträglich wird. (MUSIL 1983: 19) )<br />

Im Jahre 1923 kommentiert Musil diese Überheblichkeit ironisch:<br />

Wie drollig man als junger Mensch ist! Nietzsche gerade gut genug um einem Lausbuben als Stufe<br />

zu dienen! Wie man nur das sieht, was man unter sich sieht! Wie fern der Gedanke liegt, auf den<br />

Totalgedanken Nietzsche einzugehen. (MUSIL 1983: 19)<br />

Trotzdem bleiben Musils Äußerungen zu Nietzsche auch weiterhin skeptischdistanziert.<br />

So schreibt er in Heft 33 (1937--etwa Ende 1941): „[W]elche<br />

verführerischen Schwächen die Sprache Nietzsches hat!” (MUSIL 1983: 923) Nietzsche<br />

zog solche kritischen Leser aber gläubigen Jüngern vor.<br />

Die Beziehungen zwischen Nietzsche und Musil sind von der Musil-Forschung<br />

eingehend untersucht worden, obwohl der Begriff des Willens zur Macht darin kaum<br />

eine Rolle spielt. 4 Ingo SEIDLER (1965: 332) weist darauf hin, daß Musils Nietzsche-<br />

Zitate in den Tagebüchern auch aus der Schrift Der Wille zur Macht stammen, ergänzt<br />

aber, daß der Begriff des Willens zur Macht „kaum am Rande berührt [wird]: nachdem<br />

dieser Gedanke einige Male in politischen Zusammenhängen aufgetaucht war, wird von<br />

ihm allerdings gesagt, Nietzsche habe ihn ‘ins Geistige’ sublimiert’ (I/1344 ) — eine<br />

späte und merkwürdig unbeholfene Annäherung an die Einsicht, daß dieser Begriff für<br />

Nietzsche eben von Anfang an kein Politikum, sondern ein Metaphysikum darstellte.”<br />

(SEIDLER 1965: 334) Jahre nach seiner ersten Nietzsche-Lektüre, zwischen 1939 und<br />

1941, befindet sich eine selbstkritische Notiz in Musils Tagebuch, die auch Nietzsche<br />

trifft: „Die Gründung des Menschen auf Macht ist nicht über Nietzsche hinausgedacht.”<br />

(MUSIL 1983: 993) Meines Erachtens findet die Auseinandersetzung mit Nietzsches<br />

Machtbegriff und seinen politischen Implikationen bereits im Törleß statt.<br />

Das Verhältnis von Nietzsche und Musil ist jedoch nicht im Sinne einer<br />

Beeinflussung zu verstehen, sondern eher als kritische Auseinandersetzung, in der<br />

Musil Aspekte von Nietzsches Philosophie aufgreift, die seinen eigenen Interessen<br />

entsprechen und andere verwirft, die ihm problematisch erscheinen. Einer dieser<br />

problematischen Aspekte scheint für Musil der Wille zur Macht zu sein. Musil spielt ihn


Immoralität als Gedankenexperiment 71<br />

mittels der Figuren im Törleß in seinen verschiedenen Ausprägungen durch und<br />

distanziert sich von ihm. Diese Distanz mündet zunächst noch in keine politische<br />

Alternative, sondern in einen ästhetischen Immoralismus, den Musil selbst später<br />

angesichts der faschistischen Gefahr der dreißiger und vierziger Jahre als unzulänglich<br />

durchschaut. Er prägte jedoch die Haltung der bürgerlichen Intellektuellen um die<br />

Jahrhundertwende und trägt unverkennbar die Signatur Nietzsches.<br />

Der Immoralismus leitet sich aus Nietzsches Kritik an der bürgerlichen Moral her,<br />

die auf dem Christentum und der Aufklärung beruht. Die Voraussetzung einer Kritik an<br />

der überkommenen Moral besteht nach Nietzsche darin, daß man zwischen Werten und<br />

moralischen Werturteilen unterscheidet. Moralische Wertsetzungen seien<br />

„psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur<br />

Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur<br />

fälschlicherweise projiziert in das Wesen der Dinge.” (NIETZSCHE 1930: 16) Damit<br />

beleuchtet Nietzsche den Nexus von bürgerlichen Machtverhältnissen und bürgerlicher<br />

Moral, ein Aspekt, der sich für eine Analyse von Musils Roman Törleß als äußerst<br />

produktiv erweist. In diesem Roman stellt Musil ein elitäres Militärkonvikt als Labor<br />

der größeren Gesellschaft dar - „denn jede Klasse ist in einem solchen Institute ein<br />

kleiner Staat für sich” - in dem Machtstrategien und Haltungen ausprobiert werden, die<br />

sich später in der Politik verheerend auswirken sollten. (43) 5 Der Unterschied zur<br />

größeren Gesellschaft ist jedoch der, daß die Machtverhältnisse ohne moralische<br />

Verbrämung entlarvt werden. Törleß betrachtet den Immoralismus seiner<br />

Schulkameraden als Gedankenexperiment, um zu sehen, wie das Opfer psychologisch<br />

auf seine Folterer reagiert. Trotz der eigenen Verstrickung in das Experiment geht er<br />

aus diesem Prozeß geläutert hervor.<br />

Obwohl der Roman bereits 1906 erschienen ist, nimmt er die „Triebgrundlagen des<br />

Dritten Reiches” vorweg, wie Musil 1937 feststellt. In seinem Tagebuch notiert er:<br />

„Reising [sic], Boineburg [sic]: die heutigen Diktatoren in nucleo. Auch die Auffassung<br />

der Masse als zu zwingendes Wesen.” (MUSIL 1983: 914) An anderer Stelle heißt es:<br />

Was sich „in der Verborgenheit einer Militärschule” abspielt, enthält „das komplette<br />

Arsenal der Rohheit, die später Geschichte macht.” (Zit. nach GROSSMANN 1988: 96)<br />

Was aus der historischen Erfahrung als Kritik interpretiert wird, war im Augenblick der<br />

Entstehung aber noch weitgehend als wertneutrales Gedankenexperiment konzipiert.<br />

In Menschliches, Allzumenschliches stellt NIETZSCHE (1988 II: 35) die monokausale<br />

Verbindung von Ursache und Wirkung in Frage, indem er auf die hundert Quellen jeder<br />

Erinnerung und Empfindung aufmerksam macht. Diese Einsicht wendet Musil auf die<br />

moralischen Empfindungen an. In einem Brief aus dem Jahre 1907 verteidigt er seinen<br />

Begriff von Moral in der Kunst „als ein Werdendes, als einen Gegenstand beständigen<br />

Fragens und Bildens” gegenüber „der Moral als einem Gewordenen, Festen,<br />

bürgerlichen Wohnhaus” .(Zit. nach GROSSMANN 1988: 13) In demselben Brief<br />

begründet Musil die Immoralität im Törleß so:<br />

Das Buch ist unmoralisch, weil diese besondere Form der Unmoral mir am geeignetesten schien,<br />

die Idee daran herauszuarbeiten. - Das Buch ist in doppeltem Sinne moralisch. Einmal, weil es


72 Musil<br />

eine Idee hat, sodann, weil es zeigt, daß es auf die gewöhnliche Unmoral in gewissen Fällen gar<br />

nicht ankommt. (Zit. nach GROSSMANN 1988: 14)<br />

Obwohl diese Behauptung als pauschale höchst problematisch erscheint, will Musil<br />

damit andeuten, daß die Moral, d.h. die klare Trennung in „gut” und „böse", in<br />

bestimmten Fällen außer Kraft gesetzt wird. Musil will Törleß als einen solchen Fall<br />

gelten lassen. In ihm soll kritisch untersucht werden, auf welchen Voraussetzungen die<br />

Moral beruht. In einem Briefentwurf über seinen Roman an Paul Wiegler spricht Musil<br />

von einer „Vivifizierung intellectueller Zustände” .(Zit. nach GROSSMANN 1988: 75) 6<br />

Damit zieht er die Parallele zur Vivisektion der Moral bei Nietzsche, „der den Begriff<br />

‘Vivisektion’ in ‘Jenseits von Gut und Böse’ an mehreren Stellen mit dem Akzent<br />

kritischer Bloßlegung einer überkommenen Moral gebraucht (Aph. 186, 218).” (Zit.<br />

nach GROSSMANN 1988: 87) Gerade der junge Musil hat sich für die Gestalt des<br />

Vivisektors interessiert. Sie verrate<br />

einen wachen Sinn für die künftigen Erweiterungsmöglichkeiten des menschlichen Bewußtseins<br />

(er stelle vielleicht den ‘Typus des kommenden Gehirnmenschen’ dar), ein[en] Hang zum<br />

geistigen Experiment und zur Introspektion, und die Überzeugung, daß die ‘Nachtseite’ des<br />

Lebens für das Seelenleben die weitaus wichtigere sei [...]. Die Figur ist sich der irrationalen<br />

Kräfte, die im Inneren ein latentes Leben führen und die Ordnung des bewußten Lebens bedrohen,<br />

scharf bewußt. Sogar die Träume werden zur Unterstützung der Selbstanalyse herangezogen. (Zit.<br />

nach GROSSMANN 1988: 86)<br />

GROSSMANN macht darauf aufmerksam, daß das medizinische Vokabular von Musil zur<br />

psychologisierenden Darstellungsweise benutzt werde. Auch darin besteht eine Parallele<br />

zu Nietzsche.<br />

Die Einschnitte, die Nietzsche und Musil am Körper der Moral vornehmen, um ihre<br />

materiellen Bedingungen freizulegen, setzen sowohl Distanz als auch Lust an der<br />

intellektuellen Grausamkeit voraus. Die Zerstörung der bisherigen Moral ist nach<br />

Nietzsche aber notwendig, „damit besser gewusst, besser geurtheilt, besser gelebt<br />

werde; nicht, damit alle Welt secire” .(NIETZSCHE 1988 II: 553) In diesem Sinne versteht<br />

Nietzsche sich selbst als Moralist. Eine solche exemplarische Vivisektion der Moral<br />

vollzieht Nietzsche in seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches. Musil führt diese<br />

Kritik anhand eines Individuums, Törleß, durch. Aus dem Vergleich ergeben sich<br />

Verschiebungen, doch auch Parallelen. Es geht im folgenden vor allem um das<br />

Verhältnis von Herr und Sklave, Moral und Macht und Macht und Wissen bei Musil<br />

und Nietzsche.<br />

GROSSMANN (1988: 60) hat bereits darauf hingewiesen, daß der Roman als<br />

Experiment angelegt ist. Er führt das so aus:<br />

Die Konstellation der Figuren des Romans und die zwischen ihnen herrschenden<br />

Spannungsverhältnisse machen die Annahme wahrscheinlich, daß Musil im ‘Törleß’ ein<br />

Experiment inszenieren wollte. Törleß ist der Mittelpunkt, der ‘Reagenzstoff’ in einem<br />

Versuchsfeld, das von sich kreuzenden libidinösen und psychischen Energien beschickt wird.<br />

Korrespondenzen sinnlich-sexueller Art bestehen zwischen Bozena/Basini auf der einen und den<br />

drei jungen Leuten auf der anderen Seite. Zu differenzieren ist zwischen der Art der Beziehung zu<br />

Basini: Während bei Törleß neben dem Erotischen die psychische Neugier eine wesentliche Rolle


Immoralität als Gedankenexperiment 73<br />

spielt, ist sie bei Reiting und Beineberg eindeutig sadistisch bestimmt. Die Beziehung zwischen<br />

Törleß und den beiden anderen ist bedroht durch potentielle Gewaltanwendung. Die Strömungen<br />

dieses Experimentierfeldes tragen entscheidend zu den Verwirrungen von Törleß bei, der auf dem<br />

Wege zu sich selbst sich durch sie einen Weg bahnen und sie bewältigen muß.<br />

Innerhalb dieses Experiments sind die Figuren vor allem „Funktionsträger von<br />

Anschauungen und Bedeutungsgehalten” .(GROSSMANN 1988: 60) Grossmann belegt<br />

das anhand der einzelnen Figuren: „Bei Törleß zeigt sich die Stilisierung z.B. in der<br />

Gedankenführung seiner Rede vor der Lehrerkommission, bei Beineberg im fanatischen<br />

Verranntsein in seine abstruse Philosophie, bei Reiting in dem sich in seinem Verhalten<br />

dokumentierenden Zusammenhang von Machtstreben, Gewalt und Sexualität, bei<br />

Basini in seiner Labilität und Bereitschaft zu masochistischer Unterwerfung.”<br />

(GROSSMANN 1988: 60) Darin könnte man auch verschiedene Aspekte von Nietzsches<br />

Analyse der Macht erkennen: Beineberg vertritt den asketischen Menschen, Reiting<br />

stellt einen modernen Machiavelli dar, Törleß verkörpert den aristokratischen<br />

Ästhetizismus und Basini den Sklavenmenschen.<br />

Alle diese Aspekte verknüpfen sich in Törleß, wie GROSSMANN scharfsinnig<br />

feststellt: „Besonders in der Charakterzeichnung ist das Analogieprinzip wirksam.<br />

Jeweils dominierende Wesenszüge von Reiting und Beineberg finden eine analoge<br />

Entsprechung bei Törleß, nur in ungleich schwächerer Ausprägung und ausgeglichen<br />

durch Gegenkräfte.” (GROSSMANN 1988: 63) Reitings „vital-bedenkenloser Wille zur<br />

Macht und Unterjochung” findet seine Entsprechung in Törleß’ nächtlichem Verhör von<br />

Basini, Beinebergs Suche nach der „innersten Erkenntnis", zu der vielleicht die<br />

Sinnlichkeit das Tor sein könnte, spiegelt sich in Törleß’ Bewußtsein der Abgründe im<br />

rationalen Denken, der Hang zur Mystik ist beiden gemeinsam. Törleß spürt aber auch<br />

eine Ähnlichkeit zu Basini: Er weiß, daß er genau so gut das Opfer sein könnte wie er.<br />

Die drei Dachbodenszenen sind einander analog: „Das abgewandelte Grundmuster ist<br />

jeweils das grausame Experiment, das bis zur physischen Quälerei gesteigert wird,<br />

wenn Reiting und Beineberg aktiv beteiligt sind, während Törleß auf Basini ‘nur’<br />

starken psychischen Druck ausübt.” (GROSSMANN 1988: 64)<br />

Durch das Experiment stellt Musil zudem Nietzsches physiologisch begründete<br />

Einteilung in Herren- und Sklavenmenschen in Frage, indem er zeigt, wie arbiträr diese<br />

Unterschiede sind. Sie werden bei Musil erst durch soziale Spielregeln aktiviert und<br />

haben dennoch schwerwiegende psychische und physische Folgen. Der Anlaß des<br />

Experiments an Basini ist ein Diebstahl, den der Bestohlene, Reiting, aufdeckt. Das<br />

Wissen um Basinis Vergehen gibt ihm Macht, weil er ihn entweder anzeigen könnte,<br />

oder persönliche Dienste von ihm verlangen könnte. Basini begibt sich lieber<br />

‘freiwillig’ in Reitings Abhängigkeit als daß er aus der Schule entlassen würde. Reiting<br />

ist aber gar nicht an Basinis Schuld und Sühne interessiert, sondern an dem Experiment,<br />

das er an ihm durchführen kann. Um festzustellen, wie weit er seine Macht steigern<br />

kann, bedient er sich einer Vielfalt von Gewaltmitteln. Die Steigerung der Macht steht<br />

im umgekehrten Verhältnis zur Erniedrigung des Opfers. Er führt ein Tagebuch über<br />

seine Experimente, die ihn auf seine zukünftige Karriere als Offizier vorbereiten sollen.<br />

Die Tagebücher sind


74 Musil<br />

mit verwogenen Plänen für die Zukunft ausgefüllt und mit genauen Aufzeichnungen über Ursache,<br />

Inszenesetzung und Verlauf der zahlreichen Intrigen, die er unter seinen Kameraden anstiftete.<br />

Denn Reiting kannte kein größeres Vergnügen, als Menschen gegeneinander zu hetzen, den einen<br />

mit Hilfe des anderen unterzukriegen und sich an abgezwungenen Gefälligkeiten und<br />

Schmeicheleien zu weiden, hinter deren Hülle er noch das Widerstreben des Hasses fühlen konnte.<br />

(42)<br />

Reiting erscheint als Machiavelli, der außerdem ein Gespür für den Willen der Masse<br />

hat, den er zu seinen Gunsten ausnutzt: „Er war ein Tyrann und unnachsichtig gegen<br />

den, der sich ihm widersetzte. Sein Anhang wechselte von Tag zu Tag, aber immer war<br />

die Majorität auf seiner Seite. Darin bestand sein Talent.” (42) Der Majorität der Klasse<br />

liefert Reiting denn Basini auch aus, als er sein Experiment an ihm beendet hat.<br />

Im Gegensatz zu Reiting sieht Beineberg die Macht nicht als Selbstzweck, sondern<br />

als Mittel zu einer metaphysischen Wahrheit. Die Verquickung von Gewalt und<br />

Metaphysik ohne Reitings Liebenswürdigkeit gewinnt ihm aber keine Anhänger. Da sie<br />

sich in ihrem Machtstreben ebenbürtig sind, kommt es zu einem unstabilen Bündnis<br />

zwischen Reiting und Beineberg:<br />

Beineberg war zum Schlusse ziemlich isoliert dagestanden, obwohl er in der Beurteilung der<br />

Personen, an Kaltblütigkeit und dem Vermögen, Antipathien gegen ihm Mißliebige zu erregen,<br />

kaum hinter seinem Gegner zurückstand. Aber ihm fehlte das Liebenswürdige und Gewinnende<br />

desselben. Seine Gelassenheit und seine philosophische Salbung flößten fast allen Mißtrauen ein.<br />

Man vermutete garstige Exzesse irgendwelcher Art am Grunde seines Wesens. Dennoch hatte er<br />

Reiting große Schwierigkeiten bereitet, und dessen Sieg war fast nur ein zufälliger gewesen. Seit<br />

der Zeit hielten sie aus gemeinschaftlichem Interesse zusammen. (43)<br />

Beineberg erinnert an Nietzsches Darstellung des Asketen oder an Dostojewskis<br />

dämonischen Heiligen, doch trägt er auch Züge der populären Auffassung Nietzsches<br />

als eines gefährlichen, wahnsinnigen Philosophen, der durch seine anti-christliche Lehre<br />

des Übermenschen z.B. jede Gewalt und Grausamkeit gutheißt. (Vgl. dazu „The<br />

Nietzsche Murder-Case” in: GILMAN 1985) GROSSMANN (1988: 55) beschreibt die<br />

Ähnlichkeiten zwischen Nietzsche und Beineberg vor diesem Hintergrund so:<br />

An zwei Stellen im Roman trägt er Törleß seine antirationale Pseudophilosophie vor. Sie enthält<br />

ein Konglomerat von Gedanken, in dem sich in verschwommener Form fernöstlich-mystisches<br />

Denken mit dem Glauben an Hypnose sowie mit Erinnerungen an Nietzsches Idee des<br />

Übermenschen und an die von ihm bekämpfte christliche Moral vermischt. [...] Die kosmische<br />

Bindung erfordert Abtötung aller nach außen gerichteten Gefühle, zu denen auch das Mitleid<br />

gehört.<br />

Beinebergs Wunsch, ein „kosmischer Mensch” zu werden, kommentiert GROSSMANN<br />

(1988: 103) wie folgt:<br />

Beinebergs Bestreben, ein ‘kosmischer Mensch’ zu werden, der im ‘Zusammenhange mit dem<br />

großen Weltprozesse’ (59) steht, und an die Selbstverständlichkeit, mit der er und sein Freund<br />

Reiting sich über moralische Normen hinwegsetzen, so erscheint es möglich, daß Musil auch hier<br />

Erfahrungen seiner Nietzschelektüre (Idee des Übermenschen, Gegnerschaft zur bürgerlichchristlichen<br />

Moral) verarbeitet hat.


Immoralität als Gedankenexperiment 75<br />

Die Kombination von Sadismus und inhumaner Ideologie liegt Beinebergs Fanatismus<br />

zugrunde, der sich in seinen abrupten Gesten äußert:<br />

Hier zeigt sich, daß die krude Metaphysik einer solchen Ideologie als sophistische Rechtfertigung<br />

und Kaschierung eines zutiefst inhumanen Verhaltens mit sadistischer Komponente erscheint.<br />

Beinebergs Streben nach Macht und Verfügungsgewalt über andere Menschen dient der<br />

‘Selbstbestätigung, die er suchen muß, um nicht vor sich selbst, d.h. vor seiner Ideologie zu<br />

versagen’ .Gestik und Mimik lassen den verblendeten Fanatiker erkennen: Er spricht mit<br />

‘verhaltener Erregung’ (60), sein Gesicht ist ‘ganz starr wie in krampfhafter Aufmerksamkeit<br />

verzerrt’ (118). (GROSSMANN 1988: 56)<br />

Dieser Fanatismus äußert sich auch im Pathos seiner Reden:<br />

Seine Überheblichkeit kann zur Anmaßung werden und grenzt mitunter an Größenwahn, was sich<br />

im Verkündungspathos seiner Reden und in der Art zeigt, wie er andere Menschen und ihre<br />

Meinung abwertend verspottet. Kritischer Abstand zu sich selbst ist ihm völlig fremd.<br />

(GROSSMANN 1988: 56)<br />

Man könnte hier eine weitere Beziehung zu Nietzsche sehen, vor allem in seinen<br />

Spätschriften, doch ist der Größenwahn Nietzsches qualitativ ein anderer als der eines<br />

Schülers wie Beineberg. Bei Nietzsche ist er immer wieder durch fragende,<br />

selbstkritische Bemerkungen gebrochen. Musil zeigt jedoch, was geschieht, wenn ein<br />

sadistischer Schüler Nietzsches Immoralismus praktiziert.<br />

Der Größenwahn Beinebergs dient aber auch dazu, den Glauben an seine Macht zu<br />

erhöhen. Nietzsche weist darauf hin, daß die Macht ohne den Glauben des anderen nicht<br />

möglich ist. Er nennt es die Eitelkeit des Mächtigen:<br />

Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung des Glaubens an seine Macht. [...] Und zwar<br />

wird die Eitelkeit um so grösser sein, je klüger der Einzelne ist: weil die Vermehrung des<br />

Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht selber, aber nur für Den, der Geist<br />

hat, - oder, wie es für Urzustände heissen muss, der listig und hinterhältig ist. (NIETZSCHE 1988 II:<br />

630)<br />

In ähnlicher Weise benutzt Beineberg die Religion oder die Experimente mit dem<br />

Pendel dazu, den Glauben an seine Macht zu verstärken.<br />

Ohne das Opfer, Basini, wäre das Gedankenexperiment nicht möglich. Basini scheint<br />

zur Sklavenrolle prädestiniert zu sein - schwach, feige und etwas dumm glaubt er, seine<br />

Schuld leicht abbüßen zu können. Aus Angst vor der Entlassung aus der Schule ist<br />

Basini bereit, sich den sadistischen Wünschen seiner Peiniger auszusetzen: Die<br />

„Entlassung aus der Anstalt würde bedeuten, daß Basini mit einem Makel behaftet<br />

wäre, der seine gesellschaftliche Stellung und seine beruflichen Zukunftsaussichten aufs<br />

äußerste gefährden müßte.” (GROSSMANN 1988: 58) Seine femininen Züge erinnern<br />

Törleß an die Prostituierte, Bozena. Er läßt sich ausnutzen, da er nicht nur physisch,<br />

sondern auch moralisch schwach ist. Er hat das Bedürfnis, auf andere Eindruck zu<br />

machen, und so prahlt er vor Bozena mit seinen erfundenen Affären und spielt den<br />

Großzügigen, obwohl er dazu nicht die Mittel besitzt. Dieser moralische Makel führt<br />

fast notwendigerweise zu dem Diebstahl, der ihn seinen Klassenkameraden ausliefert.


76 Musil<br />

Er wehrt sich auch nicht gegen Reitings und Beinebergs sexuelle Annäherungen,<br />

sondern beklagt sich nur über die Schläge, die sie ihm vorher erteilen. Seine Angst vor<br />

physischen Schmerzen drängt ihn aber noch weiter in die Abhängigkeit hinein.<br />

Diese Charakterisierung erklärt jedoch nicht seine Anziehungskraft auf Törleß.<br />

GROSSMANN (1988: 58) fügt seinem Bild folgendes hinzu:<br />

Trotz moralischer Labilität wirkt er nicht unsympathisch. Er ist der Liebe und Zärtlichkeit fähig,<br />

aller Wildheit und Roheit abgeneigt; in seiner Schwäche erweckt er im Leser ein gewisses<br />

Mitgefühl. [...] Seine Haltung wird außerdem beeinflußt durch eine masochistische Neigung und<br />

eine gleichgeschlechtliche Triebrichtung.<br />

Basini appelliert an Törleß’ Mitleid, das dieser ihm aber verweigern muß, da er sonst<br />

selbst zum Opfer würde. Danach versucht er, Törleß zu seinem Verbündeten zu<br />

machen, indem er ihn verführt. Obwohl ihm das zunächst gelingt, widersetzt sich Törleß<br />

ihm später. Basini ist nur ein vorübergehendes Objekt für sein ungerichtetes Begehren,<br />

das sich in einem Prozeß der Selbstfindung herausbildet. Törleß wird später auf seine<br />

intellektuellen/moralischen Verwirrungen als auf eine Krankheit zurückblicken, die<br />

seinen Intellekt vertieft und sein Ich gestärkt haben.<br />

Die Vorstellung, daß man aus einer Phase der Krankheit gestärkt hervorgehen könne,<br />

fand Musil bei Nietzsche vor. BERGHAHN (1963: 41) meint, daß sie den jungen Musil<br />

zur Zeit des Törleß besonders ermutigt haben muß:<br />

Muß er nicht meinen, hier werde seine Sache betrieben, die ‘fröhliche Wissenschaft’ dessen, der<br />

von tiefer Krankheit genesen ist? Welche Botschaft, zu hören, daß man aus den Abgründen neu<br />

geboren zurückkommt, daß der Geschmack verfeinert, die Sinne geschärft werden, daß man mit<br />

einer zweiten, gefährlicheren Unschuld der Welt gegenübertreten kann! So wird Törleß seine<br />

Erlebnisse empfinden, am Ende, wenn die Verwirrungen ausgestanden sind.<br />

Für Nietzsche ist die Beherrschung der Leidenschaft die Voraussetzung einer starken,<br />

individuellen Moral im Gegensatz zur dekadenten, christlichen Moral. Sie setzt auch<br />

Strenge gegen sich selbst voraus, während die christliche Moral des Mitleids eine Moral<br />

für Schwache ist, die sich nicht selbst beherrschen können. NIETZSCHE schreibt:<br />

Alle Die, welche sich selber nicht genug in der Gewalt haben und die Moralität nicht als<br />

fortwährende, im Grossen und Kleinsten geübte Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung<br />

kennen, werden unwillkürlich zu Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen,<br />

jener instinctiven Moralität, welche keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und hülfreichen<br />

Händen zu bestehen scheint. Ja, es ist in ihrem Interesse, eine Moralität der Vernunft zu<br />

verdächtigen und jene andere zur alleinigen zu machen. (NIETZSCHE 1988 II: 573f.)<br />

Es fragt sich jedoch, ob es Situationen gibt, in denen keine Überwindung möglich ist,<br />

weil sie ein Opfer verlangt, zu dem man nicht bereit ist. Wäre eingreifendes Denken<br />

nicht besser, z.B. Solidarisierung mit dem Opfer? Diese Möglichkeit scheint Törleß<br />

aber nicht offenzustehen.<br />

Nietzsche entlarvt die sadistischen Triebfedern der Moral nicht, weil er meint, besser<br />

als die Moralisten zu sein, sondern weil er die Herrschaftsgebilde, die sie<br />

aufrechterhalten, verändern will. Er beurteilt die herrschende Moral nach ihren Zielen,


Immoralität als Gedankenexperiment 77<br />

d.h. er fragt, ob sie die Schwachen oder die Starken fördert. Nach Nietzsche fördern die<br />

bürgerlich-christlichen Institutionen die Schwachen. Das scheint der Realität des<br />

Bismarck’schen Nationalstaats zu widersprechen und auch der Erfahrung des Törleß,<br />

denn die Institutionen begünstigen ja geradezu Typen wie Beineberg und Reiting, doch<br />

scheint Nietzsche der rohen Gewalt genauso abgeneigt zu sein wie Törleß. Zu einem<br />

Typus der décadence zählt Nietzsche auch den Menschen, der aus Schwäche Gewalt<br />

übt. Er kompensiert für seine Zügellosigkeit, indem er sie an einem Schwächeren<br />

ausübt. Seiner Gesellschaft gegenüber vertritt Törleß eine ähnliche ästhetischaristokratische<br />

Position wie Nietzsche.<br />

Törleß betrachtet das Gedankenexperiment zugleich aus einer individuellen und einer<br />

überindividuellen Perspektive. Es heißt, daß er als der jüngere „in das Verhältnis eines<br />

Schülers oder Gehilfen” zu Reiting und Beineberg geriet. (43) Trotzdem behält er im<br />

Geheimen die Fäden des Spiels in der Hand:<br />

Nur wo es sich darum handelte, einen Entschluß zu fassen, von den vorhandenen psychologischen<br />

Möglichkeiten eine auf eigene Gefahr als bestimmt anzunehmen und danach zu handeln, versagte<br />

er, verlor das Interesse und hatte keine Energie. Seine Rolle als geheimer Generalstabchef machte<br />

ihm aber Spaß. Um so mehr, als sie so ziemlich das einzige war, das in seine tiefinnerliche<br />

Langeweile einige Bewegung brachte. (43)<br />

Er befindet sich in der Rolle des Wissenschaftlers, der die Ergebnisse des Experiments<br />

registriert und verwertet. Damit kann er sich auf Nietzsche beziehen, der die<br />

Immoralität als Gedankenexperiment legitimiert. (Vgl. MARTI 1993: 286)<br />

Zur Erhellung des Komplexes von Wissen und Macht greift Musil einen Strang bei<br />

Nietzsche auf, der in den genealogischen Betrachtungen zur Moral — z.B.<br />

Menschliches, Allzumenschliches und Zur Genealogie der Moral — vorgezeichnet ist<br />

und von Foucault fast ein Jahrhundert später theoretisch ausgebaut wurde. Er ließe sich<br />

als Mikrobereich der Macht bezeichnen. So spürt Foucault in Surveiller Et Punir:<br />

Naissance De La Prison z.B. den Ursprüngen des modernen Rechtsstaats in den<br />

öffentlichen Hinrichtungen des 17. Jahrhunderts nach. Es lassen sich Parallelen<br />

zwischen Foucaults Mikroanalyse der Macht und Musils Törleß erkennen. Nach<br />

FOUCAULT (1977: 35) war das Wissen im Bereich des Strafrechts das absolute Privileg<br />

der Anklagevertretung. Törleß geht es in erster Linie um die psychologischen<br />

Erkenntnisse, die ihm seine Machtposition als „geheimer Generalstabchef” verschafft.<br />

FOUCAULT (1977: 27f.) formuliert diese Beziehung zwischen Wissen und Macht so:<br />

We should admit rather that power produces knowledge [...]; that power and knowledge directly<br />

imply one another; that there is no power relation without the correlative constitution of a field of<br />

knowledge, nor any knowledge that does not presuppose and constitute at the same time power<br />

relations.<br />

Das impliziert, daß es keine Position außerhalb der Machtbeziehungen gibt, sondern<br />

bloß Punkte in einem Machtfeld:<br />

In short, it is not the activity of the subject of knowledge that produces a corpus of knowledge,<br />

useful or resistant to power, but power-knowledge, the processes and struggles that traverse it and


78 Musil<br />

of which it is made up, that determines the forms and possible domains of knowledge. (FOUCAULT<br />

1977: 27f.)<br />

Durch seine psychologischen Beobachtungen verwandelt Musil im Törleß die Körper<br />

der Figuren in Objekte des Wissens. So erweitert er das Macht-Wissen des ‘body<br />

politic’, wie FOUCAULT (1977: 28) ihn definiert:<br />

One would be concerned with the ‘body politic’, as a set of material elements and techniques that<br />

serve as weapons, relays, communication routes and supports for the power and knowledge<br />

relations that invest human bodies and subjugate them by turning them into objects of knowledge.<br />

Um die plötzliche Verwandlung in Basinis Verhalten zu erklären, als sein Vergehen<br />

entdeckt wird, erzählt Reiting sein Erlebnis von der Verhaftung eines Verbrechers, der<br />

vorher unauffällig in der Masse umherging. Das Wissen der Anderen und der<br />

staatlichen Instanz hat ihn verwandelt und läßt sein früheres Verhalten nun als<br />

„Schamlosigkeit” erscheinen:<br />

Der war auch unter den anderen Leuten umhergegangen, ohne daß man ihm das geringste hätte<br />

anmerken können. Als ihm aber der Schutzmann die Hand auf die Schulter legte, war er plötzlich<br />

ein anderer Mensch geworden. Sein Gesicht hatte sich verwandelt, und seine Augen starrten<br />

erschrocken und nach einem Ausweg suchend aus einer wahren Galgenphysiognomie. (47)<br />

Die Stigmatisierung des Verbrechers enthüllt anscheinend sein wahres Gesicht: Das<br />

Opfer wird identifiziert, und diese Identifikation macht ihn zu einem Gezeichneten und<br />

zu einem, über den man nun „die Wahrheit” weiß.<br />

Törleß tut sich ein Abgrund auf, als er erfährt, daß Basini sich Reiting als „Magd”<br />

und „Sklave” angeboten hat. Törleß empfindet Basinis Sturz wie einen Stein in seinen<br />

Träumereiein: „Gestern war Basini noch genau so wie er selbst gewesen; eine Falltüre<br />

hatte sich geöffnet, und Basini war gestürzt.” (48) Dieser Stein zerschlägt Törleß’<br />

gewohnte Denkkategorien: Statt der Hierarchien und Unterschiede ahnt er jetzt nicht<br />

nur Übergänge, sondern jähe Sprünge. Er reflektiert:<br />

Daß zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsichtigen und festen Bau von<br />

Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie bewegt, und anderen, Herabgestoßenen,<br />

Blutigen, ausschweifend Schmutzigen, in verwirrten Gängen voll brüllender Stimmen Irrenden,<br />

nicht nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden Augenblick<br />

überschreitbar aneinanderstoßen … (49)<br />

Törleß kompensiert für den Schwindel, die diese Reflektionen in ihm auslösen, indem<br />

er einen absoluten Gerechtigkeitsbegriff verteidigt: Er argumentiert, daß Basini gegen<br />

das Gesetz verstoßen habe und dementsprechend bestraft werden müsse. Man solle ihn<br />

aus der Schule verweisen. (50) Reiting wirft Törleß vor, daß er übertreibe, daß eine<br />

solche Strafe in keinem Verhältnis zu seiner Schuld stehe: „Du machst ja geradeso, als<br />

ob der Schwefelregen schon vor der Tür stünde, um uns alle zu vernichten, wenn wir<br />

Basini noch länger unter uns behielten. Dabei ist die Sache doch nicht gar so<br />

fürchterlich.” (50) Reiting besitzt im Gegensatz zu Törleß keine moralische Sensivität.<br />

Stattdessen benutzt er die Moral zynisch, um eine Intrige anzustiften. Die Einstellung<br />

zum Fall Basini als eines Gedankenexperiments gewinnt schließlich auch Törleß. Durch


Immoralität als Gedankenexperiment 79<br />

sein Mitwissen verstrickt sich Törleß immer mehr in die Schuld, der er sich später nicht<br />

mehr entziehen kann, obwohl er gegen die Gewalt ist.<br />

Törleß erhofft sich durch das Gedankenexperiment Antworten auf die Fragen, die ihn<br />

beunruhigen, z.B. was im Menschen vorgeht, wenn er zum Opfer wird. Sein Beitrag zur<br />

Folter auf dem Dachboden ist die Anordnung, daß Basini sagen muß, er sei ein Dieb.<br />

Damit fordert er offenbar ein Schuldbekenntnis von Basini. Er soll die Wahrheit sagen.<br />

Indem er sagt, „Ich bin ein Dieb", wird er zum Subjekt seiner eigenen Demütigung; er<br />

gibt zu, daß er seine Strafe verdient hat. Damit wäre durch den Unterschied zwischen<br />

Subjekt und Objekt die Ordnung des Diskurses scheinbar wieder hergestellt. Es ist, als<br />

ob die Grammatik die Erniedrigung tiefer ins Bewußtsein eingräbt als die physischen<br />

Schläge.<br />

Törleß quält Basini aber nicht so sehr, weil er ihm diese bekannte Wahrheit<br />

abpressen will, sondern weil er seine Gefühle bei der Folter erfahren will, aus denen er<br />

seine psychologischen Erkenntnisse destillieren könnte. Wie fühlt man sich als Opfer?<br />

Gerade diese Erkenntnis verweigert ihm Basini jedoch, ja, er versteht sie noch nicht<br />

einmal. Er scheint nur die Ökonomie von Lust und Schmerz zu verstehen, also die<br />

Sprache der körperlichen Reflexe. Basini versteht Törleß’ psychisches Interesse nicht,<br />

im Gegensatz zu Reitings und Beinebergs physischer Gewalt, die ihnen ja auch Lust<br />

bereitet. Basini empfindet Törleß’ Fragen als eine besonders sublime Folter, gegen die<br />

er sich entschieden wehrt: „Nein, verlange nicht, daß ich erzähle! Bitte, verlange es<br />

nicht! Ich will ja alles tun, was du willst. Aber laß mich nicht erzählen … Oh, du hast<br />

solch eine besondere Art, mich zu quälen ...!” (105) Die einzige Notwehr, die das Opfer<br />

hat, scheint sein Schweigen zu sein, denn das Wissen über seine Erfahrung kommt nicht<br />

ihm zugute, sondern seinen Peinigern.<br />

Das Ressentiment des Opfers scheint sich als verdrängte Schuld in das Bewußtsein<br />

des Täters einzugraben. Um mit diesem verdrängten Teil seines Bewußtseins<br />

fertigzuwerden, projiziert der Täter das Ressentiment auf sein Opfer. Er kann das Opfer<br />

nun besser verachten und mißhandeln, da es die minderwertigen und schwachen<br />

Eigenschaften besitzt, die der Täter an sich selbst verachtet. Törleß fasziniert aber auch<br />

die homoerotische Komponente der Erniedrigung, die das Opfer begehrenswert<br />

erscheinen läßt. Zwischen den Polen homoerotischer Anziehung und Angst vor dem<br />

eigenen Machtverlust gerät die Opposition zwischen Macht und Ohnmacht, Täter und<br />

Opfer, Beobachter und Beobachtetem ins Wanken.<br />

Als Törleß merkt, daß sein Experiment den Charakter eines reinen<br />

Gedankenexperiments verloren hat, ist es schon zu spät. Die Distanz, die Törleß zur<br />

Folter als einem Experiment braucht, wird durch die Gewalt und sein Begehren bedroht.<br />

Er versucht zwar, seine aggressiven und sexuellen Triebe zu verdrängen, doch gelingt<br />

es ihm nicht:<br />

Sobald dieses unklare Gefühl sich geltend machte, verlor seine Aufmerksamkeit das Behagliche,<br />

mit dem man der Entwicklung eines wissenschaftlichen Experiments zusieht. (99)


80 Musil<br />

Er verweigert Basini seine Hilfe, da sie seine Distanz aufheben würde. Er befürchtet,<br />

daß Reiting und Beineberg ihn genauso wie Basini behandelten, wenn sie das erführen.<br />

Beineberg hatte ihn ja gewarnt, daß er sie ja nicht verrate. Erschrocken fragt er sich:<br />

Und wenn es wirklich zu einer Intrige gegen ihn käme, wie sollte er ihr begegnen? Er war den<br />

beiden in derlei nicht gewachsen, wie weit würden sie es treiben können? Wie mit Basini? …<br />

Alles lehnte sich gegen diesen hämischen Einfall auf. (106)<br />

Da es zwischen Täter und Opfer nur eine dünne Trennwand gibt, gilt es Törleß vor<br />

allem, sich selbst zu retten. So befindet sich Törleß in einer äußerst schwierigen und<br />

gefährlichen Lage, die er am wenigsten der Lehrerkommission erklären kann, als der<br />

Fall untersucht wird. Deshalb entscheidet er sich zu fliehen. Er räsonniert:<br />

Wenn sie ihn fragen würden: warum hast du Basini mißhandelt? - so könnte er ihnen doch nicht<br />

antworten: weil mich dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessierte, ein Etwas, von dem ich<br />

heute trotz allem noch wenig weiß und vor dem alles, was ich darüber denke, mir belanglos<br />

erscheint. (140)<br />

Ein wesentlicher Aspekt von Nietzsches Philosophie besteht darin, daß er den Blick von<br />

den metaphysischen Fragen auf das Nächstliegende, den Körper, lenkt. An die Stelle der<br />

Metaphysik treten Psychologie, Chemie und Physiologie. Musil vollzieht im Törleß<br />

eine ähnliche Wende von der Religion zur Mathematik und Naturwissenschaft. Er zeigt<br />

jedoch die Abgründe im logischen Denken auf, z.B. anhand von Törleß’<br />

Schwierigkeiten mit den imaginären Zahlen und dem Begriff des Unendlichen.<br />

Musil stellt dem rationalen Diskurs die sinnliche Wahrnehmung gegenüber,<br />

Nietzsche den Instinkt. Mit Instinkt scheint Nietzsche nicht einfach die Triebe zu<br />

meinen, sondern ein anderes Organ als die abstrakten, binären Verstandeskategorien,<br />

durch die wir die Realität wahrnehmen. So nennt er seine Philosophie z.B. einen<br />

Instinkt für eine persönliche Diät. Der Instinkt erscheint als Variable im Kräftefeld sich<br />

widerstreitender Triebe. Es handelt sich nicht bloß um einen Selbsterhaltungsinstinkt,<br />

sondern auch um einen Instinkt, der Lust und Macht steigert.<br />

Obwohl Musil im Törleß nicht an der rohen Gewalt interessiert ist, sondern an der<br />

Erkenntnis der psychologischen Prozesse, die sie im Täter und Opfer auslöst, leugnet er<br />

nicht die Beziehung von Törleß’ Reflektionen zur Materie. Er versucht sie nur anders<br />

und adäquater als der herkömmliche Diskurs darzustellen:<br />

Ein Gedanke - er mag schon lange vorher durch unser Hirn gezogen sein, wird erst in dem<br />

Momente lebendig, da etwas, das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist, zu ihm hinzutritt, so<br />

daß wir seine Wahrheit fühlen, jenseits von aller Rechtfertigung, wie einen Anker, der von ihm aus<br />

ins durchblutete, lebendige Fleisch riß … Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im<br />

Lichtkreise des Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor<br />

allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt. (145)<br />

Musil bezieht sich dabei auf die Sexualität und die kapitalistischen Machtverhältnisse.<br />

Den Politiker im Kapitalismus, wie ihn z.B. Reiting verkörpert, skizziert Musil so:


Immoralität als Gedankenexperiment 81<br />

Auch der Kapitalismus hat als seelische Grundlage das nur mit den Tatsachen Rechnen, das sich<br />

nur auf sich selbst Verlassen, den Griff, das Arbeiten in festem Stein, die Selbständigkeit des so<br />

dastehenden Menschen; und die Öde außer Dienst. Die Politik gar, wie sie heute verstanden wird,<br />

ist die reinste Gegnerschaft gegen den Idealismus, fast seine Perversion. Der mit dem Menschen à<br />

la baisse spekulierende Mensch, der sich Realpolitiker nennt, hält für real nur die Niedrigkeiten<br />

des Menschen, das heißt, nur sie betrachtet er als verläßlich; er baut nicht auf Überzeugung,<br />

sondern stets nur auf Zwang und List. (MUSIL 1955: 632)<br />

Gegen das krasse „Entweder-Oder” des technokratischen Kalküls erhebt Musil ein<br />

Konzept, das Wittgensteins Sprachspielkonzept analog sei, argumentiert WALLNER<br />

(1984: 98). Es beruht auf der Verfremdung überkommener Sinnstrukturen:<br />

Dagegen erlaubt das Sprachspielkonzept der Philosophie, Resorption und Resignation als zwei<br />

Verfahrensweisen der Verfremdung - unter dem Gesichtspunkt der Sprache bzw. der<br />

Verweigerung - als Aspekte des Handelns - aufzufassen. (WALLNER 1984: 99)<br />

Das Sprachspielkonzept ermöglicht den Schritt von der unbegrenzten Infragestellung<br />

der Philosophie - ein „Sprachspiel des unbegrenzten Zweifels kann nicht gespielt<br />

werden” - zum Handeln. (WALLNER 1984: 99) WALLNER zieht die Parallele zu<br />

Nietzsche: „Die Überwindung des Skeptizismus sieht Nietzsche darin, daß man ‘Nein<br />

tut’ .Er stellt das Nein-Tun als Gegenstück zu ‘Wissenschaftlichkeit’ und ‘Objektivität’<br />

dar.” (WALLNER 1984: 99)<br />

In „Der Wanderer und sein Schatten” erzählt Nietzsche eine Parabel, die als Beispiel<br />

des Nein-Tuns gelesen werden könnte. Herr und Sklave wohnen in einer Seele. (Vgl.<br />

MARTI 1993: 301) Der Schatten ist das nächste, das wir lieben lernen sollen. Er umreißt<br />

sein Verhältnis zum Wanderer so:<br />

[M]an findet uns sehr, sehr oft in dem Gefolge des Menschen, aber doch nicht in seiner<br />

Knechtschaft. Wenn der Mensch das Licht scheut, scheuen wir den Menschen: so weit geht doch<br />

unsere Freiheit. (NIETZSCHE 1988 II: 703)<br />

Um den Wanderer vollkommen zu verstehen, bietet er sich ihm als Sklave an. Damit<br />

deutet er die Möglichkeit des Wissens aus der Ohnmacht an:<br />

Ich habe dich oft mit Schmerz verlassen: es ist mir, der ich wissbegierig bin, an dem Menschen<br />

Vieles dunkel geblieben, weil ich nicht immer um ihn sein kann. Um den Preis der vollen<br />

Menschen-Erkenntnis möchte ich auch wohl dein Sclave sein. (NIETZSCHE 1988 II: 703)<br />

Die Unterwerfung des anderen sieht der Wanderer jedoch als Einschränkung seiner<br />

eigenen Freiheit. Er entgegnet dem Schatten:<br />

Weisst du denn, weiss ich denn, ob du damit nicht unversehens aus dem Sclaven zum Herrn<br />

würdest? Oder zwar Sclave bliebest, aber als Verächter deines Herrn ein Leben der Erniedrigung,<br />

des Ekels führtest? Seien wir Beide mit der Freiheit zufrieden, so wie sie dir geblieben ist - dir und<br />

mir! Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine grössten Freuden vergällen; das Beste<br />

wäre mir zuwider, wenn es Jemand mit mir teilen müsste, - ich will keine Sclaven um mich<br />

wissen. Desshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der<br />

erst als Knecht der Menschen ‘hündisch’ geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen<br />

pflegen, dass er dem Herrn treu sei und ihm folge wie sein — .(NIETZSCHE 1988 II: 704)


82 Musil<br />

Das ist vielleicht die Antwort, die der Schatten provozieren wollte, doch gibt er sich<br />

nicht geschlagen. Auf die Frage, ob er noch einen Wunsch habe, trumpft er auf:<br />

Keinen, ausser etwa den Wunsch, welchen der philosophische ‘Hund’ vor dem grossen Alexander<br />

hatte: gehe mir ein Wenig aus der Sonne, es wird mir zu kalt. (NIETZSCHE 1988 II: 704)<br />

Mit dieser Anspielung auf den kynischen Philosophen, Diogenes, verweist Nietzsche<br />

auf eine Freiheit jenseits der „Herr-Sklave"-Opposition .Es handelt sich nicht um eine<br />

absolute Freiheit, sondern um eine individuell begrenzte. An jede soziale Position sind<br />

Möglichkeiten des Erkennens und Handelns geknüpft. Diese Position wirft jedoch auch<br />

einen Schatten, über den der Mensch nicht springen kann, ohne seine Freiheit zu<br />

verlieren.<br />

Im Törleß stellt Musil Nietzsches Begriff des Willens zur Macht und die Typologie<br />

des Herren- und Sklavenmenschen in Frage, indem er zeigt, wie diese Positionen im<br />

Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft entstehen. Gerade im Bereich der<br />

Sexualität drohen diese Unterscheidungen zu zerfließen und folglich auch das Wissen<br />

und die Macht über sie. Zur Erhellung dieses Komplexes greift Musil Nietzsches<br />

genealogische Reflexionen zur Moral auf und führt sie im Sinne von Foucaults<br />

Mikroanalyse der Macht weiter. Musils Törleß ergreift jedoch nicht Partei für das<br />

Opfer, denn das würde seinen eigenen prekären Standpunkt gefährden. Stattdessen zieht<br />

er sich auf eine ästhetische Position zurück, die ebenso problematisch erscheint wie sein<br />

Immoralismus, aber angesichts der Ohnmacht des bürgerlichen Intellektuellen am<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts die einzig mögliche war. Das Bürgertum nahm seine<br />

moralischen Grundsätze selbst nicht mehr ernst, besaß aber nicht die Kraft zu einer<br />

neuen Ethik z.B. im Sinne von Nietzsches individualistischer Moral des Übermenschen.<br />

Vorläufig blieb nur die Kritik des binären Diskurses, der die bürgerliche<br />

Gesellschaftsordnung untermauerte. Dafür stand der Nietzsche der psychologischen<br />

Nuancen ein, der die moralischen Begriffe verflüssigte und ihre „hundert Quellen”<br />

preisgab.<br />

Literatur<br />

BERGHAHN Wilfried 1963. Robert Musil in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b.<br />

Hamburg.<br />

FOUCAULT Michel 1975. Surveiller Et Punir: Naissance De La Prison. Englische Version:<br />

Discipline and Punish. The Birth of the Prison. Translated from the French by Alan<br />

Sheridan. Harmondsworth: Penguin 1977.<br />

Gilman Sander L. 1985. „The Nietzsche Murder Case”. In: Difference and Pathology.<br />

Stereotypes of Sexuality, Race and Madness. Ithaca, London: Cornell University Press.<br />

GROSSMANN Bernhard 1988. Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törless. München:<br />

Oldenbourg Verlag.<br />

MARTI Urs 1993. „Der Grosse Pöbel- und Sklavenaufstand” - Nietzsches Auseinandersetzung<br />

mit Revolution und Demokratie. Stuttgart, Weimar: Metzler.


Immoralität als Gedankenexperiment 83<br />

MUSIL Robert 1955. Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. (Hg.) Adolf Frisé. Hamburg:<br />

Rowohlt.<br />

MUSIL Robert 1957. Die Verwirrungen des Zöglings Törless. Hamburg: Rowohlt.<br />

MUSIL Robert 1983. Tagebücher. (Hg.) Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt.<br />

NIETZSCHE Friedrich 1988. Kritische Studienausgabe. (Hg.) Giorgio Colli und Mazzino<br />

Montinari. München: dtv & de Gruyter.<br />

NIETZSCHE Friedrich 1930. Werke, Band 6: Der Wille zur Macht. (Hg.) Alfred Baeumler.<br />

Leipzig: Alfred Kröner Verlag.<br />

RENIERS-SERVRANCKX Annie 1972. Robert Musil. Konstanz und Entwicklung von Themen,<br />

Motiven und Strukturen in den Dichtungen. Bonn: Bouvier.<br />

SEIDLER Ingo 1965. „Das Nietzsche-Bild Robert Musils” .In: Deutsche Vierteljahresschrift, Bd.<br />

39, S. 329-349<br />

STATEN Henry 1990. Nietzsche’s Voice. Ithaca and London: Cornell University Press.<br />

WALLNER Friedrich 1984. „Sehnsucht nach Verweigerung. Musil und Nietzsche” .In: Josef<br />

Strutz und Johann Strutz (Hg.), Robert Musil - Literatur, Philosophie und Psychologie.<br />

Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1983. Musil Studien, Bd. 12, S. 91-109.<br />

VATTIMO Gianni 1992. Nietzsche. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler.<br />

Anmerkungen<br />

1 Der Wille zur Macht bleibt in Nietzsches Schriften vage. So wird er z.B. mit dem Willen zum Leben<br />

identifiziert. Dieses Beispiel seines Gebrauchs steht für viele: „Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für<br />

Wachsthum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es<br />

Niedergang. Meine Behauptung ist, dass allen obersten Werthen der Menschheit dieser Wille fehlt, —<br />

dass Niedergangs-Werthe, nihilistische Werthe unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen.”<br />

(NIETZSCHE 1988, VI, 172) In Der Wille zur Macht wird er in einem paradoxen Sinn benutzt: „Jener<br />

Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wiedererkenne, gibt uns<br />

das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zugunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statt<br />

hat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die<br />

Furchtsamkeit der Schwachen, die Überzahl gegen sich haben.” (NIETZSCHE 1930, 685) Damit deutet<br />

Nietzsche an, daß die Genies eigentlich der Macht einer Elite bedürften, um ihren Rang zu sichern. Henry<br />

STATEN sieht in diesen Äußerungen Nietzsches eigene psychische Ökonomie widerspiegelt: „The<br />

parallelism of genius and hero runs through all of Nietzsche’s thought, and the link between the two is<br />

what makes it possible to read so much about Nietzsche’s own economy in his remarks on the hero. The<br />

genius is just another sort of hero, another summing-up of the totality, and in fact the greater one since<br />

the hero can only sum up his own civilization, but the genius can conceivably include within himself all<br />

of human history.” (STATEN 1990, 148) VATTIMO weist darauf hin, daß sich der Begriff in seiner<br />

Ungenauigkeit aufzulösen droht: „Wir stoßen hier an die Grenzen, an denen die ewige Wiederkehr und<br />

der Wille zur Macht sich als eher auflösende und nicht als konstruktive Prinzipien erweisen. Ihre<br />

Selektivität scheint untrennbar mit ihrer Auflösungsbedeutung verbunden zu sein.” (VATTIMO 1992: 8)<br />

2 Daß Nietzsche die „arische Herrenrasse” der Nazis wahrscheinlich zu den Sklavenmenschen gezählt<br />

hätte, hinderte diese jedoch nicht daran, seine Schriften nach ideologischen Versatzstücken<br />

auszuschlachten. Der Herdeninstinkt charakterisiert nach Nietzsche diejenigen, die ihren Führern nur<br />

folgen können, aber sich nicht selbst führen können. Auch die Herrscher, die eine gefügige Masse<br />

brauchen, sind für Nietzsche nicht wirklich ”stark".


84 Musil<br />

3 Diese Libido verkörpert das harte, starke, männliche Prinzip, dessen Nietzsche sich wohl selbst ständig<br />

vergewissern mußte. Henry STATEN charakterisiert Nietzsches Psychodynamik als „excluding inclusion",<br />

d.h. daß sein einräumendes Möglichkeitsdenken auf dem Ausschluß des Weiblichen, Schwachen und<br />

Kranken beruht. Erst wenn das bedrohliche „Andere” gebannt ist, kann er es spielerisch in seinen Diskurs<br />

einfügen.<br />

4 Siehe Annie RENIERS-SERVRANCKX (1972: 20) und Wilfried BERGHAHN (1963: 40f.).<br />

5 Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf MUSIL 1957.<br />

6 Musil benutzt den Begriff der „Vivifizierung” hier (fälschlicherweise) im Sinne von Vivisektion.


Der Mythos von den Ahnen: Nongqawuse und der Selbstmord<br />

der Nation als antiimperialer Aufstand<br />

<strong>Anette</strong> <strong>Horn</strong><br />

Mythen haben eine Funktion und sie bestimmen das Handeln von einzelnen und von<br />

Gemeinschaften, und haben daher auch Folgen, solange die Menschen wie die Griechen<br />

"glaubten, was sie sangen, Götter und Heroen. So willkürlich sie auch beide episch und<br />

dramatisch verflochten: so unwillkürlich blieb doch der Glaube an ihre Wahrheit".<br />

Umgekehrt sieht man "Aus der matten Wirkung der Mythologie auf die neuere<br />

Dichtkunst, und so aller Götter-Lehren, der indischen, nordischen, der christlichen, der<br />

Maria und aller Heiligen, ... die Wirkung des Unglaubens daran." 4<br />

Ich will hier als Beispiel einen afrikanischen Mythos vorstellen, der eine ganze<br />

bestimmte Funktion und schreckliche Folgen im Leben der Xhosas hatte. Es handelt<br />

sich dabei um einen Erneuerungsmythos: um die Vorstellung, das schlechte Jetzt könne<br />

durch ganz bestimmte Handlungen völlig erneuert und gereinigt werden.<br />

Es begann alles ganz friedlich an einem gewöhnlichen Tag im Mai: „Eines Morgens<br />

im Mai 1856 ging ein Xosa-Mädchen zu einem Flüßchen, das in der Nähe ihres Heims<br />

vorüberfloß, um Wasser zu holen. Bei ihrer Rückkehr erzählte sie, daß sie sonderbare<br />

Männer beim Fluß gesehen habe, ganz anders als die sie gewöhnlich traf.” 5<br />

Nongqawuse wird heute noch von vielen Menschen für den Untergang der Xhosanation<br />

verantwortlich gemacht, doch war sie, im Gegensatz zu ihrem Onkel,<br />

Umhlakaza, lediglich der Auslöser der Ereignisse. Der Onkel, der sich als Prophet<br />

entpuppt, ging daraufhin zum Fluß, um die Männer zu sehen und fand sie. Sie forderten<br />

von ihm, daß er gewisse Zeremonien vollführen und danach den Geistern der Toten<br />

einen Ochsen opfern solle. Als er am vierten Tag zurückkehrte, erfuhr er, daß sie die<br />

‘ewigen Feinde des weißen Mannes’ waren, und daß sie ‘von Schlachtfeldern jenseits<br />

des Meeres’ herbeigekommen waren, um den Xhosas zu helfen: „Durch ihre<br />

unüberwindliche Macht würden die Engländer aus dem Lande vertrieben werden.” Sie<br />

verlangten außerdem, daß die Leute ‘ihre gegeneinander gerichteten Zauberkünste<br />

einstellen’ und daß sie ‘vom fettesten Vieh schlachten und essen’ sollten. (MM 226)<br />

Die Nachricht sprach sich schnell unter den Xhosas herum und der oberste Häuptling<br />

des Stammes, Kreli, begrüßte die Botschaft, sodaß er sogar als der Urheber des ganzen<br />

Planes angesehen wurde. Überall wurde vom besten Vieh geschlachtet und die<br />

Kornvorräte vernichtet, da am versprochenen Tag die Viehherden auf wunderbare<br />

Weise vermehrt und die leeren Kornbehälter gefüllt sein würden.<br />

4<br />

Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, Werke. Herausgegeben von Norbert Miller und Gustav Lohmann,<br />

München: Hanser, 1959-1963. 1. Abt. Bd. 5, S. 73<br />

5<br />

Elias Canetti,. Masse und Macht. Frankfurt am Main: Fischer 1980, 226 (zitiert als MM); Vgl.auch Vgl.<br />

J. B. Peires, The Dead Will Arise. Nongqawuse and the Great Xhosa Cattle-Killing Movement of 1856-7.<br />

London: James Currey 1989, S. 218ff; Gunter Pakendorf, „Looking back into olden times: Hans Grimm,<br />

J.B. Peires and the fiction of the great cattle-killing”. In: Elmar Lehmann, Erhard Reckwitz (Eds.),<br />

Mfecane to Boer War: Versions of South African History. Papers Presented at a Symposium at the<br />

University of Essen, 25-27 April 1990. Essen: Verlag Die Blaue Eule 1992.


86 Canetti<br />

Schließlich erscheint der Befehl von entscheidender Bedeutung für das Verhalten der<br />

Xhosas. „Die Toten, die ihn erteilen, brauchen einen Mittelsmann zu seiner<br />

Weiterleitung. Sie anerkennen durchaus die irdische Hierarchie. Der Prophet soll sich<br />

an die Häuptlinge wenden und diese zu Entgegennahme der Geisterbefehle bewegen.”<br />

(MM 233) Wenn man den Inhalt des Befehls betrachtet, sieht man, daß in seinem<br />

Zentrum das Töten steht. Das Vieh steht hier für die Feinde, die Weißen: „Der Krieg<br />

beginnt im eigenen Land, als wäre man schon in dem des Feindes; der Befehl aber rückt<br />

wieder nahe an seinen Ursprung zurück, da er noch Todesurteil war, das instinktive<br />

Todesurteil einer Gattung gegen die andere.” (MM 233)<br />

Die Xhosas hatten eine Reihe von Kriegen gegen die Engländer geführt, in denen sie<br />

zwar nicht geschlagen wurden, doch schwere Verluste erlitten. Hinzu kamen eine<br />

schlimme Trockenheit und die Rinderseuche, die in manchen Teilen des Landes bis zu<br />

90% des Viehs dahinraffte. Unter diesen Umständen erscheint der Aufruf zur<br />

Viehschlachtung beinahe als rational. All diese Faktoren, die die Existenz der Xhosas<br />

zutiefst bedrohten, trugen aber auch zu einer verzweifelten Stimmung bei, in der die<br />

Xhosas den Prophezeiungen Nongquawuses Glauben schenkten.<br />

Die Xhosas seien ‘besessen’ und ‘duldeten weder Einwand noch Widerstand’. Ein<br />

‘fanatischer’ Glaube habe alle Xhosas ergriffen, den manche ihrer Führer als<br />

Gelegenheit zum Krieg ansahen. Sie hätten einen bestimmten Plan im Auge: „den<br />

ganzen Xosa-Stamm vollbewaffnet und in einem Zustand des Verhungerns auf die<br />

Kolonie zu werfen”. (MM 228)<br />

Allerdings hat es einige gegeben, „die weder an die Voraussagen des Propheten noch<br />

an Erfolg in einem solchen Krieg glaubten und trotzdem alle Nahrungsvorräte bis zum<br />

letzten Teil zerstörten.” (MM 228) Der vernünftige Widerstand Einzelner gegen den<br />

widersinnigen Befehl des Herrschers wird durch die Masse aufgelöst und verwandelt sie<br />

in ‘Wahnsinnige’, während die rasende Masse als ‘normal’ erscheint. An die Stelle der<br />

rationalen Überzeugung tritt der Befehl des Häuptlings und der absolute Gehorsam der<br />

Masse. Dieser Prozeß wirkt wie ein Rückfall auf eine archaische Denk- und<br />

Verhaltensweise.<br />

Canetti äußert seine Verwunderung darüber, daß dieses so merkwürdige Ereignis<br />

sich „wirklich so zugetragen (hat) in den 50er Jahren des [vor]letzten Jahrhunderts, also<br />

in nicht gar so ferner Vergangenheit.” (MM 230). Der erste wesentliche Punkt, den<br />

Canetti in seinem Kommentar zu dem Bericht herausgreift, ist, „wie lebendig die Toten<br />

der Xosas sind”. Damit verweist er auf den Ahnenkult der Xhosas, demzufolge die<br />

Ahnen als Vermittler zwischen den Lebenden und dem Jenseits Anteil an dem Schicksal<br />

der Lebenden nehmen. So versprechen sie den Xhosas ein Hilfsheer, das als ‘Masse aus<br />

toten Kriegern’ auferstehen wird. Es ist, als ob sie ein Bündnis mit einem anderen<br />

Stamm eingingen, aber diesmal ist es „ein Bündnis mit dem Stamme der eigenen<br />

Toten”. (MM 230) Die Toten haben zu ihrem früheren Ansehen noch ein<br />

übernatürliches, das dadurch zum Ausdruck kommt, daß sie dem Propheten erscheinen:<br />

„sie sind so um den Tod herumgekommen und auf eine eindrucksvolle Weise noch<br />

aktiv. Das Umgehen des Todes, der Wunsch, ihm auszuweichen, gehört zu den ältesten<br />

und zähesten Tendenzen aller Machthaber.” (MM 234) In diesem Zusammenhang ist es


Nongqawuse 87<br />

bedeutsam, daß der Häuptling Kreli das Hungersterben seines Volkes um viele Jahre<br />

überlebt hat.<br />

Das zweite wichtige Element für Canetti ist, daß am versprochenen Tag „alle<br />

plötzlich gleich sein” werden: „Die Alten werden wieder jung, die Kranken gesund, die<br />

Sorgenvollen fröhlich sein; die Toten werden sich unter die Lebenden mischen.” (MM<br />

230f.) Auf dieses Ziel allgemeiner Gleichheit wird bereits mit dem ersten Befehl<br />

verwiesen: man „soll die Zauberkünste aufgeben, die einer gegen den anderen<br />

anwendet; das Durcheinander ihrer feindlichen Absichten ist es, was Einheit und<br />

Gleichmäßigkeit des Stammes am meisten stört.” (MM 231) Die Einheit aller Stämme<br />

ist oberstes Ziel, um die Feinde zu besiegen, aber die Masse des Stammes, „die allein zu<br />

schwach ist”, soll in einem plötzlichen Sprung durch die volle Masse ihrer Toten<br />

vermehrt werden. Die Richtung, in die sich diese Masse bewegen wird, ist<br />

vorgezeichnet: sie wird sich auf die Kolonie der Weißen stürzen, unter deren Herrschaft<br />

sie zum Teil schon steht.<br />

Canetti berücksichtigt nicht, inwiefern das traditionelle afrikanische Denken bereits<br />

durch die Bekehrung zum Christentum durch die Missionare beeinflußt und verändert<br />

wurde. Die Prophezeiung enthält selbst schon Merkmale beider Glaubenssysteme, ist<br />

also hybrid. So z.B. Vorstellung des jüngsten Gerichts, an dem die Toten auferstehen<br />

werden und die Gläubigen ins Himmelreich kommen, während die Ungläubigen zur<br />

ewigen Verdammnis des Höllenfeuers verurteilt sind. Die Xhosas, die dem Befehl<br />

Krelis folgen, werden belohnt, indem sie ihr Land zurückgewinnen, während die<br />

Weißen, Mischlinge und ungläubigen Xhosas zurück ins Meer getrieben werden, aus<br />

dem die Weißen ursprünglich kamen. Man kann sich fragen, ob es nicht überhaupt nur<br />

hybride Mythologien gibt.<br />

Identität entsteht aus der Abgrenzung von den Anderen. Um zu verhindern, daß die<br />

Eigenen zum Lager der Anderen überwechseln und somit zu Verrätern der Nation<br />

werden, werden ihnen die schlimmsten Strafen angedroht:<br />

Furchtbar aber würde das Schicksal derer sein, die sich dem Willen der Geister entgegenstemmten<br />

oder die Ausführung ihrer Befehle vernachlässigten. Derselbe Tag, der den Gläubigen so viel<br />

Freude bringen würde, wäre für sie der Tag des Ruins und Untergangs. Der Himmel würde<br />

einstürzen und sie zusammen mit den Mischlingen und Weißen zermalmen. (MM 216)<br />

Canetti bemerkt, daß die Toten übrigens dieselben Wünsche wie die Lebenden<br />

haben; sie lieben es, Fleisch zu essen und verlangen darum, daß man ihnen Vieh opfert.<br />

Es ist anzunehmen, daß sie auch vom Getreide genießen, das man zerstört. Die<br />

Vermehrungstendenzen, die man für sein Vieh und sein Korn sonst hat, schlagen um in<br />

eine Vermehrungstendenz für die Toten. Aber nun kommt die Katastrophe: „Endlich<br />

war der lang erwartete Tag herangekommen. Die ganze Nacht über hatten die Xosas in<br />

höchster Erregung gewacht. Sie erwarteten zwei blutrote Sonnen über den Hügeln im<br />

Osten aufgehen zu sehen; die Himmel würden dann einstürzen und ihre Feinde<br />

zerschmettern. Halbtot vor Hunger verbrachten sie die Nacht in wilder Freude.” (MM<br />

217)


88 Canetti<br />

„Die freudige Erregung der Xosas war in tiefste Verzweiflung umgeschlagen. Als<br />

Bettler, nicht als Krieger, in völlig verhungertem Zustand, mußten sie jetzt ihren Weg in<br />

die Kolonie nehmen. Bruder kämpfte gegen Bruder, Vater gegen Sohn, um kleine<br />

Fetzen und Stückchen der großen Milchbehälter, die man an jenen Tagen hoher<br />

Hoffnung so sorgfältig angefertigt hatte. ... Ein unaufhörlicher Strom von<br />

ausgehungerten Geschöpfen ergoß sich über die Kolonie, meist junge Männer und<br />

Frauen, aber manchmal auch Väter und Mütter mit halbtoten Kindern auf dem Rücken.<br />

Vor den Farmhäusern hockten sie sich nieder und baten in jammervollen Tönen um<br />

Essen.” (MM 217f.) Die Euphorie des nationalen Sieges der Xhosa über die Kolonisten<br />

schlägt in Depression und Demütigung um: sie sind nun ganz in ihren Händen und<br />

müssen ihnen obendrein noch dankbar sein, daß sie ihnen etwas zu essen geben. Es<br />

entsteht der Mythos der kolonialen Mildtätigkeit: die Viehschlachtung wurde als Anlaß<br />

benutzt, um die entwurzelten und verhungernden Xhosas in die Zwangsarbeit zu<br />

drängen, und sie auf diese Weise zu ‘zivilisieren’, d.h. in nützliche koloniale Untertanen<br />

zu verwandeln.<br />

„Während des Jahres 1857 sank die Bevölkerung des britischen Teils des Xosa-<br />

Landes von 105 000 auf 37 000. 68 000 Menschen waren hier umgekommen. [...] Die<br />

Macht des Xosa-Stammes war vollkommen gebrochen.” (MM 218) „Zu ihrer Rache an<br />

den Weißen, die sie ihres Landes immer mehr beraubt hatten, zu einem aussichtsreichen<br />

Krieg gegen diese, nach allen erfolglosen Kriegen, die sie schon geführt hatten,<br />

bedurften sie eines: des Aufstandes ihrer Toten.” (MM 232) Die Xhosas hatten sich von<br />

den Toten aber selbst täuschen lassen, um ihre Masse zu vergrößern: „Den Sieg hatten<br />

also die Toten doch errungen, wenn auch auf eine andere Weise und in einem anderen<br />

Krieg; zum Schluß standen sie als die größte Masse da.” (MM 233)<br />

»Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär«, denn der Mythos selbst<br />

ist bereits Arbeit des Logos, ist Humanisierung der Wirklichkeit. Auch dort, wo er so<br />

furchtbare Konsequenzen hat wie bei den Xhosas, ist der Mythos ein Versuch zu<br />

verstehen, was mit diesem Volk in der Zeit kolonialer Kriege geschieht, und ein<br />

Handlungsmuster zur ermöglichen. Auch Handlungsmuster, die auf wissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen beruhen, können, wir wissen es, wegen der Komplexität der<br />

Wirklichkeit, genau das Gegenteil dessen erreichen, was beabsichtigt ist.


Die Rezeption Hermann Hesses im südlichen Afrika<br />

Die erste Welle der weltweiten Hesse-Rezeption erreichte Südafrika in der<br />

Generation von William Plomer in den frühen zwanziger Jahren. In seinem<br />

Erstlingsroman Turbott Wolfe verweist der neunzehnjährige Plomer in einem Motto<br />

ausdrücklich auf Hermann Hesses Einfluß: "When the unconscious of a whole continent<br />

and age has made of itself poetry in the nightmare of a single, prophetic dreamer, when<br />

it has issued in his awful, bloodcurdling scream, one can of course consider this scream<br />

from the standpoint of a singing teacher." Das Motto stammt aus einem der zwei Essays<br />

über Dostojewski, die Hesse 1920 unter dem Titel Blick ins Chaos veröffentlichte. T.S.<br />

Eliot trug dazu bei, Hesses Gedanken im englischen Sprachraum zu popularisieren, wie<br />

er 1922 nach einem Besuch bei Hesse in Montagnola schrieb: "I have become<br />

acquainted with In Sight of Chaos, which I admire greatly. I find in your book evidence<br />

of a serious concern which has not yet penetrated to England, and I would like to spread<br />

its reputation." Plomer, der sowohl in England, als auch in Südafrika ausgebildet wurde,<br />

zitiert aus der englischen Übersetzung von Stephen Hudson. In seinem Roman ersetzt<br />

Plomer den Kontinent "Asien" durch "Afrika", der seine Stimme in der kleinen,<br />

liberalen Bewegung des Young Africa findet. Diese fiktive Bewegung skizziert er vor<br />

dem Hintergrund der aufkommenden politischen Organisationen des African National<br />

Congress (ANC) und des Industrial and Commercial Worker's Union of Africa (ICU) in<br />

den zwanziger Jahre. Im Gegensatz zu diesen politischen Organisationen sieht Young<br />

Africa die Zukunft Südafrikas in der Aufhebung der Rassenunterschiede durch die<br />

genetische Vermischung der Rassen.<br />

Der "andere" Kontinent kann jedoch nur zum Sprechen gebracht werden, wenn man<br />

das Unbewußte der eigenen Kultur konfrontiert. Dieses Unbewußte manifestiert sich im<br />

Alp eines "einzelnen prophetischen Träumers", dessen einzig angemessene Reaktion<br />

darauf ein "röchelnde[r], furchtbare[r] Schrei" ist. Damit deutet Plomer an, daß sein<br />

Versuch, dem Unbewußten der eigenen, europäischen Kultur im fremden Kontinent<br />

Afrikas zu begegnen, nicht nur von einem ästhetischen Standort beurteilt, sondern auch<br />

als eine unvollkommene, aber notwendige Pionierleistung gesehen werden sollte.<br />

Es lassen sich bestimmte Parallelen zwischen dem Turbott Wolfe (1925) und dem<br />

zwei Jahre später erschienenen Steppenwolf (1927) zeigen. Beide Autoren wählen die<br />

gleiche Darstellungsweise: Der Erzähler rekonstruiert das Bild eines außergewöhnlichen<br />

Individuums, mit dem er einige Gespräche geführt hat, aus den<br />

Tagebuchaufzeichnungen, die er dem Erzähler hinterließ. So lassen sich bestimmte<br />

Sprünge, Widersprüche und Auslassungen aus der Tagebuchform und der<br />

psychologischen Verfassung des Tagebuchschreibers erklären. Ferner spielt ein Traktat,<br />

bzw. ein Manifest, eine zentrale Rolle in beiden Romanen. Das Manifest im Turbott<br />

Wolfe wird von Friston, einem führenden Mitglied des Young Africa, entworfen. Es<br />

beschreibt, ähnlich wie das Traktat im Steppenwolf, den Nachkriegsmenschen als<br />

gespalten. Der "Politico-Aestete" des Turbott Wolfe ist in zwei Hälften geteilt: Die<br />

linke Hälfte ist die kreative, künstlerische, unbewußte (unter dem linken Arm trägt er


90 Hesse<br />

Freuds Gesammelte Werke), während die rechte Seite das Politische, Geschäftliche und<br />

Rationale repräsentiert (unter dem rechten Arm trägt er den Almanach de Gotha).<br />

Die Hauptfiguren sind in beiden Fällen Außenseiter, gerade weil sie über die Norm<br />

hinausragen. Sowohl Turbott Wolfe als auch Harry Haller haben etwas Geniales an<br />

sich, obwohl die Gesellschaft sie als Genies nicht anerkennt und sie an ihrem<br />

Außenseitertum erkranken läßt. Ihre Namen enthalten beide das Wort "Wolf", was auf<br />

den raubtierhaften Teil ihrer Persönlichkeit hinweist, der sie von den als Schafen<br />

dargestellten normalen Menschen trennt. Der Gegensatz zwischen dem Verfall der<br />

abendländischen, rationalistischen Kultur und dem Beginn einer sinnenfreudigen, aber<br />

noch kindlichen südländischen Kultur ist ein weiteres wichtiges Merkmal beider<br />

Romane. Im Turbott Wolfe handelt es sich um die afrikanische Kultur, während es im<br />

Steppenwolf um die Welt des amerikanischen "Negro"-Jazz geht, die der Saxophonist<br />

Pablo verkörpert. In Fristons Manifest wird auf die Verbindung zwischen Jazz und<br />

Sinnlichkeit hingewiesen. Es heißt vom "Politico-Aesthete": "But his left ear is devoted<br />

to a saxophone (or is it a sexophone?) upon which is subtly rendered by a young man<br />

from Cardiff with a Polish name a tune called: »A-be, A-be, my boy, what are you<br />

waiting for now?«" Eine weitere Parallele zwischen den zwei Romanen bildet das<br />

Drogenexperiment. Im Turbott Wolfe erlebt Wolfe den Missionar Friston während eines<br />

Wahnsinnschubs, der durch die Droge "S-" ausgelöst wurde. In dieser Szene entblößt<br />

Friston seine andere "satanische" Hälfte. Peter Wilhelm hat darauf hingewiesen, daß<br />

Friston auch eine Maske für Turbott Wolfe und schließlich für William Plomer darstellt.<br />

Ebenso begegnet Harry Haller seinen verschiedenen Persönlichkeiten während eines<br />

"Drogentrips", obwohl diese Erfahrung ihn vorübergehend von seiner Gespaltenheit<br />

befreit. Sie erweitert seinen Bewußtseinshorizont.<br />

Ich möchte die Hypothese aufstellen, daß Hesse den Turbott Wolfe kannte (vielleicht<br />

hat Plomer oder die Verleger, Leonard und Virginia Woolf, ihm sogar eine Kopie<br />

zugesandt?), und daß ihn diese Lektüre dazu anregte, dem Steppenwolf die Form zu<br />

verleihen, in der er 1927 erschien. Diese Hypothese ist nicht völlig von der Hand zu<br />

weisen, auch wenn die Zeit zwischen dem Erscheinen des Turbott Wolfe (früh 1926)<br />

und dem Steppenwolf (1927) relativ kurz ist, da Hesse "etliche Werke der<br />

englischsprachigen Literatur im Original gelesen" hat, wie Martin Pfeifer mir bestätigt,<br />

aber auch nicht leicht zu beweisen, es sei denn William Plomers Roman befände sich in<br />

der Bibliothek Hesses. Sicher ist jedoch, daß Turbott Wolfe in Europa eine positive<br />

Resonanz fand, wie aus Rilkes Bemerkung hervorgeht, daß der Roman das Werk eines<br />

Menschen sei, der die Einsamkeit zu seiner Heimat gemacht habe. Die zweite Welle der<br />

Hesse-Rezeption riß die jüngere Generation in den sechziger und frühen siebziger<br />

Jahren mit sich, als Hesse mit dem Hippie-Kult ins südliche Afrika importiert wurde.<br />

Colin Wilson's Buch The Outsider spielte in dieser zweiten Welle eine entscheidende<br />

Rolle, da es die Schriftsteller-Generation der sechziger Jahre zum ersten Mal auf Hesse<br />

und insbesondere auf den Steppenwolf aufmerksam machte. Ein Schriftsteller dieser<br />

Generation, Peter Wilhelm, meint, daß Wilsons Gedanken zwar bald ihre<br />

Überzeugungskraft für ihn verloren hatten, die Vorstellungen der Entfremdung und der<br />

Suche nach einem Sinn ihn aber weiterhin beschäftigen. Indirekt beeinflußt von dieser<br />

Hesse-Rezeption wurden die Romane Rite of Passage von Sheila Fugard und dangerous


Die Rezeption Hermann Hesses 91<br />

connections von Peter du Preez. In ihrem Roman untersucht Sheila Fugard anhand der<br />

Beschneidung eines weißen Jungen im Stamm der Pedi die Entfremdung, die die<br />

westliche Kultur verursacht, und die Suche nach psychischer Heilung in einer<br />

Weltanschauung, die vom ganzen Menschen ausgeht. Der weiße Junge ist zugleich der<br />

Schüler eines weißen Arztes, der die rites de passage der Pedi studieren möchte. Der<br />

Arzt vermutet eine dem I Ching analoge symbolische Verschlüsselung der Wahrheit in<br />

der Kunst des Schamanen, des Ngaka. Der Bezug zu Hesse liegt hier abstrakt in der<br />

Themenwahl und in der Übertragung der fernöstlichen Religion auf die Riten des Pedi-<br />

Stammes. Peter du Preez' Roman spielt dagegen in Hillbrow, dem Nachtklubviertel<br />

Johannesburgs. Er untersucht die plötzliche Entwicklung eines Jungen zu einem Mann.<br />

Das Buch ist im "schnoddrigen" Ton der Jugendlichen geschrieben. James Hinde, die<br />

Hauptfigur des Romans, und seine Freunde verkörpern die rebellische und antiautoritäre<br />

Haltung der Hippie-Generation. Sie lieben die Musik Jimi Hendrix', der<br />

Kultfigur dieser Jugendrevolution. Die Bezüge zu Hesse liegen in dem Protest gegen<br />

eine traditionelle, jede Eigeninitiative abtötende Schulbildung, die die jungen Leute zu<br />

konventionellen, bürgerlichen Erwachsenen abrichten will und in dem offenen<br />

Gespräch über Sexualität. Während der zweiten Hesse-Welle wurden vor allem Der<br />

Steppenwolf und Demian rezipiert, die das Thema des Außenseiters und Rebellen<br />

behandelten, weiterhin der Siddartha, der dem erneuten Interesse an der fernöstlichen<br />

Religion entgegenkam. Die Faszination mit dem Osten war in den siebziger Jahren im<br />

südlichen Afrika weit verbreitet, aber sie kam wiederum aus zweiter Hand. In dieser<br />

Hinsicht spielten wohl hauptsächlich Timothy Leary und amerikanische Schriftsteller<br />

wie Ken Kesey eine vermittelnde Rolle. Aber auch die zweite Hesse-Welle hinterließ<br />

keine bleibenden Spuren in der kulturelle Produktion dieser Generation. So kam es zu<br />

keinen Übersetzungen von Hesses Texten in die Sprachen des südlichen Afrika, wie<br />

Xhosa, Sotho, Ovambo, Herero, Afrikaans. Das heißt, daß Hesse nur von einer relativ<br />

kleinen englischsprachigen und noch kleineren deutschsprachigen Gruppe rezipiert<br />

wurde, die aber nicht literarisch produktiv war, oder die sich bald von seinem Einfluß<br />

löste.<br />

An den Deutschabteilungen der Universitäten im südlichen Afrika stehen Hermann<br />

Hesses Werke zwar weder im Mittelpunkt des Lehrplans noch im Zentrum des<br />

Forschungsinteresses, aber einzelne Werke werden doch behandelt. (So wurde z.B.<br />

Unterm Rad in bezug auf das Thema "Schule in der Literatur" 1988 an der Universität<br />

Kapstadt besprochen.) Diese Sachlage spiegelt sich in der Fachzeitschrift der<br />

südafrikanischen Germanisten Acta Germanica. In den letzten zwanzig Jahren sind nur<br />

zwei kritische Essays über Hermann Hesse erschienen und soweit ich festellen konnte,<br />

wurde Hesse nur in zwei Dissertationen behandelt. Reinhard Kuhles erhielt den<br />

Magister 1978 an der Universität Pretoria für die These Das Vagabundenmotiv bei<br />

Hermann Hesse und Manfred Hausmann. Günter Dedekinds Dissertation Konflikt und<br />

Totalität im epischen Werk von Hermann Hesse wurde 1969 von der Universität<br />

Witwatersrand (Johannesburg) angenommen. Der Artikel, "Kunst und Dämonie in<br />

Hermann Hesses Rosshalde" , bildet die veränderte Fassung eines Teils des ersten<br />

Kapitels dieser Dissertation. Dedekind versucht, eine Lücke in der Hesse-Forschung<br />

durch die "sorgfältige Einzelbetrachtung von Gehalt und Gestalt des Frühwerks" zu<br />

schließen. Der Roman Roßhalde stelle eine Künstlerkrise dar, die aus dem Konflikt


92 Hesse<br />

zwischen der Totalität der Kunst und der Entfremdung des Künstlers in der Gesellschaft<br />

entstehe, und die durch die Kunst noch gesteigert werde. Die Auflösung seiner<br />

erstarrten Ehe ermögliche es dem Künstler Veraguth, die Krise zu überwinden und sich<br />

einem farbenfrohen Leben hinzuwenden, das er in Indien zu finden hofft. An den<br />

deutschen Auslandsschulen und an den englisch- und afrikaanssprachigen<br />

Regierungsschulen, die Deutsch als Fremdsprache anbieten, war Hesses Erzählung<br />

Knulp während der sechziger Jahre vorgeschrieben.<br />

Obwohl Hermann Hesse im südlichen Afrika einer relativ kleinen Gruppe bekannt<br />

ist, hat sich Hesses Rezeption nicht ausdrücklich auf ihre kulturelle Produktion<br />

ausgewirkt. Es wäre aber möglich, einen mittelbaren Einfluß zu postulieren, wenn man<br />

davon ausginge, daß die zwei Wellen der Hesse-Rezeption bei den jeweiligen<br />

Rezepienten Prozesse auslösten, die sie dazu veranlaßten, ihre persönlichen und<br />

beruflichen Haltungen und Ziele neu zu durchdenken. (Man denke etwa an die<br />

Aussteiger und an die Drogenexperimente der Hippie-Generation.) Auf dieser Ebene<br />

wäre ein Einfluß Hesses durchaus möglich, wahrscheinlich durch die "Gurus" der<br />

Hippie-Generation wie Timothy Leary vermittelt. Der Hauptgrund für die<br />

ausgebliebene Resonanz von Hermann Hesses Werken im südlichen Afrika scheint mir<br />

jedoch darin zu liegen, daß er angesichts der sozio-politischen Probleme (Kolonialismus<br />

und Rassismus) kein Modell entwirft, das den Südafrikanern eine adäquate Analyse<br />

dieser Probleme erlaubt, sondern daß er durch die Meditation den Rückzug in eine<br />

private, mystische Idylle zu befürworten scheint. Es ist möglich, daß eine kritische<br />

Auseinandersetzung mit Hesse in Südafrika einsetzt, wenn diese politischen und<br />

sozialen Probleme gelöst sind.


Die Fremden spielen mit: Magische Schiffe, Lesestunden und<br />

Peepshows.<br />

<strong>Anette</strong> und Peter <strong>Horn</strong><br />

Man könnte meinen, wahrhaftig,<br />

man sei eingesperrt.<br />

Und doch tut man wohl,<br />

was man will<br />

oder ungefähr das, was man will.<br />

Also eingesperrt,<br />

mein Gott, aber von wem? 6<br />

Wenn nicht gleich zu Beginn des Films folgender Text erschiene:<br />

Nach der Eroberung und Ausplünderung des Inkareiches durch die Spanier erfanden die Indianer<br />

in ihrer Not die Fabel vom Goldland El Dorado, das in den unbegehbaren Sümpfen der<br />

Amazonasquellflüsse liegen sollte. 7<br />

könnte man Herzogs Film, Aguirre, der Zorn Gottes, 8 als eine Verfilmung eben jener<br />

Stereotypen lesen, die den Reisebericht und die Abenteurerromane des Kolonialismus<br />

kennzeichnen. Noch einmal wird deutlich, daß die Inkas die Spanier absichtlich in eine<br />

ausweglose Hölle geschickt haben, als Runo Rimac, der gefangene Inka-Prinz sagt: „Du<br />

tust mir aber auch leid, denn ich weiß, es gibt keinen Ausweg aus diesem Urwald.”<br />

Diese dem Film vorangestellte Mitteilung - die nicht als Bild gezeigt wird, im<br />

Gegensatz zu Fitzcarraldo, wo das Mitspielen der Indianer zum Spiel auf der Leinwand<br />

wird - und Runo Rimacs Prophezeiung gibt dem, was dann gezeigt wird eine andere<br />

Dimension. Wer diese Mitteilungen übersieht und überhört, kann den Film als eine<br />

jener Darstellungen lesen, in denen das tragische Scheitern eines überdimensionalen<br />

kolonialen Unternehmens gefeiert wird: Nicht nur überwinden die Eroberer der<br />

Indianerreiche Südamerikas kaum begehbare Felswände und gefährliche<br />

Stromschnellen, während der Fahrt den Amazonas hinunter lauern ungreifbar,<br />

unsichtbar und unhörbar im Urwald ständig die Indianer als Feinde. Deren Präsenz ist<br />

6<br />

Guillevic: Die Chansons des Antonin Blond. Übersetzt von Claire und Rainer Brambach. Akzente<br />

12. Jahrgang (1965) No 2, S. 134<br />

7<br />

El Dorado war ein indianischer Mythos von einem Priester oder Prinzen, der seinen Körper mit Harz<br />

bedeckte, bevor er in einem heiligen See badete. Gold wurde als Opfer in den See geworfen und der<br />

Priester entstieg dem See als „vergoldeter Mann”. Aus dem vergoldeten Menschen wurde in der Phantasie<br />

der Kolonisten ein Goldland. Vgl. Stephen Minta, Aguirre: The Re-creation of a Sixteenth-Century<br />

Journey across South America. New York 1994, S. 5f<br />

8<br />

Die verschiedenen Chroniken über Aguirres Expedition wurden von Elena Mampel González und<br />

Neuss Escandell Tur herausgegeben: Lope de Aguirre: Cronicas, 1559-1561. Barcelona 1981


94 Herzog<br />

bis auf wenige Ausnahmen nur erahnbar, wenn es plötzlich unnatürlich still wird.<br />

Gerade wenn es besonders still ist, sind die Gegner nahe und man erwartet jeden<br />

Augenblick ihren Angriff - „Es gibt Stille und Stille”, meint der Kapitän Resenbrink in<br />

Fitzcarraldo. Obwohl man sie nie sieht, sind sie immer da und gewinnen das Spiel.<br />

Diese Indianer zeigen sich in einem zentralen Bild als menschenfressende Wilde, denen<br />

die weißen Abenteurer nur vorbeischwimmendes Fleisch sind, oder als gläubige Narren,<br />

die die Ankunft der weißen Rasse erwarten und dann in einer grotesken Szene zu<br />

Christen gemacht werden. Am ehesten entspricht der Indianerprinz Runo Rimac, „das<br />

heißt, derjenige, der spricht”, den die Spanier Balthasar getauft haben, dem Stereotyp<br />

des Kolonisierten als Opfer. Er klagt: „Seuchen sind über mein Volk gekommen,<br />

Erdbeben und Überschwemmungen, aber was die Spanier uns angetan haben, ist noch<br />

viel schlimmer.” Er macht damit den Raubzug der Spanier zu einer Art<br />

Naturkatastrophe, etwas, womit er sich abgefunden hat: „nun bin ich in Ketten wie mein<br />

Volk, und jetzt muß ich auf den Boden schauen. Fast alles hat man uns weggenommen.<br />

Ich kann nichts dagegen tun, ich bin machtlos.” Aber selbst der schwarze Sklave Okello<br />

hat seine eigene Agenda, auch wenn er als Sklave ohnmächtig ist, erhofft er sich doch<br />

etwas aus dem Unternehmen: „Und alle werden wir etwas gewinnen,<br />

Gouverneursposten, Provinzen, Frauen. Und vielleicht werd ich mal frei”.<br />

Der wirkliche Führer der Eroberer, Aguirre, entspricht in Vielem dem Stereotyp des<br />

Abenteurer-Eroberers. Die Geschichte von Herzogs Aguirre ist eine Kontamination der<br />

Geschichte von Francisco de Orellana, des ersten Spaniers, der sich im Jahre 1541 von<br />

Gonzalo Pizarro getrennt hatte und den Amazonas auf seiner ganzen Länge befahren<br />

hat, und von Pedro de Ursúa und Lope de Aguirre, die im Jahre 1560 mit zwei<br />

Brigantinen und sieben flachen Booten den Amazonas hinunterfuhren. 9 Aguirre ist, wie<br />

Cortez und Pizzaro, „ein Mensch ohne Maß”, der in einem „maßlosen Milieu herum”geistert,<br />

und „sich mit Plänen für eine Aktion, die ebenso groß ist wie das Milieu” trägt.<br />

Im Film „verdoppelt sich die Aktion: es gibt die erhabene Aktion, die immer darüber,<br />

immer jenseits steht.” Vom Standpunkt Aguirres aus erzeugt sie „aus sich selbst eine<br />

andere Aktion, eine heroische, die sich auf eigene Faust dem Milieu entgegenstellt, das<br />

Undurchdringliche durchdringt und das Unüberschreitbare überschreitet.” 10 Diese<br />

„Aktion wird nicht von der Situation gefordert, sie ist ein verrücktes Unternehmen, ein<br />

Hirngespinst eines Besessenen, der an seine Visionen glaubt und anscheinend der<br />

einzige ist, der es mit dem gesamten Milieu aufnehmen kann.” 11 Er ist auch der einzige,<br />

dem es nicht um Gold geht, sondern um Macht, Ruhm und um die Freiheit, alles zu tun,<br />

was er will. Wenn die Indianer die Goldgier der Erober benutzen, um sie in den<br />

Sümpfen des Amazonas loszuwerden, benutzt Aguierre seinerseits die Goldgier seiner<br />

Landsleute um seinen Traum zu verwirklichen: „der große Verräter, der Verräter<br />

schlechthin zu sein und alles zugleich zu verraten - Gott, den König und die Men-<br />

9<br />

Vgl. Petru Popescu: Amazon Beaming. London 1993, S. 281-293<br />

10<br />

Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike<br />

Bokelmann. Frankfurt/M 1989, S. 248f<br />

11<br />

Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 248f


Die Fremden spielen mit 95<br />

schen,” 12 der Kaiser von Eldorado zu werden, und „um in einer inzestuösen Verbindung<br />

mit seiner Tochter eine reine Rasse zu begründen 13 und aus der Geschichte das »Werk«,<br />

die »Oper« der Natur zu machen.” 14 Was Friedrich Brie 1920 über den kolonialen<br />

Abenteurer sagte, trifft auf Aguirre, aber vor allem auf den fiktionalen Aguirre des<br />

Films zu. Es geht ihnen darum, „sich aus der Wirklichkeit zu flüchten in ein Reich<br />

fremdartiger, schrecklich schöner, ungeheuerlicher, die Sinne befriedigender<br />

Emotionen.” 15<br />

Indem der Film mehr und mehr Aguirre in den Mittelpunkt des Interesses rückt,<br />

scheint er noch einmal Exotik als eine Art Initiation in die Welt der Anarchie zu<br />

benützen, das Exotische als eine Metonymie des Erotischen zu verwenden, 16 den Ort,<br />

an dem Ohnmacht ihre Machtträume träumen kann, ein Ort, wo das Unbegehbare, die<br />

Sümpfe, mit Gewalt begehbar gemacht werden. Der Film hat also, und nicht nur in dem<br />

Augenblick, wo die letzten Überlebenden ein Schiff in der Krone eines Urwaldriesen<br />

erblicken, „eine halluzinatorische Dimension, in der sich der rastlose Geist bis zum<br />

Grenzenlosen in der Natur erhebt, und eine hypnotische Dimension, in der der Geist mit<br />

Grenzen konfrontiert wird, die ihm die Natur setzt.” 17 Aber auch Herzogs Film selbst<br />

hat etwas von der Maßlosigkeit seiner Helden: „Von Anfang an, schon seit seinem<br />

Debut mit Lebenszeichen (1967), war in Herzogs Filmen die Vision, das noch nie<br />

vorher geschaute Bild, ein zentrales Motiv.” 18<br />

Zu den Stereotypen des Kolonialismus gehört aber nicht nur das große Projekt,<br />

sondern auch das tragische oder tragisch-komische Scheitern. Der Held, der ausgezogen<br />

ist, die Welt zu erobern, findet sich an einem Ort, weit von jeder Zivilisation, allein und<br />

ohne Aussichten auf ein gutes Ende, von einem Papagai ausgelacht: „Das erhabene<br />

Projekt des Visionärs scheitert in seiner großen Form, und seine gesamte Realität geht<br />

über ins Kümmerliche: Aguirre findet sein einsames Ende auf einem Floß,<br />

zusammengepfercht mit der einzigen Rasse, die ihm bleibt - einer Handvoll Affen.” 19<br />

12 Deleuze, Das Bewegungs-Bild, S. 248f. Der „Verräter” war das Gegenbild zur legitimen Macht, und<br />

wenn man nicht als Mächtiger in die Geschichte eingehen konnte, dann zumindest als der große „Judas”.<br />

Vgl. Minta: Aguirre, S.160f<br />

13 In Herzogs Film stirbt seine Tochter durch einen Indianerpfeil. In Wirklichkeit hat Aguirre seine<br />

sechzehn Jahre alte Tochter selbst ermordet. Vgl. Minta: Aguirre, S. 217f.<br />

14 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 248f<br />

15 Friedrich Brie: Exotismus der Sinne. Eine Studie zur Psychologie der Romantik. Heidelberg 1920,<br />

S. 14. Hier zitiert nach Thomas Schwarz: „Die Tropen bin ich!” Der exotische Diskurs der<br />

Jahrhundertwende. In: KultuRRevolution. 32/33 1995: 11<br />

16 Schwarz: „Die Tropen bin ich!” 11. Vgl. auch Peter <strong>Horn</strong>: Die Versuchung durch die barbarische<br />

Schönheit. Zu Hans Grimms ‘farbigen’ Frauen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. 1985, No.3,<br />

S.317-341; auch in: Nangolo Mbumba, Helgard Patemann, Uazuvara Katjivena (Hrsg.): Ein Land, eine<br />

Zukunft. Namibia auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Wuppertal 1988, S.151-162<br />

17 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, 248f<br />

18 Hans Günther Pflaum/Hans Helmut Prinzler: Film in der Bundesrepublik Deutschland. Der neue<br />

deutsche Film von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn 1985, S. 20<br />

19 Deleuze, Das Bewegungs-Bild, S. 251; der historische Aguirre wurde, nachdem er den Anführer der<br />

Expedition, de Ursúa ermordet hatte, den Amazonas hinuntergefahren und die Küste Südamerikas bis<br />

Venezuela entlanggesegelt war, paranoisch und begann seine Untergebenen zu ermorden. Er selbst wurde<br />

von einer Strafexpedition aus Peru in Barquisimeto in Venezuela hingerichtet. Minta: Aguirre, S. 157ff;<br />

Popescu: Amazon Beaming, S. 289


96 Herzog<br />

In Fitzcarraldo wird es noch augenfälliger, daß das Heroische (die<br />

Gebirgsüberquerung des großen Dampfers) ein Mittel des Erhabenen ist: der gesamte<br />

Urwald wird zum Tempel der Oper Verdis und der Stimme Carusos. 20 In Herzogs<br />

Fitzcaraldo scheint sich für einen Augenblick das gleiche Szenario wie in Aguirre zu<br />

wiederholen. Fitzcarraldo (die portugiesische Form von Fitzgerald), der, um seinen<br />

Plan, ein Opernhaus in Iquitos zu bauen, das scheinbar Unmögliche unternimmt, den<br />

Oberlauf des Ucayali zu erschließen, um da Kautschuk zu gewinnen, entdeckt, daß der<br />

Ucayali oberhalb der äußerst gefährlichen Pongo-das-Mortes-Stromschnellen an einer<br />

Stelle dem schiffbaren Pachitea ganz nahe kommt. Er wird allerdings vor den Jivaros,<br />

den von der Zivilisation noch unberührten Indianern am Oberlauf des Pachitea, gewarnt.<br />

Die Jivaros sind wegen ihrer Wildheit berüchtigt. Sie haben bisher jede Expedition und<br />

jeden Versuch, sie zu missionieren, mit äußerster Gewalt beantwortet, und sie stehen<br />

unter dem Verdacht, Kopfjäger oder Kannibalen zu sein. Zwei der Missionare, die den<br />

bisher letzten Versuch unternommen hatten, wurden getötet, und die verweste Leiche<br />

des einen kommt kopflos den Fluß hinabgetrieben. Dann aber ergibt sich etwas ganz<br />

anderes. Anstatt eines Kampfes der Kolonisatoren gegen die Wilden kommt es zu einer<br />

eigenartigen Zusammenarbeit der beiden: die Indianer haben einen Plan, zu dessen<br />

Durchführung sie Fitzcarraldo einsetzen müssen, genauso wie Fitzcarraldo, nachdem<br />

seine eigenen Leute ihn verlassen haben, die Indianer braucht, um seinen Plan<br />

durchzuführen.<br />

Die Indianer sind, so stellt sich heraus, aus dem Norden Brasiliens hierher<br />

gewandert, weil sie auf der Suche nach dem „weißen Gott” und nach dem Land sind,<br />

wo es kein Leid und keinen Tod gibt. Im Vorspann des Films ist folgender Text zu<br />

lesen:<br />

Cayahuari Yacu nennen die Waldindianer dieses Land, „das Land in dem Gott mit der Schöpfung<br />

nicht fertig wurde.” Erst nach dem Verschwinden der Menschen, glauben sie, werde er<br />

wiederkehren, um sein Werk zu vollenden.<br />

Eben diese Unvollkommenheit ist es, die die Menschen selbst durch ihr Handeln zu<br />

überwinden suchen. Im Gegensatz zu der Technik der Europäer, die ein praktisches Ziel<br />

(Kautschuk zu gewinnen) durch eine technische Lösung (das Schiff über die Landenge<br />

transportieren) zu erreichen suchen, handeln die Indianer in anderen Zusammenhängen,<br />

in denen das jeweils Zuhandene eingesetzt wird, um einen magischen Zweck zu<br />

erreichen. Allerdings ist auch die Technik der Europäer, besonders an einem so<br />

abgelegenen Ort darauf angewiesen, Lösungen aus dem gerade Vorhandenen<br />

zusammenzubasteln: so werden z.B. die nutzlosen Eisenbahnschienen der Trans-Anden-<br />

Eisenbahn Fitzcarraldos mitgenommen um darauf das Boot besser gleiten zu lassen.<br />

(Am Ende erweisen sich die Baumstämme als geeigneter). Die Indianer konnten<br />

natürlich nicht vorhersehen, daß eines Tages ein solches Boot in ihren Fluß einfahren<br />

würde. Nun aber, da es da ist, erkennen sie sein magisches Potential. Sie verstehen das<br />

große Boot als eine Möglichkeit, die „zornigen Geister” (Chirimagua) der<br />

Stromschnellen durch ein Opfer zu besänftigen. Sie wissen, daß die Weißen keine<br />

Götter sind, aber sie betrachten das Schiff als ein magisches Fahrzeug.<br />

20 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 248f


Die Fremden spielen mit 97<br />

Fitzcarraldo möchte sich diesen Mythos zu nutze machen, und benutzt die Musik von<br />

Caruso, um die Aura des Außergewöhnlichen um sein Schiff noch zu verstärken. Im<br />

Gegensatz zu früheren Expeditionen verzichtet er auf jede Art von Gewalt und verbietet<br />

den Gebrauch der Waffen: „Dieser Gott kommt mit der Stimme von Caruso, nicht mit<br />

Kanonen.” Auch der Kapitän, Paul Resenbrink, befiehlt: „Es darf auf keinen Fall<br />

geschossen werden.” An die Stelle der kriegerischen Gewalt tritt hier, anders als in<br />

Aguirre, die Verhandlung, in der die beiden Parteien jeweils ihre Ziele zu denen der<br />

anderen machen wollen, und der Versuch, bei aller Verschiedenheit der Ziele,<br />

miteinander zu arbeiten. Das erste Problem in einer solchen Situation ist aber die<br />

Schwierigkeit der Verständigung. Die Indianer, die zunächst unsichtbar und oft<br />

unhörbar sind, lassen sich nach und nach sehen, zunächst einzelne, schließlich eine<br />

ganze Flotte von Kanus, die sich dem Schiff nähern, nachdem diesem der Rückzug<br />

durch die über die Fahrrinne gefällten Bäume abgeschnitten wurde. Die Szene des<br />

ersten Kontakts, als die Indianer das Schiff erklettern und die vier auf dem Schiff<br />

übriggebliebenen Europäer ihrere Überzahl völlig ausgeliefert sind, gipfelt in zwei<br />

markanten Höhepunkten. Die Indianer berühren und streicheln die Hände der Europäer,<br />

und drei Flöte spielende Indianer umtanzen die Europäer beim Essen während die<br />

übrigen in dichter Masse um sie herumstehen. In diesem Augenblick erleben die<br />

Europäer eine Begegnung mit dem unverständlichen Fremden. Nicht nur verstehen die<br />

Eindringlinge die Sprache der Indianer nur höchst unzureichend, ihre Gesten und<br />

Verhaltensweisen sind ihnen ebenso unverständlich, noch weniger verstehen sie deren<br />

Ziele und die Methoden, mit denen sie ihre Ziele erreichen wollen. Immer wieder hören<br />

wir von Fitzcarraldo und seiner Besatzung, daß ihnen die Absichten der Indianer<br />

unzugänglich sind. Die Gedanken der Indianer sind unergründlich, keiner weiß, was sie<br />

wirklich denken, selbst Huerequeque, der ihre Sprache zumindest teilweise versteht,<br />

sagt immer wieder: Ich kann nichts aus ihnen rauskriegen. Der Tausch, der hier<br />

ausgehandelt wird, ist immer auch eine Täuschung: beide Seiten hoffen die andere<br />

einzusetzen, um ihr Zeit zu erreichen; das geht aber nur, wenn jede Seite ihre<br />

eigentlichen Absichten verschleiert. Und so malen sich die Indianer kurz bevor sie ihren<br />

entscheidenden Zug machen, schwarz an, um sich unsichtbar zu machen. Fitzcarraldo<br />

spürt, sie planen etwas, aber er kann nicht herausbekommen, was. Auch der „Handel”,<br />

der „Tausch” ist eine Art Kriegszug oder Jagdunternehmen, wo man die beste Chance<br />

hat, wenn der Gegner oder das Wild nicht weiß, wo man sich gerade befindet und was<br />

man vorhat. Unter diesen Umständen, wo alles auf Täuschung und Verwirrung angelegt<br />

ist, ist es vielleicht, wie Fitzcarraldos Kapitän sagt, als er angeheuert wird, ein Vorteil,<br />

wenn man nicht mehr sehr gut sehen kann, weil man eben dadurch den vielen<br />

Sinnestäuschungen des Urwalds nicht zum Opfer fallen kann, der „voller Träume,<br />

Lügen und Dämonen” ist.<br />

Die Unfähigkeit, den Fremden zu verstehen, weil man seine Sprache nicht versteht<br />

und seine Handlungen nicht interpretieren kann, ist nicht nur eine linguistische. Nicht<br />

mehr verstehen können, was andere sagen, sich selbst nicht verständlich machen<br />

können, verurteilt einen zu dem Status des Tiers, das sich höchstens durch Symptome<br />

und Gesten verständlich machen kann. Um das abzuwehren, schreibt man die


98 Herzog<br />

„Sprachlosigkeit” den anderen zu. Der deutsche Kolonist Maximilian Bayer erfährt in<br />

seinem Umgang mit den Kolonisierten die „Unmöglichkeit”, sich mit ihnen zu<br />

verständigen: „Aus den Eingeborenen werden wir überhaupt nicht klug und ganz<br />

besonders nicht aus den Hereros. Sie denken und handeln ganz nach andern<br />

Gesichtspunkten als wir.” 21 Eine tiefe Kluft klafft zwischen dem, was der Kolonisator<br />

Sprache und Denken nennt und dem, was die Kolonisierten an sprachähnlichen Lauten<br />

hervorbringen mögen. So erscheint in Hans Grimms Erzählung „Dina” die Sprache der<br />

Khoi-San als tierähnliches Geräusch: „Willem redete dies und das in der Sprache seine<br />

Volkes, in irgend etwas, das ein Buschmannsdialekt sein mochte und klang, als wenn<br />

der Knabe lebendige Käfer und Grillen und Wespen zusammen in ein Einmachglas<br />

gepfercht hat.” 22 Allgemein verbreitet ist unter Kolonisten die Auffassung: „glauben sie<br />

nich, daß sie je ‘n Hottentotten oder ‘n Buschmann oder so irgend ‘nen Halbaffen<br />

auskundschaften werden ..” 23 Ähnlich behauptet Maximilian Bayer: „Aus den<br />

Eingeborenen werden wir überhaupt nicht klug und ganz besonders nicht aus Hereros.<br />

Sie denken und handeln ganz nach andern Gesichtspunkten als wir.” 24<br />

Selbst dort, wo der Europäer nicht mit derartigen Vorurteilen behaftet ist, und<br />

verstehen will, entdeckt er, daß der „Wilde” ohne eine gemeinsame Sprache nicht<br />

zugänglich ist. Lévi-Strauss, der seinen Wunsch erfüllt sieht und sich unter Indianern<br />

befindet, die noch nie ein Europäer vorher gesehen hatte, und die man vielleicht nie<br />

wieder sehen würde, entdeckt, daß sie „zu wild” sind. Während sie durchaus bereit sind,<br />

ihn ihre Sitten und Gebräuche zu lehren, steht die Sprachlosigkeit zwischen ihnen: „Sie<br />

waren mir so nahe wie die Reflektion in einem Spiegel, ich konnte sie berühren, aber<br />

ich konnte sie nicht verstehen. 25<br />

Aber nicht nur die Sprache, sondern auch die Paräsuppositinen, die in ihr enthalten<br />

sind, versperren den Zugang über die Grenzen der eigenen Kultur hinweg. Der<br />

Anthropologe Gary Witherspoon formuliert die Grenzen, die einem fremdkulturellen<br />

21 Maximilian Bayer: Ist Okowi treu? Die Geschichte eines Hererospähers, Potsdam 1936, S. 217 Das<br />

ist eine Erscheinung, die auch in der englischen Kolonialliteratur auffällig ist, vgl. V.G. Kiernan, The<br />

Lords of Human Kind. European Attitudes towards the outside world in the Imperial Age. London 1969,<br />

S. 237 Ähnliches bemerkt Albert Memmi, The colonizer and the colonized. New York, Norwich 1965, S.<br />

85 22Hans Grimm, Südafrikanische Novellen, München 1913, S. 15.<br />

23 Grimm, Südafrikanische Novellen, S. 33 Vgl. auch: „But overwhelmingly his sense was of a total<br />

inaccessibility of the African mind, if indeed there was any mind governing the motions of African limbs<br />

and tongues. ... he stood at a point of evolution ‘but slightly superior to the lower animals’...” E.S. Grogan<br />

and A.H. Sharp, From the Cape to Cairo, Nelson o.J. [1900], S. 356, 361, 363 „The humanity of the<br />

colonized, rejected by the colonizer, becomes opaque. It is useless, he asserts, to try to forecast the<br />

colonized’s actions („They are unpredictable!” „With them, you never know!”). It seems to him that<br />

strange and disturbing impulsiveness controlls the colonized.” Albert Memmi, The colonizer and the<br />

colonized. New York, Norwich 1965, S. 27<br />

24 Bayer, Ist Okowi treu? S.217. Und Margarethe von Eckenbrecher sagt über die Sprache der<br />

Buschmänner: „Das zischt und lispelt und schnalzt. Sie läßt sich nicht beschreiben.” Margarethe von<br />

Erckenbrecher, Was Afrika mir gab und nahm. Erlebnisse einer deutschen Frau in Südwestafrika 1902-<br />

1936. Berlin 1940, S.45. Um ihre Zugehörigkeit zur Natur und zum Tierreich zu betonen, wird ihnen von<br />

den Kolonisatoren die Fähigkeit, sich mit Hilfe einer „richtigen”, also wirklich menschlichen Sprache zu<br />

verständigen, abgesprochen, und ihre Sprache betont in die Nähe tierischer Laute gerückt.<br />

25 Lévi-Strauss, Tristes tropiques, S. 333


Die Fremden spielen mit 99<br />

Verständnis gesetzt sind, solange wir unsere uns selbst verschwiegenen<br />

Präsuppositionen nicht geklärt haben:<br />

Natürlich sind wir daran interessiert, einige Dinge von den Hopis zu lernen, aber nur unter der<br />

Bedingung, daß dieses Lernen unseren primären metaphysischen Annahmen über die<br />

Beschaffenheit der Welt nicht widerspricht. Demgemäß wird Anthropologie nicht zu einem<br />

Bemühen um ein Verständnis anderer Kulturen und um Lernerfahrungen in diesen, sondern zu der<br />

dogmatischen Behauptung, alle Kulturen könnten entsprechend den erkenntnistheoretischen<br />

Annahmen einer einzigen Kultur verstanden werden. Das Ergebnis ist ein simpler, vulgärer und<br />

bornierter Reduktionismus. Wir reduzieren sämtliche Kulturen auf die Kategorien einer einzigen.<br />

Statt unsere Sicht der Welt zu erweitern, verkleinern und verbiegen wir die Welt, bis sie unserer<br />

engen Auffassung von ihr entspricht. 26<br />

In diesem Raum des notwendigen Mißverstehens spielt sich der Tausch und die<br />

Täuschung zwischen Kolonisator und Kolonisierten ab. In diesem Raum zählen nicht<br />

nur die realen Machtverhältnisse, die Verteilung von Waffen und Gewalt, sondern eben<br />

immer auch die Fähigkeit, Handlungen der Gegenseite so umzulenken, daß sie den<br />

eigenen Zwecken dienlich werden. In La Pensée Sauvage vergleicht Lévi-Strauss die<br />

Lage des Menschen mit der des Kartenspielers: Er nimmt am Tisch Platz, bekommt<br />

seine Karten - Karten, die er nicht gewünscht oder erfunden hat. Man muß die Karten<br />

akzeptieren, die man bekommt, aber jede Gesellschaft und jeder Spieler interpretiert die<br />

Karten innerhalb einer Reihe von Systemen. Selbst mit denselben Karten in der Hand<br />

spielen zwei Spieler nicht dasselbe Spiel. 27<br />

Solche Spiele sind auch dort möglich, wo eine brutale Unterdrückung sie scheinbar<br />

ausschließt. In seinen „Pollsmor Sketches” zeichnet Jeremy Cronin das Bild eines<br />

Gefangenen, der bei der Anwesenheitsparade („head count and thumb print check”)<br />

durch die Stilisierung und Übertreibung seiner Unterwürfigkeitsgesten eben diese<br />

Unterwürfigkeit karikiert und sich damit seine Selbstachtung erhält:<br />

There is<br />

Between Johannes Stephanus Februarie<br />

And submission,<br />

This epic gap. 28<br />

In anderer Weise kann man diese Verhaltensweisen aber durchaus bis überall und bis<br />

heute in den „populären” Milieus einer Kultur finden, die von Eliten als Sprache und als<br />

Verhaltensnorm geschaffen wurden. 29 Nicht nur Indianer und südafrikanische<br />

26 Gary Witherspoon: Relativismus in der ethnographischen Theorie und Praxis. In: Hans Peter Duerr<br />

(Hg.), Der Wissenschaftler und das Irrationale. Zweiter Band: Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie<br />

II. Frankfurt/M 1985, S.19<br />

27 Claude Lévi-Strauss, The Savage Mind (La Pensée Sauvage). London 1962, S. 95; vgl. auch Peter<br />

<strong>Horn</strong>, „Spiele auf Leben und Tod. Kartenspiele bei Günter Grass und James Matthews.” In: Jahrbuch<br />

Deutsch als Fremdsprache. 1982, S.178-188<br />

28 Jeremy Cronin, Inside. Johannesburg 1983, S. 17. Cronin verweist hier auf Brechts episches Theater,<br />

wo der Schauspieler alles daran setzt, daß er als einer gesehen wird, der zwischen dem Publikum und den<br />

Vorgängen steht, die er darstellt.<br />

29 Vgl. Certeau, The Practice of Everyday Life, 32


100 Herzog<br />

Gefangene treiben solche Spiele. Schon Jean Paul hat das zu Beginn des 19.<br />

jahrhunderts in deutschen Kleinstädten beobachtet:<br />

Aber die Gebrüder Siebenkäs und Leibgeber gingen doch nach allem Anschein in den<br />

reichsstädtischen und reichsdorfschaftlichen Fußstapfen der vernünftigsten Gebräuche mehr nur<br />

aus satirischer Bosheit einher und machten schöne bürgerliche Sitten zwar richtig nach, aber sehr<br />

zum Spaße; jeder war zugleich sein eigner spielender Kasperl und seine Frontloge. 30<br />

Die Entdeckung und Kolonisation der außereuropäischen Völker durch die Europäer<br />

stellt sich oft so dar, als wäre eine unschuldige Gemeinschaft, eine nicht-gewalttätige<br />

und freizügig lebende Gesellschaft, in der man sich selbst im lebendigen Wort<br />

vollkommen gegenwärtig ist, unter einer von außen hereinbrechenden Aggression<br />

zerstört worden. Eine solche Gemeinschaft wird durch das gewaltsame Eindringen einer<br />

Schriftkultur, durch die Infiltration ihrer ‘List’ und ihrer ‘Niederträchtigkeit’ zu einem<br />

Opfer der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. 31<br />

Michel de Certeau zeigt, wie der spektakuläre Sieg der spanischen Kolonisation über<br />

die Indianer nicht einfach eine Sache von Unterdrückern und Opfern war. Abgesehen<br />

davon, daß in Mexiko zum Beispiel, wie überall in der Geschichte der Kolonisation und<br />

der Sklaverei, einheimische kleinere Herrscher die Ankunft schwerbewaffneter Fremder<br />

für ihre Zwecke zu gebrauchen suchten, und dadurch zu Werkzeugen der Kolonisatoren<br />

wurden, aber eben auch diese als Werkzeuge ihrer Politik zu gebrauchen versuchten,<br />

waren die Indianer auch nach dem Sieg nicht einfach Opfer, denen eine fremde Kultur<br />

oktroyiert wurde. Auch wenn sie unterworfen waren, ja sogar wenn sie diese<br />

Unterwerfung akzeptierten, benutzten die Indianer oft die Gesetze, Praktiken und<br />

Darstellungen, die ihnen gewaltsam oder durch die Faszination, die von ihnen ausging,<br />

aufgezwungen wurden, zu ganz anderen Zwecken als denen, die die Eroberer im Sinn<br />

hatten. Sie subvertierten sie von innen, nicht indem sie sie ablehnten oder veränderten<br />

(obwohl es auch dafür Beispiele gibt) sondern indem sie sie im Dienst von Regeln,<br />

Gebräuchen und Überzeugungen benutzten, die der Kolonisation, der sie nicht<br />

entkommen konnten, fremd waren. Sie metaphorisierten die dominante Ordnung und<br />

ließen sie damit in einem anderen Register spielen. Sie blieben in dem System, das sie<br />

assimilierten und das sie nur äußerlich assimilierte, Andere. Sie gaben diesem System<br />

eine andere Richtung, ohne es zu verlassen. Die Art, wie sie das System gebrauchten,<br />

hielt eine Differenz gerade in dem Raum aufrecht, den der Eroberer organisierte. 32<br />

In einem Interview sagt Lévi-Strauss: „. . . die Schrift selbst scheint uns in sehr<br />

durchgängiger Weise, ihren Ursprüngen nach, ausschließlich an Gesellschaften<br />

gebunden, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen begründet<br />

sind”. 33 Gegen diese Auffassung, die allein die „westliche” Schriftkultur als gewaltsame<br />

Eindringlinge sieht, gibt Derrida zu bedenken:<br />

30 Jean Paul, Werke. Hg. von Norbert Miller, München 1959-1963, Bd.II, S. 52<br />

31 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler.<br />

Frankfurt/M 1983, S. 208f<br />

32 Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life. Translated by Steven F. Randall. Berkeley, Los<br />

Angeles, London 1984, S. 31f<br />

33 Claude Lévi-Strauss, Entretiens mit G. Charbonnier , S. 36. Zit.nach Derrida, Grammatologie, 209


Die Fremden spielen mit 101<br />

Zwei Motive tauchen in den abschließenden Zeilen auf. Zum einen, wie bei Rousseau, das Thema<br />

der notwendigen, eher noch fatalen Entartung als der eigentlichen Form von Fortschritt. Zum<br />

anderen die Sehnsucht nach dem, was dieser Entartung voraufgeht, das affektive Streben nach den<br />

Inseln des Widerstands, nach den kleinen Gemeinschaften, die notdürftig vor Korruption geschützt<br />

sind [...], einer Korruption, die, wie bei Rousseau, an die Schrift und an die Entwurzelung des<br />

einmütigen Volkes gebunden ist, welches unter der Selbstpräsenz seines gesprochenen Wortes sich<br />

versammelt. 34<br />

Lévi-Strauss gegenüber ist also festzuhalten, daß die kolonisierten Völker nicht viri a<br />

diis recenti, 35 noch einfach Objekte oder Opfer einer Unterdrückung waren, sondern als<br />

Subjekte sowohl an ihrer Unterdrückung mitgearbeitet haben als auch ihre Befreiung<br />

organisiert haben. Sie selbst haben nicht überall den von den Kolonisten gebrachten<br />

„Fortschritt” zurückgewiesen, er ist ihnen nicht immer aufgezwungen worden. Meistens<br />

waren sie durchaus neubegierig auf die Dinge, die ihr Leben leichter und angenehmer<br />

machen konnten.<br />

Wir haben nicht die Absicht, die ungeheuer destruktruktiven Folgen der<br />

europäischen Kolonisation zu verharmlosen. Aber die Darstellung (und Selbstdarstellung)<br />

der Kolonisierten als Opfer hat für diese selbst durchaus negative Folgen, die sich<br />

nicht darin erschöpfen, daß die Kolonisierten sich so ein durchaus negatives und<br />

passives Selbstbild schaffen. Darüber hinaus erlaubt ein solches Stereotyp den Kolonisierten<br />

den Kolonisten die Schuld auch an den negativen Erscheinungen zuzuschieben,<br />

die zumindest teilweise selbst verschuldet sind. Solche Schuldzuweisungen verhindern<br />

dann wieder jede Eigeninitiative, um die Zustände zu ändern. Alan Duff, selbst ein<br />

Maori und der Autor von Once were warriors und Both sides of the moon, sagte in<br />

einem Interview in Johannesburg: „they are just telling lies, saying we [the Maoris] are<br />

blameless and it was what the white colonists did to us that made things this way ... I<br />

don’t buy into that.” 36 Überdies hatten die vorkolonialen Gesellschaften Züge, die, wenn<br />

sie im Zuge einer „Renaissance” wiederbelebt werden, durchaus unterdrückend und<br />

feindselig sein können, wir erinnern nur an die sogenannte „Beschneidung” junger<br />

Mädchen in bestimmten Teilen Afrikas, die oft grausamen und willkürlichen<br />

Hinrichtungen von Menschen, die als Hexen entlarvt werden, oder die<br />

Frauenfeindlichkeit vieler traditioneller Gesellschaften. Das berechtigt uns mit Derrida<br />

zu sagen:<br />

Was Unterdrückung heißt, kann mit dem gleichen Recht Befreiung genannt werden. Und in dem<br />

Augenblick, wo diese oszillierende Bewegung an der Bedeutung der Unterdrückung zum<br />

Stillstand kommt, erstarrt der ganze Diskurs zu einer bestimmten Ideologie, die wir für<br />

problematisch halten ... 37<br />

Gewiß, die Kolonisatoren waren zum Beispiel an den „Eingeborenen” nur insoweit<br />

interessiert, als man sie abrichten konnte, um von ihrer Hände Arbeit zu leben. Die<br />

34<br />

Derrida, Grammatologie, 234<br />

35<br />

Seneca, Briefe, 90. Zitiert bei Montaigne, Essais. Tome I. Paris 1962, S. 236 in seiner Diskussion<br />

der Tupi-Indianer in dem Essay „Des Cannibales”.<br />

36<br />

Laurice Taitz, Book of the Week. Both sides of the moon. Sunday Times [Johannesburg], March 7<br />

1999, p. 20<br />

37<br />

Derrida, Grammatologie, S. 229


102 Herzog<br />

Herero-Häuptlinge im ehemaligen „Deutsch-Südwest-Afrika” aber schickten ihre Söhne<br />

und Töchter in den Dienst der Weißen, damit sie den Lebensstil der Weißen erlernten.<br />

Ob als Vorarbeiter, Jagdführer oder Kindermädchen, immer hatten sie dabei auch ihre<br />

eigenen Absichten, auch wenn ihre weißen Arbeitgeber nicht verstehen konnten, warum<br />

Schwarze, die sich selbst als Adelige und Prinzen ausgaben, sich zu solchen niedrigen<br />

Diensten hergaben. 38<br />

Derridas Kritik an der Darstellung der Nambikwara durch Lévi-Strauss in seiner<br />

Stammesmonographie der Nambikwara und in den Traurigen Tropen 39 richtet sich in<br />

diesem Sinn gegen ein Schema der Beschreibung, das er als rousseauistisch aufdeckt,<br />

ein Schema, demzufolge eine vorher unschuldige Gemeinschaft im Augenblick des<br />

Kontaktes mit einem Europäer der Aggression der Schrift unterworfen wird. Eine<br />

solche Darstellung, meint Derrida,<br />

erhärtete die ethisch-politische Anklage, derzufolge die Ausbeutung des Menschen durch den<br />

Menschen einzig ein kennzeichnender Tatbestand schreibkundiger Kulturen abendländischen Typs<br />

ist und auf Gemeinschaften des unschuldigen und nicht unterdrückenden Wortes nicht<br />

anzuwenden ist. 40<br />

Gerade an dem Beispiel, der „Schreibstunde”, die Lévi-Strauss benutzt, um die<br />

unterdrückende Gewalt der Schrift darzustellen, läßt sich aber das Mit-Spielen der<br />

Noch-nicht-Unterdrückten deutlich nachzeichnen. Es ist die Szene, in der der Häuptling<br />

der Nambikwara die Schrift vom Ethnologen erlernt. Lévi-Strauss argumentiert, daß<br />

dem Häuptling der Nambikwara nicht so sehr die kommunikative Möglichkeit an der<br />

Schrift interessiert, sondern „ihre wesentlich unterjochende Funktion”. 41 Für ihn ist die<br />

Kommunikations-, Bedeutungs- und Übersetzungsfunktion der Schrift gegenüber ihrer<br />

Macht-Funktion nebensächlich. Nun ist es sicher so, daß die Beherrschung der Schrift,<br />

vor allem, wenn sie in den Händen weniger ist, zu einer Verschiebung des politischen<br />

Gleichgewichts und eine Verlagerung der Machtverhältnisse führt. „Dieses Phänomen<br />

tritt mit dem Beginn der Seßhaftigkeit und der Errichtung von Warenlagern am Anfang<br />

der agrarischen Gesellschaften ein.” 42 Lévi-Strauss schildert diesen Augenblick bei den<br />

Nambikwara in den Traurigen Tropen so:<br />

Kaum hatte er [der Häuptling] alle seine Leute beisammen, als er aus einem Korb ein mit<br />

krummen Linien vollgekritzeltes Papier zog, das er zu lesen vorgab und auf dem er mit gespieltem<br />

Zögern die Liste der Gegenstände suchte, die ich gegen die Geschenke der Indios eintauschen<br />

wollte -- diesem, gegen Pfeil und Bogen, einen Säbel, -- jenem Perlen für seine Halskette, usw. . . .<br />

Diese Komödie dauerte zwei volle Stunden. Was erhoffte er sich? Sich selbst zu täuschen?<br />

38<br />

Helga und Ludwig Helbig, Mythos Deutsch-Südwest. Namibia und die Deutschen. Weinheim und<br />

Basel 1983, S. 135<br />

39<br />

Claude Lévi-Strauss, Tristes tropiques. Translated from the French by John and Doreen<br />

Weightman. London 1973. Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen. Übersetzt von Eva Moldenhauer.<br />

Frankfurt am Main 1978. Vgl. auch Alex Honneth, Ein strukturalistischer Rousseau. Zur Anthropologie<br />

von Claude Lévi-Strauss. Merkur. Jg. 41 (1978) 819-833 und Rolf Parr, Exotik, Kultur, Struktur.<br />

Tangenten dreier Perspektiven bei Claude Lévi-Strauss, KultuRRevolution. 32/33 1995: 22-28<br />

40<br />

Derrida, Grammatologie, 212<br />

41<br />

Lévi-Strauss, Tristes tropiques, 299. Derrida, Grammatologie, 213<br />

42<br />

Derrida, Grammatologie, 228


Die Fremden spielen mit 103<br />

Vielleicht. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß er seine Gefährten in Erstaunen versetzen wollte. Er<br />

wollte sie überzeugen, daß er es war, der den Austausch der Waren vermittelte, daß er sich mit<br />

dem Weißen verbündet hatte und dessen Geheimnis teilte. 43<br />

Lévi-Strauss zieht daraus den Schluß, daß die Nambikwara lernten, ohne zu begreifen<br />

und behauptet: „da der Häuptling einen wirkungsvollen Gebrauch von der Schrift<br />

machte, ohne die Funktion und den Inhalt des von ihr bezeichneten zu kennen, so<br />

bedeutet das, daß der Endzweck der Schrift politisch und nicht theoretisch, »eher<br />

soziologisch als intellektuell« ist. 44 Derrida macht zu recht darauf aufmerksam, daß eine<br />

solche Verwendung der Schrift nur dann möglich ist, wenn der scheinbar unschuldige<br />

Eingeborene in Wirklichkeit bereits alle jene Voraussetzungen mitbringt, die eine<br />

solche Verwendung der Schrift möglich machen: „Die rasche Übernahme setzt, wenn<br />

sie stattfindet, die vorgängige Anwesenheit von Strukturen voraus, die diese Übernahme<br />

ermöglichen.” 45 Nun ist es so, daß es selbst in einer scheinbar so unberührten und<br />

primitiven Gruppe wie den Nambikwaras sowohl Formen der Hierarchisierung durch<br />

Gewalt, als auch grundlegende Strukturen des Schreibens gibt. Die Nambikwara kennen<br />

durchaus ein Wort, um den Akt des Schreibens zu bezeichnen. 46 Schon ein Blick auf die<br />

Illustrationen der Gesichtsbemalungen 47 der Caduvea und Nambikwara zeigt, daß<br />

„Schrift”, wenn auch nicht im Sinn unserer Buchstabenschrift ihnen nichts völlig<br />

Unbekanntes sein konnte, und die Verzierungen der Bogen mit Zeichnungen, die den<br />

Klan des Besitzers angeben, ist fast eine Art „Zeichen” für einen „Familiennamen”. 48<br />

Derrida argumentiert weiter: „Levi-Strauss macht in diesem Text nicht den geringsten<br />

Unterschied zwischen Hierarchisierung und Beherrschung, zwischen politischer<br />

Herrschaft und Ausbeutung.” 49 Nun ist Gesetz und mit dem Gesetz irgendeine Form der<br />

Hierarchisierung (was keineswegs Unterdrückung bedeutet) grundlegend für jede Form<br />

der Gesellschaft. Die Schrift und das positive Recht gibt dieser Form nur eine<br />

Allgemeinheit, die noch nicht notwendigerweise Zwang bedeutet. Politische Gewalt und<br />

ungerechte Macht lassen sich nicht so einfach identifizieren, im Gegenteil, man kann<br />

wie Derrida argumentieren, daß die Allgemeinheit des Gesetzes im Gegenteil die<br />

Bedingung der Freiheit in der (bürgerlichen) Gesellschaft ist. Die Identifizierung von<br />

dem, was wir für Schrift halten und der Gewalt ist also fragwürdig, und damit die<br />

anarchistische und rousseauistische Auffassung, daß eine hierarchische Gewalt nur von<br />

solchen Gesellschaften ausgeht, die die Schrift kennen. „Wenn man der Schreibstunde<br />

glauben darf, kennen die Nambikwara keine Gewalt, die der Schrift vorangehen würde;<br />

nicht einmal die Hierarchisierung, die rasch der Ausbeutung angeglichen wird.” 50<br />

43<br />

Lévi-Strauss, Tristes tropiques, 296f; Derrida, Grammatologie, 220<br />

44<br />

Derrida, Grammatologie, 222<br />

45<br />

Derrida, Grammatologie, 222<br />

46<br />

Auf dieses in den Traurigen Tropen unterschlagene Detail wird in der Monographie hingewiesen:<br />

„Im übrigen bezeichneten sie den Akt des Schreibens mit ‘iekariukedjutu’, was soviel wie ‘Striche<br />

machen’ bedeutet ...”. Derrida, Grammatologie, S. 215<br />

47<br />

Lévi-Strauss, Tristes tropiques, S. 192-194 und nach S.224<br />

48<br />

Lévi-Strauss, Tristes tropiques, S. 223; auf S. 242 ist ein Federdiadem abgebildet, auf dem ein Klan-<br />

Zeichen zu sehen ist, fast alle Gegenstände der Bororo sind mit Insignia geschmückt, die auf den Besitzer<br />

hinweisen (vgl. S. 226-229).<br />

49<br />

Derrida, Grammatologie, S. 230<br />

50<br />

Derrida, Grammatologie, S. 236


104 Herzog<br />

Derrida macht aber sehr zu Recht darauf aufmerksam, daß die vorkolonialen<br />

Gesellschaften, selbst die scheinbar so „rousseauistischen” Indianerstämme der<br />

Amazonas, keineswegs gewaltfrei waren.<br />

Doch außerhalb der Schreibstunde steht in den Traurigen Tropen und in der Monographie das<br />

glatte Gegenteil. An diesen Stellen ist nicht nur von einer stark hierarchisierten Gesellschaft die<br />

Rede, sondern darüber hinaus von einer Gesellschaftsformation, die von geradezu spektakulärer<br />

Gewalttätigkeit geprägt ist. 51<br />

Selbst dort, wo die Kolonisierten der äußersten Degradation unterworfen werden, sollte<br />

man nicht davon ausgehen, daß sie einfach „Opfer” sind. Selbst hier noch versuchen sie<br />

dem bösen Spiel der Unterdrücker eine unerwartete Wendung zu geben, in der sie ihre<br />

so zu Schanden gemachte Individualität doch noch ausdrücken können. Ob als Sklaven,<br />

ob als Objekte einer Schaulust in Weltausstellung, Zirkus, Zoo, wo sie „halbnackt<br />

Schaukämpfe und exzessive Tänze aufführen [mußten], auch wenn solche<br />

Verkehrsformen in ihren Herkunftsländern duchaus unüblich waren”, 52 oder als Objekte<br />

einer wissenschaftlichen Neugier, wie sie sich unter Gelehrten des 19. Jahrhunderts für<br />

die verlängerten Schamlippen der Khoikhoi Frauen manifestierte, immer entwickelten<br />

die Objekte Strategien, die ihre eigenen Ziele anstrebten.<br />

Die Funktionen und Implikationen der angeblichen Eigenart der Khoikhoi Frauen,<br />

die unter dem wissenschaftlichen Namen ‘tablier’ oder ‘sinus pudoris’ bereits in den<br />

ersten Diskursen über das Kap erwähnt wurde, war eine Quelle intensiver Spekulation<br />

nicht nur für Linneus, der die Vielfalt der Lebensformen in ein Klassifikationssystem zu<br />

zwängen versuchte, sondern auch für dessen Zubringer, wie den Oberst Gordon, der<br />

zumindest zwei Frauen aus einer der empfindlichen Situation angemessenen Distanz<br />

untersucht haben soll, um sie später mit dem berühmten Philosophen Diderot aus der<br />

Perspektive des Augenzeugen zu diskutieren. Ein solch pikantes Thema beschränkte<br />

sich verständlicherweise nicht bloß auf abstrakte philosophische Reflexionen, sondern<br />

beschäftigte auch die einfachen Matrosen, die jedem, der es wissen wollte, über ihre<br />

einschlägigen Erfahrungen prahlerisch erzählten. Um so erstaunlicher erscheint es, daß<br />

die Neugierde, die diese bedeutende Frage von so offensichtlichem allgemeinen<br />

Interesse, erweckte, noch heute nicht erloschen ist, wie man an der Anzahl der<br />

Diskussionen in Anthropologie, Naturgeschichte, im Theater und in aufwendigen<br />

Büchern über Stereotypen der Rasse ablesen kann. 53<br />

Ein Exemplar des berüchtigten Körperteils befindet sich auch heute noch im Musée<br />

de l’Homme in Paris, wo es vermutlich angesichts seiner Peinlichkeit nicht der<br />

allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sondern nur einigen, wenigen<br />

Antragstellern in der verstaubten ethnographischen Abteilung gezeigt wird, die explizit<br />

mit Namen und im wissenschaftlichen Interesse danach fragen. Selbst dann sorgt eine<br />

51<br />

Derrida, Grammatologie, S. 236<br />

52<br />

Thomas Schwarz, „Die Tropen bin ich!” Der exotische Diskurs der Jahrhundertwende.<br />

KultuRRevolution. 32/33 1995: S. 12<br />

53<br />

Die satirische Darstellung dieser erstaunlichen Wissenschaftsgeschichte in nuce verdanken wir<br />

Carmel Schrire, Native Views of Western Eyes. In: Pippa Skotnes (Hrsg.), Miscast. Negotiating the<br />

Presence of the Bushmen. Cape Town 1996, S. 347.


Die Fremden spielen mit 105<br />

solche Nachfrage für Wirbel unter den Museumskuratoren. Das Glas mit dem besagten<br />

Gegenstand trägt das schlichte Etikett der ‘Hottentot Venus’, was für Eingeweihte<br />

völlig ausreicht. Die Schamlippen stammen von einer Khoikhoi Frau vom Kap der<br />

Guten Hoffnung, die unter dem holländischen Namen der Saartje Baartmann 1809 als<br />

junge Frau nach Europa reiste, augenscheinlich in der Absicht, sich auszustellen, sich<br />

von Wissenschaftlern untersuchen zu lassen und schließlich, um sich dabei selbst zu<br />

bereichern. Das Mittel zum Zweck waren in erster Linie ihre sichtbarsten Vorzüge,<br />

nämlich die großen steatopygischen Hinterbacken, aber auch ihre verborgenen Vorzüge,<br />

die Genitalien, von denen man annahm, daß sie von ungewöhnlich langen Schamlippen<br />

umschlossen waren, die die Wissenschaftler ‘Hottentot-Schürze’ oder tablier nannten,<br />

wußte Saartje Baardmann zu ihren Gunsten auszunutzen. Sie wurde am Piccadilly in<br />

einem Käfig ausgestellt, worauf die Abolitionisten der Afrikanischen Instituts derart<br />

entrüstet reagierten, daß sie die Frage ihrer Freiheit öffentlich in der Presse debattierten.<br />

Es kam zu einem Gerichtsprozeß, bei dem Baardmann ihre Lage so erklärte, wie sie sie<br />

sah. Nach ihrer Aussage war sie freiwillig nach England gekommen und war nun die<br />

Pflegerin, anstatt das Eigentum, ihres Ausstellers. Sie erhielt die Hälfte des Profits des<br />

Unternehmens, was immerhin ausreichte, um selbst zwei Bedienstete einzustellen. Sie<br />

gestand zwar, daß sie die Rolle der Wilden spielte, und tanzte, wenn ihr Hüter ihr das<br />

Zeichen mit dem Stock gab, aber daß das alles mit zur Vorstellung gehörte. Heute, gut<br />

zwei Jahrhunderte später, bieten Frauen immer noch ihre Körper und ihre Vorzüge zur<br />

Schau an. Es bleibt nach wie vor eine Möglichkeit im Aufstieg einer Arbeiterin zum<br />

Revuegirl oder selbst zum Star, und ist für einige sicher eine angenehmere und<br />

interessantere Art, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als die konventionelleren<br />

Beschäftigungen der Haus- oder Putzfrau.<br />

Eine literarische Reflektion solcher Praktiken finden wir in Swifts Gullivers Travels,<br />

wo Gulliver in Brobdingnag von seinem Herrn gegen Geld als Kuriosität in der<br />

nächsten Stadt ausgestellt wird. Die Tochter seines Herrn, der Gulliver als eine Art<br />

Haustier anvertraut wurde, fürchtet „some mischief would happen to me from rude<br />

vulgar folks, who might squeeze me to death or break one of my limbs by taking me in<br />

their hands.” Vor allem aber versteht sie, wie es gegen Gullivers Ehrbegriff geht, wenn<br />

er für Geld vor den „meanest of the people” ausgestellt würde. 54 Die Behandlung des<br />

Helden ist eine satirische Widerspiegelung der (nicht nur) englischen Unsitte, die<br />

Verrückten in Bedlam zum Amüsement der Besucher auszustellen.<br />

In der Kolonie konnten Khoikhoi-Frauen ebenfalls ihre Vorzüge gegen ein Entgelt<br />

zur Schau stellen. Nach einem Bericht versuchte eine holländische Frau bei ihrer<br />

Ankunft am Kap sich von dieser anatomischen Eigenart eigenhändig zu vergewissern,<br />

doch als sie eine Khoikhoi-Frau untersuchen wollte, kam diese ihr zuvor und zog ihr<br />

den Rock über den Bauchnabel hoch. Als die Holländerin die umstehenden Männer sah,<br />

verschwand sie beschämt, während die Khoikhoi-Frau lachte. 55 Da die Entblößung der<br />

Genitalien im Zeichensystem der Khoikhoi eine grobe Beleidigung darstellt, können wir<br />

heute mutmaßen, wie sonderbar, um nicht zu sagen lächerlich, die Europäer den<br />

54 Jonathan Swift, Gulliver’s Travels. London 1967, S.135<br />

55 Schrire, Native Views of Western Eyes, S. 351.


106 Herzog<br />

Eingeborenen erscheinen mußten. 56 Das Lachen der Khoikhoi bleibt somit als Geste des<br />

Widerstands gegen die Bestrebungen der Kolonisten übrig, sie als das Andere unter ihr<br />

eigenes wissenschaftlich-kulturellen System zu subsumieren, das die ökonomische<br />

Unterdrückung und im extremen Fall den Genozid zu legitimieren half: Das Lachen<br />

signalisiert Erkenntnis, aber auch einen körperlichen und semantischen Überschuß, der<br />

in keinem Zeichensystem restlos aufgeht.<br />

Es gibt natürlich Situationen, wo der Spiel-Raum fast unendlich klein wird: in der<br />

Todeszelle eines Apartheidsgefängnisses,57 im Rumpf eines Sklavenschiffes, beim<br />

Eintreffen auf der Rampe von Auschwitz. Imre Kertész, ein ungarischer Jude, der als<br />

Kind nach Buchenwald verschleppt wurde, schreibt: „nur war es nicht so, daß die Dinge<br />

einfach ‘kamen’, wir sind auch gegangen. Nur jetzt wirkt alles so fertig, so<br />

abgeschlossen, unveränderlich, endgültig ...”58 Im Augenblick, wo wir das durchleben,<br />

sind wir immer davon überzeugt, daß jede Minute noch etwas Neues bringen kann, daß<br />

wir jede Minute etwas Neues tun könnten. Kertész besteht darauf, daß er nicht einfach<br />

ein Opfer war, denn wer sich selbst als Opfer eines „Schicksals” sieht, für den ist<br />

„Freiheit” nicht möglich: „Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht.”<br />

Denjenigen, die sich selbst als Opfer sehen und die auch ihn zum Opfer machen wollen,<br />

hält er entgegen:<br />

Man könne mir, das sollten sie doch versuchen zu verstehen, man könne mir doch nicht alles<br />

nehmen; es gehe nicht, daß mir weder vergönnt sein sollte, Sieger, noch, Verlierer zu sein, weder<br />

Ursache noch Wirkung, weder zu irren noch recht zu behalten; ich könne - sie sollten doch<br />

versuchen, das einzusehen, so flehte ich beinahe schon: ich könne die dumme Bitternis nicht<br />

herunterschlucken, einfach nur unschuldig sein zu sollen. 59<br />

56<br />

Schrire, Native Views of Western Eyes, S. 351f.<br />

57<br />

Vgl. Jeremy Cronins Gedicht „Death Row”. In: Inside, S. 26-31<br />

58<br />

Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Berlin<br />

1996, S. 282<br />

59<br />

Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 285


REISEN IN DER VIERTEN DIMENSION: ANNA SEGHERS'<br />

SUBVERSION DER OBJEKTIVEN ZEIT IN DER ERZÄHLUNG<br />

"DIE REISEBEGEGNUNG"<br />

Als Hoffmann in Anna Seghers' Erzählung Die Reisebegegnung zum ersten Mal auf der<br />

Karlsbrücke in Prag steht, hat er folgende Vision:<br />

Auf der Karlsbrücke stockten ihm Schritt und Herz. Was da für Gestalten wuchsen auf beiden<br />

Seiten der Brücke! Auch ihre Spiegelbilder im stillen, glänzenden Wasser nahmen einem den<br />

Atem. Ein Kahn fuhr durch die Spiegelbilder, die Ruder streiften das Kreuz und die faltigen Mäntel.<br />

(Seghers 1984: 85)<br />

Zunächst ist Hoffmann über die Repräsentation der Macht in den geistlichen Figuren<br />

auf beiden Seiten der Brücke erschrocken, die trotz ihrer Versteinerung in der Stadt<br />

verwurzelt zu sein scheinen (sie "wachsen" auf beiden Seiten der Brücke). Dadurch<br />

gewinnen sie eine Autorität, die den Betrachter zum Stillstehen und bloßen Schauen<br />

zwingt. In diesem Augenblick ersetzt das Staunen die intellektuelle Verarbeitung der<br />

sinnlichen Eindrücke. Dieser Moment des Staunens wird durch Hoffmanns Blick auf<br />

den Fluß verlängert: in den Spiegelbildern des Kreuzes und der faltigen Mäntel auf der<br />

Wasseroberfläche erkennt er die Spiegelungen der Macht in seinem Unbewußten wieder.<br />

Das Wasser wie das Unbewußte löst die festen Konturen der Zeichen der Macht auf<br />

und bedroht somit die Stabilität des Ichs, das sich durch die Trennung des Unbewußten,<br />

das den [ur-]geschichtlichen Prozeß umfaßt, und den Kategorien des Bewußtseins, die<br />

durch das soziale Gesetz festgelegt sind, konstituiert. Zugleich zieht das Ich aber Lust<br />

aus der Auflösung des Gesetzes, das seine Begierden kontrolliert. Das Unbewußte<br />

nimmt die Produkte der gesellschaftlichen Arbeit wieder auf und formt sie nach seinem<br />

Gesetz um, das in diametraler Opposition zu den Kategorien des Bewußtseins steht. Der<br />

Bootmann, der mit dem Ruder den Kahn auf der Wasseroberfläche steuert und dabei die<br />

Zeichen der Macht streift und ins Fließen bringt, könnte als Bild der Phantasie des<br />

Künstlers verstanden werden. 60 Indem die Phantasie sich auf der "Oberfläche" des<br />

Unbewußten bewegt, durchkreuzt ihr Ruderschlag die Zeichen der Macht im<br />

Unbewußten und ermöglicht die Gestaltung der vorbewußten Wünsche. Die Phantasie<br />

des Künstlers überschreitet somit die Grenze zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten.<br />

Diese visionäre Szene kann als literarischer Rebus des Verhältnisses vom sozialen<br />

Gesetz, das sich in einem linearen und progressiven Zeitkonzept äußert, dem<br />

kollektiven, unbewußten Gedächtnis, aus dem der Traum hervorgeht, und der<br />

künstlerischen Phantasie, die ein alineares, dem Traum analoges Zeitkonzept zur<br />

Sprache bringt, gelesen werden. Das Verhältnis von Traum, Phantasie und Realität ist<br />

zugleich das Thema des Gesprächs zwischen Hoffmann, Gogol und Kafka, die sich auf<br />

einer literaturhistorischen Zeitreise begegnen. Wie in der Traumarbeit, verschiebt der<br />

Künstler beim Gestalten seiner Wünsche, die immer auch die Wünsche eines Kollektivs<br />

60<br />

Ich benutze die männliche Form, weil Anna Seghers nicht zwischen männlichen und weiblichen<br />

Künstlern unterscheidet.


108 Seghers<br />

sind, die Grenzen des Sag- und Machbaren, die durch das soziale Gesetz zu einem<br />

bestimmten historischen Augenblick festgelegt werden. Die Phantasie enthält somit ein<br />

ähnlich subversives Moment wie der Traum. Ich verstehe Hoffmanns Vision in der<br />

Reisebegegnung als Anna Seghers' Verschlüsselung seiner Poetik, die durch ihre eigene<br />

Poetik gefiltert ist. Diese Poetik geht davon aus, daß die Kunst nicht nur - wie die Wasseroberfläche<br />

- die Momente des gesellschaftlichen Prozesses spiegelt, sondern auch die<br />

Richtung des Prozesses beeinflußt, indem sie ihn gestaltet. In dem literarischen Rebus<br />

manifestiert sich sein innerer Prozeß, ohne jedoch mit ihm identisch zu sein. Die<br />

Position des Künstlers ist in diesem "Rebus" signifikant. Hoffmann steht auf der Brücke<br />

und betrachtet die Spiegelung der Statuen im Wasser und seiner eigenen Tätigkeit als<br />

Künstler in dem Ruderschlag. Er wirft einen Blick "von außen" auf seine Situierung im<br />

historischen Prozeß, die von dem Zwiespalt zwischen der sozialen und politischen<br />

Macht und dem Unbewußten geprägt ist.<br />

Hoffmanns Vision endet mit dem Blick auf den Hradschin am anderen Ufer des<br />

Flusses:<br />

Als Hoffmann den Kopf hob, sah er die Burg hoch auf dem gegenüberliegenden Ufer; sie war<br />

eine Stadt für sich mit Kirchtürmen, Dächern, langgezogener Hofmauer; sie herrschte über die<br />

Stadt. Kein Wunder, daß sich die Kaiser darum gerissen hatten, aus dieser Burg zu herrschen, die<br />

in Wirklichkeit selbst herrschte. Der da oben sein Amt ausübte, war sicher stolz, selbstbewußt.<br />

Auch seine höchsten und kleinsten Beamten waren wohl selbstbewußt, stolz, jeder gemäß seiner<br />

Rangordnung. (R 85f.)<br />

Durch das Erkennen der Machtstruktur, die unabhängig von ihren Vertretern existiert,<br />

überwindet Hoffmann den Schock, den die Statuen auf der Brücke und deren<br />

Spiegelung ihm einflößten. Die Burg repräsentiert die Rangordnung, die jedem<br />

Menschen, der in sie eintritt, erst seinen Rang und die ihm entsprechende Macht<br />

verleiht. Damit erweist sich die Macht als Konvention und somit als veränderbar. Diese<br />

Erkenntnis befreit Hoffmann von der Angst vor den Manifestationen der Macht im<br />

Unbewußten, die aber ohne den Blick in die Tiefen des Unbewußten nicht zustande<br />

gekommen wäre.<br />

Diese Szene steht am Anfang einer Erzählung, die selbst das Gesetz der objektiven<br />

Zeit, das der Theorie des sozialistischen Realismus zugrunde liegt, sprengt. Das<br />

geschieht zunächst durch die Zeitreise, mit der eine Reihe von Grenzverletzungen<br />

verbunden sind. Anna Seghers setzt die Zeitreise als Möglichkeit der literarischen<br />

Zeitgestaltung in der Reisebegegnung einfach voraus.<br />

Der Erzähleingang verwendet die realistischen Details einer Reise als Leerformeln,<br />

durch die das Phantastische in die erzählte Zeit "eingeschmuggelt" wird. So scheinen<br />

der Name Hoffmann, der Umstieg in ein neues Fahrzeug an der sächsischen Grenze, die<br />

Geräusche des Fahrzeugs, die Fahrt entlang der Elbe und die Ankunft frühmorgens in<br />

Prag auf eine intersubjektiv verifizierbare Realität hinzuweisen. Das wird durch den<br />

Erzählgestus des Imperfekts im ersten Satz, der eine Tatsache konstatiert, scheinbar<br />

bestätigt. Lakonisch heißt es: "Hoffmann kam frühmorgens in Prag an." (R 85) Auf die<br />

Frage, wie Hoffmann am Ziel seiner Reise ankam, bleibt die Erzählerin jedoch eine<br />

Antwort schuldig. Sie löst das Problem erzähltechnisch dadurch, daß sie in die erlebte


Reisen in der vierten Dimension 109<br />

Rede überwechselt. Der Leser oder die Leserin erfährt daher nur so viel, wie die<br />

Erzählfigur "Hoffmann" weiß. Hoffmanns Aufmerksamkeit während der Fahrt ist aber<br />

durch drei Umstände geschwächt: 1. Es ist Nacht; 2. das ungewohnte Fahrzeug verursacht<br />

ihm einen leichten Schwindel und 3. er schläft ein. Die einzige Lichtquelle in<br />

dieser Szene ist der Mond, doch es ist ein verführerisches Licht, das den Verstand<br />

einlullt und zum Träumen verleitet: "Doch die Elbe, die noch im Mondlicht schimmerte,<br />

nahm seine Gedanken gefangen und bald seine Träume. Da fuhr er schlafend über das<br />

Meer, mit dem Kanzelarius Lindhorst, der ihn eingeladen hatte auf seine Insel. -" (Ebd.)<br />

In der Rückblende verschwimmen die Grenzen zwischen den historischen Epochen,<br />

zwischen Traum und "objektiver" Realität und zwischen "objektiver" Realität und<br />

Literatur. Damit stellt die Erzählung allein durch ihre Disposition ein lineares und<br />

progressives Zeitkonzept radikal in Frage.<br />

"Dem geneigten Leser" (um eine Phrase E. T. A. Hoffmanns zu borgen) wird nicht<br />

entgehen, daß Anna Seghers mit dem "Kanzelarius Lindhorst" eine Figur aus E. T. A.<br />

Hoffmanns Novelle Der goldene Topf, den Archivarius Lindhorst, aus dem Gedächtnis<br />

zitiert und vermuten, daß Hoffmann in der Reisebegegnung den Autor selbst darstellt.<br />

Die Kette der Fiktionen schließt sich somit, indem sie den Autor selbst in eine fiktive<br />

Gestalt verwandelt. Damit werden der Autor und seine Figuren auf die gleiche Ebene<br />

gestellt und eine Begegnung zwischen ihnen ermöglicht. Der Erzähltext schiebt wie der<br />

Traum verschiedene Realitäts- und Zeitebenen ineinander. Die Leser haben es mit einer<br />

Fiktion zweiten Grades, einer Fiktion in einer Fiktion zu tun. Durch diesen Spiegelungs-<br />

und Verdoppelungseffekt stellt der Erzähltext die eigene Fiktionalität aus und bezieht<br />

den Leser in das Spiel mit den Möglichkeiten der Phantasie ein. Der Bruch der Illusion,<br />

daß es sich in der Figur "Hoffmann" um den realen E. T. A. Hoffmann handelt,<br />

erscheint in dieser Erzählung geradezu provoziert. In der Reisebegegnung geht Anna<br />

Seghers auf ähnliche spielerische Weise mit dem Gesetz der objektiven Zeit um wie der<br />

historische E. T. A. Hoffmann in seinen Texten. Die Unterscheidung zwischen dem<br />

"realen" und dem "fiktiven" Autor, der innertextlichen und der außertextlichen Realität,<br />

entlarvt sich somit selbst als Fiktion. Der Begriff des Realismus löst sich in den<br />

vielfältigen Spiegelungen der Erzählung auf. So werden an den Rändern des Realismus<br />

andere Möglichkeiten sichtbar, die Realität darzustellen. Eine solche Möglichkeit ist die<br />

Darstellung der subjektiven Zeit, die den Wahnsinn, den Traum, die Phantasie und die<br />

Erinnerung einschließt. Die Grenzziehung zwischen der Realität und der Nicht-Realität<br />

beruht auf einer Norm, die diejenigen Bereiche der Realität ausschließt und verwirft, die<br />

sich der Kontrolle der Vernunft entziehen.<br />

Diese Norm wird in der Reisebegegnung durch die Begegnung mit dem Fremden<br />

verunsichert. Das Fremde ist hier nicht nur die fremde Stadt Prag, sondern auch das<br />

imaginierte fremde Land Rußland und der Schriftsteller Gogol, mit dem Hoffmann sich<br />

in einem Prager Café verabredet hat. Gogol repräsentiert für Hoffmann einen Teil der<br />

fremden russischen Kultur. Hoffmanns Faszination mit dem Fremden ist aber durch<br />

eine Ambivalenz gekennzeichnet. Es "lockte ihn besonders stark, diesen Mann zu<br />

sehen", doch "er nannte ihn Freund, weil etwas Befreundetes durch die Entfremdung an<br />

sein Herz rührte". (Ebd.) Die Grenzenlosigkeit Rußlands erscheint "Hoffmann" als


110 Seghers<br />

begehrenswert im Gegensatz zur Zersplitterung des deutschen "Reichs". Er formuliert<br />

das so:<br />

Es mußte grenzenlos sein, dachte Hoffmann, nicht zu vergleichen mit seinem eigenen, wenn man<br />

den Mischmasch von Herzogtümern und Fürstentümern und Königreichen und Bischofssitzen ein<br />

einziges Reich nennen konnte. (Ebd.)<br />

Die deutsche Sprache und die Dichtung dieses zusammengeflickten "Reichs" bilden<br />

jedoch die Grundlage einer nationalen Identität und ermöglichen dessen Anschluß an<br />

die Weltliteratur:<br />

Allerdings schrieben dort die Dichter in ein und derselben Sprache, und sie konnten es aufnehmen<br />

mit den Dichtern der Welt. (Ebd.)<br />

Die Literatur wird hier als ein Bereich gesehen, der nationale und politische Differenzen<br />

überbrückt und so einen Dialog zwischen den Kulturen ermöglicht. Genau dieser<br />

Anspruch wird in der Reisebegegnung eingelöst, in der die drei Autorenfiguren, Hoffmann,<br />

Gogol und Kafka, die jeweils einen anderen sozialen und historischen Kontext<br />

und eine andere Poetik repräsentieren, gemeinsam über die Möglichkeiten der Literatur,<br />

die Realität zu gestalten, diskutieren.<br />

Eine zentrale Frage in dieser Debatte ist die Darstellung der Zeit. Gogol wehrt sich<br />

zunächst heftig gegen Hoffmanns willkürlichen Umgang mit der Zeit, ohne sich der<br />

Ironie seines Protests bewußt zu sein. Er tadelt Hoffmann:<br />

Ja, aber eins will mir nicht einleuchten: Wie Sie leichtfertig umgehen mit der Zeit. Sie setzen die<br />

Zeit ein, wie Sie wollen. Etwas geschieht heute, was ins Gestern gehört, ein anderes Mal ist vor<br />

zweihundert Jahren etwas geschehen, was jetzt erst seine Fortsetzung erlebt. Auch im<br />

Phantastischen, meine ich, herrscht das Gesetz der Zeit. (R 94)<br />

Hoffmann läßt sich diese Gelegenheit, seinen dogmatischen Brieffreund zu<br />

übertrumpfen, nicht entgehen. Mit dem folgenden Argument setzt er jeden weiteren<br />

Widerspruch in der Auseinandersetzung um die Zeit außer Kraft:<br />

Wir drei, wir säßen hier doch gar nicht beisammen an diesem Tisch, wenn wir ernstlich die Zeit<br />

einhalten würden. War ich nicht vor Ihnen, Gogol, geboren? Und Sie, Gogol, fast hundert Jahre<br />

vor Kafka? (R 95)<br />

Indem Anna Seghers die drei Autoren in der Erzählung ihre Fiktionalität ausstellen läßt,<br />

verletzt sie ein weiteres Tabu des sozialistischen Realismus. Die Reflektion der<br />

Erzählkonventionen, die selbst schon zur Konvention eines Erzählgenres geworden ist,<br />

für das E. T. A. Hoffmann als Beispiel steht, zerstört den Schein der Realitätsnähe. Die<br />

Erzählung demonstriert somit die Existenz einer subjektiven Zeit.<br />

Die Erkenntnis ihrer Unzeitgemäßheit nötigt die drei Autoren, eine subjektive<br />

Zeitdarstellung zu akzeptieren, weil sie sonst ihre fiktive Begegnung negieren müßten<br />

und die Erzählung damit aufhören würde. Die Autorin Anna Seghers, die diese<br />

Begegnung inszeniert, beendet das Gespräch und die Erzählung aber noch nicht, weil<br />

sie die Figuren der drei Autoren noch braucht, um das Verhältnis der subjektiven Zeit


Reisen in der vierten Dimension 111<br />

zur Realität zu klären. Sie läßt die Figuren also im Bewußtsein ihrer Fiktionalität<br />

weiterreden. Sie bedient sich daher derselben ästhetischen Freiheit, mit der E. T. A.<br />

Hoffmann z. B. in der Novelle Meister Floh den längst verstorbenen Erfinder der Lupe<br />

wiederauferstehen läßt, weil seine Erzählung es fordert. Er übertrumpft noch die<br />

historische Tatsache, indem er die Lupe als Nachtlupe anwendet. Hoffmann in Anna Seghers'<br />

Erzählung rechtfertigt diesen Kunstgriff so:<br />

Und ich brauche für meine Erzählung diese Lupe. Ich wende sogar seine Erfindung als Nachtlupe<br />

an, die im Flohzirkus plötzlich alle winzigen Biester so ungeheuer vergrößert, daß die Leute, von<br />

Schrecken gepackt, aus dem Saal fliehen. Vor dem Gewimmel schrecklich vergrößerter Läuse und<br />

Mücken, die vorher unsichtbar oder winzig waren. (R 95)<br />

Der Erzähler ist also nicht in derselben Weise wie der Historiker an die Überprüfbarkeit<br />

der Daten gebunden, sondern der Grenzenlosigkeit seiner Phantasie überlassen. Die<br />

Phantasie sprengt den linearen historischen Zeitablauf und macht ein alineares<br />

Zeitkonzept geltend, das von der Ungleichzeitigkeit und Heterogenität des historischen<br />

Prozesses ausgeht. So kann eine Entdeckung oder Erfindung jahrzehnte- oder jahrhundertelang<br />

ungenutzt bleiben, bis sie plötzlich neuentdeckt und umfunktioniert wird.<br />

Durch diesen sprunghaften Prozeß verlieren die Begriffe "Fortschritt" und "Rückschritt"<br />

ihre Bedeutung, denn der Fortschritt kann mit dem Rückgriff auf eine längst vergessene<br />

Erfindung oder Einsicht verbunden sein. Auf dieses von Bachtin entwickelte<br />

Zeitkonzept werde ich noch zurückkommen.<br />

Ebenso wie Hoffmann den verstorbenen Optiker in die von ihm gewünschte Zeit<br />

setzt und seine Erfindung als Nachtlupe anwendet, so setzt Anna Seghers die drei<br />

Autoren in eine "irreale" Zeit und gestaltet sie aus ihrer Perspektive, d. h. sie legt keinen<br />

Wert auf historische Genauigkeit oder auf philologisch exakte Zitierweise. Sie setzt die<br />

Zeitreise als literarische Konvention voraus und gibt ihr die besondere Prägung einer<br />

Zeitreise durch die Literaturgeschichte. 61 In dem Zeitraum einer Nacht rafft Anna Seghers<br />

ein Jahrhundert zusammen. 62 Obwohl die Zeitraffung auch in historischen Erzählformen<br />

auftritt, sprengt sie in der Reisebegegnung das Zeitkontinuum des Historizismus,<br />

indem sie Personen, die durch ihren Tod und durch historische Einschnitte getrennt<br />

sind, gleichzeitig setzt. Diese Art der Zeitraffung ist eine Technik des Traums.<br />

Eine weitere Technik des Traums ist es, einen Wunsch durch die Wunscherfüllung<br />

zu ersetzen. Ähnlich wird in der Reisebegegnung eine Unmöglichkeit durch eine Realität<br />

ersetzt. Erzähltechnisch äußert sich das darin, daß die Konditionalform des<br />

Konjunktivs ("was wäre, wenn...") durch das Präteritum ("es war") ersetzt wird. Die<br />

Ambivalenz zwischen der realistischen und der übernatürlichen Erzählebene, die<br />

dadurch entsteht, bildet ein entscheidendes Merkmal des Phantastischen. (Vgl. Todorov<br />

61 Die Zeitreise ist auch ein bevorzugtes Thema der Science-Fiction-Story, die als Genre der Unterhaltungsliteratur<br />

in der DDR große Popularität genoß. (Vgl. Nägele 1983: 196) Anna Seghers' Erzählung<br />

Sagen von Unirdischen in dem Band Sonderbare Begegnungen gehört jedoch eher in dieses Genre als die<br />

Reisebegegnung.<br />

62 In einem älteren Reiseführer weist Graf Lützow (1924: xviii) darauf hin, daß die Reise mit dem Zug<br />

von Dresden nach Prag knapp vier Stunden dauert. Da "Hoffmann" einen Teil der Strecke mit der<br />

Postkutsche fährt, müssen dieser Rechnung wohl einige Stunden hinzugefügt werden!


112 Seghers<br />

1975: 26) Sie läßt die Grenze zwischen Realem und Nicht-Realem als fließend<br />

erscheinen. Indem Anna Seghers die unmögliche Begegnung zwischen den drei Autoren<br />

in die Vergangenheit projiziert, hält sie die Gegenwart und die Zukunft für ähnliche<br />

subjektive Eingriffe offen. Hoffmann spricht der Phantasie eine zukunftsweisende<br />

Funktion zu:<br />

Die Lebenden tot machen und die Toten lebendig, das gehörte zu seinem Beruf. Was längst geschehen<br />

war, noch einmal vergegenwärtigen und erraten, was in Zukunft passieren könnte. (R<br />

86) 63<br />

Das impliziert, daß die Phantasie den Freiraum schafft, in dem das Subjekt<br />

Möglichkeiten durchspielen kann, die den Kurs seiner Handlungen ändern können.<br />

In dem Maße, in dem Gogol die phantastischen Sprünge in seinen eigenen Texten<br />

eingestehen muß, läßt er von der objektiven Zeit ab und dringt auf die Wirklichkeit als<br />

Vorlage der künstlerischen Gestaltung. (R 110) Seine Novelle Der Mantel beginnt zwar<br />

mit einer realistischen Schilderung der Not des kleinen Staatsbeamten Akaki, doch sie<br />

endet auf einer phantastischen Ebene. Dem Staatsrat, der sich nicht um Akakis gestohlenen<br />

Mantel kümmern wollte, wird eines Nachts auf der Straße der Mantel abgenommen.<br />

Er glaubt, den verstorbenen Akaki in dem Dieb wiederzuerkennen. Dieser Vorfall läßt<br />

eine psychologische und eine "wunderbare" Interpretation zu: Man könnte den Vorfall<br />

aus der Perspektive des Staatsrats als Rache an dessen Schuld sehen, oder man könnte<br />

naiv die Existenz einer übernatürlichen Welt annehmen, in der es Gespenster gibt. In<br />

der Erzählung schlägt Gogol eine dritte "symbolische" Interpretation vor: das Gespenst<br />

repräsentiert die materielle Zeit der Produktion, die Akaki in den Mantel investiert hat<br />

und die nun ihren Lohn fordert:<br />

Der arme Akaki hat furchtbar sparen müssen, um sich das Mäntelchen anzuschaffen. Durch die<br />

Zeit des Sparens wird ihnen klar, was der Erwerb und dann der Verlust für ihn bedeutet. Erst wenn<br />

er vor Verzweiflung stirbt, spukt sein Geist. (R 95)<br />

Die symbolische Ebene widerspricht dem realistischen Erzählgestus, auf den Gogol<br />

verweist, denn er bildet in dieser Erzählung nicht einfach eine vorgegebene Realität ab,<br />

sondern gestaltet die Realität aus der Perspektive eines kleinen Staatsbeamten. Das setzt<br />

aber ein subjektives Zeitkonzept voraus. Indem Gogol das Problem der objektiven Zeit<br />

auf eine objektive Realität verschiebt, löst er das Problem nicht, denn diese Realität<br />

wird erst durch das subjektive Bewußtsein wahrnehmbar und erfahrbar. In der<br />

Reisebegegnung formuliert Kafka das am eindringlichsten:<br />

Die Schwierigkeit liegt darin, daß jeder etwas anderes unter »wahr« und »wirklich« versteht. Die<br />

meisten verstehen darunter nur das Derb-Wirkliche. Das Sichtbare und das Greifbare. Sobald die<br />

63 In Hoffmanns Erzählung Doge und Dogaresse (Schweiz: 343f.) erklärt ein Fremder den Betrachtern<br />

eines Bildes, wie der Künstler Phantasie und Geschichte verknüpft: "Es ist ein eignes Geheimnis, daß in<br />

dem Gemüt des Künstlers oft ein Bild aufgeht, dessen Gestalten, zuvor unkennbare körperlose, im leeren<br />

Luftraum treibende Nebel, eben in dem Gemüte des Künstlers erst sich zu Leben formen und ihre Heimat<br />

zu finden scheinen. Und plötzlich verknüpft sich das Bild mit der Vergangenheit oder wohl auch mit der<br />

Zukunft und stellt nur dar, was wirklich geschah oder geschehen wird." Den Historiker stellt der Fremde<br />

dagegen als "eine Art redendes Gespenst aus der Vorzeit" dar. (Ebd.: 344)


Reisen in der vierten Dimension 113<br />

Wirklichkeit in Geträumtes übergeht, und Träume gehören zweifellos zur Wirklichkeit - wozu<br />

sollten sie denn gehören? -, verstehen die Leser nicht sehr viel. (R 92)<br />

Kafka macht auf das Paradox der Literatur aufmerksam, daß sie entrealisierend wirkt,<br />

wenn sie nicht auf die subjektiven Erfahrungsbereiche wie den Traum eingeht. Damit<br />

erklärt er die Verfremdung gängiger Perzeptionen zum notwendigen Mittel der Literatur.<br />

Hoffmann versucht die Beziehung zwischen dem Leser und der literarisch<br />

verfremdeten Realität durch die Erinnerung herzustellen. Er führt das so aus:<br />

Die Leute verstehen nur ihre eigenen Träume. Auch wenn sie diese Träume vergessen hätten, sie<br />

erinnern sich ihrer, wenn sie dargestellt werden. (Ebd.)<br />

Anna Seghers spürt den Momenten einer subjektiven Zeitgestaltung, in der sich die<br />

Logik der Phantasie und des Traums manifestiert, in den Texten der drei Autoren nach,<br />

um das Recht auf Phantasie für den sozialistischen Realismus einzuklagen. Dabei<br />

verliert sie aber nicht die Realität aus dem Auge, ebenso wie ihre drei Figuren immer<br />

wieder auf die Beziehung zwischen ihrer Schreibweise und der Realität verweisen. Es<br />

geht ihr eher darum, das Konzept der Realität zu erweitern, indem sie dem Leser die<br />

Vielfalt der Möglichkeiten, die Realität zu gestalten, vor Augen führt.<br />

Vor allem Hoffmann tritt in der Erzählung als Exponent eines Realismuskonzepts<br />

auf, das trotz seiner Übersteigerung ins Phantastische nichts an gesellschaftskritischer<br />

Schärfe einbüßt. So ließ der Innenminister Metternichs die "Knarrpanti-Episode" aus<br />

dem Meister Floh streichen, weil er in dieser grotesken Episode eine Satire des<br />

Polizeistaats erkannte. Hoffmann reflektiert die Ironie seines Rufs als Phantast<br />

angesichts seines sozialen Engagements so:<br />

Ich gerade, der als der wildeste Träumer gilt unter uns dreien, scheinbar der Wirklichkeit<br />

abspenstig, habe vielleicht am meisten gelitten unter dem Zeitgeschehen, unter diesen verdammten<br />

Agenten von Metternich, die sich überall tummeln. In meiner letzten Lebenszeit, obwohl ich<br />

gelähmt war, habe ich in meinen Gedanken am wildesten um mich geschlagen. (R 96)<br />

Das ist ein wichtiges Kriterium für Anna Seghers, die mit ihrer Erzählung den sozialistischen<br />

Realismus zwar erweitern, doch nicht sprengen will. Mit diesem Bestreben<br />

hängt aber auch eine Reihe ungelöster Widersprüche zusammen, wie sich herausstellen<br />

wird.<br />

So greift Anna Seghers an der literaturpolitischen Wende der DDR um 1970 einen<br />

Leitfaden ihrer Poetik wieder auf, der in den Jahren des Aufbaus in den Hintergrund<br />

rückte, da er den politischen und ideologischen Anforderungen der Zeit scheinbar nicht<br />

genügte. Es handelt sich um solche Erzählungen wie Die schönsten Sagen vom Räuber<br />

Woynok (1936), in der die Phantasie der Erzählerin freien Lauf hat; Der Ausflug der toten<br />

Mädchen (1943/44), in der eine höchst subjektive Zeitstruktur die Realität überhaupt<br />

ertragbar macht 64 ; und Das wirkliche Blau (1964), in der es um die Suche eines<br />

mexanischen Töpfers nach seiner künstlerischen Subjektivität geht. Die<br />

Reisebegegnung unterscheidet sich von den früheren Texten dadurch, daß sie das<br />

64 Für eine ausgezeichnete Analyse der Zeitstruktur dieser Erzählung siehe Christa Wolf (1983: 22)


114 Seghers<br />

dialektische Verhältnis von Phantasie und Realität reflektiert und zum Programm<br />

erhebt. Das bestärkte die Bestrebungen anderer Schriftsteller, neue Erzähltechniken zu<br />

erproben, doch sollte diese Experimentierfreude in Grenzen gehalten werden. Sie durfte<br />

die Autorität der Partei nicht antasten. Die Reisebegegnung kann als literarisch<br />

verfremdete Darstellung der Erbe-Debatte verstanden werden, in der sich die<br />

literaturpolitische Wende am Anfang der siebziger Jahre vollzog. So werden den drei<br />

Autoren Argumente aus ihrer Rezeption in der DDR in den Mund gelegt und im Laufe<br />

des Gesprächs vorsichtig revidiert. Obwohl Hoffmann z. B. Gogols Zeitgesetz der Lächerlichkeit<br />

preisgibt, wirft er Kafka vor, daß er "nie über Gerechtigkeit [...], nur über<br />

einen Prozeß im allgemeinen" (R 96) geschrieben habe und daß er "die Menschen<br />

sinnlos beängstigt, zweiflerisch, unsicher macht". (R 102) Schließlich reflektiert Kafka,<br />

daß er seinen Romanen Das Schloß und Amerika ein positives Ende hätte geben sollen.<br />

(R 112f.) Das Kriterium, daß Schriftsteller eine optimistische Perspektive gestalten<br />

müßten, markiert zugleich die Grenze der literaturpolitischen Wende um 1970.<br />

In ihrer Rede auf dem VII. Schriftstellerkongreß (1973) umreißt Anna Seghers den<br />

Inhalt und die Reichweite des "phantastischen Realismus". 65 Sie rechtfertigt die<br />

Gestaltung phantastischer Stoffe von einem rezeptionsästhetischen Standort:<br />

Der Schriftsteller soll seiner Phantasie nachgehen. Er wird gewiß sein Leben lang nicht nur Träume<br />

schildern, seine Leser nicht nur reizen mit phantastischen Stoffen. Manche Leser teilen sein<br />

Bedürfnis, andere werden neugierig. Es erhöht ihre Lebensfreude. Auch umrankt von märchenhaft<br />

seltsamen Pflanzen, vergißt der Schriftsteller nicht, sich nach dem Kräutlein »Faktum« zu bücken,<br />

von dem Lichtenberg sprach. (Seghers 1976: 869)<br />

Der Leser soll durch phantastische Stoffe stimuliert werden, doch soll er nicht ganz den<br />

Bezug zur Realität verlieren. Der Schriftsteller soll eine Balance zwischen der Phantasie<br />

und der Realität anstreben, die aber durch die Überschreitung der Grenze zwischen dem<br />

Realen und dem Irrealen ständig bedroht wird.<br />

In derselben Rede reflektiert Anna Seghers die wechselseitige Beziehung zwischen<br />

einer phantastischen Erfindung und der Realität:<br />

Ein Traum, eine phantastische Erfindung, die hervorgegangen ist aus einem Bestandteil<br />

Wirklichkeit, kehrt wieder zurück in die Wirklichkeit, wenn er die Leser erregt hat. Er wird dann<br />

wieder zu einem Bestandteil der Wirklichkeit. (Ebd. 869)<br />

Anna Seghers sieht den Traum und phantastische Gebilde als den unsichtbaren Teil der<br />

Realität, der durch die Phantasie des Autors gestaltet und sichtbar gemacht wird. Er<br />

wird aber erst zu einem aktiven Bestandteil der Realität, wenn er den Leser so erregt<br />

hat, daß er seine Seh- und Verhaltensweise ändert. Die Grenze zwischen Traum,<br />

Phantasie und Realität, die mit der zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein<br />

übereinstimmt, erweist sich somit als durchlässig. Wenn man sich den Traum und die<br />

Phantasie auf einer Skala des Bewußtseins vorstellt, tendiert der Traum zum Unbewußten<br />

und die Phantasie zum Bewußtsein.<br />

65<br />

Karl Fingerhut (1985: 318f.) benutzt diesen Begriff, um Anna Seghers' Position in der Reisebegegnung<br />

zu skizzieren.


Reisen in der vierten Dimension 115<br />

In einem Interview mit Günter Caspar (1973) zieht Anna Seghers die Konsequenz<br />

aus diesen Überlegungen, daß das Phantastische unlösbar mit der realistischen Kunst<br />

verbunden ist:<br />

Gewiß, das Phantastische, das Unwirkliche, das Sagenhafte und Märchenhafte kann und muß<br />

sogar manchmal ein Mittel der realistischen Kunst sein, wenn der Künstler zu schreiben versteht<br />

und der Leser zu lesen. (Seghers 1984: 461)<br />

In einem anderem Interview, das im selben Jahr in der Zeitschrift Neues Deutschland<br />

erschien, begründet Anna Seghers den Wert des Phantastischen für die sozialistische<br />

Literatur so:<br />

Ich meine, daß Träume ein Bestandteil der Wirklichkeit sein können. Richtig gebraucht, erweitern<br />

sie die Literatur, die sozialistische Literatur. Sie machen den Menschen zum Erfinder, der er ja von<br />

Natur aus ist, und lehren ihn die Erfindungen seiner Mitmenschen achten. (Ebd. 464)<br />

Damit rückt Anna Seghers die Imagination des Künstlers wieder in den Vordergrund.<br />

Sie sieht in ihr ein positives produktives Moment, daß die sozialistische Kultur<br />

bereichert.<br />

Der Versuch, den Traum in den Realismus zu integrieren, der sowohl aus Anna<br />

Seghers' Erzählung Die Reisebegegnung als auch aus ihren Reden und Interviews<br />

hervorgeht, ist problematisch, da er die Existenz eines "realistischen Traums" voraussetzt.<br />

Obwohl der Traum ein Bestandteil des Alltagslebens ist, kann er nicht einfach<br />

dem Begriff der Realität zugeordnet werden, denn er ist selbst das Produkt einer<br />

unbewußten Tätigkeit, der Traumarbeit, in der nach Freud (1963: 31)<br />

unbewußtes Material aus dem Es, ursprüngliches und verdrängtes, sich dem Ich aufdrängt,<br />

vorbewußt wird und durch das Sträuben des Ichs jene Veränderungen erfährt, die wir als die<br />

Traumentstellung kennen.<br />

Die Traumarbeit konfrontiert den Wissenschaftler oder den Künstler mit dem<br />

Unbewußten, das die Regeln der wissenschaftlichen Logik und somit der objektiven<br />

Realität sprengt. Freud beschreibt die Arbeitsweise des Unbewußten so:<br />

Die entscheidenden Regeln der Logik haben im Unbewußten keine Geltung, man kann sagen, es<br />

ist das Reich der Unlogik. Strebungen mit entgegengesetzten Zielen bestehen im Unbewußten nebeneinander,<br />

ohne daß ein Bedürfnis nach deren Abgleichung sich regte. Entweder sie beeinflussen<br />

einander überhaupt nicht, oder wenn, so kommt keine Entscheidung, sondern ein Kompromiß<br />

zustande, das unsinnig wird, weil es miteinander unverträgliche Einzelheiten einschließt. Dem<br />

steht nahe, daß Gegensätze nicht auseinandergehalten, sondern wie identisch behandelt werden, so<br />

daß im manifesten Traum jedes Element auch sein Gegenteil bedeuten kann. (Ebd. 35f.)<br />

Das Bewußte bildet die letzte Instanz in einem Instanzenzug, durch den das Unbewußte<br />

gefiltert und zensiert wird. Freud argumentiert, daß das Unbewußte dem Bewußten<br />

daher ebenso fremd wie das "Reale der Außenwelt" erscheint:<br />

Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt<br />

wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig<br />

gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane. (Freud 1942: 617f.)


116 Seghers<br />

Trotz dieser Analogie unterscheidet Freud die psychische Realität der Wünsche von der<br />

materiellen Realität. (Ebd. 625) Der Begriff der Realität ist nicht in den "organischen<br />

Elementen des Nervensystems" lokalisiert,<br />

sondern sozusagen zwischen ihnen, wo Widerstände und Bahnungen das ihnen entsprechende<br />

Korrelat bilden. Alles, was Gegenstand unserer inneren Wahrnehmung werden kann, ist virtuell,<br />

wie das durch den Gang der Lichtstrahlen gegebene Bild im Fernrohr. Die Systeme aber, die selbst<br />

nichts Psychisches sind und nie unserer psychischen Wahrnehmung zugänglich werden, sind wir<br />

berechtigt anzunehmen gleich den Linsen des Fernrohrs, die das Bild entwerfen. In der<br />

Fortsetzung dieses Gleichnisses entspräche die Zensur zwischen zwei Systemen der<br />

Strahlenbrechung beim Übergang in ein neues Medium. (Ebd. 615f.)<br />

Das Bild, das wir von der Realität empfangen, ist ein virtuelles, da die Sinneseindrücke<br />

immer schon durch das System der hierarchisierten Unterschiede gefiltert und geordnet<br />

werden. Das Bild einer in sich geschlossenen Realität ist ein sprachliches Konstrukt und<br />

entspricht weder der Fluktuation der Materie, noch der der unbewußten Wünsche. Im<br />

Traum gibt das Bewußtsein dem Druck des Unbewußten nach, indem es unbewußtes<br />

Material aufnimmt und umbildet. Es schließt einen Kompromiß mit dem Unbewußten,<br />

um das labile Gleichgewicht zwischen ihnen aufrechtzuerhalten.<br />

Die Verwischung der Grenze zwischen Traum und Realität produziert also keinen<br />

"realistischen Traum", falls die Realität in den logischen Kategorien des Bewußtseins<br />

gefaßt wird, sondern weist umgekehrt auf die Heterogenität des Realen hin. Gegen den<br />

Versuch der Wissenschaft, das Phantastische zu rationalisieren und zu normalisieren,<br />

verrücken phantastische, skurrile und mythische Geschichten die Geschichte, indem sie auf der<br />

Heterogenität des Realen bestehen; dieses aber ist nicht nur Objekt einer Aneignung, sondern<br />

ebenso des Verwerfens. Und das Verworfene hindert den Kreis der Dialektik am Schließen.<br />

(Nägele 1983: 220)<br />

Das impliziert, daß das Phantastische die Gesetze des Marxismus-Leninismus, auf dem<br />

die Theorie des sozialistischen Realismus beruht, sprengt, da es die dialektische<br />

Synthese der sozialen Widersprüche nicht zustande kommen läßt.<br />

Das Phantastische und Irreale der Reisebegegnung wird in der Geld-Szene ebenso<br />

willkürlich aufgelöst wie es am Eingang der Erzählung eingeführt wurde.<br />

Ironischerweise löst Gogol die Verwirrung aus. Er möchte nach Abschluß des<br />

Gesprächs zahlen, muß aber feststellen, daß er die entsprechende Währung nicht besitzt.<br />

Er entschuldigt sich beim Kellner:<br />

»Tut mir leid, ich hab kein tschechisches Geld.« »Macht nichts«, sagte der Kellner, »wir nehmen<br />

hier auch andere Valuta.« Als ihm Gogol auf den Tisch seine Zarenrubel legte, schüttelte er den<br />

Kopf. »Verzeihen der Herr, diese Valuta wird jetzt nicht mehr gebucht.« Hoffmann griff nach<br />

seiner Börse, da fiel ihm ein, daß er auch mit seinen Talern in diesem Café nichts anfangen konnte.<br />

(R 110)<br />

Das Geld fungiert hier als Maßstab der Alltagsrealität, in der das Gesetz der objektiven<br />

Zeit herrscht. Indem die fiktiven Figuren der Anna Seghers aber aufgefordert werden,<br />

für ihre irreale Begegnung zu bezahlen, wird der sozialistische Realismus, der von der


Reisen in der vierten Dimension 117<br />

Widergabe der Realität ausgeht, ad absurdum geführt. Der Effekt ist mit Eschers<br />

Bildern vergleichbar, in denen die Details auch absolut realistisch gezeichnet sind bis<br />

auf den Punkt, an dem sie plötzlich ins Irreale überführt werden. Dieser Übergang stellt<br />

einen Kurzschluß her, durch den die Zeichen immer wieder auf sich selbst zurückverwiesen<br />

werden. So wird die Vorstellung einer unmittelbar greifbaren Realität als eine<br />

Zeichenkonstruktion entlarvt.<br />

Das Geld ist aber selbst ein Zeichen, denn es repräsentiert einen Wert in Gold, der je<br />

nach dem Kurs von der Reservebank festgelegt wird. Das Gold verweist wiederum auf<br />

die Produktionsverhältnisse, die seinen Wert bestimmen. Die Produktionsverhältnisse<br />

treiben den historischen Prozeß voran und bestimmen indirekt die Brüche in den<br />

Zeichensystemen, als deren Garant das Geld gilt. Der neuen Währungsform liegt eine<br />

Reihe historischer Brüche zugrunde: Der Zar wurde 1917 durch die russische Revolution<br />

gestürzt, das deutsche Kaiserreich wurde nach einer Revolution nach dem<br />

ersten Weltkrieg 1919 eine Republik und die tschechische Republik entstand 1919 nach<br />

dem Verfall der Habsburger Monarchie. Die alte Währung, mit der Gogol und Hoffmann<br />

zahlen wollen, deuten an, daß auch ihre Literaturauffassungen überholt sind,<br />

obwohl ihre Zeitreise dem widerspricht. Das impliziert, daß die Veränderungen in den<br />

Produktionsverhältnissen und in den Zeichensystemen, zu denen auch die Literatur<br />

gehört, nicht gleichzeitig sind. So können Experimente und Innovationen in einem Teil<br />

der Zeichensysteme den historischen und sozialen Umbruch vorwegnehmen, während<br />

er von den herrschenden Zeichensystemen erst lange nach dem historischen Umbruch<br />

nachvollzogen werden kann. Damit ist auch die Relevanz sprachlicher Neuerer über die<br />

historische Epoche hinaus, gegen deren herrschende Sprachordnung sie ankämpften,<br />

gegeben.<br />

Das Geld fungiert als Maßstab der Alltagsrealität, weil es den Bruch zwischen dem<br />

Signifikanten und dem Signifikat verschleiert. Es setzt eine natürliche, transparente<br />

Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, der Realität, voraus. Rainer<br />

Nägele argumentiert im Sinne von Marx und Engels, daß das Geld die Dinge in die<br />

phantasmagorische Form der Ware verwandelt und somit den Prototyp der<br />

symbolischen Sprache darstellt:<br />

[Der] Fetisch Ware als der wahre Fetisch resultiert aus dem Eintritt des »realen Dings« in eine<br />

»phantasmagorische Form« und einen symbolischen Zusammenhang mit Sprachcharakter: die<br />

Ware ist eine Sprachform, sie spricht in der »Warensprache« (MEW 23, 66), deren Struktur die<br />

des Saussureschen Zeichens ist, dessen Wert sich rein diakritisch im Verhältnis zu einem anderen<br />

Wert bestimmt. (Nägele 1983: 199)<br />

Die romantischen Schriftsteller widerstrebten der Warensprache und der ihr<br />

entsprechenden Alltagsrealität, indem sie ihr den ästhetischen Bereich entgegenhielten.<br />

Die Entfremdung des Individuums in der kapitalistischen und realen sozialistischen<br />

Industriegesellschaft hat sich seitdem aber noch verschärft, sodaß die romantische<br />

Ästhetik mit ihrem individuellen emanzipatorischen Anspruch wieder aktuell wurde. In<br />

der DDR setzte Anna Seghers mit der Reisebgegnung am Anfang der siebziger Jahre<br />

den Schriftstellern ein Zeichen, daß eine erneute Auseinandersetzung mit dieser<br />

Tradition zulässig sei.


118 Seghers<br />

Indem Anna Seghers in der Geld-Szene die Diskrepanz zwischen Signifikant und<br />

Signifikat ausstellt, zerstört sie den Schein einer einheitlichen Realität, die durch die<br />

Parteiideologie sanktioniert wurde. Die Subversion dieser Autorität produziert verrückte<br />

Geschichten, die wie Die Reisebegegnung aus dem zeit-räumlicen Koordinatensystem<br />

fallen. Die Erzählzeit imitiert nicht den Ablauf der historischen Zeit, sondern setzt auf<br />

eigenwillige Weise Diachrones synchron. Damit entlarvt Anna Seghers den geradlinigen<br />

Zeitablauf als eine Konstruktion des Realismus und hält ihm einen subjektiven<br />

Umgang mit der Zeit entgegen, der den Bedürfnissen des Autors und des Rezipienten<br />

entspricht. In der Geld-Szene prallen die fiktionale und nicht-fiktionale Ebene aufeinander,<br />

ohne daß die eine Ebene über die andere siegt. Nachdem Kafka ihre Rechnung<br />

beglichen hat, kehren Gogol und Hoffmann wieder in ihre Zeit zurück, ohne daß dadurch<br />

die Möglichkeit der Zeitreise aufgehoben würde. Der Text läßt die fiktionale und<br />

die nicht-fiktionale Ebene im Sinne einer Sowohl-als-auch-Logik nebeneinander stehen.<br />

Gogol und Hoffmann können aber nur in ihre Zeit zurückkehren, weil Kafka für ihre<br />

Zeitreise bezahlt:<br />

Es endete schließlich damit, daß Kafka für alle drei die Rechnung beglich. Wie mager er auch bei<br />

Kasse war, er freute sich, Gogol und Hoffmann begegnet, ja beide bewirtet zu haben. (R 110)<br />

Kafka, der zunächst von Hoffmann und Gogol als Fremder gesehen wird, entpuppt sich<br />

als Gastgeber der anderen beiden Autoren. Als Hoffmann im Café auf Gogol wartet,<br />

sitzt er schon in der Fensternische und schreibt. (R 86) Obwohl er "nicht begeistert über<br />

die Störung" ist, fängt Kafka ein offenes Gespräch mit Hoffmann über sein Leben und<br />

Schreiben an, das dann mit Gogol zu dritt fortgeführt wird. (R 87) Auch nach dem Gespräch,<br />

das seine Einsamkeit unterbrach, bleibt er sitzen, bis sein Vater ihn wütend<br />

abholt. (R 112f.) Gogol kritisiert zwar seine Unverständlichkeit und Hoffmann vermißt<br />

Perspektive, doch bekommt Kafka die Chance, die Realität, so wie er sie sieht, zu<br />

verteidigen. Er beschreibt diese Perspektive so:<br />

Vielleicht spürt man in allem, was ich schreibe, etwas von der Qual, von der Unsicherheit, von<br />

den Zweifeln, die eine Zeitwende im Menschen erregt, und auch meine eigene Todesangst. (R<br />

108f.)<br />

Als der modernste Schriftsteller unter den dreien hat Kafka, was die Situation des<br />

modernen Schriftstellers betrifft, das letzte Wort. Indem er für die anderen beiden<br />

Schriftsteller mitbezahlt, vermittelt er aber auch zwischen der Literatur des 19. und des<br />

20. Jahrhunderts. Er schreibt die Ansätze des phantastischen Realismus, die er bei<br />

Hoffmann und Gogol vorfindet, unter den Bedingungen seiner Zeit fort, auch wenn die<br />

Autoren mit seiner Interpetation nicht übereinstimmen, ebensowenig wie sie mit Anna<br />

Seghers' Interpretation übereinstimmen würden.<br />

In der Reisebegegnung ergreift Anna Seghers nicht Partei für einen bestimmten<br />

Autor. Sie vermittelt vielmehr Leseerfahrungen und fordert den Leser auf, das Werk der<br />

drei Autoren selbst zu lesen. Wenn es einen "positiven Helden" in dieser Erzählung<br />

gibt, dann ist es das Lesen. Hoffmann wünscht sich einen produktiven Leser, der seine<br />

ständigen Sprünge aus der Wirklichkeit ins Phantastische nachvollzieht:


Reisen in der vierten Dimension 119<br />

Allerdings, man darf nicht schläfrig lesen, man muß wach, abtastend lesen, auf der Suche. Nur<br />

dann kommt heraus, was ich meine. (R 93)<br />

Für Kafka ist dieser Dialog zwischen Autor und Leser selbst bedroht. Er sagt:<br />

Ob ein Nebel über den Augen der Leser liegt oder über meinem Roman, es kommt nicht klar<br />

heraus. (Ebd.)<br />

Anna Seghers läßt das als Symptom der sozialen Position Kafkas gelten, doch<br />

beansprucht sie das monologische Schreiben nicht für die DDR der frühen siebziger<br />

Jahre. Parallel zu Hoffmanns Texten setzt Die Reisebegegnung einen produktiven Leser<br />

voraus, der mitdenkt und den Glauben an eine vorgegebene Realität, in der die Zeit<br />

linear abläuft, suspendiert.<br />

Die Wahl der literarischen Form ist für Anna Seghers' Beitrag zur Erbe-Debatte der<br />

frühen siebziger Jahre signifikant, weil sie es der Autorin erlaubt, sich von den<br />

Zwängen der Literaturpolitik zu distanzieren und Raum für die sozialistische Literatur<br />

zu gewinnen. So führt Anna Seghers in der Reisebegegnung auf spielerische Weise vor,<br />

wie die Konventionen des sozialistischen Realismus subvertiert werden können, ohne<br />

daß dadurch der Anspruch auf eine sozial relevante Literatur aufgegeben würde. Damit<br />

überschreitet Anna Seghers die Grenzen der theoretischen und kulturpolitischen<br />

Diskussion zu diesem Zeitpunkt weit effektiver als sie es in einem literaturpolitischen<br />

Essay oder einer Rede gekonnt hätte. Die Rede auf dem VII. Schriftstellerkongreß und<br />

die Interviews begleiten diese Erzählung und dienen dazu, den neuen Standort zu<br />

legitimieren und zu popularisieren.<br />

Die Kontroverse um die Zeit, auf die Anna Seghers in der Reisebegegnung anspielt,<br />

wurde von Bergson ausgelöst. (Adorno 1961: 179) Sie spielt eine wichtige Rolle in der<br />

marxistischen Literaturtheorie, vor allem bei Lukács, der die objektive Zeit über die<br />

subjektive Zeit stellt, weil sie die Realität in ihrer Totalität erfaßt. In der subjektiven<br />

Zeit sieht Lukács dagegen eine Verzerrung der objektiven Realität und somit ein<br />

Zeichen der Dekadenz. (Ebd.) Adorno bezeichnet Lukács' Revision seiner Theorie des<br />

Realismus in der Schrift Wider den mißverstandenen Realismus teils zu Recht, teils zu<br />

Unrecht als Apologie des Stalinismus. Recht hat Adorno insofern, als Lukács' Prämisse,<br />

daß eine literarische Methode die richtige Erkenntnis und Gestaltung der objektiven<br />

Wirklichkeit in ihrer Totalität gewährleiste, den ideologischen Zwecken des autoritären<br />

Sozialismus entgegenkam. Die objektive Wahrheit wurde im Stalinismus zu einer<br />

Norm, die die eigene Praxis als vernünftig und gesund legitimierte, während sie jede<br />

Abweichung von dieser Norm von vorn herein als subjektive Verirrung, d. h. als<br />

irrational und krank ausklammerte. In der Übertragung der Begriffe der Objektivität und<br />

Totalität auf die Praxis der Partei sieht Lukács aber ein Zeichen der bürokratischen<br />

Willkür des Stalinismus, die er aufs Schärfste angreift. Lukács begreift die objektive<br />

Wahrheit als unabhängig von der jeweils herrschenden Partei, auch wenn es sich um die<br />

Arbeiterpartei handelt.<br />

Lukács kritisiert an Bergsons Theorie der Erlebniszeit, daß er die "abstrakt<br />

aufgefaßte Zeit von der Gegenständlichkeit und der Bewegung" getrennt habe. (Lukács1<br />

1971: 490) Er argumentiert, daß diese Trennung zu einem Relativismus führe, der der


120 Seghers<br />

Nährboden bürgerlicher Ideologien sei. Damit wird Lukács den historischen und<br />

philosophischen Voraussetzungen des subjektiven Zeitbegriffs aber nicht gerecht.<br />

Adorno weist darauf hin, daß die "Unerträglichkeit [der] dinghaft entfremdeten, sinnleeren<br />

Zeit [...] Henri Bergson zur Theorie der Erlebniszeit genötigt" hatte. (Adorno<br />

1961: 179) Bergson weist die Unzulänglichkeit des mechanischen und deterministischen<br />

Zeitbegriffs des 19. Jahrhunderts für die Beschreibung der Bewußtseinsprozesse<br />

nach. Er argumentiert, daß die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts die Zeit<br />

verräumlichen und homogenisieren, um eine lineare Kausalitätskette zwischen den<br />

einzelnen Punkten einer Bewegung zu konstruieren. (Bergson 1912: 101) So<br />

beschreiben sie zwar die Resultante der Bewegung, aber nicht die Bewegung selbst, die<br />

in jedem Augenblick unbestimmt ist, da die Einwirkung heterogener Kräfte auf das Objekt<br />

jederzeit dessen Richtung ändern kann. Das Konzept der Bewegung durchkreuzt<br />

die lineare Kausalitätskette des mechanischen Determinismus, weil man jedem Ergebnis<br />

heterogene Ursachen zuordnen kann. Bergson entwickelt den Begriff der Dauer für die<br />

Zwischenstadien der Bewegung. Er versteht die Dauer als reine Qualität, d. h. als Intensität,<br />

in der sich die Grenzen zwischen den einzelnen Stadien auflösen, so daß sich das<br />

jeweilige Ergebnis einer Bewegung nie allein aus den vorhergehenden Stadien ableiten<br />

läßt. (Ebd. 155f.) Die Dauer beschreibt somit einen qualitativen Sprung, der dem<br />

Bewußtseinsprozeß eine neue Richtung gibt.<br />

Zwei entgegengesetzte Konsequenzen lassen sich aus Bergsons Theorie ziehen: Eine<br />

wäre die Unerkennbarkeit der Welt, die andere die Erkenntnis<br />

des Bruchs zwischen der übermächtigen und unassimilierbaren Dingwelt und der hilflos von ihr<br />

abgleitenden Erfahrung. (Adorno 1961: 168)<br />

Dieser Bruch ist eine grundlegende Erkenntnis der marxistischen Gesellschaftstheorie.<br />

Adorno weist auf die Entwürfe zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie<br />

hin, in denen Marx schreibt, daß die Totalität des gesellschaftlichen Prozesses, dessen<br />

einzelne Momente vom Willen der Individuen ausgehen, dem Individuum dennoch als<br />

eine fremde Macht, d. h. als Zwang, erscheint. Daraus schließt Marx, daß der Ausgangspunkt<br />

nicht das freie Individuum ist. (Ebd. 157f.) Diese Erkenntnis liegt zwar auch<br />

Lukács' Ästhetik zugrunde, doch er versucht, den Bruch zwischen dem subjektiven Bewußtsein<br />

und dem gesellschaftlichen Sein dialektisch zu vermitteln, um so eine neue<br />

Synthese oder Totalität herzustellen.<br />

Zentral in Lukács' Ästhetik ist der Begriff der objektiven Wahrheit. Er enthält ein<br />

subjektives Moment, da er die Wahl für die fortschrittlichste unter den verschiedenen,<br />

aber nicht gleichwertigen historischen Tendenzen voraussetzt. Lukács meint, daß es von<br />

dieser Wahl des Künstlers abhänge, ob er sein Potential voll entfalte. Das definiert er als<br />

künstlerische Parteilichkeit. So legt Lukács der Geschichte zwar eine objektive, unabhängig<br />

vom individuellen Bewußtsein existierende Triebkraft zugrunde, doch er sieht<br />

sie nicht als Schicksal, das sich unabhängig vom menschlichen Handeln und Denken<br />

manifestiert. Da sie nur als Tendenz besteht, kann sie durch die jeweiligen historischen<br />

Umstände (welche das menschliche Bewußtsein und Verhalten einschließen) blockiert<br />

werden.


Reisen in der vierten Dimension 121<br />

Obwohl Lukács den Begriff der objektiven Wahrheit mit Lenin als ein Umschlagen<br />

der Quantität in Qualität definiert, betont er das quantitative Moment stärker als den<br />

qualitativen Sprung im Geschichtsprozeß. Er tendiert dazu, die "objektive" Wahrheit als<br />

Summe aller Kenntnisse oder als Ergebnis des wissenschaftshistorischen Prozesses zu<br />

sehen, anstatt sie als ein Konstrukt innerhalb dieses Prozesses und somit als grundsätzlich<br />

revidierbar zu begreifen. So dominiert in Lukács' Geschichtskonzeption das<br />

Moment der Kontinuität über das der Diskontinuität. Die dialektische Rückkoppelung<br />

des abstrakten Wahrheitsbegriffs an die Praxis verhindert jedoch, daß der<br />

Erkenntnisprozeß in einem luftleeren Raum angesiedelt wird. Durch die<br />

Wechselwirkung zwischen der Wissenschaft und dem historisch materiellen Prozeß<br />

entsteht ein komplexer, materialistischer Wahrheitsbegriff, der weder einfach auf die<br />

ökonomischen Verhältnisse reduzierbar ist, noch eine statische Abstraktion darstellt.<br />

Mit dem Nachlassen von Lukács' Einfluß auf die Literaturpolitik der DDR nach dem<br />

Ungarn-Aufstand (1956) wird eine zunehmende Offenheit für moderne Erzähltechniken<br />

spürbar. So geht aus der Debatte um Christa Wolfs Roman Der geteilte Himmel (1963)<br />

hervor, daß moderne Erzähltechniken wie der innere Monolog toleriert werden, solange<br />

der Schriftsteller "die Beziehung von Individuum und Gemeinschaft als Basis seines<br />

Schaffens ansieht und in seinem Werk die Perspektive der gesellschaftlichen oder<br />

menschlichen Entwicklung zum Sozialismus sichtbar wird". (Hölsken 1979: 74) Wo die<br />

modernen Erzähltechniken dagegen die Entfremdung und Isolation des Individuums<br />

aussprechen oder die Sprengung des Zeit- und Raumkontinuums die "Unüberschaubarkeit<br />

einer nicht greifbaren, komplexen Weltwirklichkeit" ahnen lassen, blieben sie<br />

als Symptome bürgerlicher Dekadenz weiterhin diffamiert. (Ebd.) Es geht somit um<br />

eine Umfunktionierung moderner Erzählelemente im Sinne des sozialistischen Realismus.<br />

Diese Position hat sich 1975 in der Einführung in den Sozialistischen Realismus noch<br />

weiter zugunsten einer Annahme des subjektiven Zeit verschoben. So wird zwar vor der<br />

"Enthistorisierung der Darstellung" durch die "Verbannung der Zeit - oder genauer: des<br />

Entwicklungsgedankens - aus der Gestaltung, die sogenannte Verräumlichung der Zeit"<br />

gewarnt, aber der Beitrag der Theorie der subjektiven Zeit zur Darstellung einer komplexen<br />

und widersprüchlichen Realität dennoch erkannt. (Pracht 1975: 315) Das<br />

Konzept der subjektiven Zeit wird in den Kontext der dialogischen Schreibweise<br />

gestellt. Es gilt als angemessen für die hochentwickelte sozialistische Gesellschaft, in<br />

der die Autoren nicht mehr Allwissenheit auf allen Gebieten vortäuschen, sondern nur<br />

noch Ansichten und Vermutungen mit den Lesern über die Realität austauschen können.<br />

(Ebd. 325f.)<br />

Eine Alternative zu dem zeitlichen Nacheinander des Realismus wäre das räumliche<br />

Nebeneinander, wie es sich z. B. im Traum manifestiert. Michail Bachtin greift den<br />

Ansatz eines materialistischen Zeitbegriffs bei Bergson und den Eleaten wieder auf und<br />

denkt ihn um. Er sieht die Rückkehr der Erinnerung an den Anfang einer historischen<br />

Kausalitätsreihe als Voraussetzung dafür, daß die Richtung des Geschichtslaufs<br />

geändert werden kann. Das impliziert, daß er eine historische Entscheidung nur als eine<br />

Möglichkeit des historischen Prozesses und somit als prinzipiell revidierbar sieht. Der<br />

Geschichtsprozeß ist somit von Brüchen markiert, in denen eine vergessene Möglichkeit


122 Seghers<br />

durch einen scheinbaren Rückschritt reaktualisiert wird. Diese paradoxe Bewegung<br />

schließt das Moment der Phantasie ein, da sie das Subjekt durch das Labyrinth des kollektiven<br />

Gedächtnisses steuert, in das alle verwirklichten und unverwirklichten Möglichkeiten<br />

des materiellen Prozesses eingeschrieben sind. Die Phantasie vollzieht somit<br />

die alineare Bewegung, die die Verknüpfung der unrealisierten Möglichkeit mit der<br />

Gegenwart gewährleistet. Bachtin (1979: 345) schreibt:<br />

Vorwärtsgehen kann nur die Erinnerung, nicht das Vergessen. Die Erinnerung kehrt zum Anfang<br />

zurück und erneuert ihn. [...] Auf die Sprache angewandt, bezeichnet eine solche Rückkehr die<br />

Wiederherstellung eines agierenden, akkumulierenden Gedächtnisses in seinem vollen Bedeutungsumfang.<br />

Bachtin ersetzt den linearen Zeitbegriff durch den chronotopischen Typus der<br />

Bewegung, bei dem ihm die Unzerrissenheit von Raum und Zeit (die Zeit als vierte<br />

Dimension des Raums) wichtig ist. Er versteht den Chronotop als eine formal-inhaltliche<br />

Kategorie der Literatur. (Ebd. 366) Dieses Zeit-Raum Konzept wäre ohne<br />

Einsteins Relativitätstheorie nicht denkbar. (Vgl. Nethersole 1988: 60) Bachtin definiert<br />

den Chronotop in der Kunst wie folgt:<br />

Time, as it were, thickens, takes on flesh, becomes artistically visible; likewise, space becomes<br />

charged and responsive to the movements of time, plot and history. This intersection of indicators<br />

characterizes the artistic chronotope. (Ebd.)<br />

Dieses Konzept läßt sich meiner Meinung nach auf Anna Seghers' Reisebegegnung<br />

anwenden, da es die Widersprüche zwischen dem Traum, der Phantasie und den<br />

Gesetzen der Geschichte zwar nicht im Sinne einer neuen Totalität löst, sie aber<br />

dennoch wieder in den sozialen Prozeß einbindet, aus dem beide hervorgehen. Das ist<br />

um so bemerkenswerter bei einer Erzählerin, die sich für die Utopie des Sozialismus mit<br />

ihrer Literatur zwar einsetzte, doch sich nie ganz von den dogmatischen Beschlüssen<br />

der Kulturfunktionäre einfangen ließ. Aus diesem Grund lohnt sich auch weiterhin eine<br />

kritische Auseinandersetzung mit ihren Texten.<br />

Adorno, Theodor W. (1961), "Erpeßte Versöhnung." In: ders., Noten zur Literatur 2. Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp<br />

Bachtin, Michail M. (1979), "Rabelais und Gogol - Die Wortkunst und die Lachkultur des Volkes". In:<br />

Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main: Suhrkamp<br />

Behn, Manfred (1980) (Hg.), Anna Seghers. Woher sie kommen, wohin sie gehen. Essays aus vier<br />

Jahrzehnten. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand<br />

Bergson, Henri (1912), Time and Free Will. An Essay on the Immediate Data of Consciousness. London:<br />

George Allen<br />

Fingerhut, Karlheinz (1985), "Produktive Kafka-Rezeption in der DDR". In: Wilhelm Emmrich und<br />

Bernd Goldmann (Hg.), Franz Kafka Symposium 1983. Mainz: Akademie der Wissenschaften und der<br />

Literatur


Reisen in der vierten Dimension 123<br />

Freud, Sigmund (1942), "Über den Traum". In: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. III. London:<br />

Imago<br />

Freud, Sigmund (1963), "Erläuterung an der Traumdeutung". In: Sigmund Freud, Abriß der<br />

Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt: Fischer<br />

Hölsken, H. G. (1969), "Zwei Romane: Christa Wolf »Der geteilte Himmel« und Hermann Kant »Die<br />

Aula«. Voraussetzungen und Deutung". In: Deutschunterricht (BRD), Bd. 5<br />

Lukács, Georg (1971), "Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus". In: Georg Lukács, Werke,<br />

Bd. IV: Probleme des Realismus I. Neuwied und Berlin: Luchterhand<br />

Lukács, Georg (1971), "Kunst und objektive Wahrheit". In: ders., Werke Bd. IV. Probleme des Realismus<br />

I: Essays über Realismus. Neuwied-Berlin: Luchterhand<br />

Lützow, Graf (1924), The Story of Prague. London: J. M. Dent & Sons Ltd.<br />

Nägele, Rainer (1983), "Trauer, Tropen und Phantasmen: Ver-rückte Geschichten aus der DDR." In: P.<br />

U. Hohendahl und P. Herminghouse. Literatur der DDR in den siebziger Jahren. Frankfurt: Suhrkamp<br />

Nethersole, Reingard (1988), "From Temporality to Spatiality: Changing Concepts in Literary Criticism".<br />

In: Proceedings of the XIIth Congress of the International Comparative Literature Association.<br />

München: iudicium<br />

Pracht, Erwin (1975) (Hg.), Einführung in den sozialistischen Realismus. Berlin: Dietz<br />

Seghers, Anna (1976), "Der sozialistische Standpunkt läßt am weitesten blicken". (Rede auf dem VII.<br />

Schriftstellerkongreß, November 1973). In: Gisela Rüß (Hg.), Dokumente zur Kunst-, Literatur- und<br />

Kulturpolitik der SED 1971 - 1974. Stuttgart: Seewald Verlag<br />

Seghers, Anna (1984), Aufsätze, Ansprachen, Essays 1954-1979. Berlin: Aufbau<br />

Seghers, Anna (1983), Sonderbare Begegnungen. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, (1973) 1984.<br />

Zitate aus der Reisebegegnung sind im folgenden mit (R) markiert.<br />

Todorov, Tzvetan (1975), Einführung in die fantastische Literatur. (Übersetzt von) Karin Kersten, Senta<br />

Metz und Caroline Neubaur. Berlin/Wien: Ullstein, 1975<br />

Wolf, Christa (1983), "Zeitschichten". In: Neue Deutsche Literatur, Bd. 31


IM SCHNITTPUNKT VON GESCHICHTE UND WEIBLICHER<br />

IDENTITÄT<br />

ANNA SEGHERS' ERZÄHLUNG AUF DEM WEGE ZUR AMERIKANISCHEN<br />

BOTSCHAFT<br />

"Sattsehen", die Lust, ja "Gier", mit der ihre Augen das auflesen, was ihr gehört, und ihr<br />

doch entschwindet, verschränken sich mit "Schrecken", dessen Ursache nicht<br />

unmittelbar einleuchtet: worüber erschrickt eine Frau und Mutter, die so ihrem "Sohn"<br />

folgt? Ist es sein zerbrechlicher Körper, der - die Kleider zeigen es an - auseinanderfällt,<br />

mühsam geflickt in Stunden nach der Arbeit, langen Abenden? Oder geht das<br />

Erschrecken tiefer? Ist es das Erschrecken vor dem Verdrängten? Welcher Art ist das<br />

Begehren der Mutter, dem sie hier "heimlich" nachgeht?<br />

Doch ebenso plötzlich, wie der Wunsch, der heimliche Genuß, auftaucht,<br />

verschwindet er wieder: "- dann hatte er sich herumgedreht und war ein fremdes Kind."<br />

(176) Das blitzartige Umschlagen vom eigenen zum fremden Blick auf den Jungen<br />

verwandelt den ihr vertrauten Sohn in den nur scheinbar fremden, in Wirklichkeit<br />

ebenso vertrauten Angehörigen ihrer Klasse. Die Abgenutztheit der Kleidung, die auch<br />

die liebevolle Ausbesserung nicht rückgängig machen kann, ist Indiz der sozialen<br />

Herkunft sowohl des Jungen, als auch der Mutter des Jungen, die die Kleidung flickte.<br />

Andererseits bewirkt der Perspektivenwechsel der Mutter, daß die Frage, welche Mutter<br />

die zerschlissene Kleidung geflickt hat, unwesentlich wird. Der Perspektivenwechsel<br />

sprengt den privaten Rahmen der Familie, um die Frage nach dem gesellschaftlichen<br />

Kontext der Mutter-Sohn Beziehung aufzuwerfen. Die Enthüllung des Eigenen als<br />

Fremdes durch die Drehung des Kindes impliziert, daß die Armut der Frau keine privat<br />

verschuldete ist, sondern durch ihre Klassenlage bedingt ist. Angesichts der Erkenntnis<br />

des sozialen Kontextes der eigenen Armut, wird die mütterliche Liebe in ein größeres<br />

Bezugssystem gestellt: Flicken allein kann die Armut des Kindes nicht auslöschen. Das<br />

soziale Bewußtsein ersetzt und erweitert das Bewußtsein der Mütterlichkeit.<br />

Diese Erinnerung taucht nicht zufällig in einer Erzählung von Anna Seghers auf, in<br />

der eine Frau und Mutter mit schlechtem Gewissen wegen der Kinder, die sie zu Hause<br />

gelassen hat, an einer politischen Demonstration teilnimmt. In der Interaktion mit den<br />

anderen Demonstranten in ihrer Viererreihe und der staatlichen Gewalt sieht die Frau<br />

sich genötigt, ihr Selbstbild umzudenken. Der Prozeß der Redefinition wird durch die<br />

Widersprüche der unterbewußten Projektionen der Frau und des realen Verhaltens des<br />

"mürrischen Mannes", der neben ihr geht, ausgelöst. Es handelt sich in der Projektion<br />

um ein imaginäres Konstrukt des Anderen: Die Frau sucht sich die positiven<br />

Eigenschaften des Mannes heraus, die sie an den eigenen Ehemann erinnern. Dabei<br />

greift sie auf bekannte Verhaltensmuster zurück, z.B. auf die Struktur des<br />

beschützenden, väterlichen (Ehe-)Mannes und der hilflosen, schutzbedürftigen Ehefrau.<br />

Sie sieht den fremden Demonstranten zunächst bloß durch dieses familiäre Schema.<br />

Damit die Übertragung des Ehemannes auf den Demonstranten wirksam werden kann,<br />

muß die Projektion von seiten des Mannes zumindest teilweise erwidert werden. Es sind


126 Seghers<br />

paradoxerweise gerade die negativen Eigenschaften ihres Mannes (wie "mürrisch" und<br />

"trocken"), die die Frau in der Übertragung auf den fremden Mann heraussucht. Das<br />

Paradox liegt darin, daß ein Ideal eine Abstraktion oder ein Modell der Wirklichkeit<br />

darstellt und folglich keine individuellen Merkmale besitzt. Da das Ideal jedoch<br />

angewandt werden muß, um seine Funktion zu erfüllen, müssen mit seiner Anwendung<br />

auch Abweichungen vom Ideal toleriert werden. Wenn diese Abweichungen jedoch die<br />

Oberhand gewinnen, wird es unmöglich, das Ideal aufrechtzuerhalten. Umgekehrt<br />

machen die Gedanken und das Verhalten des "mürrischen Mannes" darauf aufmerksam,<br />

daß er die Erfahrungen mit seiner eigenen Frau auf die neben ihm gehende<br />

Demonstrantin projeziert: "An der ist auch nicht mehr viel zu holen, die ist genauso<br />

ausgefegt, wie meine zu Haus." (160) Ausdrücke wie "an der ist nichts mehr zu holen",<br />

"die ist ausgefegt" und "meine zu Haus" weisen auf seine Geringschätzung der<br />

arbeitenden, älteren Frau hin. Im Gegensatz zu der Frau neben ihm ist er nicht auf die<br />

emotionalen Bindungen in der Ehe und in der Familie angewiesen; im Mittelpunkt<br />

seines Selbstbildes steht sein Beruf und die Anerkennung durch seine Kollegen im<br />

"Verband". Er scheint Frauen bloß als sexuelle Objekte zu sehen, die ausgedient haben,<br />

sobald sie nicht mehr attraktiv sind. Die Geringschätzung der Frau ist die Kehrseite der<br />

Idealisierung der liebenden und dienenden Ehe- und Hausfrau. Die Bedürfnisse der Frau<br />

nach Anerkennung und Schutz werden von dem "mürrischen Mann" ignoriert. Durch<br />

seine abschätzige Gestik der Frau gegenüber, sieht sie sich gezwungen, den Verlust<br />

ihrer Attraktivität und ihre soziale Position als alleinstehende Mutter neu zu<br />

überdenken. Erst gegen Ende der Demonstration identifiziert sich die Frau positiv mit<br />

der politischen Intention der Demonstranten, und gibt gleichzeitig die Abhängigkeit<br />

vom "mürrischen Mann" auf:<br />

Die Geringschätzung durch den "mürrischen Mann" verstärkt die Selbstverachtung<br />

der Frau. In ihre Isolation zurückverwiesen, ist sie zunächst unfähig, an der<br />

Demonstration als Verstehende teilzunehmen. So wagt sie nicht nach dem Grund der<br />

Demonstration zu fragen, aus Furcht ihre Unwissenheit bloßzustellen. Statt sich<br />

vertrauensvoll an die anderen Demonstranten zu richten, versucht die Frau, sich<br />

krampfhaft an die Erklärungen der Männer beim Aufstellen der Viererreihen zu<br />

erinnern:<br />

Diese Anstrengung des Nachdenkens, in der sie sich nicht mehr auf das bessere<br />

Wissen der Männer verläßt, führt sie also schließlich zum Anfang ihres selbständigen<br />

politischen Denkens, das - obwohl stark vereinfacht - den Kern der Sache erfaßt.<br />

Gleichzeitig mit ihrem neuen Selbstbewußtsein entsteht im Laufe der Demonstration<br />

eine neue Einstellung der Frau zu ihrer Mutterrolle. Weil sie das Gefühl hat, ihre Kinder<br />

zu vernachlässigen, möchte sie sich zunächst von dem Demonstrationszug abwenden:<br />

Zunächst also erscheint die politische Aktivität als Widerspruch zu ihrer Rolle als<br />

Mutter. Politisches Handeln scheint ihr den Männern vorbehalten, die nicht derart eng<br />

an Familie und Haus gebunden sind. Der Faden, der sie schein bar unauflösbar mit ihrer<br />

Rolle als Mutter verknüpft, ist aus dem schlechten Gewissen der Arbeiterfrau geknüpft,<br />

die sowieso einen großen Teil ihrer Zeit außer Haus verbringen muß. Dieses schlechte<br />

Gewissen ist verkörpert in der Angst des Kindes: "Kommt sie mal gar nicht heim,<br />

werden aus Annas Augen schwarze Löcher von Mißtrauen: Habe ich mir immer


Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft 127<br />

gedacht, daß du mal ganz wegbleibst." (172) Die Angst des Kindes induziert ihre eigene<br />

Angst, ihre Mutterrolle zu verfehlen und ihre Kinder zu verlieren:<br />

Die Perfektion in der Ausübung der Rolle ist - wie zum Beispiel das forcierte Reiben,<br />

Bürsten und Nähen der Mutter an den Kindern - dem Zweck dieser Tätigkeiten<br />

unangemessen und wird damit zur neurotischen Zwangstätigkeit. Das kreative Potential<br />

der Frau wird auf Kleinigkeiten und Nebensächliches eingeengt. Diese Begrenzung der<br />

Fähigkeiten kann sich auf die Kinder übertragen, wie das Beispiel Annas andeutet.<br />

Obwohl die Mutter in den ersten Lebensjahren eine wichtige Bezugsperson für das Kind<br />

ist, ist es mit der Zeit für das Kind und die Mutter ebenso wichtig, diese fast<br />

ausschließliche Bindung zu lösen, damit sich das Kind zunächst in einer kleinen Gruppe<br />

und schließlich in der Gesellschaft zurechtfindet und die Frau ihre kreativen Fähigkeiten<br />

entwickeln kann.<br />

Die Lebensumstände der proletarischen Frau erfordern besonders deutlich die<br />

Umwälzung des traditionellen Rollenbewußtseins. Die Arbeiterfrau erfährt ihre<br />

mütterlichen Aufgaben als Überforderung ihrer Kräfte. In dieser Hinsicht wiederholt die<br />

Mutterrolle die Ausbeutung der Frau am Arbeitsplatz; die Lust der Mutterrolle fällt<br />

wegen Zeitmangels aus. Es bleibt nur die tödliche Routine des Alltags:<br />

Es wird deutlich, daß die Frau als Mutter nicht leben kann, solange ihr als Arbeiterin<br />

dazu die nötige Zeit und Ruhe nicht gegeben wird und solange sie als Frau sich selbst<br />

entfremdet bleibt. Aus diesem Grunde ist die Konfrontation mit ihrer eigenen Sexualität<br />

ein entscheidender Aspekt ihrer Entwicklung im Verlaufe der Demonstration. Einerseits<br />

erscheint der eigene Körper, und damit auch die Sexualität der Frau als eine Last,<br />

andererseits gilt der Frau die Sexualität auch als Anlaß zum Glück und zur Freude, weil<br />

sie ihre Attraktivität und damit auch ihr Selbstbewußtsein bestätigt. Als sie sich<br />

überlegt, wie sie sich aus der Demonstration wieder entfernen könnte, taucht plötzlich<br />

das Bild ihres verstorbenen Mannes vor ihr auf:<br />

Aber schon die Tatsache, daß ihr Mann arbeitslos wird und sie selbst zur Ernährerin<br />

der Familie werden muß, hat nicht nur das Verhältnis zwischen Mann und Frau, sondern<br />

auch die Art ihrer Lust und ihres Begehrens verändert. Schon das hat die zwei Eheleute<br />

gezwungen, ihr Verhalten zueinander zu verändern:<br />

Diese mit Tagträumen verwobenen Reflexionen, denen noch die ungelöste emotionelle<br />

Abhängigkeit von ihrem verstorbenen Mann anhaftet, deuten auf den langwierigen, da<br />

widersprüchlichen Prozeß ihrer Befreiung hin. Ihre Ausbeutung als Arbeiterin wird<br />

durch die "fremde, schreckliche Stadt" symbolisiert, welche in den Augen des Mannes<br />

den Körper der Frau zu verschlingen droht. Die körperliche Verausgabung der Frau<br />

durch ihre Arbeit empfindet bezeichnenderweise gerade der Mann als Bedrohung, da<br />

dadurch seine privilegierte Position der Frau gegenüber gefährdet zu sein scheint. Der<br />

Rollenwechsel vom Arbeiter zum Hausmann wird als Abstieg und persönliche Schmach<br />

empfunden. Das so aus dem traditionellen Rollengleichgewicht gebrachte Verhältnis<br />

versteinert und wird lustlos, da weder Mann noch Frau die Mechanismen begreifen,<br />

denen sie unterworfen sind. 66<br />

66 Die Rationalisierung der deutschen Wirtschaft nach 1924 förderte die Erwerbstätigkeit der Frau, da die<br />

Automatisierung des Arbeitsvorganges die Muskelkraft und Kenntnisse des Facharbeiters überflüssig


128 Seghers<br />

Der Bewußtseinsprozeß der Frau verfängt sich ständig im Netz ihrer Rollen. Das<br />

Rollenangebot der Frau als Mutter, Ehefrau, Hausfrau und Arbeiterin läßt der Frau nur<br />

einen minimalen Spielraum an "freier" Entscheidung. Die auszehrende körperliche<br />

Arbeit im Beruf und im Haushalt reduziert ihre geistige Energie. Diese körperliche<br />

Überforderung hindert die Frau daran, sich Gedanken über eine alternative Zukunft zu<br />

machen:<br />

Ähnlich wie bei der modernen Fließbandarbeit bedient sie sich nicht mehr der<br />

Maschinerie, sondern sie wird von der Maschinerie als ein untergeordnetes Teilchen<br />

produziert. Folglich führt ihr "automatisches" Rollenverhalten zu nichts anderem als der<br />

dauernden Reproduktion ihrer Abhängigkeit.<br />

Um den ersten Schritt aus diesem automatischen Rollenverhalten herauszufinden,<br />

muß die Frau ihre Definition als sexuelles Objekt, dessen Funktion es ist, den Mann<br />

anzuziehen um zu befriedigen, ebenso verwerfen wie ihre Mutterrolle, die in dieser<br />

abstrakten und ahistorischen Form ihre Unterwerfung als Frau und Arbeiterin nur<br />

wiederholt. Das Übertreten der Grenze zwischen den alltäglichen und privaten<br />

Bindungen dieser Art und einer neuen Rolle als politisch und geschichtlich Handelnde<br />

wird durch ihre Erfahrungen in der Massendemonstration ermöglicht. Angesichts der<br />

bevorstehenden Konfrontation der Demonstranten mit der Polizei, wird sich die Frau<br />

einer Entscheidung bewußt:<br />

Der erste Schritt zu dieser Entscheidung für die Demonstration und die aggressive<br />

Zurückweisung der durchschauten "alte(n) Gedanken" (ebd.), war die plötzliche<br />

Loslösung von Gustavs kindlichen Ansprüchen an sie, als ihre Viererreihe die<br />

Polizeisperre zum ersten Mal passieren muß:<br />

Im Überschreiten der Schwelle muß die Frau erkennen, daß sie ihre Unterdrückung<br />

unterstützt, solange sie die Rollenzwänge als "weibliche" akzeptiert. Die Zerstörung des<br />

Muttermythos droht einerseits die Identität der Frau zu vernichten, andererseits ergeben<br />

sich durch die Sprengung des mit Zwängen behafteten Selbstbildnisses neue<br />

Möglichkeiten.<br />

Es ist vielleicht nicht zufällig, daß Anna Seghers nur andeutungsweise den Anlaß für<br />

die Massendemonstration skizziert und damit den Anlaß für das jeweils<br />

unterschiedliche Verhalten der vier Figuren ihrer Erzählung, insbesondere auch der<br />

Frau. Der Fall von Sacco und Vanzetti war für sie zunächst der wohl bekannteste<br />

politische Protest der zwanziger Jahre und spielt für die Frau wohl nur deswegen eine<br />

wichtige Rolle, weil sie im Verlauf der Demonstration anhand dieses Falles zu der<br />

Erkenntnis kommt, daß alle Justiz Klassenjustiz ist. Die Demonstration zieht zur<br />

Amerikanischen Botschaft, um die Hinrichtung der italienischen Anarchisten, Nicola<br />

Sacco und Bartholomeo Vanzetti, zu verhindern. 67<br />

machte. Die Arbeiterinnen, deren Arbeit billiger als die der Facharbeiter war, standen nun in Konkurrenz<br />

mit den Arbeitern, die gleichzeitig massenweise entlassen wurden. Vgl.: WERNER THÖNNESSEN, The<br />

Emancipation of Women. The Rise and Decline of the Women's Movement in German Social Democracy<br />

1863-1933, London and Sydney 1976, S. 143.<br />

67 Das Urteil im Sacco-und-Vanzetti-Prozeß, der zwischen 1921 und 1927 weltweites Aufsehen erregte,<br />

ist bis heute eine Streitfrage geblieben. Die Bedeutung des Prozesses wird von zwei verschiedenen


Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft 129<br />

Die Teilnahme an der Demonstration gegen Saccos und Vanzettis Hinrichtung ist das<br />

gemeinsame politische Ziel der Demonstranten. Das Interesse der Erzählung gilt jedoch<br />

den Unterschieden zwischen den vier Demonstranten, die trotz der solidarischen<br />

Handlung bestehen. KURT BATT erkennt die Funktion der Demonstration in Seghers'<br />

Erzählung darin, daß sie "nur den Anlaß für ein analytisches literarisches Experiment<br />

(bildet)", 68 welches Anna Seghers in der 1931 veröffentlichten Selbstanzeige wie folgt<br />

beschreibt: "Was geht in einer Viererreihe während einer Demonstration vor? Was<br />

begibt sich mit diesen vier verschiedenen, einander völlig fremden Menschen?" 69<br />

Die Dynamik der Erzählung ergibt sich aus dieser Sicht erst aus dem<br />

Spannungsverhältnis zwischen der geplanten Aktion der Demonstranten und ihrer<br />

Intention, sie trotz der bewaffneten Polizisten durchzuführen, die die Zugänge zur<br />

Botschaft versperren. BERNHARD GREINER, der eine semiotische Analyse dieser<br />

Erzählung aus der Sicht des Fremden aufrollt, meint, daß sich diese Spannung in zwei<br />

Zeichen, die zunächst eine binäre Opposition bilden, manifestiert:<br />

Seghers versucht Momente der Identitätsfindung und der Bewußtseinsänderung in einer<br />

Massenbewegung darzustellen. Dabei geht es ihr nicht so sehr um die Darstellung von<br />

Individuen mit bestimmbaren biografischen Daten - die Erzählfiguren besitzen z.B.<br />

keine Namen -, sondern um die Darstellung von sozial konstituierten Subjekten. Da die<br />

"Subjekte" in sprachlichen und daher sozialen Zeichen konstituiert sind, ist ihre Identität<br />

und ihr Selbstbewußtsein nur innerhalb dieser sprachlichen Konstitution möglich;<br />

Veränderungen dieses Bewußtseins können nur dort entstehen, wo die Diskrepanz<br />

zwischen einer nicht sprachlich erfahrenen Wirklichkeit und den sprachlichen Zeichen<br />

auf der Ebene des Bewußtseins erfahrbar wird.<br />

Traditionen diametral entgegengesetzt dargestellt. In der dominanten Geschichtsschreibung wird der<br />

Prozeß, falls er überhaupt erwähnt wird, als Symptom der polarisierten amerikanischen Gesellschaft der<br />

zwanziger Jahre interpretiert. Die Anklage behauptete, Sacco und Vanzetti hätten zwei Wächter der<br />

Schuhfabrik Slater und Morrill in South Braintree, Massachusetts, beim Transport von 16 000 Dollar<br />

Lohngeld beraubt und erschossen. In einer Atmosphäre amerikanischer Massenhysterie wurde das<br />

Todesurteil am 23. August 1927 gefällt. Das Urteil wurde 1977 auf Grund einer Untersuchung des<br />

Gouverneurs von Massachusetts, Michael Dukakis, widerrufen. In der Geschichte der Arbeiterbewegung<br />

wird der Prozeß anders bewertet. In einem Lebenslauf, den Bartholomeo Vanzetti im Gefängnis von<br />

Charleston schrieb, berichtet er, wie die Organisation von Streiks und Demonstrationen ihm einen Namen<br />

auf der "schwarzen Liste" der Arbeitgeber einbrachte: "Meine aktive Teilnahme am Seilerstreik machte<br />

mir eine weitere Suche nach Arbeit unmöglich. Auch wegen meines häufigen Auftretens als Redner in<br />

Arbeitsgruppen aller Art wurde es immer schwerer für mich, Beschäftigung zu finden. In einzelnen<br />

Fabriken stand ich direkt auf der `schwarzen Liste'." Vor diesem Hintergrund erscheint die Anklage des<br />

Raubmords als Vorwand der Justiz, gegen unliebsame politische Aktivisten vorzugehen. KARL<br />

ADAMEK sieht den Sinn der internationalen Proteste darin begründet, daß er "Millionen die Augen über<br />

den wahren Charakter des kapitalistischen Systems und seiner Justiz (öffnete)." Vgl.: JAQUELINE<br />

FEAR and HELEN MCNEIL, "The Twenties", in: MALCOLM BRADBURY and HOWARD<br />

TEMPERLEY (eds.), Introduction to American Studies, London and New York 1981, S. 203;<br />

MALDWYN A. JONES, The limits of Liberty. American History 1607-1980, New York 1983, S. 432;<br />

JÜRGEN THORWALD, Die gnadenlose Jagd. Roman der Kriminalistik, Stuttgart, Hamburg 1966, S.<br />

719; Der Spiegel Jg. 1977, Heft 31; KARL ADAMEK, Lieder der Arbeiterbewegung.<br />

LiederBilderLeseBuch und Gitarrenschule von Kalle Pohl, Frankfurt/M 1981, S. 184; PHILIP S. FONER<br />

(ed.), Clara Zetkin. Selected Writings, New York 1984, S. 167.<br />

68<br />

K. BATT, Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werk, Leipzig 1980, S. 57.<br />

69<br />

KURT BATT, ebd.


130 Seghers<br />

Weder die Frau noch der Fremde sind als überzeugte klassenbewußte Arbeiter<br />

gezeichnet. Während sich die Handlungen der erfahreneren Demonstranten visuell dem<br />

Gedächtnis der Zuschauer einprägen - das Lächeln des "kleinen Mannes", während er<br />

zwischen zwei Polizisten abgeführt wird und die Auslösung der Konfrontation zwischen<br />

Polizei und Demonstranten durch den "mürrischen Mann", indem er als erster den Fuß<br />

auf das "magische Dreieck" zwischen den Gegnern setzt -, sind die Beiträge des<br />

Fremden und der Frau zur Demonstration nicht unmittelbar sichtbar.<br />

Das Hauptinteresse dieser Arbeit gilt der Darstellung der Frau. GREINERS Analyse<br />

berücksichtigt nicht das besondere Verhältnis der Frau zur Sprache und zur<br />

Gesellschaft. Im Gegensatz zu GREINER hat PETER BEICKEN die zentrale<br />

Bedeutung der Erzählung darin erkannt, daß sie das Experiment der weiblichen<br />

Befreiung vom traditionellen Rollenbewußtsein darstellt:<br />

Während der Ausbruch des Fremden in den Horizont des Traumes gerückt wird und<br />

ihm der Zugang zu der politischen Dimension des Geschehens bis zu seinem Tod<br />

verschlossen bleibt, gelingt der Frau das Überschreiten der Schwelle zwischen Alltag<br />

und Geschichte. Der Ausbruch konvergiert im neuen Zeichen der revoltierenden Masse.<br />

Da das neue Zeichen aus heterogenen Komponenten zusammengesetzt ist (Verharren,<br />

Voranpreschen, Alltag, Geschichte), produziert es wieder neue Widersprüche.<br />

GREINER bezeichnet den Prozeß der Identitätsfindung als "unerschöpfliche Quadratur<br />

der Ich-Bestätigungen":<br />

Beim Fremden reicht der Riß zwischen dem Alltag und dem Anderen, dem Traum,<br />

nicht so tief wie bei der Frau. Obwohl beide der Demonstration anfangs fremd sind, ist<br />

der Fremde der Frau noch fremder als die beiden anderen Männer, mit denen sie sich<br />

"zufällig" zu Beginn der Demonstration aufgestellt hat. Über die Nicht-Beziehung sagt<br />

der Erzähldiskurs folgendes aus: "Links von ihr guckte sie überhaupt nicht hin, der war<br />

ganz fremd, wie ein Brett dazwischen." (170) Umgekehrt aber nimmt der Fremde die<br />

Frau wahr, da sie Teil des Erlebnisses der Stadt ist. Er findet aber nur eine schwache<br />

Spur seiner Wünsche in ihrem Gesicht: "In ihrem grauen, trockenen Gesicht waren zwei<br />

Mundwinkel voll Süßigkeit, sogar die gaben ihm einen Stich, weil er sich sehr mehr<br />

wünschte." (167) Er ist im Gegensatz zur Frau fähig, seine Begierde, sein "Innerstes"<br />

(wieder)zuerkennen, da es sich im Symbol der "fremden Stadt" manifestiert:<br />

In dem Maße aber, wie die Erfahrung der Massendemonstration von seinem Wunsch<br />

abweicht, muß er die Zeichen seines Traumes immer intensiver suchen, um den Traum<br />

aufrechterhalten zu können. Der Anblick der Turmstümpfe ist ein solcher Augenblick<br />

der Konfrontation mit seinem Wunsch:<br />

Diese spontane Identifikation des äußeren Zeichens, der konkreten Türme, die "wie<br />

Wächter über seinem Wunsch, über dem unerfüllbaren, verrückten Wunsch seiner<br />

Jugend, der heftigen, in Scham und Angst geheimgehaltenen Begierde, der letzten<br />

Hoffnung der letzten Jahre: allein in die Stadt zu fahren, (standen)" (161f.) mit seiner<br />

Begierde, "ganz anders zu sein" (158), ist jedoch nur scheinbar eine kausal-logische,<br />

denn sie beruht auf einer Analogie. Die Wirklichkeit der sinnlich-faßbaren Türme wird<br />

auf die Existenz der fremden Stadt, die bisher nur in seiner Vorstellungswelt existierte,<br />

und schließlich auf das eigene "innerste", wahrnehmende Ich übertragen. Daß eine


Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft 131<br />

solche Identität nur in einem ekstatischen Augenblick möglich ist, da sie den Rahmen<br />

sozialer Verhältnisse sprengt, zeigt schon der distanzierte Blick des Fremden auf die<br />

Türme:<br />

Im Gegensatz zum Fremden, der seine Begierde auf die fremde Stadt projezieren<br />

kann, bietet die Sprache der Frau scheinbar kein Raster, in das sie ihren Wunsch - "die<br />

richtige große Zeit (zu) haben, in der man frei herumläuft" (167) - einordnen könnte. Ihr<br />

Wunsch grenzt sich scheinbar rein negativ sowohl vom Alltag, als auch von den<br />

"männlichen" Gedankengebäuden ab, den "leuchtenden Gedanken[ ...], wie sie die<br />

Männer ausdenken, damit man sich daran festhalten und leben konnte." (171) Damit<br />

fällt die positiv-bestimmbare Hoffnung, wie sie etwa der Fremde in bezug auf die Stadt<br />

besitzt, weg. Das Paradox der Frau hingegen ist, daß die Sprache, mit der sie ihre<br />

Unzufriedenheit und Hoffnung artikuliert, zugleich die Sprache ihrer Unterdrückung<br />

und Geringschätzung ist.<br />

Die Befreiung der Frau fängt mit einem Denkprozeß an, in dem sie sich sowohl mit<br />

den ökonomischen Bedingungen ihrer Unterdrückung, als auch mit deren ideologischen<br />

Manifestationen auseinandersetzt. Mit diesen Überlegungen geht eine historischveränderte<br />

und historisch-verändernde Verhaltensweise einher. Was macht also die Frau<br />

dieser Erzählung? Auffallend ist zunächst die Haltung der Frau während der<br />

Demonstration:<br />

Das Nachdenken der Frau über alte Verhaltensweisen setzt eine Distanz ihnen<br />

gegenüber voraus. Diese Distanz wird durch einen Einschnitt plötzlich erzeugt:<br />

Es ist die Bereitschaft, weiterhin an dem Wunschbild ihres verstorbenen Mannes, Pauls,<br />

zu hängen, die plötzlich abbricht. Ausgehend vom Vergleich Pauls mit dem mürrischen<br />

Demonstranten, beginnt sie das Ideal einer glücklichen Ehe in Frage zu stellen:<br />

Die Korrektur des idealisierten Bildes ihres Mannes durch ein wahrscheinlicheres,<br />

das die Einflüsse des Alters und der Umstände auf menschliches Verhalten<br />

berücksichtigt, trägt pessimistische Züge. Das ließe sich dadurch erklären, daß die<br />

Beziehung zu ihrem Ehemann auch der Frau ein Ich-Ideal widerspiegelt. Die Ideale der<br />

Liebe und Opferbereitschaft der Frau in der Ehe sind in dem bürgerlichen Konzept des<br />

privaten und freien Ehebundes begründet. Damit verdeckt dieses Liebesideal zugleich<br />

die soziale Funktion der Institutionen der bürgerlichen Ehe und Familie. In dem Sinne<br />

erkennt die Frau das Ich-Ideal nicht als ein sozial konstituiertes. Sie spürt allerdings,<br />

wie die Stabilität dieses Ideals vom schwankenden Verhalten des Anderen (der realen<br />

Liebesobjekte also) bedroht wird. Indem die Frau in den negativen Zügen ihres<br />

Nachbarn ("mürrisch", "grämlich" und "steintrocken") die Eigenschaften Pauls<br />

wiedererkennt, beginnt sie auch negative Eigenschaften an sich selbst wahrzunehmen.<br />

Damit fängt sie an, an ihrer "weiblichen" Wertordnung zu zweifeln, die sie bisher als<br />

abhängig vom Mann definierte. Wie schwer es ist, ohne diese Stütze zu leben, zeigt ihre<br />

Gestik: "Alles hing sich an ihr herunter vor Nachdenken, ihr Kiefer, ihre Schultern, ihr<br />

Bauch, ausgebeutelt zur Strafe, weil so oft was drin war." (160) So hart und<br />

entmutigend das Urteil über ihre Lage auch erscheinen mag, enthält die Entidealisierung<br />

des (klein)bürgerlichen Alltags doch auch den Kern eines neuen Selbstbewußtseins.


132 Seghers<br />

Am Anfang steht die intellektuelle Abhängigkeit von den beiden Männern. Sie<br />

bilden zunächst den einzigen Zugang zum politischen Geschehen. So unterbricht sie<br />

ihre Reflexionen nur, um "angestrengt zu verstehen", daß sie die politischen<br />

Zusammenhänge besser überblicken können, da sie sich seit je aktiv am politischen<br />

Leben beteiligten. Im Gegensatz dazu besagt das Vorurteil über die Frau, daß ihr<br />

"eigentlicher" Ort zu Hause sei. Es steht ihr nicht zu, politische Entscheidungen zu<br />

fällen. Solange die Frau aufgrund ihrer Erziehung und Tätigkeit praktisch am<br />

politischen Leben nicht teilnehmen kann, muß ihr das Interesse, die Erfahrung und das<br />

Wissen über politische Vorgänge verschlossen bleiben. Auch dort, wo sie als Arbeiterin<br />

aus dem privaten Bereich der Familie in den öffentlichen der Arbeit eintritt, muß sie<br />

ihre bisherige Unterlegenheit zunächst erkennen. Daher ist die Scheu der Frau, die<br />

Männer zu fragen verständlich, denn das Fragen setzt ja bereits ein Verständnis des<br />

Gegenstands voraus, den diese Frau noch nicht besitzt. Was würde ihr eine Antwort<br />

nützen, die sie weder verstehen noch kritisieren kann?<br />

Auch wenn aber die Scham der Frau zu fragen verständlich ist, wirkt sie auf den/die<br />

Leser/in irritierend, denn sie führt zur Perpetuierung der Minderwertigkeit und<br />

Ausgeschlossenheit der Frau. "So geht es einem, wenn man sich schämt zu fragen,"<br />

lautet der Selbstvorwurf der Frau. Diese Einsicht enthält doch den Ansatz eines<br />

politischen Bewußtseinsprozesses; die bestehende Ordnung wird nicht mehr als einzig<br />

richtige, natürliche, unschuldige angesehen, sondern fordert eine politische<br />

Entscheidung heraus, die sich in dieser Erzählung als Stellungnahme für die Unschuld<br />

Saccos und Vanzettis äußert. Durch die Teilnahme an dem Massenzug setzt die Frau ein<br />

Zeichen für den Widerstand gegen die Klassengesellschaft.<br />

Die Unterdrückung der arbeitenden Frau im Kapitalismus trägt ihr eigentümliche<br />

Merkmale im Vergleich mit der Unterdrückung des Arbeiters. Die historisch<br />

spezifischen Merkmale der Unterdrückung der Arbeiterfrau liegen darin, daß ihr<br />

Zugang zum Produktionsprozeß kein kontinuierlicher ist. Demnach kann die Frau sich<br />

auch auf keine Tradition des Widerstands gegen ihre Unterdrückung berufen, wie der<br />

Arbeiter auf die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Das hängt mit ihrer<br />

Verwertung im kapitalistischen Arbeitsprozeß als Teil einer beliebig exploitierbaren<br />

Arbeiter- bzw. Reservearmee zusammen. 70 Ein mögliches, positives Element der<br />

industriellen Revolution ist allerdings die Verselbstäridigung der früher<br />

Unselbständigen, also der Frauen und Kinder. Diese Verselbständigung wird durch den<br />

Austausch der Produkte der eigenen Arbeit als Ware ermöglicht. 71 Diese<br />

70<br />

MARX beschreibt diese Tendenz des Kapitals folgendermaßen: "Sofern die Maschinerie Muskelkraft<br />

entbehrlich macht, wird sie zum Mittel, Arbeiter ohne Muskelkraft oder von unreifer Körperentwicklung,<br />

aber größerer Geschmeidigkeit der Glieder anzuwenden. Weiber- und Kinderarbeit war daher das erste<br />

Wort der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie! Dies gewaltige Ersatzmittel von Arbeit und<br />

Arbeitern verwandelte sich damit sofort in ein Mittel, die Zahl der Lohnarbeiter zu vermehren durch<br />

Einrollierung aller Mitglieder der Arbeiterfamilie, ohne Unterschied von Geschlecht und Alter, unter die<br />

unmittelbare Botmäßigkeit des Kapitals." KARL MARX, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie.<br />

Band 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1969, S. 353.<br />

71<br />

Vgl. dazu: "Dort, wo die physiologische Teilung der Arbeit den Ausgangspunkt bildet, lösen sich die<br />

besondren Organe eines unmittelbar zusammengehörigen Ganzen voneinander ab, zersetzen sich, zu<br />

welchem Zersetzungsprozeß der Warenaustausch mit fremden Gemeinwesen den Hauptanstoß gibt, und


Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft 133<br />

Verselbständigung bedeutet einerseits die Befreiung aus der Vormundschaft des<br />

patriarchalischen Familienhaupts, andererseits erzwingt der Kontrakt zwischen dem<br />

Käufer der Arbeit und seinem/seiner Verkäufer/in neue Abhängigkeitsverhältnisse unter<br />

den Arbeitern. Die Ursache liegt darin, daß die Beschäftigung aller Glieder der Familie<br />

den Wert der individuellen, männlichen Arbeitskraft senkt. 72 Die Verwendung<br />

halbmündiger und unmündiger Frauen- und Kinderarbeit nimmt dem Arbeitskontrakt<br />

den Schein der Freiheit, indem der Arbeiter nun nicht nur über die eigene Arbeit<br />

verfügt, sondern sich genötigt sieht, die Arbeit seiner Frau und seiner Kinder zu<br />

verkaufen. 73<br />

Aus ihrer spezifischen Position heraus, die sie von der bürgerlichen Frau<br />

unterscheidet, muß die Arbeiterfrau eine doppelte Strategie der Emanzipation<br />

entwickeln: Einerseits gegen ihre Ausbeutung als Hausfrau, Mutter und Ehefrau,<br />

andererseits gegen ihre ökonomische Ausbeutung als Teil der industriellen<br />

Reservearmee, die zwecks billiger Arbeitskraft "in Zeiten großer Prosperität [...] rasch<br />

und massenhaft in die aktive Arbeiterarmee einrolliert" 74 werden kann. Die Erzählung<br />

scheint die Möglichkeit einer lebbaren Alternative im Kollektiv anzusiedeln. So ist das<br />

letzte, was der/die Leser/in über die Demonstration erfährt, statt einer politischen<br />

Analyse ihrer Wirksamkeit, in dem folgenden Bild verdichtet:<br />

Dieses Bild der Verschmelzung der Frau mit der unterdrückten Masse enthält ein<br />

neues Problem. Das Verhältnis der Frau zur Masse ist hier passiv; sie wird<br />

herumgerissen, als sie meint, daß die Demonstration vorüber sei, und wird schließlich in<br />

den Platz geknetet und gegen das Gitter gepreßt, so daß sie ihren Körper nicht mehr aus<br />

der Masse herausfinden kann. Hat sie vorher der drohende Verlust der alten Identität<br />

mit Spannung erfüllt und sie schließlich zur bewußten Entscheidung für die ihr neue<br />

politische Verhaltensweise bewegt, so findet hier eine grundlegende Auflösung der<br />

verselbständigen sich bis zu dem Punkt, wo der Zusammenhang der verschiednen Arbeiten durch den<br />

Austausch der Produkte als Waren vermittelt wird. Es ist in dem einen Fall Verunselbständigung der<br />

früher Selbständigen, in dem andern Verselbständigung der früher Unselbständigen." MARX [Anm.9], S.<br />

313.<br />

72<br />

"Vgl. hierzu: "Der Wert der Arbeitskraft war bestimmt nicht nur durch die zur Erhaltung des<br />

individuellen erwachsnen Arbeiters, sondern durch die zur Erhaltung der Arbeiterfamilie nötige<br />

Arbeitszeit. Indem die Maschinerie alle Glieder der Arbeiterfamilie auf den Arbeitsmarkt wirft, verteilt<br />

sie den Wert der Arbeitskraft des Mannes über seine ganze Familie. Sie entwertet daher seine<br />

Arbeitskraft. Der Ankauf der in 4 Arbeitskräfte z.B. parzellierten Familie kostet vielleicht mehr als früher<br />

der Ankauf der Arbeitskraft des Familienhaupts, aber dafür treten 4 Arbeitstage an die Stelle von einem,<br />

und ihr Preis fällt im Verhältnis zum ‚Überschuß der Mehrarbeit der vier über die Mehrarbeit des einen.<br />

Vier müssen nun nicht nur Arbeit, sondern Mehrarbeit für das Kapital liefern, damit eine Familie lebe. So<br />

erweitert die Maschinerie von vornherein mit dem menschlichen Exploitationsmaterial, dem eigensten<br />

Ausbeutungsfeld des Kapitals, zugleich den Exploitationsgrad." MARX [Anm.9], S. 353f.<br />

73<br />

Vgl. auch: "Sie (die Maschinerie) revolutioniert ebenso von Grund aus die formelle Vermittlung des<br />

Kapitalverhältnisses, den Kontrakt zwischen Arbeiter und Kapitalist. Auf Grundlage des<br />

Warenaustauschs war es erste Voraussetzung, daß sich Kapitalist und Arbeiter als freie Personen, als<br />

unabhängige Warenbesitzer, der eine Besitzer von Geld und Produktionsmitteln, der andere Besitzer von<br />

Arbeitskraft, gegenübertraten. Aber jetzt kauft das Kapital Unmündige oder Halbmündige. Der Arbeiter<br />

verkaufte früher seine eigne Arbeitskraft, worüber er als formell freie Person verfügte. Er verkauft jetzt<br />

Weib und Kind. Er wird Sklavenhändler." MARX [Anm.9], S. 354.<br />

74<br />

Ebd., S. 593.


134 Seghers<br />

Körperwahrnehmung statt, die die Grundlage der Identität bildet. Diese passive<br />

Auflösung der Identität scheint ihre soeben gewonnene Unabhängigkeit von dem<br />

"mürrischen Mann" wieder aufzuheben. Die Körpergrenzen der Frau verschieben sich<br />

und gehen in die Grenzen des Kollektivs über. Damit werden allerdings die Probleme<br />

der Frau und die Energie, die sie für ihre Bewältigung aufbringen muß, zur Sache der<br />

Masse. Diese Identifizierung mit der Masse ist jedoch auch ein ekstatischer Moment,<br />

der die realen Gesellschaftsverhältnisse plötzlich aufreißt, sie aber nicht in ihren<br />

Ursachen ändert. GREINER sieht in diesem Augenblick das<br />

Obwohl das Bild der rufenden Masse das Moment einer utopischen anarchischen<br />

Gegengesellschaft enthält, in der der Einzelne Schutz findet, stellt sich die Frage, wie<br />

das Leben eines Einzelnen zur Sache der Masse werden kann. Wenn das Aufgehen in<br />

der Masse nicht die endgültige Lösung ist, bis zu welchem Punkt hat die Erzählung<br />

dann die Arbeiterfrau geführt? Die Arbeiterfrau lebt nicht in zwei getrennten Welten:<br />

einerseits als Hausfrau in einer seit Jahrtausenden unveränderten patriarchalen<br />

Gesellschaft und andererseits in der modernen, kapitalistischen Klassengesellschaft,<br />

sondern im Schnittpunkt der beiden Systeme. Veränderungen in einem System, wie z.B.<br />

die Zerstörung des Kapitalismus durch die sozialistische Revolution, bringen nicht<br />

unbedingt Veränderungen auf dem Gebiet der patriarchalen Herrschaft mit sich, da die<br />

Nutznießer der jeweiligen Systeme nicht identisch sind. Da die Unterdrückung der Frau<br />

keine statische ist, sondern in jeweils verschiedenen historischen Situationen neue<br />

Dimensionen oder eine neue Konstellation der alten Elemente erhält, muß auch die<br />

feministische Auseinandersetzung flexibel für die historischen Verschiebungen sein.<br />

Angesichts der sozio-historischen Position der proletarischen Frauenbewegung und des<br />

marxistisch-humanistischen Diskurses zu Beginn des Jahrhunderts, die sich stark mit<br />

dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft identifizierten, sind die Handlung und<br />

die Darstellung der Frau in Seghers Erzählung als progressiv zu werten. Andererseits<br />

wird nur soviel sichtbar, wie der marxistisch-humanistische Diskurs "sehen" kann, ohne<br />

seine Präsuppositionen aufzulösen. Demnach registriert der Diskurs die Auflösung des<br />

bürgerlichen Subjekts in oktroyierte Rollen und das befreiende Potential des<br />

solidarischen Widerstands, "sieht" aber nicht das Interesse, das selbst der Arbeiter an<br />

der Unterdrückung der Frau hat. Seghers, die sich als Frau diesen Diskurs aneignet,<br />

gerät somit in ein Dilemma. Sie kennt einerseits die spezifische Erfahrung der<br />

Unterdrückung der Frau, darf/kann andererseits als Mitglied der Kommunistischen<br />

Partei und des proletarischen Schriftstellerbundes nicht den Kode der Partei brechen,<br />

ohne aus der Partei, für die sie sich entschieden hatte, ausgeschlossen zu werden.<br />

Deshalb ist die "Lösung" der Erzählung zumindest ambivalent, denn sie geht nicht<br />

lückenlos aus dem vorher Geschilderten hervor. Die sich in eine Kette fügenden und<br />

stemmenden Körper können entweder als Neutralisierung des sozial konstituierten<br />

sexuellen Unterschiedes gelesen werden, oder sie können, wie im Bild der schreienden,<br />

polymorphen Masse zum Schluß der Erzählung als Sprengung des hierarchischen<br />

Geschlechtunterschiedes verstanden werden.


“Poesie heißt nämlich nichts anderes als Schöpfung durch<br />

Verlust” 75<br />

Die ‘chaotische’ Zirkulation der Zeichen in Uwe Timms Roman Kopfjäger.<br />

Bericht aus dem Inneren des Landes<br />

<strong>Anette</strong> und Peter <strong>Horn</strong><br />

Es kann zweifellos vorkommen, daß die Kunst durch die Reflexion erleuchtet wird,<br />

aber die Reflexion ist kein wesentliches Moment der Kunst, denn die Kunst kann<br />

auch ohne sie existieren. Auch gibt es nicht eine einzige Kunst, in der alles<br />

reflektiert wird. (Durkheim 1972: 59f in Bourdieu 1979: 206).<br />

“Sicher ist nur der Tod” (205). Gegen diese “sichere” Zukunft heißt es sich zu<br />

versichern: man erzählt sich zum Beispiel Geschichten, um den Tod, das endgültige<br />

Ende hinauszuzögern, das ein mächtiger Sultan jederzeit vollstrecken könnte: Tausend<br />

und Eine Nacht lang. Man erzählt sich Geschichten, während man auf den Tod wartet,<br />

der draußen als Pest die Menschen zu Tausenden dahinrafft. Man erzählt sich<br />

Geschichten, während man darauf wartet, daß die Französische Revolution vorübergeht,<br />

und daß man auf seine Güter zurückkehren kann. Und man erzählt Kunden<br />

Geschichten, damit sie das Geld noch nicht abheben, das auf der Bank gar nicht mehr<br />

vorhanden ist. Man vertreibt sich die “kurze” Zeit bis zum Tode, indem man sich die<br />

Zeit “lang” macht, denn wie soll man sonst mit der Zeit umgehen, die man fürs bloße<br />

Überleben nicht braucht? Das Ende ist immer “sicher”: der Entropie 76 der eigenen<br />

Existenz kann man ebensowenig entfliehen wie der des Universums. Aber Leben ist<br />

eben jener Vorgang, der Entropie kleinräumig umkehrt, der Ordnungen schafft, und der<br />

schließlich die Ordnung der Erzählung schafft.<br />

Geschichtenerzählen ist die Anstrengung der Unordnung des Universums eine<br />

Ordnung entgegenzusetzen, eine Anti-Entropie. Die Erinnerung der Bewohner der<br />

Osterinsel wird auf Tafeln, Rongorongo genannt, in die Bildzeichen eingraviert sind,<br />

transportiert. Sie wurden während eines Rituals von einem Schamanen vorgelesen, der<br />

ein Tanzpaddel in der Hand hielt, mit dem er sich und seine Zuhörer durch Zeit und<br />

Raum der Vergangenheit bewegte: “Die Anstrengung der Erinnerung, die Bewegung<br />

des Gesangs — darum auch das Tanzpaddel, mit dem sich die Sänger durch Zeit und<br />

Raum bewegten”. (295f.)<br />

Mit Hilfe von Geschichten spannen wir ein immer neues Netz zwischen Gegenwart,<br />

Vergangenheit und Zukunft. Diejenigen, die glauben, Reden sei nicht gleich Essen —<br />

“Singen ist nicht tauschfähig, Singen ist nicht gebrauchsfähig, singen heißt sich selbst<br />

zum Hungertod verurteilen” — übersehen, daß das Weltreich der IBM das absolute<br />

75 Bataille 1985: 15<br />

76 Boltzmann hatte 1877 Entropie als statistisches Maß der Unordnung interpretiert. Claude Shannon<br />

definierte Information mit einer mathematischen Formel, die der Boltzmannschen Gleichung für Entropie<br />

sehr ähnlich sah. (Shannon 1948, 1949)


136 Timm<br />

Reich der Relationen hergestellt hat und daß das das Ende der Substanz ist: Wir<br />

ernähren uns seither nur noch von Relationen. Wir trinken nur noch Wellen. ((Serres<br />

1981: 149)<br />

Timms Roman Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes durchbricht den<br />

Rahmen des linearen Erzählens, in dem Ursache und Wirkung, Schuld und Sühne<br />

monokausal verknüpft sind. Der Roman hat keinen Anfang und kein Ende, sondern<br />

besteht aus nicht-geschlossenen Kreisläufen, die zusammen eine komplexe Struktur<br />

ergeben, in der Inkongruität und Chaos das ordnende Prinzip bilden. 77 Durch die<br />

Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kreisläufen knüpfen sich unvorhergesehene<br />

Verbindungen: zwischen Finanzgeschäften und Chaostheorie, 78 Geld und Begehren,<br />

Erzählen und Kannibalismus. 79 Der gemeinsame Nenner dieser scheinbar unvereinbaren<br />

Bereiche ist der Versuch, das Zufällige und Unvorhersehbare einzudämmen und<br />

beherrschbar zu machen. Für Michel Serres ist die Geschichte der exemplarische Ort<br />

solcher nicht-linearer (“chaotischer”) Prozesse: “Die Geschichte ist der Ort der<br />

zureichenden Ursachen ohne Wirkung, der gewaltigen Wirkungen aus unbedeutenden<br />

Gründen, der starken Folgen aus schwachen Ursachen, der strikten Effekte aus<br />

zufälligen Gründen” ((Serres 1981: 38).<br />

Wie Peter Walter, der Erzähler in Uwe Timms Roman, in Südamerika erfährt, reicht<br />

zum Erzählen schon eine Gruppe von Zuhörern und ein zusammengeknoteter Faden,<br />

der bei jedem Wurf ein anderes Muster ergibt. Der Erzähler muß sich zu dieser<br />

zufälligen Struktur eine Geschichte einfallen lassen. Die gleichbleibende Länge des<br />

Fadens produziert eine chaotische Vielfalt an Mustern. 80 Ebenso ist es mit dem<br />

77 Wenn Bild über eine wissenschaftliche Theorie berichtet und der Spiegel der Chaos-Theorie eine<br />

Titelgeschichte widmet, dann kann man von einer erfolgreichen wissenschaftlichen Mode sprechen: “Bild<br />

meldete 1992 sogar, daß wahrscheinlich ‘Gott Chaos’ statt der Naturgesetze ‘regiere’. Chaos wird<br />

konsumiert, und zwar geradezu gierig.” (Brügge 1993: 156f.) Aus dem Spiegel: „Sie identifizieren die<br />

Macht des Chaos in Wirbelstürmen oder in Börsenkrächen.” (156) Uwe Timm behandelt die Theorie<br />

dann auch mit ironischer Distanz. Zur Verbindung von Erzähltheorie und Chaostheorie vgl. z.B. Clarke<br />

1991: 86-93; Brady 1990: 65-79; Argyros 1992: 659-675; Hayles 1989: 305-322.<br />

78 Zur Verbindung zwischen ökonomischer Theorie und Chaostheorie vgl.Berreby 1993: 76-84 und<br />

Gleick 1987: 83ff<br />

79 Ein Miru-Krieger, der den Körper eines Kriegers mit einem wohlklingenden Namen zur Verspeisung<br />

wünscht: “Gefährten, gebt mir den Körper des Kriegers mit dem so schönen Namen! Ich möchte ihn<br />

verzehren, denn sein Name klingt meinem Ohr so süß!”(152)<br />

80 Chaostheorie ist ein irreführender Begriff. In allen Disziplinen, in denen dieser Begriff Mode geworden<br />

ist, geht es eigentlich um eine nicht vorhersagbare Komplexität, aber auch um die komplexen<br />

Ordnungsstrukturen in diesem “Chaos”. Vgl. Gleick 1987: 4ff. “Physikalisch gehört das Thema Chaos<br />

vorwiegend in das schwierige Kapitel ‘nichtlineare Dynamik’. [...] Vielmehr vermag sich dabei mit der<br />

Zeit - oft in unvorstellbar kurzer Zeit - etwas zu entfalten, das mehr und qualitativ etwas ganz anderes<br />

ergibt als die Summe seiner Teile. Bei nichtlinearer Dynamik hängen Wirkungen nicht gradlinig von den<br />

Ursachen ab, sie beeinflussen sogar rückkoppelnd die Ursachen. Das kann zu drastisch sich selbst<br />

verstärkenden Prozessen führen. In der Natur funktioniert so alles, was sich unter Energieverzehr aufbaut,<br />

bewegt, ausdehnt, fortpflanzt, gemeinsam höher organisiert oder aufeinander Jagd macht. Galaxien,<br />

Ameisenvölker, Industriegesellschaften, Zellkulturen, Embryos sowie nukleares Feuer - das sind samt<br />

und sonders Beispiele für die Dynamik des Nichtlinearen.” (Brügge 1993: 157) „ Bild meldete 1992<br />

sogar, daß wahrscheinlich ‘Gott Chaos’ statt der Naturgesetze ‘regiere' .Chaos wird konsumiert,<br />

und zwar geradezu gierig.” (156f.) „Denn die durch Computer zu schier unbegrenzten<br />

Rechenmanövern befähigte Wissenschaft findet im Chaos jetzt eben diese unverhoffte Verwandschaft zur


Kopfjäger 137<br />

Erzählen: trotz bestimmter Konventionen kann die Erzählung immer wieder neue<br />

unvorhersehbare Kombinationen hervorrufen. Gerade das Chaos im Regelsystem 81<br />

fasziniert Walter. Er schreibt:<br />

Ein Faden wird zusammengeknotet und auf den Boden geworfen, sodann wird aus dem Muster -<br />

und die Muster können unendlich sein, obwohl der Umkreis des Fadens nur endlich ist (o<br />

wunderschönes Chaos), nämlich ungefähr einen halben Meter - eine Geschichte erzählt, eine<br />

Geschichte, die man sich einfallen läßt, eine Geschichte, die von realen Gegebenheiten inspiriert<br />

sein kann oder aber ganz frei erfunden ist, die aber immer eine andere Begebenheit schafft, ein<br />

neues Geschehen, zufällig wie das Muster, und doch steckt darin eine Ordnung, eben die der<br />

permanenten Unordnung, eine Geschichte, die endlich und unendlich zugleich ist. Sie ist einmalig<br />

und gehört doch allen. (238f.)<br />

Zusammen mit Dembrowski, einem DDR-Flüchtling, ist Peter Walter Inhaber der<br />

Brokerfirma Sekuritas. Um seine Kunden von den Vorteilen der Kapitalanlage in<br />

Warentermingeschäften zu überreden, erfindet er Geschichten. Man könnte sagen, daß<br />

Walter durch Geschichten zu seinem Vermögen gekommen ist. Geschichten nämlich<br />

verkaufen sich — nicht so sehr die Geschichten, die der Onkel Walters schreibt, und mit<br />

denen er mehr recht als schlecht sein Leben verdient, als vielmehr die Geschichten, die<br />

unmittelbar die Handlungen anderer Menschen beeinflussen: “Jede Gesellschaft hält<br />

eine Sprachmünze im Umlauf, die man zum Nutzen des Magens eintauschen kann.”<br />

((Serres 1981: 57)<br />

Walter erzählt seinen Kunden Geschichten, um zu verhindern, daß sie ihr Geld zu<br />

früh abheben, ähnlich wie ein Romancier, der immer noch mehr Episoden einschaltet,<br />

Struktur, zu Rhythmus und Gestalt. Sie meint, zeigen zu können, daß es sich dabei um ein irgendwie<br />

immer weiter reguläres Ausflippen, Wirbeln und Toben handelt, etwas, das sich aber dem Naturgesetz<br />

und seinen Formzwängen nicht wirklich entwindet. Darum gibt sie ihm den paradox anmutenden Namen<br />

‘deterministisches Chaos’ und meint damit ‘regelrechte Unberechenbarkeit’ oder auch ‘unberechenbare<br />

Ordnung’." (Spiegel 157f.) „ wozu Materie sich unter der Einwirkung und Umwandlung von Energie mit<br />

der Zeit wie von selbst organisiert: Muster entstehen, Wirbel, in sich rückgekoppelte Prozesse und eben<br />

die sich verstärkende Erzeugung von Stoffen, Botenstoffen, zellularen Metamorphosen. Alle überhaupt<br />

aus der Materie aufkeimenden Ordnungen und Systeme, das ist Prigogines Botschaft, sind ‘dissipativ’,<br />

das heißt, mit Energieverlust verbunden. Indem sie also ständig von Energiezufuhr abhängen, entstehen<br />

unumkehrbare Prozesse. Die Ordnungen wandeln sich um und verknüpfen sich zu immer Komplexerem.<br />

Das alles ergibt, sagt Prigogine, die einzige gemeinsame Richtung der Zeit für Natur- wie<br />

Kulturgeschichte, den ‘Zeitpfeil’ in Richtung einer höchstens bis zum Tellerrand berechenbaren Zukunft.<br />

Sie bleibe deshalb so wenig berechenbar, weil im nichtlinearen Zusammenwirken all der im Grunde<br />

voraussehbaren Ordnungsfähigkeiten von Materie sich nie wieder völlig das gleiche ereignet; weil die<br />

labile Regelmäßigkeit von Schwingungen irgendwann erratisch ausarten und daraus völlig Neues<br />

erwachsen kann.” (160) „ Immer kleinere Gabelungen sehen den größeren gleich, aus denen sie<br />

hervorgehen. In dem Ganzen herrscht folglich ‘Selbstähnlichkeit’, ein von der Chaosforschung überaus<br />

wichtig genommenes Merkmal nichtlinearer Ordnung.” (162) Schmetterlingseffekt (Lorenz): der<br />

Flügelschlag eines Insekts kann weit entfernt einen Wirbelsturm verursachen. Der Schmetterlingseffekt<br />

wirft jedoch die Frage auf, inwiefern die Chaosbilder aus dem Computer nicht das Produkt numerischer<br />

Ungenauigkeiten sind, denn, was wir in den Computer eingeben, wird immer auch das Ergebnis<br />

beeinflussen.<br />

81 “Beyond a certain point … periodicity gives way to chaos, fluctuations that never settle down at all …<br />

Yet in the middle of this complexity, stable cycles successfully return.” (Gleick 1987: 73). Argyros macht<br />

darauf aufmerksam, daß “narrative [...] allows for the nesting of causal frames within each other in a<br />

structure which Douglas Hofstadter describes as strange loops or tangled levels. (Vgl. Hofstadter 1979)


138 Timm<br />

um das Ende hinauszuzögern und die Spannung des Lesers zu erhöhen. (237) Diese<br />

fiktive Ursache hat reale Folgen, denn die Kunden setzen immer mehr Geld aufs Spiel,<br />

während Walters Vermögen wächst. Die Börse scheint die Grenze zwischen Fiktion und<br />

Realität zu verwischen und die Kunden kommen ihr durch ihre eigene Unfähigkeit zu<br />

unterscheiden entgegen. Der Börsenmakler verkörpert somit den Prototyp des<br />

postmodernen Menschen, indem er alles in Zeichen (Geld) auflöst 82 und in die<br />

allgemeine Zirkulation fließen läßt, er ist der moderne Wundermann der wunderbaren<br />

Geldvermehrung:<br />

Eben dieses Wunder macht die Leute gläubig. Man arbeitet und bekommt dafür Geld, das ist das<br />

Normale. Aber Geld zu haben, nichts zu tun und mehr Geld zu bekommen, einfach weil man das<br />

Geld mit der Zeit ins Spiel bringt, das ist das Wunder, an diesem Wunder will jeder teilnehmen.<br />

Hat man je ein Fünfmarkstück arbeiten sehen? Kann ein Hundertmarkschein hecken? Natürlich —<br />

und man kann dieses natürlich gar nicht genug hervorheben — nicht [...]. Und doch vermehrt sich<br />

das Geld. Das ist die Basis, von der aus alles zu verstehen ist. (318)<br />

Diesem Wunder entspricht negativ das “schwarze Loch”, in dem das Geld genau so<br />

schnell verschwinden kann, wie es an der Börse scheinbar entsteht. Seinem ersten<br />

Kunden, Fischfritze, erzählt Peter Walter die Geschichte von seinem fiktiven<br />

Großonkel, der eine kleine Werft besaß. Während einer Skatrunde in seinem luxuriöses<br />

Landhaus wurde er Zeuge eines “Naturschauspiels”: er verlor buchstäblich den Boden<br />

unter seinen Füßen, denn das Haus versank in einer Kaverne. Wegen zu geringer<br />

Kapitalrücklagen stand er damit vor dem finanziellen Ruin. Walter schildert die<br />

Katastrophe als ästhetisches Ereignis:<br />

Da reißt die Wand, knisternd knackend, ein Riß über die breite Livingmauer, die kostbaren Bilder<br />

fallen von der Wand, die Decke knackt, eine Zimmerecke verschiebt sich, der mit Marmor<br />

ausgelegte Fußboden senkt sich langsam, der Tisch kommt ins Rutschen, die Sessel, die drei<br />

stürzen raus — und werden Zeugen eines einmaligen Naturschauspiels: Das Haus verschwindet in<br />

einer Kaverne, es wird von den nach unten stürzenden, sich nachschiebenden Erdmassen<br />

regelrecht begraben, darüber rieselt noch die aufgetragene Blumenerde aus dem Garten und etwas<br />

Zierkies.<br />

Das schwarze Loch, eine Singularität, die die Ordnung verschlingt, ist eine der zentralen<br />

Metaphern des Buchs:<br />

Dort, wo das Haus stand und in geringer Entfernung jetzt die drei stehen, in Hemden und Hosen,<br />

barfuß, die Skatkarten in den Händen, ist nichts mehr zu sehen als eine tiefe Mulde, nichts, kein<br />

Stein, kein Eisenträger, nichts deutet mehr daraufhin, daß hier einmal ein wunderschönes weißes<br />

Haus gestanden hat, mit Steuerhilfe gebaut, die Werften wurden damals ja kräftig subventioniert,<br />

geschmackvoll gekachelt, gefliest, die hochmoderne Küche, das wunderschöne Bad (lindgrün), die<br />

echten alten Möbel, die teuren Teppiche, die wertvollen Bilder, das alles wurde - und es ist die<br />

reine Wahrheit - am Tage Christi Himmelfahrt vom Erdboden verschluckt. (70ff.)<br />

82 “Fredkin believes that the fundamental structure of both matter and energy can be reduced to flows of<br />

information. To Fredkin the world is quite literally a text, a physical embodiment of information<br />

markers.[...] Across a wide spectrum of disciplines, information is emerging as the synthesizing concept<br />

that changes how we see the world.” (Hayes 1989: 305)


Kopfjäger 139<br />

Walter verschweigt dem Fischkaufmann allerdings, daß das Geld gerade auf der Börse<br />

nicht vor solchen schwarzen Löcher gesichert ist. Auch dort verschwindet Geld, “wohin<br />

täglich hundert Millionen verschwinden, es ist in den irrwitzigen, nicht vorhersehbaren<br />

unvergleichlichen Mahlstrom des Kapitalflusses gekommen, sozusagen in das Chaos<br />

eingegangen, verschwunden in den schwarzen Löchern des Kapitalmarkts, und doch<br />

bleibt das Geld, nach dem Gesetz der Energie, erhalten.” (81)<br />

Ein Risiko, die Naturkatastrophe, wird gegen ein anderes, den Börsensturz,<br />

aufgewogen. Walter nutzt die Ängste und Wünsche des Kaufmanns und seiner Frau<br />

geschickt aus und wendet sie zu seinem Vorteil. Die Anspielungen auf die Lage des<br />

Kaufmanns, z.B. die auf die geschmackvolle Einrichtung, die wohl an die Frau gerichtet<br />

ist, verfehlen ihre Wirkung nicht: Der Kaufmann steigt mit einem Einsatz von DM<br />

50.000 in das Warentermingeschäft ein. Im Gegensatz zum Autor bietet Walter nämlich<br />

eine praktische Lösung für die Not des fiktiven Onkels an: Wenn man verliert, muß man<br />

noch mehr aufs Spiel setzen. Wer bei diesem Hasardspiel nach einem Verlust aufgibt,<br />

hat wirklich verloren, wer noch einmal alles aufs Spiel setzt, hat zumindest eine Chance<br />

zu gewinnen.<br />

Einige Kunden lassen sich mit dem Köder des noch größeren Gewinns fangen,<br />

andere hingegen fordern die Auszahlung. 83 Sie sind die schlechten Spieler, die meistens<br />

nur mit kleinen Einsätzen spielen, aber ein großes destruktives Potential haben. Sie<br />

verstehen weder den Sinn noch die Regeln des Spiels, das zu Teilgewinnen, Verlusten<br />

und immer größeren Einsätzen führt. Wegen eines solchen kleinen Anlegers macht<br />

Walters Brokerfirma schließlich bankrott, und er wird der Wirtschaftskriminalität<br />

überführt.<br />

Diese “Spielverderber” verhalten sich wie die Europäer bei ihrer ersten Begegnung<br />

mit den Menschen der Osterinsel, die die Regeln des Warentauschs mißverstehen, so<br />

wie er bei den Insulanern üblich war:<br />

Die Insulaner waren ausgelassen und freundlich, zugleich aber auch gezielt unehrlich mit viel<br />

Spaß und Frechheit. Die Körbe mit den süßlichen Kartoffeln, die sie zum Tausch anboten, waren<br />

unten mit Steinen gefüllt, und sie stahlen die bereits getauschten Waren, um sie ein zweites Mal<br />

anzubieten. Diese kleinen Gaunereien liefen nicht immer gefahrlos für sie aus: ein erregter Offizier<br />

gab einen Flintenschuß auf einen Eingeborenen ab, der ihm einen Beutel gestohlen hatte. Die<br />

ängstlichen Frauen verschenkten ihre Gunst gegen geringe Gaben ‘Im Schatten, den die riesigen<br />

Statuen warfen’.(32)<br />

Walter versucht, anhand dieses Beispiels, den Diebstahl als eine Art Tausch zu<br />

interpretieren. Gerade die Interpretation des Diebstahls als geheimen Tausch<br />

akzeptieren die Europäer aber nicht, da sie die “Gunst” der Frauen nicht als legitimes<br />

Tauschobjekt anerkennen. Der Frauentausch gegen materielle Güter gilt als Zeichen<br />

einer primitiven Kultur und der Tauschakt erscheint in der europäischen Kultur als die<br />

freiwillige Hingabe der Frau: die Frau gibt scheinbar ihren Körper “umsonst”. Nach der<br />

83 “Es war keiner der Anleger, die Hunderttausende verloren hatten, nicht einmal der<br />

Fischkonservenfabrikant, der zuletzt 1.900000 gelassen hatte, nein, es war ein Anleger mit dem<br />

kümmerlichen Einsatz von 30.000 Mark, der aber als einziger seit langer Zeit einen kräftigen Zugewinn<br />

hatte, 70.000, und das Geld jetzt hatte abheben wollen.” (37)


140 Timm<br />

Tauschlogik der Insulaner, die noch verstehen, daß auch Frauen Güter im<br />

Tauschverkehr sind, stehlen die Europäer daher die Gunst der Frauen.<br />

“Das Spiel mit der Regel [ist] Teil der Regel des Spiels” (Bourdieu 1979: 206), vor<br />

allem, wenn zwei verschiedene Regelsysteme aufeinandertreffen, und entschieden<br />

werden muß, welche der beiden denn nun das Spiel und den Tausch regeln sollen.<br />

Die Osterinsulaner stahlen reinen Gewissens, und die Europäer schossen reinen Gewissens mit<br />

ihren Flinten zurück. Die Insulaner nahmen sich, was sie begehrten, und boten als Gegengabe ihre<br />

Frauen an. Aber eben die wollten die Matrosen von den Wilden kostenlos haben. (32)<br />

Damit ein Gespräch oder ein Tausch zustande kommen kann, müssen die beiden Partner<br />

entweder dieselben Regeln benutzen oder aber in der Lage sein, ihr eigenes<br />

Regelsystem zu relativieren und sich auf das Regelsystem des anderen einzustellen:<br />

beim Boxen wie beim Gespräch, beim Austausch von Ehrbezeigungen wie in den matrimonialen<br />

Transaktionen setzt die Täuschung selbst einen Gegner voraus, der in der Lage ist, ausgehend von<br />

einer noch kaum eingesetzten Bewegung, deren Gegenbewegung folglich noch antizipiert werden<br />

kann, der Replik zuvorzukommen. (Bourdieu 1979: 146)<br />

Aus der Sicht der Kolonisatoren haben aber die Insulaner kein Regelsystem: sie sind<br />

“primitiv”, d.h. ihnen fehlt die Moral, ihnen fehlt ein Regelsystem. Der gegenseitige<br />

Tausch wird jäh durch die militärische Übermacht der Europäer unterbunden, die den<br />

Insulanern ganz klar macht, wer Herr und Untertan ist, welche Regeln von nun an<br />

gelten sollen, und welche Sanktionen die Übertretung der Regeln bestrafen.<br />

Dort, wo die Insulaner ihren Regeln nach ein Geschenk erwarten können, die<br />

Europäer das Geschenk aber verweigern, nehmen sie sich, was ihnen ihren Regeln nach<br />

zusteht. Der Diebstahl wäre somit ein eingefordertes Geschenk, das nach den Regeln<br />

der verurteilenden Kultur nicht gesellschaftlich sanktioniert ist. Insofern wäre auch<br />

Walters Diebstahl an den Kunden durch sein Geschenk an Spannung, Lebendigkeit und<br />

(vermeintlicher) Sicherheit, die er durch seine Geschichten vermittelt, quittiert:<br />

Dieser Aspekt bei der Entdeckung der Osterinsel lag mir besonders am Herzen, nämlich: was<br />

bedeutet Diebstahl. Der Diebstahl läßt sich, wie ich glaube, als eine Art Geschenk deuten, das den<br />

Beschenkten und den Schenkenden verbindet, man ist zu Gegengeschenken verpflichtet. Auch der<br />

Fremde kann sich ja etwas nehmen. (32)<br />

Obwohl der Tausch zwei gleichrangige Positionen vorauszusetzt, produziert er doch<br />

immer Ungleichheit, der sich als ein Mehr an Macht oder Ansehen äußert. Der Schein<br />

der Gleichheit im Tausch ist Täuschung, denn bei jedem Tausch kommt der Wunsch ins<br />

Spiel, den anderen zu übervorteilen. In jedem Tausch steckt ein Serre’scher Parasit, der<br />

einen Teil der Tauschgegenstände in seine Richtung ableitet.<br />

Das Handeln in jeder Gesellschaft ist komplexer als die Regeln, die wir bewußt und<br />

unbewußt unserem Handeln zugrundelegen. Die Gesellschaft ist kein Schachspiel. 84 Die<br />

84 “I postulate that structural systems in which all avenues of social action are narrowly institutionalized<br />

are impossible. In all viable systems there must be an area where the individual is free to make choices so<br />

as to manipulate the system to his advantage.” (Leach 1962: 133 in Bourdieu 1979: 157)


Kopfjäger 141<br />

Regel selbst verlangt vom Anwender zudem, strategisch zu denken, d.h. die Regel so zu<br />

seinem Vorteil zu benutzen, daß eine Verletzung der Regel wie eine Befolgung der<br />

Regel aussieht. Aber die “Regel durch die Strategie zu ersetzen heißt, wieder die Zeit<br />

mit ihrem Rhythmus, ihrer Ausrichtung und ihrer Irreversibilität einzuführen.”<br />

(Bourdieu 1979: 217) Für die Regel, das Gesetz, gibt es keine Zeit, keine Entropie. Das<br />

Handeln aber findet in der Zeit statt; die Praxis nämlich ist nicht statisch sondern<br />

wesentlich durch ihr Tempo definiert (Bourdieu 1979: 225); je größer aber das Tempo,<br />

desto geringer die Möglichkeit eine Verletzung der Regel zu bemerken oder zu<br />

reklamieren. Praxis ist “die Entschlossenheit, die Risiken einzugehen, ohne die es keine<br />

Freiheit gibt” (Bataille 1985: 65), statt auf der Einhaltung von Regeln zu bestehen, die<br />

letztlich eben nur die Rahmenbedingungen des Handeln abstecken können. Alle<br />

Teilnehmer in diesem Tausch versuchen natürlich ihre Position abzusichern: der<br />

Verkäufer der Ware möchte einen Preis für Waren absichern, die er erst in der Zukunft<br />

zu noch unbekannten und möglicherweise schlechteren Bedingungen verkaufen kann;<br />

der Käufer seinerseits muß, um kalkulieren zu können, wissen, was er in Zukunft für die<br />

Ware bezahlen muß; der Spekulant kauft und verkauft eine noch nicht existierende<br />

Ware jeweils zu Preisen, die ihm eine möglichst große Gewinnspanne ermöglichen. 85<br />

Alle drei versuchen ihr Risiko zu vermindern: aber auch auf dem Terminmarkt gibt es<br />

keine risikofreien Transaktionen, keine vollkommene Sicherheit. 86 Wohl aber gibt es, so<br />

lehrt die Chaostheorie, in den scheinbar unvorhersehbaren und unberechenbaren<br />

Schwingungen der Preise eine chaotische, komplexe Regelmäßigkeit. “Es kommt eben<br />

darauf an, welche Kenntnisse man mitbringt, und man braucht so etwas wie Feeling.”<br />

(66ff.) Für Walter, der diese Struktur wenn nicht begriffen so doch zumindest im Gefühl<br />

hat, bedeutet das: “Man muß Konzept-Künstler der Börse werden, zyklischer Springer,<br />

Kapitalbeschleuniger, Chaos-Künstler.” (167)<br />

Das Warentermingeschäft spekuliert auf den Wert einer Ware zu einem bestimmten<br />

Termin in der Zukunft, ist also ein Geschäft mit dem Rhythmus der Zeit: 87<br />

Man hat einen Wert X, dividiert ihn durch den Faktor Zeit und erhält einen neuen Wert X : Z. Z<br />

kann größer, aber auch kleiner sein. Denn die Preise können ja auch fallen. Je genauer man Z<br />

prognostiziert, desto größer der Gewinn, egal, ob der Wert X gestiegen oder gefallen ist. (66ff.)<br />

Diese Ware braucht er noch nicht zu besitzen. Bei Weizen, Schweinehälften und<br />

Sojaschrot wäre das auch nicht zu wünschen. 88 Kurz vor dem Liefertermin der Ware<br />

muß der Spekulant sie jedoch wirklich kaufen. Wenn der Spekulant Glück hat, dann hat<br />

85<br />

“both types of investor are said to be hedging a position; that is, they are offsetting a real or anticipated<br />

need with a contrary position in order to lock in a price”. (Brown und Geisst 1983: 6)<br />

86<br />

“The most essential concept in financial futures trading is what is known as basis risk. [...] it underlines<br />

the most simple maxim in the markets; there is no such thing as the ‘perfect hedge’.” (Brown und Geisst<br />

1983: 10)<br />

87<br />

“Future value is based primarily upon present value plus an element of time risk”. (Brown und Geisst<br />

1983: 1f.)<br />

88<br />

“Dreißig Anlageberater saßen vor Computern, auf denen die Aktienkurse aus Tokio, Chicago, New<br />

York und London angezeigt wurden; aus Fernschreibern ringelten sich die neuesten Notierungen von<br />

Mais, lebenden Schweinen und Sojaschrot; dreißig Hände griffen zu den Telefonhörern und wählten<br />

Leute an, von denen man annehmen konnte, daß sie Geld hatten und das Geld anlegen wollten, damit es<br />

sich auf wundervolle Weise vermehrte, damit aus dem vermehrten noch mehr wurde.” (34)


142 Timm<br />

die Ware in der Zwischenzeit zwischen Verkauf und Kauf an Wert abgenommen, wenn<br />

er Pech hat, verliert er einen Teil von seiner Investition. Da diese Investitionen meist so<br />

kurzfristig sind und da es auf die Minute ankommt, werden keine Verträge geschlossen,<br />

alle Transaktionen sind bloße Buchhaltungseinträge. 89 Das erklärt vielleicht, warum<br />

Dembrowski und Walter zwei Jahre ungehemmt ihren Kunden das Geld aus der Tasche<br />

zaubern können:<br />

Was Warentermingeschäfte sind, mußte man den beiden nicht erklären, im Gegensatz zu vielen<br />

Kleinanlegern. Denen muß man, will man sie für eine Anlage gewinnen, am besten mit der Bibel<br />

kommen: 1. Buch Moses, Kapitel 41, Vers 46: Der Pharao hatte einen Traum, und in dem Traum<br />

erschienen ihm die sieben fetten und die sieben mageren Kühe, sieben magere und sieben fette<br />

Ähren. Joseph deutete dem Pharao den Traum so, daß es in Ägypten sieben fette und sieben<br />

magere Jahre geben werde. Vom Pharao in Amt und Würden gesetzt, kaufte Joseph in den sieben<br />

fetten Jahren Getreide und verkaufte es mit enormen Gewinn in den sieben mageren Jahren. Denn<br />

je magerer die Jahre, desto teurer das Getreide. Joseph war der erste verbürgte Spekulant. (66ff.) 90<br />

Noch erfolgreicher als sein Versuch, die Regel im Chaos zu erkennen, ist allerdings die<br />

raffinierte Verletzung der Regeln des Geschäftsgebarens. Indem er die<br />

Undurchschaubarkeit des Systems ausnutzt, kann er, der vollkomene Parasit<br />

Serres’scher Prägung, Kapitalströme in seine eigenen “schwarzen Löcher” abzweigen.<br />

Serres’ Maxime, “das beste Mittel, im System Karriere zu machen, ist, ihm<br />

entgegenzuarbeiten”, beschreibt Walters Senkrechtkarriere in ihrem Wesen. (Serres<br />

1981: 105). Kubins zynische Vision des kapitalistischen Systems ist die amoralische<br />

Regel des Profitstrebens, das sich die gerade die chaotischen Züge des Systems zunutze<br />

macht:<br />

Jeder muß sehen, daß er sich seinen Teil aus den Kuchen herausschneidet, is doch klar, wie, is<br />

doch ganz wurscht, wobei ja die Kapitalmenge ständig wächst, sozusagen alles auf einem<br />

gigantischen Pump lebt, das is längst nicht mehr abgedeckt durch die Werte. (335)<br />

Walters steiler Aufstieg vom Abonnentenverkäufer zum Schaufensterdekorateur zum<br />

Finanzberater der Firma Godemann und schließlich zum Geschäftsführer und Inhaber<br />

der Brokerfirma Sekuritas setzt profunde Kenntnisse der Spielregeln des Kapitalismus<br />

voraus, und das Bedürfnis, sie ohne Rücksicht auf die Geprellten zum eigenen Vorteil<br />

zu wenden: “Das hat mit Moral überhaupt nichts zu tun, anything goes, aber ich sage,<br />

but it must be in an aesthetic way.” Das Warentermingeschäft in seiner<br />

Unberechenbarkeit scheint der ideale Einstieg für jemand, der im System gegen das<br />

System Karriere machen will. Es ist noch relativ neu und bietet dem neuen Broker mit<br />

relativ kleinem Kapital relativ hohe Gewinnchancen. 91 Den Kunden spiegelt er die<br />

89 “This form of activity is more properly known as certificateless trading in that it is not witnessed by an<br />

actual security but only by a binding book-keeping entry stating a particular futures position.” (Brown<br />

und Geisst 1983: 5)<br />

90 Das kann natürlich als Hinweis auf und Gegenentwurf zu Thomas Manns Joseph-Trilogie gelesen<br />

werden, die sich ja als ökonomische Parabel des New Deal versteht, jener anderen wunderbaren<br />

Keynesischen Geldvermehrung nach der großen Depression von 1929.<br />

91 “Since hedgers and speculators do not trade actual securities they are not required to deposit the full<br />

cash value of the nominal futures contract. They simply deposit a small percentage of the nominal value,<br />

called margin, which must be maintained throughout the contract’s life. This margin requirement varies


Kopfjäger 143<br />

vollkommene Berechenbarkeit der Zukunft vor, um sie zu dem Hasardspiel des<br />

Terminmarktes zu überreden:<br />

Der Unterschied zwischen der biblischen Spekulation und heute liegt darin, daß wir nicht mehr auf<br />

Träume warten müssen und auch keine Traumdeuter mehr brauchen. Denn wir, die Sekuritas,<br />

haben ein Computerprogramm WWX, das steht für world wide changing, ein Programm, das<br />

namhafte Wirtschaftswissenschaftler und Börsenfachleute entwickelt haben und das Tausende von<br />

Komponenten der verschiedenen Börsen, Preise, Kurse, Nachfragen aus den letzten Jahren<br />

gespeichert hat. (66ff.)<br />

In Wirklichkeit aber ist diese Berechenbarkeit Illusion, 92 und die einzige sichere Art<br />

Geld zu machen, ist, es den Leichtgläubigen abzunehmen und es in den “schwarzen<br />

Löchern” des Marktes verschwinden zu lassen.<br />

Der Anleger, “der nach seinen Fünfzigtausend fragte, die mit den sinkenden<br />

Baumwollpreisen spurlos verschwunden waren,” (35) sieht das als Diebstahl: er hat<br />

Geld hergegeben und nichts dafür bekommen. Walter argumentiert, es handelte sich um<br />

einen Tausch: Geld gegen Geschichten, gegen ein spannendes Leben, ein Leben mit<br />

Inhalt, einen Sinn, mit Zeit, Geld im Tausch gegen den geheimen Wunsch:<br />

Brot und Wein konnte nur Jesus Christus vermehren, aber Sie können aus 50 000 Mark 100 000<br />

machen, in einem oder in zwei Monaten, Sie können Wunder vollbringen. Es ist dies, ohne daß<br />

man etwas dazutun muß, nur mit Geld, genauer mit Kapital möglich. Und das Kanaa ist die Börse.<br />

Es gibt dafür eine ganz nüchterne ökonomische Erklärung, nämlich die von Angebot und<br />

Nachfrage, aber für den Durchschnittsanleger ist es wie ein Märchen, so, als wenn die Goldtaler<br />

regnen. Daran muß man anknüpfen. Nicht die Leute überreden, sondern an diesen alle Kulturen<br />

verbindenden geheimen Wunsch anknüpfen. (318)<br />

Walter verkauft Wunscherfüllungen, Träume, Luxus, aber “Träume, die man sich<br />

leisten kann, sind auf Dauer nicht erträglich, weil man umso mehr auf etwas wartet, das<br />

man noch nicht kennt, einmal abgesehen vom Tod.” (340) Walter fördert seinem<br />

Selbstverständnis nach “die Bewegung der überschüssigen Energie, die sich in der<br />

Erregung des Lebens äußert” (Bataille 1985: 36) und zieht mit seinen Mitteln gegen die<br />

Sterilität der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer buchführenden Vernunft gemäß, und<br />

gegen die daraus entstehende allgemeine Schäbigkeit zu Felde (vgl. Bataille 1985: 24).<br />

Der Anleger, der das Element des Spiels, 93 der Spannung, der Ästhetik des Verlusts<br />

negiert, mißversteht die Spielregeln dieses Spiels:<br />

Warentermingeschäfte können und dürfen nie allein das Mittel sein, Geld zu verdienen. Man darf<br />

schon gar nicht darauf angewiesen sein. Das muß vorausgeschickt werden. Aber wenn man<br />

überflüssige Geldmittel hat, ist es eine geradezu spielerische Form, schnell mehr zu verdienen. Es<br />

from contract to contract but normally amounts to about 2% of principal value.” (Brown und Geisst 1983:<br />

20)<br />

92 “[H]is asset is short-lived, subject to daily price fluctuations and, perhaps most importantly, cannot be<br />

fully considered an asset until it is finally paid for in full”. (Brown und Geisst 1983: 5)<br />

93 “Und das von heute auf morgen, wie die Anlageberater versprachen, nicht durch lange Zinsläufe, nicht<br />

durch langsames Klettern und Fallen von Aktien, was über Wochen beobachtet werden muß, sondern<br />

Geldgewinne (und natürlich auch Verluste) von einer Minute zur anderen, wie am Roulettetisch.” (34)


144 Timm<br />

ist spannend, man vergleicht von Tag zu Tag die Kurse, man entscheidet, Kauf oder Verkauf, da<br />

geht es oft um Stunden. (66ff.)<br />

Für Walter ist das Gewinnstreben nur einer der “Grundtriebe” des Menschen, auf die er<br />

in seiner Spekulation setzt:<br />

Dagegen die Börse, die Spekulation, sie kommt drei Urtrieben des Menschen entgegen, dem<br />

Spieltrieb und dem Abenteuertrieb und, weil damit zugleich die Mehrung des Besitzes verbunden<br />

ist, einem weiteren Grundtrieb, dem Gewinnstreben - eine einmalige anthropologische<br />

Kombination verschiedener Triebe. (185)<br />

Zugegeben, dieses Spiel, diese Spannung, greift in eine Realität ein, die nicht nur in den<br />

magnetischen Bits in einem Computer existiert:<br />

anders als dort [am Roulettetisch] war dies kein reines Spiel, das nur die Roulettescheibe bewegte,<br />

dieser Einsatz bewegte die Welt, ließ Politiker zittern, Ölscheichs den Förderhahn aufdrehen,<br />

Plantagenbesitzer ihre Kaffeernten verbrennen. Die Telefone läuteten, die Telefonberater redeten,<br />

die Computer fiepten, die Fernschreiber surrten. (34)<br />

Dadurch entsteht eine Kontamination zweier miteinander unvereinbarer Ökonomien:<br />

einer, die der ständigen Steigerung der Produktion und des Kapitals dient, und einer, die<br />

um der Lust willen jeden Überschuß des Systems “vernichten” muß, einer Ökonomie<br />

des lustvollen Verlustes.<br />

Eine der rätselhaftesten Erscheinungen der Osterinsel-Kultur sind die riesigen<br />

Steinfiguren, die in einer scheinbar unendlichen Serie hergestellt wurden und<br />

kilometerweit über das steinige Gelände der Insel geschleppt wurden, um in zufälliger<br />

Anordnung wieder errichtet zu werden. Walter deutet diesen ungeheuren<br />

Energieaufwand ohne erkennbaren Zweck als Ventil für die überschüssige Energie der<br />

Insulaner.<br />

So blieb, um die überschüssigen Energien auszutoben, nur dieses: menschenfressende Kriege<br />

anzuzetteln und steinerne Kolosse in die Landschaft zu stellen. Während sich die Stämme<br />

untereinander immer wieder bekriegten und erschlugen, wurde zugleich der Versuch gemacht, den<br />

Tod zu überwinden, der Vergänglichkeit - die Steinkolosse stehen ja für Tote - in einer<br />

berserkerhaften Hybris Denkmale entgegenzusetzen. Eine Form, die den Tod besiegt und über das<br />

Schweigen triumphiert, denke ich mir, Ausdruck eines gigantomanischen Lebensgefühls und<br />

zugleich monumentale Zwiesprache mit dem Tod. Die Bedeutung dieser Figuren in dem Totenkult<br />

zu verstehen, erforderte, ihre Anordnung richtig zu deuten. Was der Forschung nicht gelang. Die<br />

Forschung sagt, sie stehen da wie Menschen, zufällig, in schierer Unordnung.<br />

Aber vielleicht wäre das ja die Ordnung: die Unordnung, die Zufälligkeit, das Chaos. (178)<br />

Dieses Mehr als das Lebensnotwendige scheint das Wesen der Kultur auszumachen.<br />

Die Kultur selbst erscheint als Luxus. “Und diesen Luxuskonsum gibt es in jeder<br />

Kultur, auch in sozialen Normen des Verbotes, der Askese steckt er noch, als Schatten.”<br />

(176) Walter sieht das Faible der Osterinsulaner für Kopfbedeckungen als einen<br />

weiteren Ansatz von Luxuskonsum: Kürbisse, Vogelgerippe, zwei ineinandergerammte<br />

Eimer, Schnürstiefel, alles, was sie in die Hände kriegen konnten, diente ihnen als<br />

Kopfschmuck. Besonders begehrenswert erschienen ihnen aber die Hutmoden des 17.


Kopfjäger 145<br />

und 18. Jahrhunderts, wie die Reisenden, Matrosen, Soldaten und Missionare sie trugen.<br />

Sie klauten sie sich einfach, wie die Europäer empört feststellten. Bezeichnenderweise<br />

tragen auch die Steinfiguren einen Stein auf dem Kopf, den Pukao:<br />

Meine These: Dasselbe Bedürfnis, das diesen ungewöhnlichen Kopfbedeckungen zugrunde lag,<br />

trieb die Insulaner auch dazu, die monumentalen Steinfiguren zu schaffen, die ja ebenfalls eine Art<br />

Steinzylinder, den Pukao, trugen. (176)<br />

George Bataille entwickelte in Die Aufhebung der Ökonomie eine Theorie des Verlusts<br />

und des Luxuskonsums, die der von Peter Walter sehr nahe zu stehen scheint:<br />

Die menschliche Tätigkeit ist nicht vollständig zu reduzieren auf Prozesse der Produktion und<br />

Reproduktion [...] Der zweite Bereich [der Konsumtion] umfaßt die sogenannten unproduktiven<br />

Ausgaben: Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten, Spiele,<br />

Theater, Künste, die perverse (d.h. von der Genitalität losgelöste) Sexualität stellen ebenso viele<br />

Tätigkeiten dar, die, zumindest ursprünglich, ihren Zweck in sich selbst haben. [...] daß in jedem<br />

Fall der Akzent auf dem Verlust liegt, der so groß wie möglich sein muß, wenn die Tätigkeit ihren<br />

wahren Sinn haben soll. (Bataille 1985: 12)<br />

Der “wahre Sinn” des Verlusts ist für Bataille das Opfer als Herstellung eines<br />

(religiösen) Sinns: “Die Kulte verlangen eine blutige Vergeudung von Menschen und<br />

Tieren als Opfer. Das ‘Sakrifizium’ ist jedoch ethymologisch nichts anderes als die<br />

Erzeugung heiliger Dinge.” (Bataille 1985: 13) Diejenigen also, die ihr Geld, ihren<br />

Überfluß opfern, die es in den “schwarzen Löchern” verschwinden lassen, sind in einem<br />

Tun befangen, das der Logik des Kapitals diametral entgegensteht: statt nur<br />

buchhalterisch fiktive Geldbeträge auf dem Konto zu vermehren, vernichten sie Geld,<br />

um eine andere Produktivität in Gang zu setzen, eine Vermehrung durch Opfer:<br />

Aber noch in der lateinischen Bedeutung von pecunia (Geld) steckt das Vieh (pecus). Vieh<br />

bedeutete Reichtum, und Vieh wurde geopfert, um die Götter gewogen zu machen, das heißt: den<br />

Reichtum zu vermehren. Dann fand eine Übertragung statt. Das zu opfernde Tier kam auf die<br />

Münze, die ihrerseits zur Opfergabe wurde, deren Wert also nicht allein das Metall ausmachte.<br />

Das Schwein kam, statt unter das Messer, auf die Münze. Und auch die Jungfrau, die ursprünglich<br />

bei der Tempelprostitution geopfert wurde, ließ man nun in Erz schlagen. So haftet dem Geld von<br />

seinen Uranfängen her noch etwas Erotisches, ja Sexuelles an, und ich kann das, glaube ich, auch<br />

an den Scheinen noch erspüren, ein Gefühl, das für mich höchst lustvoll ist, es macht mich, ich<br />

kann kein anderes Wort finden, geil. (322f.)<br />

Die Erfahrung, daß Geld sich in alles verwandeln läßt, kommt der polymorphen<br />

Triebstruktur des Menschen entgegen: die Lust entsteht erst, wenn man es im Tausch<br />

gegen etwas anderes verliert, aber der Verlust ist paradoxerweise gleichzeitig ein<br />

Geschenk:<br />

Man geht hin, legt dieses Bündel Scheine auf den Tisch und bekommt einen Wagen, den man sich<br />

seit der Kindheit gewünscht hat. Dieser ganz unverhältnismäßige Tausch ist das Wunderbare am<br />

Geld, man gibt fast nichts her und bekommt überwältigend viel. Im Tausch liegt, und ich kenne<br />

mich als Mann der Praxis aus, immer auch eine erotische Überwältigung. Man ist, zahlt man mit<br />

Geld, stets der Beschenkte, das ist das wahre Geheimnis der Ware Geld. (99)


146 Timm<br />

Das zweite thermodynamische Gesetz besagt, daß Ordnung nur durch Verbrauch von<br />

Energie, also Verlust an Ordnung produziert werden kann. Um kleinräumig Ordnung zu<br />

erzeugen, muß großräumig die Entropie zunehmen. Die Voraussetzung jeder Ordnung,<br />

auch der poetischen Ordnung, ist Verlust:<br />

Alle überhaupt aus der Materie aufkeimenden Ordnungen und Systeme, das ist Prigogines<br />

Botschaft, sind ‘dissipativ’, das heißt, mit Energieverlust verbunden. Indem sie also ständig von<br />

Energiezufuhr abhängen, entstehen unumkehrbare Prozesse. (Brügge 1993: 160)<br />

Die Erzählung selbst ist also ein solches Sakrifizium, der geschichtenschreibende Onkel<br />

ein Vampir: “Er saugt den Leuten ihre Lebensgeschichte aus.”(292) Peter Walter, der<br />

selbst seine Lebensgeschichte zu schreiben versucht, aus Angst davor, daß ein anderer,<br />

der Onkel, sie ihm “aussaugen” könnte, ihm “sein Leben” nehmen könnte, urteilt:<br />

diejenigen, die Bücher schreiben, sind Vampire, saugen allen und jedem das Leben aus, sitzen in<br />

Gruften, schreibend, in einem Halbleben. Hin und wieder fliegen sie aus, auf der Suche nach<br />

Opfern, nach Nahrung. Wie der Onkel: immer auf Jagd, aber auch immer ein Gejagter. (292)<br />

Nicht nur die Schreibenden, auch das Geschriebene saugt die überflüssige Zeit als ein<br />

Opfer auf, macht sie verschwinden, verbraucht die Zeit:<br />

Bücher sind Vampire, sie brauchen das Leben, nicht nur jener, das in ihnen steckt, sondern sie<br />

erwachen erst zum Leben, wenn sie herumstehen, manchmal noch ganz frisch und munter,<br />

manchmal verstaubt und vergilbt, doch haben sie ein Opfer gefunden, schon röten sie sich,<br />

leuchten, wenn sie das Leben ihrer Leser trinken, denn es vergeht ja, auch jetzt, jetzt, jetzt, in<br />

diesem Scheinleben. (292)<br />

Ebensowenig wie die Form der Schnur sich rational (im mathematischen Sinn) auf die<br />

Geschichte projezieren läßt, die sie “erzeugt”, ebensowenig wie sich die Zeichen der<br />

Osterinsel-Schrift auf immer dieselbe Geschichte reduzieren lassen, ebnsowenig läßt<br />

sich das Kunstwerk rational auf seine “Ursachen” reduzieren. Jede Wissenschaft<br />

versucht Regeln (Formeln) für den von ihr beobachteten Gegenstand aufzustellen. Doch<br />

die Regeln erweisen sich dem Gegenstand gegenüber als inkommensurabel. Das ist kein<br />

Abgleiten in eine Irrationalität, die das Kunstwerk als letztlich “unerklärlich” vor der<br />

Kritik schützt, und Literaturwissenschaft zum Exerzitium eines “funny inside feelings”<br />

macht, sondern die Anerkennung der Komplexität des Gegenstandes, der sich wie das<br />

Wetter und die Entwicklung der Populationen wilder Tiere in der Ökologie (bisher?) der<br />

Reduktion auf ein Regelsystem entzogen hat. Auch in der Erzählung ist das Produkt<br />

nicht berechenbar, weil wie in anderen komplexen System,<br />

im nichtlinearen Zusammenwirken all der im Grunde voraussehbaren Ordnungsfähigkeiten von<br />

Materie sich nie wieder völlig das gleiche ereignet; weil die labile Regelmäßigkeit von<br />

Schwingungen irgendwann erratisch ausarten und daraus völlig Neues erwachsen kann. (Brügge<br />

1993: 160)


Kopfjäger 147<br />

Andererseits aber ist die Erzählung ein sich selbst regelnder kultureller Algorithmus,<br />

der eine Ordnung erzeugt. 94 Diese labile Regelmäßigkeit, obwohl durch “Kunst”<br />

hervorgebracht, entzieht sich der Reflexion: “Reflexion ist kein wesentliches Moment<br />

der Kunst,” (Durkheim 1972: 59f in Bourdieu 1979: 206) denn nicht nur kann die Kunst<br />

auch ohne sie existieren, die Kunst selbst, die nie eine Regel sein kann, sondern immer<br />

nur eine Strategie im Sinne Bourdieus, eine komplexe, chaotische Ordnung, die sich in<br />

der Zeit entfaltet, kann nie alles an sich selbst reflektieren.<br />

Literatur:<br />

ARGYROS, Alex, 1992, Narrative and Chaos. New Literary History. 23(3): 659-675.<br />

BATAILLE, Georges 1985, Die Aufhebung der Ökonomie. München: Matthes und Seitz.<br />

BELLWOOD, Peter (Hrsg.) 1987, The Polynesians. Prehistory of an Island People. London:<br />

Thames and Hudson<br />

BERREBY, David, 1993, Chaos hits Wall Street. Discover. 14 (March): 76-84.<br />

BOURDIEU, Pierre 1979, Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main: Suhrkamp<br />

BRADY, Patrick, 1990, Chaos Theory, Control Theory, and Literary Theory: Or, a Story of<br />

Three Butterflies. Modern Language Studies. Fall v20(4). S. 65-79<br />

BROWN, J. Macmillan 1924, The Riddle of the Pacific. London: T. Fisher Unwin<br />

BROWN, Brendan und Charles R. Geisst 1983, Financial Futures Markets. London: Macmillan<br />

BRÜGGE, Peter, 1993, Mythos aus dem Computer. Über Ausbreitung und Mißbrauch der<br />

‘Chaostheorie’ In: Der Spiegel, Nr. 39 / 47. Jahrgang, 27. September: 156-164<br />

CLARKE, Bruce, 1991, Resistance in Theory and the Physics of the Text. New Orleans Review.<br />

18(1): 86-93<br />

DURKHEIM, E. 1972, Erziehung und Soziologie. Düsseldorf.<br />

GLEICK, James, 1987, Chaos. Making a New Science. New York: Viking.<br />

HAYLES, N. Katherine, 1989, Chaos as Orderly Disorder: Shifting Ground in Contemporary<br />

Literature and Science. New Literary History. 20(2): 305-322.<br />

HEYERSDAHL, Thor 1958, Aku-Aku. The Secret of Easter Island. London: George Allen &<br />

Unwin<br />

HOFSTADTER, Douglas, 1979, Metamagical Themas: Questing for the Essence of Mind and<br />

Pattern. New York<br />

LEACH, E, 1962, On certain unconsidered aspects of double descent systems. Man, LXII.<br />

LORENZ, Edward N. 1967, The Nature and Theory of the General Circulation of the<br />

Atmosphere. World Meteorological Organization<br />

SERRES, Michel, 1981, Der Parasit. Frankfurt am Main Suhrkamp<br />

SHANNON, Claude, 1948, A mathematical theory of communication. Bell System Technical<br />

Journal 27: 379-423, 623-656.<br />

SHANNON, Claude, and Warren Weaver, 1949, The mathematical theory of communication.<br />

Urbana, Ill.<br />

TIMM, Uwe, Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes<br />

94 “[T]he global dynamics of narrative serve as a cultural attractor, a self-adjusting algorithm through<br />

which all cultures of which we are aware seem to have spun their cosmos. Insofar as narrative is a<br />

remarkably efficient information-processing strategy whose function is to store, manipulate, and create<br />

the tremendous range of information constitutive of human beings, it mirrors the basic process of<br />

evolution itself — a temporal dynamic process which effectively mixes stability and novelty into the<br />

open-ended and often tragic struggle to wrest choice from the teeth of textuality.” (ARGYROS 1992: 667)


148 Timm<br />

Anmerkungen:<br />

1 Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie. München 1985, S. 15.<br />

2 E. Durkheim: Erziehung und Soziologie. Düsseldorf 1972, S56f. Zit. nach Pierre Bourdieu: Entwurf<br />

einer Theorie der Praxis. Frankfurt a. M. 1979, S. 206.<br />

3 Boltzmann hatte 1877 Entropie als statistisches Maß der Unordnung interpretiert. Claude Shannon<br />

definierte Information mit einer mathematischen Formel, die der Boltzmannschen Gleichung für Entropie<br />

sehr ähnlich sah. Claude Shannon: A mathematica theory of communication, in: Bell System Technical<br />

Journal 27, 1948, S.379-423, 623-656; Claude Shannon and Warren Weaver: The mathematical theory of<br />

communication. Urbana, III. 1949.<br />

4 Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt a. M. 1981, S. 149.<br />

5 Uwe Timm behandelt die Theorie mit ironischer Distanz. Zur Verbindung von Erzähltheorie und<br />

Chaostheorie vgl. z.B. Bruce Clarke: Resistance in Theory and the Physics of the Text, in: New Orleans<br />

Review. 18(1) 1991, S.86-93; Patrick Brady: Chaos Theory, Control Theory, and Literary Theory: Or, a<br />

Story of Three Butterflies, in: Modern Language Studies. Fall 20(4) 199,. S. 65-79; ALEX ARGYROS:<br />

Narrative and Chaos, in: New Literary History. 23(3) 1992, S. 659-675; Katherine N. Hayles: Chaos as<br />

Orderly Disorder: Shifting Ground in Contemporary Literature and Science, in: New Literary History.<br />

20(2) 1989, S. 305-322.<br />

6 Zur Verbindung zwischen ökonomischer Theorie und Chaostheorie vgl. David Berreby: Chaos hits<br />

Wall Street, in: Discover. 14 (March) 1993, S. 76-84; und James Gleick: Chaos. Making a New Science.<br />

New York 1987, S. 83ff.<br />

7 Serres, S. 38 [Anmerkung 4].<br />

8 Chaostheorie ist ein irreführender Begriff. In allen Disziplinen, in denen dieser Begriff Mode geworden<br />

ist, geht es eigentlich um eine nicht vorhersagbare Komplexität, aber auch um die komplexen<br />

Ordnungsstrukturen in diesem “Chaos”. Vgl. Gleick, S. 4ff [Anmerkung 6]. „Physikalisch gehört das<br />

Thema Chaos vorwiegend in das schwierige Kapitel ‘nichtlineare Dynamik’ .[...] Vielmehr vermag sich<br />

dabei mit der Zeit - oft in unvorstellbar kurzer Zeit - etwas zu entfalten, das mehr und qualitativ etwas<br />

ganz anderes ergibt als die Summe seiner Teile. Bei nichtlinearer Dynamik hängen Wirkungen nicht<br />

gradlinig von den Ursachen ab, sie beeinflussen sogar rückkoppelnd die Ursachen. Das kann zu drastisch<br />

sich selbst verstärkenden Prozessen führen. In der Natur funktioniert so alles, was sich unter<br />

Energieverzehr aufbaut, bewegt, ausdehnt, fortpflanzt, gemeinsam höher organisiert oder aufeinander<br />

Jagd macht. Galaxien, Ameisenvölker, Industriegesellschaften, Zellkulturen, Embryos sowie nukleares<br />

Feuer - das sind samt und sonders Beispiele für die Dynamik des Nichtlinearen.” Peter Brügge: Mythos<br />

aus dem Computer. Über Ausbreitung und Mißbrauch der ‘Chaostheorie’, in: Der Spiegel, Nr. 39 / 47.<br />

Jahrgang, 27. September 1993, S. 157.<br />

9 “Beyond a certain point [...] periodicity gives way to chaos, fluctuations that never settle down at all<br />

[...] Yet in the middle of this complexity, stable cycles successfully return.” (Gleick, S. 73 [Anmerkung<br />

6]). Argyros macht darauf aufmerksam, daß „narrative [...] allows for the nesting of causal frames within<br />

each other in a structure which Douglas Hofstadter describes as strange loops or tangled levels.” (Vgl.<br />

Douglas Hofstadter: Metamagical Themas: Questing for the Essence of Mind and Pattern. New York<br />

1979)<br />

10 Serres, S. 57 [Anmerkung 4].<br />

11 Bourdieu, S. 206 [Anmerkung 2].<br />

12 Bourdieu, S. 146 [Anmerkung 2].


Kopfjäger 149<br />

13 Bourdieu, S. 217 [Anmerkung 2].<br />

14 E. Leach: On certain unconsidered aspects of double descent systems, in: Man, LXII, 1962, S.133, zit.<br />

nach Bourdieu, S. 157 [Anmerkung 2].<br />

15 Bourdieu, S. 225 [Anmerkung 2].<br />

16 Bataille, S.65 [Anmerkung 1].<br />

17 Vgl. zum folgenden Brendan Brown und Charles R. Geisst: Financial Futures Markets. London 1983,<br />

bes. S. 1.<br />

18 Das kann natürlich als Hinweis auf und Gegenentwurf zu Thomas Manns Joseph-Trilogie gelesen<br />

werden, die sich ja als ökonomische Parabel des New Deal versteht, jener anderen wunderbaren<br />

Keynesischen Geldvermehrung nach der großen Depression von 1929.<br />

19 Serres, S. 105 [Anmerkung 4].<br />

20 Bataille, S.36 [Anmerkung 1].<br />

21 Bataille, S.24 [Anmerkung 1].<br />

22 Bataille, S.12 [Anmerkung 1].<br />

23 Bataille, S.13 [Anmerkung 1].<br />

24 Brügge, S.160 [Anmerkung 8].<br />

25 Brügge, S.160 [Anmerkung 8].<br />

26 Vgl. Argyros, S. 667<br />

27 Vgl. Anmerkung 2.


Einer, eine<br />

Von keinem Diskurs beherrscht: Das Gedicht Nicht Alle von<br />

Jürgen Fuchs<br />

Jürgen Fuchs wurde 1950 in Reichenbach (Vogtland) geboren, machte dort das Abitur,<br />

begann eine Lehre bei der Eisenbahn, absolvierte den Armeedienst und immatrikulierte<br />

sich danach an der Universität Jena für das Studium der Psychologie. Obwohl er für<br />

seine Diplomarbeit die Note „sehr gut” bekam, wurde ihm das Diplom verweigert. Er<br />

war inzwischen durch Gedichte aufgefallen, die den DDR-Alltag unbeschönigt<br />

beschrieben. Später wurde er aktives Mitglied der Opposition kritischer Künstler und<br />

Intellektueller um Havemann und Biermann. Deswegen kam er einige Monate in<br />

Stasihaft und wurde dann nach Berlin West abgeschoben. Alle seine Bücher, Gedichte,<br />

Prosa und Essays wurden im Westen veröffentlicht. (vgl. P 85-00) Die Observation<br />

durch die Stasi wurde indessen in West-Berlin fortgesetzt. In seinen publizistischen<br />

Schriften untersucht Fuchs die Zersetzung als bevorzugte Methode der Stasi aus<br />

opferpsychologischer Sicht.<br />

Der Diskurs des Marxismus-Leninismus herrschte auf Grund seiner<br />

Sanktionspraktiken, deren wichtigste und sichtbarste das Verbot war: „Man weiß, daß<br />

man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem<br />

sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann.”<br />

(Foucault 1974: 7) Die Folge dieses Verbots ist der Ausschluß vieler Sprecher aus<br />

bestimmten Bereichen der öffentlichen Sprache: „Es geht darum, [...] den sprechenden<br />

Individuen gewisse Regeln aufzuerlegen und so zu verhindern, daß jedermann Zugang<br />

zu den Diskursen hat: Verknappung diesmal der sprechenden Subjekte. Niemand kann<br />

in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht gewissen Erfordernissen genügt,<br />

wenn er nicht von vornherein dazu qualifiziert ist. Genauer gesagt: nicht alle Regionen<br />

des Diskurses sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind stark<br />

abgeschirmt (und abschirmend), während andere fast allen Winden offenstehen und<br />

ohne Einschränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar erscheinen.” (Foucault 1974:<br />

25) Dadurch entsteht im scheinbar egalitären Diskurs des Marxismus-Leninismus ein<br />

Machtgefälle zwischen denjenigen, die den Diskurs beherrschen, und denjenigen, die<br />

seinen Anforderungen nicht genügen. Gleichzeitig übt der Diskurs aber Druck nach<br />

innen hin aus, indem er in den herrschenden Subjekten Zweifel an der eigenen Doktrin<br />

gar nicht erst aufkommen läßt.<br />

Das zeigt sich schon in der Schule. „Gibt es Fragen?” fragt der Lehrer rein formal,<br />

denn er will natürlich seinen Diskurs nicht in Frage gestellt sehen:<br />

Und wenn es Fragen gab<br />

Nahm Börner ein großes Lineal<br />

Und schlug an die Tafel<br />

Auf Punkt zwei<br />

Oder drei<br />

Nachdenken, sagte er


152 Fuchs<br />

Was steht hier<br />

Lesen Sie vor, laut und deutlich<br />

Oder<br />

Das behandeln wir in der nächsten Woche<br />

Oder<br />

Das gehört nicht hierher<br />

Oder Sehen Sie West? (PK 36)<br />

Jürgen Fuchs parodiert den Diskurs des Marxismus-Leninismus, indem er dessen Sätze<br />

ad nauseam zitiert und ad absurdum führt. Er weist darauf hin, wie bereits die jungen<br />

Parteikader in der FDJ und an der Universität auf die unkritische Übernahme dieser<br />

Doktrin getrimmt werden. Ihre Haltung, die Fuchs mit dem Verhalten angepaßter<br />

Musterschüler vergleicht, beruht sowohl auf der Selbstzensur, als auch auf der Zensur<br />

anderer. Selbständiges Beobachten des Alltagslebens in der DDR und unabhängiges<br />

Denken wurden sofort als potentielle Bedrohung des sozialistischen Staates geahndet.<br />

Um diese Bedrohung vorzubeugen, hat die DDR ein byzantinisches System der<br />

Überwachung und Kontrolle ihrer Staatsbürger entwickelt.<br />

In den Jahren des Kalten Krieges wurde die Unterwanderung des sozialistischen<br />

Systems durch Agenten der westlichen, kapitalistischen Demokratien gefürchtet, doch<br />

verschob sich der Blick der Stasi spätestens seit dem 17. Juni 1953 immer mehr vom<br />

kapitalistischen Ausland auf die eigene Bevölkerung. Vor allem den Intellektuellen,<br />

Künstlern und Schriftstellern galt die Aufmerksamkeit des Staates, wie Joachim<br />

Walther in seiner materialreichen Studie Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und<br />

Staatsicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik nachweist. Die<br />

Staatssicherheit hielt sie für „Einfallstore und Multiplikatoren der ‘politischideologischen<br />

Diversion’ [...], für die der Klassengegner verantwortlich gemacht<br />

wurde”. (Walther 1996: 184) In den achtziger Jahren ging die Überwachung der<br />

Dissidenten von anderen Verdachtsmomenten aus: „Diejenigen, die die HA XX/OG<br />

[einer eigens für Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle eingerichteten Abteilung der<br />

Staatssicherheit] bearbeitete, wurden verdächtigt, dem ‘politischen Untergrund’<br />

zuzuarbeiten. In den achtziger Jahren ordnete die Staatssicherheit das Phänomen der<br />

‘organisierten antisozialistischen’ Opposition zu.” (Ebd.) Das Dilemma eines<br />

dissidenten Schreibens in einer solchen Situation beschreibt Joachim Walther so:<br />

Die DDR wurde jedoch nicht allein durch das geheimpolizeiliche Netz der Staatssicherheit<br />

geschützt, sondern zudem durch ein semiotisches Netz, das jeden einband (auch den partiell<br />

kritischen), der die Kohärenz des semiotischen Sprach- und Denkgeheges nicht radikal aufbrach<br />

und in Richtung einer schroffen Intransigenz verließ. Auch der kritische ‘Gegendiskurs’ ist<br />

lediglich die negative, doch noch immer transitive Variante des gesellschaftlichen Leitdiskurses<br />

und diesem komplementär. (Walter 1996: 12f)<br />

Auf diese Weise entsteht eine Literatur, die ihren potentiellen Einfluß auf das poltische<br />

Geschehen überschätzt, wie sich dann sehr schnell nach der Wende herausstellt, und<br />

gleichzeitig eine Gedankenpolizei, die die Literatur in dieser Selbsteinschätzung<br />

bestärkt:


Von keinem Diskurs beherrscht 153<br />

Indem sich die kritische Literatur in der DDR auf die politische Macht bezog, erhielt sie eine<br />

zusätzliche politische Dimension und mit ihr einen Bedeutungszuwachs, der nicht intendiert sein<br />

mußte oder dem literarischen Text immanent war. Dieses politisch bedingte Mehr an Bedeutung<br />

schuf die Illusion einer unbedingten Bedeutsamkeit eingreifender und verändernd wirkender<br />

Literatur -- eine Selbstüberschätzung, die ihre Entsprechung, wiederum negativ komplementär, in<br />

der Überschätzung der DDR-Machthaber fand, eine kritische Literatur könnte ihre Machtpyramide<br />

untergraben, aushöhlen und zum Einsturz bringen.” (Walter 1996: 13)<br />

Wenn der Versuch der Stasi, einen diffusen Feind zu bekämpfen nicht schon paranoid<br />

genug anmutet, dann um so mehr das Bemühen, jedes Wort eines Schriftstellers auf sein<br />

‘staatsgefährdendes Potential’ hin abzuklopfen. Walther macht darauf aufmerksam, wie<br />

die Stasi die Möglichkeiten des geschriebenen Wortes maßlos überschätzte, und<br />

gleichzeitig die grundsätzliche Vielstimmigkeit der Metapher verkannte:<br />

Der Aufwand, den die DDR-Tschekisten auf der ‘Linie Schriftsteller’ betrieben, scheint aus<br />

heutiger Sicht maßlos überzogen: eine wahnhafte Überschätzung des ‘staatsgefährdenden’<br />

Potentials unangepaßter, kritischer Literatur. Doch hat der Wahn Methode, da Verfolgungsdrang<br />

und Verfolgungswahn ursächlich zusammenhängen. Es ist die Furcht des nackten Kaisers vor der<br />

Entblößung durch das Wort, die Furcht davor, das Volk, der große Lümmel, könnte angstfrei<br />

mündig werden. Duales Denken und ein auf das binäre Freund-Feind-Bild verengte<br />

Wahnehmungsraster tun sich schwer mit der irisierenden Strahlung des künstlerischen Wortes und<br />

mehrdeutiger Metaphorik, die der individuellen Interpretation, der Imagination des einzelnen offen<br />

und in ihrer Privatheit schwer zu kontrollieren sind. Wenn, nach Lichtenberg, die Metapher klüger<br />

als der Autor ist, dann mußte dies die auf Eindeutigkeit getrimmten Wortwächter erheblich<br />

irritieren. Das Unvermögen schuf Unsicherheit und Mißtrauen bei den ohnmächtig Mächtigen und<br />

löste den paranoiden Impuls aus, die Literatur, wenn sie schon nicht total beherrschbar war,<br />

zumindest umfassend zu überwachen. (Walther 1996: 12)<br />

Diese Unterdrückung jeglicher Denk- und Redefreiheit stellt eine Perversion der<br />

Parteilichkeit dar, wie sie Marx und Engels praktizierten. 95 Sie traten für die Presse- und<br />

Redefreiheit ein, da sie einsahen, daß andere Standpunkte für die ‘Wahrheitsfindung’<br />

unumgänglich sind. So nahmen beide an inner- und außerparteilichen Debatten teil,<br />

indem sie oft auf polemische Weise auf die Schwächen der opponierenden Meinungen<br />

hinwiesen und dagegen ihre alternativen Konzepte entwickelten und klärten. Fuchs<br />

beruft sich auf diese radikale marxistische Tradition und bezichtigt dagegen die SED<br />

des Parteiformalismus:<br />

Die 'schöpferische Initiative', von der so viel gesprochen wurde, konnte doch nicht darin bestehen,<br />

daß das Fragen und das Drängen auf Antworten als 'überflüssig', 'individualistisch', 'unparteilich'<br />

oder gar als 'zersetzend' angesehen wird. Da ich die Klassiker des Marxismus recht gründlich<br />

gelesen hatte, wußte ich, wie radikal (von den Wurzeln her) gerade sie gegen jegliche staats- und<br />

parteiformalistischen Tendenzen entgegengetreten sind. (GV 32)<br />

95 Fuchs verweist darauf, was „Marx vor der Revolution 1848 äußerte. Er beschreibt die Zensierung der<br />

Presse und weist auf eine Vor-Zensur hin, die im Inneren des Schreibers hockt. Sie schreckt die<br />

unerlaubten Gedanken schon in ihren anspruchsloseren, unliterarischen Formen zurück. Da wird man<br />

ganz sprachlos und schafft nichts mehr. Manche glauben dann, die Inspiration setze aus, dabei setzt die<br />

Zensur ein. Aber heute und bei mir ist das schon etwas anders. Es gibt Kollisionen und Geschrei, also ist<br />

anzunehmen, daß meine Äußerungen schon an Lebendigkeit gewonnen haben ...” (GV 57)


154 Fuchs<br />

In einem Brief an den Genossen Honecker, eine Art Brief an den Vater, konstatiert<br />

Fuchs, daß die Partei vor ihm Angst bekam, da er ihre Sprache und ihre Methoden<br />

entlarvte und sie so der Lächerlichkeit preisgab: „Sie hatten Angst. Kritisiert wurden<br />

vor allem die literarischen Arbeiten, in denen ich gegen eine Art, mit Menschen zu<br />

sprechen, Partei ergriffen hatte: gegen das Drohen, Einschüchtern und übermäßige<br />

Kontrollieren, das jedem Meinungsstreit schnell ein Ende bereitet, weil es<br />

Verdächtigungen an die Stelle von Argumenten setzt.” (GV 33) Dazu hat ihm keine<br />

Ideologie oder Theorie den Anstoß gegeben, sondern seine eigene Wahrnehmung und<br />

seine eigene Biografie. Fuchs äußert seine radikal subjektive Sicht auf die Realität wie<br />

folgt: „Nichts, was ich beschrieb, sog ich mir aus den Fingern, freilich, objektive<br />

Berichte konnte ich nicht liefern -- ich machte deutlich, daß ich dieses und jenes erlebt<br />

und verarbeitet hatte --, alles aber beruhte auf einer wirklichen und lebendigen<br />

Grundlage, auf meiner Biografie.” (GV 33) Fuchs spricht ausdrücklich nicht von der<br />

Wahrheit, sondern von der gegebenen Realität, die sich in ihren schlechten Seiten<br />

kritisieren läßt, und folglich auch verändern: „Ich sehe meine Aufgabe als Schriftsteller<br />

in der Aufdeckung der Wirklichkeit und der Kritik ihrer schlechten Seiten. Eine solche<br />

Kritik, die auch nach den Ursachen von erlebten Folgen fragt, kann doch nicht bestraft<br />

werden, schon gar nicht in einem sozialistischen Land, in der DDR. In meinen<br />

Prosastücken orientiere ich mich an den Fakten und versuchte, meine dazugehörigen<br />

Gedanken, Gefühle und Haltungen zu verdeutlichen. Dabei gehe ich von dem Wissen<br />

aus, daß unsere Gesellschaft nicht konfliktfrei ist und erst am Anfang einer<br />

sozialistischen Entwicklung steht.” (GV 33) Solchen kritischen Geistern kann die DDR<br />

aber nur mit Parteiausschluß begegnen, der damit begründet wird, daß er ein agent<br />

provocateur sei: „Den Äußerungen und Erklärungen, mit denen mein Parteiausschluß<br />

begründet wurde, mußte ich allerdings entnehmen, daß die Anklage gegen mich unter<br />

anderem auf der Fiktion beruht, unsere Gesellschaft sei konfliktfrei und ich ein<br />

eingeschleuster Provokateur. Die ‘noch existierenden Widersprüche’ wurden zwar<br />

bedauernd in Nebensätzen erwähnt, aber wenn es konkret wurde, war diese kleine Welt<br />

doch die beste aller möglichen Welten, von er nur eine Phantast (oder ein Kommunist)<br />

annehmen konnte, daß sie noch Verbesserungen vertragen könnte.” (GV 33f.)<br />

Das bedeutet jedoch nicht, daß Fuchs nicht auch eine noch weitergehenden und<br />

grundsätzliche Kritik am Marxismus-Leninismus übt. Vor allem bei Lenin sieht er<br />

bereits Ansätze einer Parteidiktatur und die Tendenz, gegen Andersgesinnte gnadenlos<br />

vorzugehen.<br />

Man könnte behaupten, daß sich an den Anfängen des Marxismus bereits eine von<br />

Marx und Engels niedergelegte Orthodoxie herausbildete. Ihre Polemiken gegen<br />

Meinungen sowohl aus dem ‘feindlichen’ Lager der Nationalökonomie und der ‘Freien<br />

Marktwirtschaft’ als auch aus dem eigenen Lager der Utopisten und Anarchisten z.B.<br />

dienten wohl dem Zweck, diese Parteilinie zu verteidigen und zu festigen.<br />

Diese polemische Haltung verfestigte sich immer mehr zu einer besserwissersichen.<br />

Die Partei leitete ihr Wissensprivileg von ihrer Avantgarde-Position ab, daß sie den<br />

Massen im Verständnis der wirklichen politischen Lage weit voraus sei. Dazu bemerkt<br />

Oskart Negt: „Solange die kommunistischen Parteien im Horzont einer Avantgarde-<br />

Theorie operieren, hat die Partei das Monopol auf Lernprozesse, nicht die Gesellschaft.


Von keinem Diskurs beherrscht 155<br />

Der Schritt darüber hinaus würde bedeuten, daß Revolutionstheorie den<br />

institutionalierten Zusammenhang der Parteitheorie sprengt und dadurch die<br />

Möglichkeit geschaffen wird, daß die Gesellschaft selber die Emanzipationsgehalten der<br />

sozialrevolutionären Bewegung unter Aspekten des Sieges einklagt” (Negt 1988: 109).<br />

Das Problem des doktrinären Partei-Kommunismus liegt meines Erachtens darin, daß<br />

der Marxismus-Leninismus nicht nur als eine Möglichkeit verstanden wurde,<br />

wissenschaftlich verifizierbare Sätze über die Beschaffenheit der kapitalistischen<br />

Produktionsweise aufzustellen, sondern zu einer politischen Doktrin wurde, die von<br />

einer polischen Partei vertreten wurde. Während die kommunistischen Parteien unter<br />

dem kapitalistischen System noch zum Nachweis ihrer besseren Argumente gezwungen<br />

wurden, erklärten sie im sozialistischen Staat ihre Wahrheit zur einzigen Wahrheit.<br />

Durch die Abschirmung von anderen Meinungen und der Fortentwicklung der<br />

Gesellschaft und der Wissenschaften, verknöcherte aber diese Doktrin in dem Maße,<br />

wie auch ihre Vertreter immer älter wurden. Eine Zeit lang war es noch möglich, die<br />

Bevölkerung durch Furcht und Überwachung zu beherrschen, bis sie selbst die Initiative<br />

ergriffen und die Regierung abschafften.<br />

Die wissenschaftlichen Diskurse der Moderne werden ferner durch den Willen zur<br />

Wahrheit sanktioniert, d.h. durch den Gegensatz zwischem dem Wahren und dem<br />

Falschen. Es gilt bereits als Verstoß gegen die Diskursregeln, die Wahrheit als Willen<br />

zu bezeichnen, da der Begriff des Willens auch die Frage der Macht und des Begehrens<br />

voraussetzt, die offenbar im Konflikt zum Wahren stehen. An „der Wende vom 16. zum<br />

17. Jahrhundert ist (vor allem in England) ein Wille zum Wissen aufgetreten, der im<br />

Vorgriff auf seine wirklichen Inhalte Ebenen von möglichen beobachtbaren, meßbaren,<br />

klassifizierbaren Gegenständen entwarf; ein Wille zum Wissen, der dem erkennenden<br />

Subjekt (gewissermaßen vor aller Erfahrung) eine bestimmte Position, einen<br />

bestimmten Blick und eine bestimmte Funktion (zu sehen anstatt zu lesen, zu<br />

verifizieren anstatt zu kommentieren) zuwies; ein Wille zum Wissen, der (in einem<br />

allgemeineren Sinne als irgendein technisches Instrument) das technische Niveau<br />

vorschrieb, auf dem allein die Erkenntnisse verifizierbar und nützlich sein konnten.”<br />

(1974: 12f.) Das wissenschaftliche Subjekt wird so als objektives, ahistorisches,<br />

interesseloses Wesen ohne irgendwelche „materiellen, technischen, instrumentellen<br />

Investitionen der Erkenntnis” konzipiert. (1974: 13) 96<br />

Die Trennung der ‘wahren’ von den ‘falschen’ Sätzen wird durch die Disziplin<br />

gewährleistet. Die Disziplin definiert sich „durch einen Bereich von Gegenständen, ein<br />

Bündel von Methoden, ein Korpus von als wahr angesehenen Sätzen, ein Spiel von<br />

Regeln und Definitionen, von Techniken und Instrumenten: das alles konstituiert ein<br />

anonymes System, das jedem zur Verfügung steht, der sich seiner bedienen will oder<br />

kann”. (1974: 21) Als wissenschaftliche Disziplin stellt der Marxismus-Leninismus die<br />

Sätze, Methoden, Regeln und Definitionen auf, denen alle Sätze gehorchen müssen, um<br />

als ‘wahr’ angenommen zu werden. Ein Satz in einem solchen System muß „komplexen<br />

96 „Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht<br />

befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur<br />

Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwingt, ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht<br />

anders kann, als ihn zu verschleiern.” (Foucault 1974: 15)


156 Fuchs<br />

und schwierigen Erfordernissen entsprechen”. (Foucault 1974: 24) Das schließt<br />

automatisch alle spontanen, alltäglichen, aber auch poetischen Äußerungen aus.<br />

Als Wissenschaftsdisziplin produziert sie gelenkige und gefügige Gehirne. Als<br />

Schuldisziplin produziert sie gefügige Körper: „Ich kam nie zu spät” (PK 16), sagt<br />

Fuchs über seine Schulzeit: „Ich war ein guter Schüler”. (PK 23). Hier wird einem nicht<br />

nur das Erschrecken eingedrillt, wenn ein Lehrer vorbeikommt, sondern auch die<br />

Komplizenschaft mit der Macht: „Das Kichern der anderen / Wenn er plötzlich um die<br />

Ecke bog” (PK 16) und die Unterwerfung unter die Macht: „Ich will es nicht wieder tun<br />

/ Nie wieder” (PK 17) sagt „das kleine Gesicht / Das rot wird / Oder blaß” (PK 16). Der<br />

Körper lernt schnell, richtig zu reagieren, auch wenn die Schule den letzten Rest<br />

Aufmüpfigkeit doch nie ganz auslöschen kann: „Einen nassen Tafellappen an die Wand<br />

zu werfen / Ist auch mutig.” (PK 19) Als militärische Disziplin erzwingt sie die<br />

Konformität des Einzelnen in geradezu grotesker Sturheit:<br />

AM ERSTEN TAG, nach der Einkleidung, als ich vom Stabsgebäude in die Unterkunft rannte, die<br />

neue Uniform unterm Arm, und einem Mann begegnete mit Schirmmütze, Koppel und goldenen<br />

Schulterstücken, den ich nicht kannte, den ich erst bemerkte, als er HALT schrie und ZURÜCK,<br />

den ich gar nicht gesehen hatte vor Aufregung und Eile am ersten Tag, wäre ich fast weitergerannt,<br />

wäre ich fast nicht zurückgekommen, hätte ich fast nicht Aufstellung genommen, wäre ich fast<br />

nicht noch einmal mit der rechten Hand am Käppi an ihm vorbeimarschiert, wie ich es getan habe<br />

nach kurzem Zögern, kürzer als diese dreizehn Zeilen dauern, wenn sie schnell vorgelesen werden.<br />

(PK 14)<br />

Die scheinbar ganz sachliche Beschreibung ohne Kommentar legt dennoch den<br />

Blödsinn solcher Rituale und Diskurse offen. Der Widerstand gegen diesen Diskurs<br />

beginnt mit einem, einer Einzelnen und schwillt zu den Vielen, fast Allen an. Dadurch<br />

wird die Bedeutungslosigkeit der Herrschenden im Verhältnis zur Masse der<br />

Beherrschten sichtbar, das eigentliche Machtverhältnis offenbart sich. Die Betonung des<br />

Einzelnen steht im Gegensatz zum Kollektiv, das ja als Maßstab des individuellen<br />

Handelns im sozialistischen Staat fungierte. Darum geht es in dem Gedicht Nicht Alle,<br />

das Fuchs aus Anlaß der Faultlines-Konferenz in Kapstadt 1996 verfaßte, in der es<br />

ebenfalls um die Aufarbeitung der Erfahrung unter einem anderen totalitären Regime,<br />

der Apartheid, ging. 97 Das Individuum soll so handeln, daß es nicht in Konflikt mit den<br />

Interessen des Kollektivs gerät. Dieses Prinzip entlarvt Fuchs jedoch als Zwang zur<br />

Konformität, die es aufzubrechen gilt durch die Wiederentdeckung individueller<br />

Verletzungen, Stärken, Ängste und Wünsche. In dem Gedicht zeigt Fuchs, wie weit sich<br />

ein Einzelner, eine Einzelne unterdrücken läßt, bis er oder sie beginnt, sich dagegen zu<br />

wehren. Der Eigensinn findet Verstecke, in denen er sich, wenn auch mit schlechtem<br />

Gewissen, ausleben kann:<br />

Das Klo<br />

Der liebste Ort<br />

Halt, wohin<br />

97 Eine verborgene Spur dieses Anlasses ist in der Anspielung auf ein Gedicht von Natan Zach enthalten,<br />

das Zach als geladener Gast auf der Konferenz rezitierte, in der ebenfalls die Formulierung „Nicht Alle”<br />

eine entscheidende Rolle spielt.


Von keinem Diskurs beherrscht 157<br />

Ich gehe austreten<br />

Zehnmal am Tag<br />

Wie lang ist deiner<br />

Zeig mal<br />

Meiner ist länger<br />

Na und<br />

Dafür habe ich schon Haare (PK 20)<br />

Dort, wo der Schüler sich nicht beobachtet fühlt, erhält er sich einen letzten Rest von<br />

Freiheit, zeigt durch seine Gesten seine Nicht-Unterwerfung an:<br />

Und der Zeigefinger<br />

Auf dem Weg zur Stirn, hinter dem Rücken<br />

Die rote Zunge (PK 17)<br />

Diese Einzelnen, die sich nicht durch Tortur brechen lassen, sind besonders gefährlich<br />

für den Staat, da sie zum Vorbild für andere werden können. Der Sinn der Tortur<br />

besteht ja gerade darin, zu zeigen, daß es sinnlos ist, zu rebellieren, da der Staat<br />

übermächtig ist.<br />

Dagegen setzt Fuchs im Osten wie im Westen die Weigerung, sich von den Reden<br />

der Politiker beeindrucken zu lassen.<br />

NICHT MEHR VERSTECKSPIELEN<br />

Will ich<br />

Die Reden<br />

Der Politiker<br />

Kommen mir sinnlos vor<br />

Ich verwechsle ihre Gesichter .<br />

Welche Absprachen<br />

Sollte ich treffen?<br />

Tricks<br />

Kann ich mir<br />

Im gelben Zauberzelt auf dem Rummel in Kreuzberg<br />

Ansehen. Und wenn kein Zauberzelt da ist<br />

Fahre ich Karussell<br />

Oder Riesenrad<br />

Wegen dieser Einzelnen ist es Fuchs wichtig, die Alltagssprache zu seiner poetischen<br />

Sprache zu machen. Die Vertreter des Staates charakterisiert Fuchs dagegen stets durch<br />

die brutale oder abgestumpfte Sprachgeste. Sie brüllen, drohen oder schüchtern mit<br />

ideologischen Brocken ein. Fuchs versucht dagegen, den individuellen Gestus, der die<br />

Normalität und Konformität des grauen Alltags durchbricht, in den Bildern des Alltags<br />

auszudrücken: So wird z.B. die Zeichnung eines Kindes mit dem lachenden Ungeheuer<br />

oder der eigene Pullover zu einem Zeichen des Widerstands und der Solidarität gegen<br />

ein inhumanes System. Das bedeutet aber auch, daß der Staat den Widerstand nicht


158 Fuchs<br />

unterbinden kann, da er überall in den harmlosesten Umständen und Gesten aufflammen<br />

kann.<br />

für A. + P. <strong>Horn</strong> und Keith Gottschalk 98<br />

Nicht Alle<br />

Sitzen im Gefängnis<br />

Immer nur einer, immer nur eine<br />

Immer sitzen einige, manchmal viele<br />

Im Gefängnis<br />

Im Lager<br />

In der Falle, die meisten nicht<br />

Die meisten sitzen nicht im Gefängnis<br />

Nur manchmal<br />

Einer<br />

Eine<br />

Einige<br />

Viele, fast alle<br />

Ein Vater folgt seiner Tochter<br />

Er sagt Nein im Verhör<br />

Sie brüllen<br />

Er sagt Nein. "Sie sehen Ihre Tochter<br />

Nie wieder!"<br />

Sie brüllen<br />

Er sagt Nein, will kein Schwein sein<br />

Ein Vater folgt seiner Tochter<br />

Der Himmel vielleicht blau<br />

Eine Sonne<br />

Ein kleiner Regen<br />

Eine Welt<br />

Ein Leben<br />

Wer schickt Briefe, Postkarten?<br />

Wer Bücher<br />

Wer legt den eigenen Pullover dazu?<br />

Die Zeichnung des Kindes<br />

Mit Wasserfarben?<br />

Rot, grün, schwarz, eine Wiese, Bäume<br />

Ein lachendes Ungeheuer<br />

Alle saßen nicht im Gefängnis<br />

Immer nur einer, immer nur eine<br />

Im Lager<br />

In der Falle<br />

Andere<br />

Saßen in anderen Fallen<br />

Andere<br />

Sitzen in anderen Fallen<br />

98 Das Gedicht wird hier zum erstenmal abgedruckt.


Von keinem Diskurs beherrscht 159<br />

Manchmal<br />

entscheidet ein Brief, eine Postkarte<br />

Ein Buch, eine Zeichnung eines Kindes<br />

Ein Freund, ein<br />

Winken, ein<br />

Gruß<br />

Über Leben und Tod<br />

Einer, eine<br />

Das sprachliche Spiel um die Wörter „nicht alle”, „einer”, „eine”, „einige”, „viele”,<br />

„andere”, „fast alle” widerspiegelt die Position des Einzelnen im Widerstand gegen die<br />

Staatsgewalt. Er ist zunächst „einer”, das ist seine unmittelbare Erfahrung, er wird von<br />

den anderen ferngehalten, dann aber erfährt er, daß es auch andere gibt, vielleicht sogar<br />

viele, ja fast alle, die gegen diesen Staat angehen. Aber es sind nie alle, die sich gegen<br />

den Staat stellen. Die Stärke des Regimes besteht darin, daß sie den Einzelnen glauben<br />

lassen, er sei nur einer. Von dieser vereinzelten Position aus muß er sich zunächst<br />

wehren, denn selbst wenn es andere gibt, die auch Widerstand leisten, als „einer” steht<br />

er allein dem Vernehmungsbeamten gegenüber.<br />

„Ein Vater folgt seiner Tochter” deutet an, daß die junge Generation die ältere, die<br />

sich vielleicht mit der Diktatur abgefunden hat, auffordert, sich der Bevormundung und<br />

Gängelung durch den Staat zu widersetzen. Das Nein im Verhör signalisiert, daß der<br />

Vater nicht die gewünschten Informationen über die Tochter und die Beziehungen, die<br />

sie tragen, preisgeben will. Die Polizeiagenten drohen mit dem Verlust der Tochter. Der<br />

Vater gerät so in einen ‘double bind’: Wenn er nicht über die Beziehungen und<br />

Aktivitäten der Tochter Auskunft gibt, verliert er sie vielleicht physisch, und wenn er<br />

ihnen die Informationen gibt, verliert er die Liebe und Anerkennung der Tochter, weil<br />

er ihre Integrität verraten hat. Diese Art, in die intimsten privaten und familiären<br />

Beziehungen einzugreifen, um sie zu ‘zersetzen’, identifiziert Fuchs als einen<br />

bevorzugten ‘operativen Vorgang’ der Stasi. Ziel der Zersetzung war „die<br />

Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte,<br />

um dadurch feindlich-negative Handlungen einschließlich deren Auswirkungen<br />

vorbeugend zu verhindern, wesentlich einzuschränken oder gänzlich zu unterbinden<br />

bzw. eine differenzierte politisch-ideologische Rückgewinnung zu ermöglichen.” (Zit.<br />

nach Walther 1996: 321) Dieser Eintrag aus dem Wörterbuch der Stasi hätte direkt aus<br />

dem Wörterbuch der SS abgeschrieben sein können. In seinen Essays verweist Fuchs<br />

auf die Parallele des stalinistischen Sprachverfalls zum Sprachverfall des Dritten<br />

Reichs, den Victor Klemperer (1975) als LTI kennzeichnete. Das totalitäre System<br />

versucht, durch eine Atmosphäre der Furcht und der Paranoia die Widerstandschancen<br />

des Einzelnen, der Einzelnen zu verringern. Zugleich soll aber ihr konformistisches<br />

Verhalten nicht als Zwang und Gewalt verstanden werden, sondern als das einzige<br />

wahre und vernünftige, da es durch den ‘humanistischen’ Diskurs des Marxismus-<br />

Leninismus legitimiert ist.


160 Fuchs<br />

In seinen Essays betont Fuchs immer wieder, daß er gegen die Sklavensprache<br />

anzuschreiben versucht. Unter der Verwaltung der Sprache durch ein totalitäres Regime<br />

entwickelt sich als Gegenbewegung eine Sklavensprache, zu der nach Fuchs auch die<br />

Literatur gehört. Er bezeichnet die Entdeckung der Sklavensprache an seinen eigenen<br />

Gedichten als „interessante[n] und schmerzliche[n] Vorgang”, den er so beschreibt:<br />

Die ganze Wahrheit kann man nicht sagen, also überlegt man sich Andeutungen, Spitzen,<br />

Symbole, die dann bei einigen Menschen eine ‘Aha’-Reaktion auslösen, soweit sie den gleichen<br />

Code besitzen. Das alles geschieht mehr oder weniger bewußt und hat ein wenig mit<br />

‘Sklavensprache’ zu tun. Je verschlüsselter die Menschen reden, desto deutlicher verweisen sie<br />

darauf, daß sie nicht alles sagen dürfen. Diese Art ‘Kassiber’-Literatur, die in der DDR noch sehr<br />

verbreitet ist, habe ich eine Zeitlang mitgemacht, so lange genau, bis ich dieses Problem<br />

einigermaßen erkannt hatte. Wenn ich heute manches deutlicher sage, dann deshalb, weil ich nur<br />

so eine gute künstlerische Qualität erreiche, wie ich mir einbilde. Das Dumme ist nur, daß die<br />

verschlüsselte Ausdrucksweise eine sehr verständliche und auch notwendige Reaktion auf die<br />

gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR ist, und wer sich da nicht an die Spielregeln hält, der<br />

kann etwas erleben. (GV 57)<br />

Fuchs ist sich durchaus der Problematik der Literarisierung von Erfahrungen bewußt. Er<br />

weiß auch, daß wir dazu neigen, der Sprache eine magische Gewalt zuzuschreiben, daß<br />

wir hoffen, das einmal ausgesprochene oder niedergeschriebene würde nun nicht mehr<br />

in der Realität eintreffen: „Heimlich, mit Hilfe der Sprache, sollten die Gefahren<br />

abgewendet werden. In der Not der Rückgriff aufs Magische. Das Aufschreiben war<br />

sehr wichtig und nicht nur ein Ventil.” (E 17) Aber die Magie der Sprache kann die<br />

Realität in dieser einfachen Weise nicht beeinflussen: „Auch ich wurde ins Zimmer des<br />

Direktors gerufen. Und der Einberufungsbefehl kam pünktlich, ich war achtzehn.” (E<br />

17) Literatur rettet weder vor der Armee nocht vor den Spitzeln der Stasi noch vor dem<br />

Gefängnis.<br />

In dem Gedicht Nicht Alle wird die Anklage gegen den Vater nicht klar<br />

ausgesprochen. Vielleicht ist es auch unwesentlich, da jede noch so kleine Tat als<br />

staatsgefährdend angesehen wurde, und da man den Anspruch, daß die DDR ein<br />

Rechtsstaat sei, schon längst aufgegeben hatte. Das Wort ‘Lager’ in dem Gedicht<br />

könnte sowohl auf ein Konzentrationslager im Dritten Reich als auch auf ein<br />

stalinistisches Lager verweisen.<br />

Nach West-Berlin abgeschoben, überlegte sich Fuchs, ob es nicht vielleicht besser<br />

gewesen wäre, die DDR-Behörden zu zwingen, ihn vor Gericht zu bringen: „Ein<br />

Verbleiben im Gefängnis hätte vielleicht mehr bewirkt als alle Erklärungen hier.” Er<br />

weiß aber auch: „Vielen werden diese Zweifel unverständlich vorkommen.” (E 28) In<br />

einem Brief an Katja und Robert Havemann gesteht er „ein Gefühl des sinnvollen<br />

Lebens im Gefängnis ... das ich hier vergeblich und auch verzweifelt suche. Ja, in der<br />

Zelle fühlte ich manchmal weniger Leere als bei Karstadt oder im KaDeWe.” (E 29) Er<br />

reflektiert diese Zweifel in einem Gedicht:<br />

Wir sind weg<br />

sagt sie<br />

wir können nicht zurück<br />

aber ich bin nicht mehr im Gefängnis


Von keinem Diskurs beherrscht 161<br />

sage ich<br />

ja, sagt sie<br />

das stimmt. (E 28)<br />

Fuchs’ Kritik an der Sklavensprache, bedeutet aber auch, daß er sich weigert, ‘poetisch’<br />

zu schreiben oder mit literarischen Formen zu experimentieren. Dadurch wirken seine<br />

Texte auf den ersten Blick ‘unliterarisch’. Damit verkennt man jedoch ihren<br />

Kunstcharakter, der sich in dem Aussparen aller unwesentlichen Details des Alltags<br />

offenbart und unfehlbar den signifikanten und mehrdeutigen Gestus herauskehrt. So<br />

können die Gedichte auch nicht einfach konsumiert werden. Sie wehren sich gegen „den<br />

halben Wahnsinn dieses Marktes hier, [gegen] das Einbeziehen von gesellschafts- und<br />

staatskritischer Literatur in den Reklamekreislauf dieses Systems. (E 27) Sie erfordern<br />

aktive LeserInnen, um das Nichtgesagte überhaupt erst zu imaginieren und zu begreifen.<br />

Fuchs setzt seine aufklärerische und humane Arbeit auch nach der Wiedervereinigung<br />

Deutschlands fort, indem er diese leise Erinnerungsarbeit trotz der euphorischen<br />

Jubelsänge und melancholischen Trauermärsche leistet.<br />

Literaturangaben:<br />

Abkürzungen:<br />

E: Fuchs, Jürgen (1984), Einmischung in eigene Angelegenheiten, Reinbek bei Hamburg:<br />

Rowohlt<br />

EF: Fuchs, Jürgen (1992), Das Ende einer Feigheit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt<br />

D: Fuchs, Jürgen und Gerhard Hieke (1992), Dumm geschult? Ein Schüler und sein Lehrer.<br />

Berlin: Basisdruck<br />

GV: Fuchs, Jürgen (1990), Gedächtnisprotokolle. Vernehmungsprotokolle. Reinbek bei<br />

Hamburg: Rowohlt<br />

H: Fuchs, Jürgen (1990), "... und wann kommt der Hammer? Psychologie, Opposition und<br />

Staatssicherheit. Berlin, Basisdruck<br />

P: Fuchs, Jürgen (1993), Poesie und Zersetzung. (=Reihe Literatur zur Beförderung der<br />

Humanität). Jena: Universitätsverlag<br />

PK: Fuchs, Jürgen (1981), Pappkameraden. Gedichte. Hamburg: Rowohlt<br />

Foucault, Michel (1974), Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.<br />

Frankfurt am Main: Suhrkamp<br />

Klemperer, Victor (1975) LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam Verlag (1957)<br />

Negt, Oskar (1988), Modernisierung im Zeichen des Drachens. China und der europäische<br />

Mythos der Moderne. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag<br />

Walther, Joachim (1996), Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der<br />

Deutschen Demokratischen Republik. Ch. Links Verlag, Berlin


An end to conformity: Jürgen Fuchs' experience of the army in<br />

Fassonschnitt (Crewcut) and Das Ende einer Feigheit (An end<br />

to cowardice)<br />

The National People's Army (NVA) was the army of the German Democratic Republic<br />

and the most important part of the national defence policy formulated by the Socialist<br />

Unity Party (SED). The designation of socialist army was justified on several counts: It<br />

was the class and power instrument of the worker and peasant state that protected the<br />

socialist fatherland against all enemies of socialism; it was part of the military alliance<br />

of socialist states in the Warsaw Pact; it cooperated closely with the Soviet Army; it<br />

fulfilled its revolutionary class mission under the leadership of the SED and was<br />

constantly prepared to act according to its decisions; finally its tasks and self-perception<br />

were based upon a unified military doctrine. The NVA was a voluntary army until<br />

January 1962 when universal conscription was introduced. 99 The SED maintained its<br />

leadership of the NVA throughout its reign and regarded this as well as its membership<br />

of the Warsaw Pact as reasons for its successful development into a socialist army.<br />

The members of the army had to pledge the following oath of allegiance which sums<br />

up their total commitment to the army, the SED and ultimately to the dominance of the<br />

Soviet Union: „I swear: To serve the German Democratic Republic, my fatherland,<br />

loyally at all times and to protect it against any enemy on the orders of the worker and<br />

peasant government. / I swear: To be ready at all times as a soldier of the National<br />

People’s Army on the side of the Soviet Army and the armies of our allied socialist<br />

countries to defend socialism against all enemies and to lend myself unreservedly to the<br />

pursuit of victory. / I swear: To be an honest, brave, disciplined and vigilant soldier, to<br />

show absolute obedience to my military superiors, to follow their orders unreservedly<br />

and to strictly guard military and state secrets at all times.” (DDR 589) Although this<br />

allegiance might be reasonably expected of a soldier during war-time, it extended to<br />

peace-time as well, with repeated call-ups being the norm. The army insinuated itself<br />

into all aspects of everyday civilian life, suspending the normal human rights such as<br />

the right to the freedom of expression. It thus seems justified to speak of a militarized<br />

society. 100<br />

The term militarism with its emphasis on war-like values is replaced by<br />

militarization in modern Western societies. The term militarization is used wherever the<br />

boundary between the military and civil society becomes murky. 101 Areas of civilian life<br />

99 DDR-Handbuch, p. 587.<br />

100 Ironically the East German Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch defined militarism as a<br />

„reactionary and aggressive system of domination and organization in social orders based on<br />

exploitation” in which „economic, social and cultural life is subjected to a military clique which views<br />

military force and war in particular as the main instrument for the realization of an aggressive policy”.<br />

Volker R. Berghahn, Militarism: The History of an International Debate 1861-1979. Warwickshire: Berg<br />

Publishers 1981, p. 3.<br />

101 See Patrick M. Regan, Organizing Societies for War. The Process and Consequences of Societal<br />

Militarization. Westport, Connecticut, London: Praeger 1994; and Cynthia Enloe, „Beyond Steve Canyon


164 Fuchs<br />

that have recently become militarized include the entertainment and service industries,<br />

the role of intellectuals and gender relations.<br />

The trend towards militarization which has been analysed in Western societies also<br />

manifested itself in the GDR since the late fifties. This is exemplified by a military<br />

decree of 1959 which aimed to garner the best men and women for the army and to<br />

mobilise the entire civil society: „The work of the party organisation mainly<br />

encompasses the area of political-ideological training, the enforcement of party<br />

decisions in military practice and the initiation and leadership of competition, which<br />

started in 1959 as the ‘movement of the best’ and has continued since 1961, justified by<br />

the command for competition by the minister of national defence, as constant<br />

mobilisation, as a campaign for utilising all personal and material reserves for the sake<br />

of fulfilling the tasks in the military.” (DDR 590) This is ample proof of how the<br />

distinction between the military and civil society, represented by the SED, became<br />

blurred. The only difference between militarization Western and GDR style seems to lie<br />

in the way the SED used the army much more openly as its instrument of power not<br />

against an outside enemy but against its own people. The class enemy beyond the<br />

borders of the GDR became the enemy within the country. What the party feared most,<br />

was any criticism of its own policies by workers, students and intellectuals. It tried to<br />

prevent any opposition from these groups along the lines of the workers’ strike in June<br />

1953 or the Petöfi-Club in Hungary in 1956 or the Prague spring of 1968 by co-opting<br />

the best among them into the Party, the army or the Stasi. This policy created a set of<br />

contradictions within those institutions as the more critically minded tried to change<br />

them from within. So the Party had to revert to the carrot-and-stick method in order to<br />

control any opposition.<br />

It seems as if Jürgen Fuchs who was born in 1950 in Reichenbach in Vogtland<br />

fulfilled the criteria of this movement of the best. He was the son of a worker who<br />

excelled at school, showed literary promise from an early age, completed an<br />

apprenticeship at the railways and enrolled as a student of psychology at the University<br />

of Jena in 1971. As a precondition for study he had to do two years of military service<br />

from 1969 which was the year after the NVA had joined the Soviet Army in suppressing<br />

the brief flowering of democracy in Prague under Dubcek. In his autobiographical<br />

account of his days in the army in 1969 in Fassonschnitt (Crewcut) (1984) and of four<br />

years later in the novel Das Ende einer Feigheit (An End to Cowardice) (1988), Fuchs<br />

remembers the deployment of troops to Zwickau, Johanngeorgenstadt and Plauen on the<br />

German-Czech border. 102 He feels guilty about the interference of his army in the affairs<br />

of a brotherly state. He secretly identifies with the aims of the Prague spring, although<br />

the official Party line branded it a counter-revolution. In An End to Cowardice he<br />

grapples with the contradictions and ambivalences of his own stance towards the<br />

socialist system in the GDR, which he supports in its utopian vision, but which he<br />

and Rambo: Feminist Histories of Militarized Masculinity.” In: The Militarization of the Western World.<br />

(Ed. by) John R. Gillis. New Brunswick and London: Rutgers University Press 1989, p. 119-140.<br />

102<br />

„Once before special trains had stood ready, in Zwickau, Johanngeorgenstadt, Plauen, in sixtynine,<br />

four years ago.” (EF 6)


An end to conformity 165<br />

would also like to change in some key areas such as its apparent disregard for human<br />

rights.<br />

One of the major concerns of Fuchs’ two army novels is the way it turns ordinary<br />

human beings into ‘real men’ who will fight for their ‘fatherland’. He analyses the<br />

continuity between this attitude towards ‘masculinity’ and the militaristic attitude of the<br />

generation of his father who fought in the national socialist army. Underneath a thin<br />

veneer of prescribed anti-fascism this authoritarian socialisation had survived<br />

unchallenged in the GDR. In West Germany the militaristic ideals of the Nazi period<br />

were questioned through the student revolution, while the hippie-generation in the US<br />

protested against the Vietnam war, demonstrating their disdain for the establishment<br />

with long, untamed hair, rock ‘n roll, the use of drugs and free love. The authorities in<br />

the GDR tried to prevent this rebellious spirit from igniting their own youth, but their<br />

contempt of the hippies as the embodiment of Western decadence made them all the<br />

more desirable in the eyes of the GDR rebels. The wearing of long hair (at least<br />

anything that exceeded the narrowly circumscribed lengths of the military crewcut) and<br />

the music of the Beatles and the Rolling Stones became a symbol of protest against a<br />

restrictive socialist system. In the following passage, Fuchs plays these opposing codes<br />

of masculinity off against each other:<br />

‘To look like a Beatle’, this often meant: like a hobo, a pig, an asocial element, like a Westerner.<br />

Every word was used as a swear word ... A lot of things clashed. Our fathers grew up under the<br />

care of sergeants and power-obsessed corporals who occasionally slept in campbeds with an eye<br />

on the masses. Their ideal of beauty was masculine, decent, proper, deployable by the troops. It<br />

did its duty and normally achieved the superhuman with its utmost strength, radiant and blonde,<br />

hand at the holster or near the genitals. Our new socialist leaders also have the heroic look in their<br />

eyes. One can see this on photos and paintings. They are all chairmen and general secretaries, team<br />

captains and achievers, heroes and good comrades. Their faces of endurance with the hard or<br />

good-natured corners of their mouths are thoroughly compatible with binoculars, footballs, razor<br />

blades, space capsules and the hatches of tanks. They swear an oath and arrive at their goal. They<br />

have their will and serve loyally. This then collides with certain hermaphroditic creatures who<br />

lounge in front of the TV and watch the ‘Beatclub’, who listen to jazz and won’t iron their pants.<br />

They are bastards, renegades, dissidents and Angloamerican hippies, who hang out on the streets,<br />

listen to loud music and lie in bed with full-busomed women for weeks on end, because they are<br />

allegedly for peace, which they don’t want to defend with weapons out of cowardice. That’s where<br />

the fun ends ... and it is true: That’s where the fun really ended. They became serious. This old,<br />

stubborn seriousness. (F 66f.)<br />

The German ideal of militaristic masculinity can be traced back further than national<br />

socialism to the foundation of the German nation state in the Prussian army. The<br />

Prussian militaristic ethic is best encapsulated in Clausewitz’s belief that war brought<br />

out the best in man and was thus an agent for improving society or as he would have it,<br />

the race. The same blind loyalty and subservience of the soldier in war was also<br />

expected of the civil servant in the Prussian bureaucracy during peace. This culminated<br />

in the spirit of submissiveness of the Wilhemine era which Heinrich Mann had<br />

identified as one of the underlying causes of the rise of national-socialism in Germany.<br />

It is perhaps ironic that the ruling party of the GDR came to rely so heavily on this<br />

entrenched spirit of militarism and authoritarianism in the state bureaucracy it inherited.


166 Fuchs<br />

In the GDR, militarization also manifested itself in the state institutions. The Party,<br />

the army, school and the young pioneers were intertwined. These institutions served as<br />

ideological state apparatuses that turned individuals into disciplined and controllable<br />

subjects. Fuchs has no illusions about their function when he asks: „Where does the<br />

state appear in its naked form? Where does the real meaning behind preambles, phrases<br />

and stilted words become clear? In prisons, mental asylums, barracks, schools. In the<br />

clerk’s offices of small stations. When doors are opened and shut. When the supervisor<br />

appears in his blue dustcoat. When the stickler for rules yells and looks for dust on the<br />

lampshades and behind soldiers’ cupboards. When an ‘intake’ is carried out ‘at station’,<br />

the handing over of personal utensils, the allocation of the room, the cell, the<br />

‘lockerroom’, as it was called in the official jargon of the prison regulations of the<br />

Stalinists.” (D 5)<br />

These institutions were based on the militaristic principle by which the majority, the<br />

comrades, turned against the deviants, the outsiders, the dissidents whom they<br />

stigmatised as ‘weaklings’. The aim of this subtle means of coercion was not to isolate<br />

the dissidents even further, however, but to bring them back into the fold of the<br />

‘normal’ socialist community. Nowhere is this more evident than in the Stasi, which<br />

spied on everyone including the spies themselves to ensure a homogeneous society<br />

where everyone owed blind allegiance to the party, the aptly named Socialist Unity<br />

Party. This led to a paranoid situation, as Joachim Walther points out in his seminal<br />

work on the methods the Stasi employed to observe writers, artists and intellectuals. 103<br />

The trust, which bound the party and the community together was undermined not by a<br />

perceived outside enemy but by their own distrust of each other and eventually,<br />

themselves. This stems from the fear of letting go of the tried and tested formulas of<br />

Marx, Engels and Lenin and responding actively to change. It marks the difference<br />

between an authoritarian and a democratic form of socialism.<br />

Fuchs describes his headmaster Uebel, who had previously led a cadet-school, as an<br />

example of the Prussian-socialist militarism he abhors:<br />

It was the year 1961; I don’t even have to mention militarisation.<br />

He was a man, by the way, whom -- in some respects -- I saw differently then than later, even<br />

today. Certainly a lot in him was reprehensible to me; he, the Prussian-socialist officer, and I, the<br />

individualist with all my obstinacy. For him, education was mainly about a scheme, norms,<br />

conditioning. That applied to intellectual work, for example the demand for the slavish imitation of<br />

his work-style, down to the colour of his underlinings, but above all these assemblies, for example<br />

the marching exercises before the first of May and so on, in fact his military style. (D 27)<br />

What Fuchs respects about his former headmaster, though, is that he set very high<br />

intellectual standards and that he allowed his pupils to find out things for themselves.<br />

He also notices that he was never directly involved in interrogations by the education<br />

authorities who showed an interest in any deviant pupil. It is such complex and<br />

contadictory behaviour that renders any quick dismissal of the socialist system in the<br />

GDR as a monolithic dictatorship problematic.<br />

103 Walther, Joachim, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatsicherheit in der Deutschen<br />

Demokratischen Republik. Berlin: Ch. Links Verlag 1996.


An end to conformity 167<br />

Fuchs explores the avenues of resistance available to a recruit in a military system<br />

that did not tolerate any opposition. The National People's Army Every had the<br />

prerogative to conscript any young man it deemed fit for the military service. „’Military<br />

training, obligatory’, preprinted on page 52 in the student’s register: ‘Confirmation of<br />

participation in the military, paramilitary and air force training .’ A stamp from the<br />

directorate for education and training underneath, an overall mark is to be allocated.<br />

Date, signature.” (EF 7) Military service is a prerequisite for further study, although<br />

with its absurd and mindless routine it seems the very antithesis of study. Yet Fuchs<br />

knows that the Party would not accept his argument that he had done his military<br />

service already: „I have served already, I know it already, saluting, standing to attention,<br />

cleansing weapons, cleaning boots, I know it already, one could not say that, if one<br />

wanted to continue studying in the new year.” (EF 7) So it is back to the routine in the<br />

army, where the recruits kill time by playing cards, packing their clothes, chatting. The<br />

first-person narrator addresses them as „fellow-students, students, soldiers” and<br />

continues in a more questioning tone: „Comrades? Friends? EK’s?” (EF 6) The second<br />

time in the army he starts a little black notebook in which he keeps track of his<br />

experiences: „To make this army, this peace my topic. If I am courageous enough. If I<br />

am lucky. Will there be a time to describe calmly what I have seen and hastily noted<br />

down, whom I met, here and in Johanngeorgenstadt, in Plauen, when my ‘term’ started?<br />

What was spoken about and how. The faces, the names, their stories.” (EF 8) His<br />

writings in the army enable him to distance himself from his immediate day to day<br />

experiences. Eventually he plucks up enough courage to oppose not only the army, but<br />

to break through the conformity that is expected of every citizen in the GDR.<br />

He observes his fellow soldiers closely but sympathetically both in their activities on<br />

the training field and in the barracks. At the beginning of An end to cowardice Pilz is<br />

overjoyed because he has completed his military service and is going home. He is, „tall,<br />

over two metres, broad, he wears grey braces on his baggy uniform-pants”. Schonwald<br />

repeats Pilz’ cry of ‘Going home, boys, going home!’ while he continues his game of<br />

skat. He is described as „an amateur radio operator, chemistry student like Pilz, round<br />

face, frizzy hair, medium build, fat, very loud voice, ‘eighteen, twenty ...’”. Schenck,<br />

his skat partner „passes, technology section, he hardly talks, listens, reads car<br />

magazines, compares technical data. His brother is an opera singer in Eisenach. When<br />

he says ‘opera singer’ he smiles, it is a friendly, sheepish smile: I cannot help it, just<br />

another career, singing ... Schonwald wins the game, Grand Hand.” The background<br />

noises are the only reminder that this scene is acted out in the army: „On the corridor<br />

doors are slamming.” (EF 6) For Fuchs these seemingly insignificant noises, such as the<br />

slamming of doors, and the tone in which the sergeants speak to the ordinary soldiers<br />

become symptomatic of the far wider reaching social ills of militarism and<br />

authoritarianism.<br />

The army did not make provision for conscientious objectors be it on religious or<br />

moral grounds. Fuchs describes how a Christian conscientious objector with long hair


168 Fuchs<br />

and guitar is singled out and ostracised by the army officers. 104 He also witnesses the<br />

suicide of a soldier while a football game is in progress. The army authorities try to<br />

underplay this incident by putting it down to the soldier’s disposition. Through incidents<br />

such as these, he begins to question the ideology of the army and realises that he<br />

upholds it simply by being a part of the system. He accuses himself for his own<br />

readiness to participate in the system: „Again you were on hand. Eight o’clock next to<br />

the entrance door of the old university, not far from the Schiller-House, universal<br />

history. Again it was November. How is this story going to continue? Small, silly, as<br />

repitition? In the completely new, different time. A truck arrives, climb up. Peace corps,<br />

corps of honour, reserve, socialist combat training, it doesn’t stop, returns agains and<br />

again. As long as you join them, are available, participate. That’s how long it will<br />

return. After the last day comes a first day. As long as you participate. You know that, it<br />

ocurred to you this evening, on the double-storey bunk with a view of the steel mattress<br />

above you, a few hours before departure, that’s when it ocurred to you.” (EF 37) But<br />

this realisation also carries a risk which the recruit might not be willing to take out of<br />

fear for the state’s reprisals: „What will happen, if you don’t cooperate here? What will<br />

they do to you? Any number of things. There is a price. Consider it carefully. There will<br />

be consequences. There are still other regions, other camps, other bunks. The street, the<br />

white and red boom of transition.” (EF 37) In the end, the knowledge that a secret<br />

defiance would be cowardly, triumphs over his fear: „Counting the days does not help.<br />

Being against it secretly does not help. Saying no. Writing down, what you see and<br />

hear. Attacks of doubt. Making everything unclear, tearing it up, burning it down.<br />

Lifting it into the general. Putting it into historical perspective. Becoming lyrical.<br />

Continuing the double game. But it is over. You know, that it is over. What is written in<br />

black note books can no longer be withdrawn. The NDL [the most influential literary<br />

journal in the GDR] will not print it. Another kind of print will begin, if you show it,<br />

another chapter. One with files, summons and small lockable rooms. / Fear. / One’s own<br />

way. / An end to cowardice.” (EF 38)<br />

Both novels are autobiographical and documentary in nature, a genre that was<br />

popularized in the sixties and seventies by Weiss, Enzensberger, and Wallraff amongst<br />

others. It seems to me that Wallraff is the best comparison in the case of Fuchs, since he<br />

also uses the first-person narrator in his documentary fiction. The tension between the<br />

desire for subjective authenticity and the need for objective distance that characterise<br />

the documentary genre create complex contradictions and ambivalences. How far is the<br />

writer allowed to follow his or her imagination and when does an account stop being a<br />

documentary and starts becoming fiction? The question of self-censorship was<br />

particularly pertinent to critical writers in the GDR, as they constantly had to walk a<br />

tight-rope between being truthful and avoiding the scissors of the censor:<br />

What I am writing down, I am not even allowed to think. And reading it to others, giving it to<br />

others to read? ‘I’ is only the ‘I-narrator’, not me, I could say. The philosopher recognises himself<br />

... The only thing I can be sure of is the reference to my literary intention. ‘They are after all only<br />

104 Klammer’s quiet defiance of the regulation army crewcut provides an example for Fuchs. Although<br />

the army authorities set him up as an object of ridicule, the recruits „are rather envious of him, with a<br />

measure of respect and admiration mixed in”. See Fassonschnitt, p. 66.


An end to conformity 169<br />

images’, Kafka claimed. He was a clerk in an office, wrote about castles and locked rooms, about<br />

America ... I am a soldier, subject to hard laws, everything can be held against me. Where does it<br />

come from, to scribble every day in note books ... I am only carrying out something ... The topic,<br />

the observations are stronger than the fear of the author for himself. Specht knows something. I<br />

trust him. Someone who has read Brecht that closely cannot be an informant. And Measures<br />

Taken? Brecht is also terrifying. Carola Neher ... his relationship with the Sowjet Union, with<br />

Stalinism, his silence ... Somehow he always keeps his nose clean. Or is that deceptive? Tucholsky<br />

and Borchert are closer to me. Writing as a last counter-attack. My writings break down any<br />

personal defence. Whoever reads that, knows what I am thinking. Excuses are useless. Observing<br />

the ‘Difficulties in Saying and Writing the Truth’? I cannot make up stories under these<br />

circumstances. I have great difficulties with changing or omitting names. Something prevents me<br />

from taking detours. Perhaps I am tired, the disappointment about myself is huge. If I use disguises<br />

I cannot get rid of the pressure. I want to get rid of the guilt I feel. Another pressure rises, a danger<br />

increases. Indifferent? Doesn’t matter? Attacks of fear. Throw the paper into the rubbish bin?<br />

Railway lines. Better to write, to risk it. I want to risk it. (EF 110f.)<br />

Self-censorship is the suppression of thoughts and words that one fears will incur<br />

reprisals by the state. It makes the censor superfluous, because one is carrying him in<br />

one’s own head. Self-censorship can also take the form of doubting one’s own literary<br />

ability, so one doesn’t even begin to write. In the following, the narrator calculates his<br />

risks and chances:<br />

Anyone writing about the NVA, terrible abbreviation, must reckon with the military state attorney<br />

... Will my stories find readers? Will anyone ever speak publicly of ‘stories’, of ‘prose’, not of<br />

‘material’ and ‘miserable efforts’? Anyone describing the fear, the uniformity, that which is<br />

printed, the conformity, can he count on friendly readers willing to engage in debate (I am not<br />

referring to the Stasi now)? What I describe still has power. If it is over, maybe then. And in<br />

foreign countries? (The next paragraph, distribution beyond the country’s boundaries. I have no<br />

idea, don’t know anyone, haven’t undertaken anything! There are armies everywhere ... A small,<br />

distant interest ... a matter of taste ... the cultural section in the papers ... Eastern Europe ... (EF<br />

111)<br />

Fuchs has called the dedication to 'high art' a kind of censorship and self-censorship<br />

which instead of calling a spade a spade reverts to 'slave language' (a term coined by<br />

Victor Klemperer in his analysis of the language of the Third Reich). It selects from and<br />

alludes to an oppressive system by means of metaphors and symbols because it fears<br />

reprisals for a more direct depiction of 'reality'.<br />

Fuchs holds the radical dictum that the private is the political. He characterizes his<br />

notes in his exercise books as follows:<br />

Entries, scraps, verse, stories, quotes, violations, observations, dialogues, ruptures, memories.<br />

Days in the life of the recruit F., who is one amongst many. Who says I, because it concerns<br />

everybody. And because it concerns him. I, I, I, that’s what he wants to say. And honestly, not for<br />

nothing, not lost. Maybe revenge is involved, to photocopy this here, the desire for a ‘reciprocal<br />

justice’ ... (EF 8)<br />

Biography is not simply shaped by circumstances but also through the active choices of<br />

the individual. It is a case of filling the blank spaces of time with a meaning that one<br />

would later be willing, even proud to identify with. This requires courage: „The months


170 Fuchs<br />

pass, the weeks, the days, the hours pass and return. There is counting, enduring,<br />

ducking, accepting. Not to think of the next appointment. I am thinking about it. The<br />

little animal in the mill runs and runs, wants to escape. There is no escape, that is the<br />

course of events. Is that my biography?” (EF 8f.)<br />

J.M. Coetzee in Truth in Autobiography has raised the vexed question of how much<br />

truth the writer is able to bear about him- or herself. In this way, the autobiographical<br />

text not only becomes an interrogation about a hostile socialist system, but also a selfinterrogation<br />

of one's own motives and desires that could become potentially more<br />

damaging than originally intended. I would argue that the autobiographical text sets up<br />

its own rules and limits about what is spoken of and what is left unsaid and that this<br />

contract is brokered with the reader. It therefore becomes an indicator of wide-reaching<br />

social and political changes, in which the individual instead of an anonymous mass led<br />

by a hierarchically structured party is seen as an important agent of change. The<br />

student's and women's movement in West Germany and the peace movement in the<br />

GDR are examples of this alternative structuring of power.<br />

Documentary literature in West Germany has itself renegotiated the parameters of<br />

what is regarded as 'authentic' or 'real' rather than of what is 'true' or 'false' in the old<br />

Lukacsian realist mould, which became the model for the officially sanctioned method<br />

of 'socialist realism' in the GDR. Individual or subjective factors are now seen as an<br />

integral part of 'realist' fiction. This is all the more remarkable for an author from the<br />

GDR where the subjective recording of everyday reality was regarded as a form of 'low'<br />

literature probably because it cast the existing system of socialism in an ambivalent<br />

light. It insisted on showing reality in both its positive and negative aspects. There were,<br />

however, precursors, such as Christa Wolf’s Reflecting on Christa T. (‘Nachdenken<br />

über Christa T.’), which strengthened Fuchs in his resolve to trust his own perceptions.<br />

References:<br />

F: Fuchs, Jürgen, Fassonschnitt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989 (1984)<br />

EF: Fuchs, Jürgen, Das Ende einer Feigheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992 (1988)<br />

D: Fuchs, Jürgen,und Gerhard Hieke, Dummgeschult? Ein Schüler und sein Lehrer. Basisdruck.<br />

Berlin 1992.<br />

GV: Fuchs, Jürgen, Gedächtnisprotokolle. Vernehmungsprotokolle. rororo. Reinbek bei<br />

Hamburg 1990.<br />

DDR: DDR-Handbuch. Wissenschaftliche Leitung: Peter Christian Ludz unter Mitwirkung von<br />

Johannes Kuppe. Herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen.<br />

Verlag Wissenschaft und Politik. Köln 1975.<br />

Berghahn, Volker R., Militarism: The History of an International Debate 1861-1979.<br />

Warwickshire: Berg Publishers 1981.<br />

Coetzee, J.M., ‘Truth in Autobiography.’ In: Ibid, Doubling the Point. Edited by David Attwell.<br />

Harvard University Press. Cambridge, Massachusetts; London, England 1992.<br />

Enloe, Cynthia, „Beyond Steve Canyon and Rambo: Feminist Histories of Militarized<br />

Masculinity.” In: The Militarization of the Western World. (Ed. by) John R. Gillis. New<br />

Brunswick and London: Rutgers University Press 1989.


An end to conformity 171<br />

Regan, Patrick M., Organizing Societies for War. The Process and Consequences of Societal<br />

Militarization. Westport, Connecticut, London: Praeger 1994.<br />

Walther, Joachim, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatsicherheit in der<br />

Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Ch. Links Verlag 1996.<br />

Wolf, Christa, Nachdenken über Christa T.


Die unschuldigen Intellektuellen: Kanon und Macht<br />

Kanon bedeutet die Ausbildung eines ästhetischen Kodex, der zugleich die<br />

Legitimationsgrundlage für die Ausgrenzung einer anderen literarischen oder<br />

kulturellen Praxis abgibt. Als solcher tritt er mit dem Anspruch auf absolute Geltung<br />

auf, (1) mit dem vorher die Kirche ihren ‘Kanon’ aufstellte. Schon die Päpste maßten<br />

sich das Recht an zu entscheiden, was gelesen werden durfte oder nicht: "Auch an<br />

einem andern Orte gebeut das päpstliche Recht, dass kein ander Buch (überhaupt durch<br />

die ganze Welt) rezipieret werden mag, als das, welches durch die römische Kirche und<br />

des Papstes Canones ist gebilliget worden."(2) Was im Staate Gesetz heißt, hieße in der<br />

Kirche ‘Kanon’, meinte Hobbes.(3) Noch Pascal schreibt mit dieser Geste der<br />

Unfehlbarkeit:<br />

Anders ist es mit Jesu Christo und mit den kanonischen Büchern. Die Wahrheit ist darin enthüllt<br />

und der Trost ist eben so unfehlbar damit verknüpft als der Irrthum unfehlbar davon geschieden<br />

ist.(4)<br />

Diese Aura der unbedingten Gültigkeit hat der Begriff "Kanon" auch in der<br />

Philosophie. Kant führt dazu aus:<br />

Ich verstehe unter einem Kanon den Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs<br />

gewisser Erkenntnisvermögen überhaupt. So ist die allgemeine Logik in ihrem analytischen Teile<br />

ein Kanon für Verstand und Vernunft überhaupt, aber nur der Form nach, denn sie abstrahiert von<br />

allem Inhalte. So war die transzendentale Analytik der Kanon des reinen Verstandes; denn der ist<br />

allein wahrer synthetischer Erkenntnisse a priori fähig. Wo aber kein richtiger Gebrauch einer<br />

Erkenntniskraft möglich ist, da gibt es keinen Kanon.(5)<br />

Bei der Frage des Kanons geht es also um den Versuch, eine unbezweifelbare<br />

Hierarchie von Werten, Werken und von Künstlern aufzustellen, um die<br />

Auseinandersetzungen um Macht, die von Künstlern und Intellektuellen auf<br />

verschiedenen Gebieten der Kultur geführt werden. Problematisch ist dieser Anspruch<br />

seit dem Ende der normativen Poetik, vor allem seit der Genie-Ästhetik des Sturm und<br />

Drang, die die "subjektivistische Inappellabilität des Geschmacksurteils" gegen den<br />

Anspruch einer Regelpoetik aufstellte und verteidigte. Wenn das so ist, dann stellt sich<br />

die Frage, wer entscheidet, was Kunst ist.(6) Etwa die demokratische Mehrheit.<br />

Dagegen polemisierte schon Nietzsche:<br />

Will man aber gar auf das Gebiet der Kunst den Gebrauch der Volksabstimmungen und der<br />

Zahlen-Majoritäten übertragen und den Künstler gleichsam vor das Forum der ästhetischen<br />

Nichtstuer zu seiner Selbstverteidigung nötigen, so kann man einen Eid darauf im voraus leisten,<br />

daß er verurteilt werden wird: nicht obwohl, sondern gerade weil seine Richter den Kanon der<br />

monumentalen Kunst (das heißt, nach der gegebenen Erklärung, der Kunst, die zu allen Zeiten<br />

»Effekt gemacht hat«) feierlich proklamiert haben.(7)<br />

Rabiat wendet er sich gegen einen Versuch, ästhetische Werte durch<br />

Mehrheitsbeschlüsse festlegen zu lassen:


174 Die unschuldigen Intellektuellen<br />

Jene naiven Historiker nennen ‘Objektivität’ das Messen vergangner Meinungen und Taten an den<br />

Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit<br />

ist, die Ver- gangenheit der zeitgemäßen Trivialität anzupassen. Dagegen nennen sie jede<br />

Geschichtschreibung ‘subjektiv’, die jene Popularmeinungen nicht als kanonisch nimmt.(8)<br />

Es soll in diesem Vortrag der Frage nachgegangen werden, wie Künstler sich ihren<br />

Platz in den Lehrplänen der Schulen und Universitäten sichern, der sie zum festen<br />

Bestandteil des Kanons werden läßt, dessen Definition und Funktionsweise heftig<br />

umstritten ist, wie die eingangs zitierten Urteile der Philosophen andeuten. Eng<br />

verflochten mit dem Thema des Kanons ist das rätselhafte Phänomen des Nachruhms,<br />

das bereits Wieland zu dem verzweifelten Ausruf veranlaßte: "Welche Fee oder Zauber-<br />

Palast ist schimärischer als dieser Nachruhm, von welchem doch die größten Männer<br />

gestanden haben, daß er der Endzweck ihrer schönsten Unternehmungen gewesen<br />

sei?"(9) Am Beispiel eines heute fast in Vergessenheit geratenen Autors, der seinerzeit<br />

als Dritter im Dreigestirn von Goethe und Schiller genannt wurde,(10) sei die<br />

Verquickung von Kanon und Macht nachgezeichnet: Es handelt sich um keinen<br />

Geringeren als Jean Paul Richter.<br />

Der Prototyp des Kanons der abendländischen Kultur sind die zehn Gebote, die<br />

Moses durch die Offenbarung Gottes auf dem Berge Sinai erhielt, um sie in Stein<br />

einzugravieren, auf daß sie sich seinem Volk für immer ins Gedächtnis einsenken<br />

würden. Der Kanon stellt hier einen Wert- und Ehrenkodex dar, der das<br />

Zusammenleben einer Gruppe regeln soll unter Androhung des Ausschlusses<br />

derjenigen, die gegen diese Regeln verstoßen. Der Kanon scheint dabei mit einer<br />

doppelten diskursiven Setzung zu operieren: zum Einen die Setzung der irdischen<br />

Macht, die sich als Stellvertreter der göttlichen Macht legitimiert, und zum Anderen die<br />

symbolische Setzung einer überirdischen Macht, die den Fluchtpunkt aller irdischen<br />

Machtbestrebungen bildet. Nur so können die im Kanon festgeschriebenen Werte den<br />

Anspruch der ewigen Gültigkeit erheben.<br />

Es scheint, als ob im Bereich der säkularen Kultur ein ähnlicher Prozeß im Gange ist,<br />

der die kulturellen Werte eines historischen Zeitpunkts zu ehernen Gesetzen festschreibt<br />

und die Repräsentanten dieser Wertesysteme dann mit dem Nachruhm ehrt. Dabei<br />

scheinen die Verfasser literarischer und philosophischer Werke die Aufgabe der<br />

religiösen Gesetzgeber zu übernehmen, die Wahrheit zu sagen und ewige, verbindliche<br />

Werte aufzustellen. Vor diesem hehren Anspruch verklären sich die allzumenschlichen<br />

Züge der Dichter, Künstler oder Wissenschaftler, die meistens erst geraume Zeit nach<br />

ihrem Tod zu den ‘großen Männern’ ihrer Zeit zählen - bis auf wenige Ausnahmen<br />

scheint der Kanon ein vorwiegend männliches Geschäft zu sein. Die ‘ganz Großen’<br />

verwandeln sich somit in gestrenge Vorbilder, an denen sich nachfolgende<br />

Generationen abarbeiten müssen, wenn sie ebenfalls in ihre Ahnenreihe aufsteigen<br />

wollen. Wir kennen all die Namen derer, die zum westlichen Kanon gehören, wie der<br />

amerikanische Literaturkritiker, Harold Bloom, ihn bezeichnet: mit der Bibel fängt es<br />

selbstverständlich an, aber auch Sophokles und Plato, Dante und Shakespeare, Goethe<br />

und Byron gehören dazu. Je nach Nationalität, Geschmack und Lektürepräferenzen des<br />

jeweiligen Kritikers variiert der Inhalt des Kanons zwar im Einzelnen, doch scheinen sie<br />

sich im Wesentlichen einig zu sein, wie die mantrahafte Wiederholung bestimmter


Kanon und Macht 175<br />

Namen impliziert. Daraus erhebt sich die Frage, wie dieser Konsens entsteht. Im<br />

postmetaphysischen, positivistischen Zeitalter wird gern der Zeit die Rolle dieses<br />

Selektionsmechanismus zugeschrieben. Betrachten wir die einschlägigen Äußerungen<br />

der Dichter zum Thema jedoch genauer, erkennen wir, daß der Nachruhm den größten<br />

unter ihnen keineswegs so automatisch verliehen wurde, wie gemeinhin angenommen<br />

wird.<br />

Zunächst einmal ist kein geringes Maß an Egoismus und Eitelkeit im Spiel, wenn es<br />

um den Traum vom eigenen Nachruhm geht. Schon Lessing wußte um den<br />

verklärenden Nimbus, mit dem der Nachruhm das Leben eines Dichters rückwirkend<br />

verschleiert, wenn er schreibt: "Des Dichters Leben war schön, wie sein Nachruhm<br />

ist".(11) Schiller hingegen weiß, daß diejenigen, die unsterblich werden wollen, bereits<br />

zu Lebzeiten einiges dafür tun müssen: "Auch so weit muß man hinausdenken! Auch<br />

auf den Nachruhm, das süße Gefühl von Unvergeßlichkeit -."(12) Bei Forster hingegen<br />

tritt der Nachruhm quasi als Naturkraft in Erscheinung, den die Gesellschaft entweder<br />

richtig erkennt: "Allein der Nachruhm ist das eigentliche Erbe der wenigen Edlen"(13)<br />

oder aber auf die Gefahr des eigenen Verderbs hin verleugnet: "So wird der Nachruhm<br />

gleichsam eine Schuld, welche die Nachwelt tilgen muß; und ein Zeitalter, welches bey<br />

den Verdiensten eines großen Mannes schweigt, verdient die Strafe, daß es keinen ihm<br />

ähnlichen Mann aus seiner Mitte hervorbringen kann."(14) Auch wenn wir heute nicht<br />

mehr diesen Glauben an eine schicksalshafte Rache teilen, so läßt sich doch behaupten,<br />

daß durch den Filter des Kanons bestimmte Formen der Literatur nicht tradiert werden<br />

und damit auszusterben scheinen.<br />

Die Spielregeln des Kanons verlangen jedoch, daß die Dichter sich nicht selbst<br />

loben, sondern es anderen überlassen, die so als Diener des Kanons ihren rechtmäßigen<br />

Platz in der Rangordnung einnehmen. Im Gegensatz zum schöpferischen Akt der<br />

Dichter haben die Literaturwissenschaftler die Aufgabe, die Leser so auszubilden, daß<br />

sie die wahrhaft ‘großen Männer’ der Literatur würdigen. Zu diesem Zweck bleibt ihnen<br />

jedes Schielen auf den eigenen Nachruhm untersagt: "Wer sich der Wissenschaft weiht,<br />

besonders als Lehrer der Leser, muß ihr entweder sich und alles und jede Laune, sogar<br />

seinen Nachruhm opfern".(15) Das legt aber auch die Schlußfolgerung nahe, daß der<br />

literarische Kanon ein Konstrukt der Literaturwissenschaft ist. Während die großen<br />

Namen also im Glanz des Nachruhms erstrahlen, haben ihre Inszenierer im Dunkeln zu<br />

bleiben, damit der Schein der unverbrüchlichen Wahrheit, der dem Kanon anhaftet,<br />

gewahrt bleibt.<br />

Welchen Wertungskriterien die Dichter unterzogen werden, um in den Kanon<br />

aufgenommen zu werden, wird am Beispiel von Jean Paul Friedrich Richter deutlich,<br />

der zusammen mit Lessing als erster freier deutscher Schriftsteller und somit<br />

unabhängig von Staat oder fürstlichem Mäzen arbeitete.(16) Obwohl Jean Paul mit<br />

seinen großen Romanen wie dem Hesperus und dem Titan in die europäische Tradition<br />

der im Bachtin’schen Sinne polyphonen Romane von Sterne und Rabelais gehört,<br />

"bildete sich in den Klassikerbibliotheken ein neuer Kanon von gelesenen<br />

Erzählstücken aus, der die frühen Satiren und Idyllen, die beiden ‘deutschen Romane’<br />

(in Jean Pauls eigener Terminologie der Romanschulen), das heißt ‘Siebenkäs’ und<br />

‘Flegeljahre’, und die drei kurzen Erzählungen aus der Zeit um 1810 zu einem


176 Die unschuldigen Intellektuellen<br />

geschlossenen Ganzen verband ..."(17) Damit wird aber gerade das, was Jean Pauls<br />

Ästhetik auszeichnet, nämlich die Verbindung der disparatesten Gedanken und Bilder<br />

durch die witzige Assoziation, aus dem Kanon völlig ausgeblendet.<br />

Zu dieser Verkürzung Jean Pauls auf den Idyllen- und Satirendichter hat seine<br />

Beziehung zu den beiden Vertretern der deutschen Klassik, Goethe und Schiller, wohl<br />

nicht unwesentlich beigetragen. Sie verkörperten seinerzeit die Autorität des Kanons,<br />

wie sich nicht nur anhand von Jean Paul, sondern auch anhand von Goethes Verdikt<br />

über die Romantik aufzeigen läßt.(18) Im Gegensatz zu Johann Paul Friedrich Richter,<br />

der sich in Anlehnung an Jean-Jaques Rousseau den Künstlernamen Jean Paul zulegte,<br />

womit er seine grundsätzliche Bejahung der Französischen Revolution bekundete,<br />

haben Goethe und Schiller sich unter den Schreckensnachrichten aus dem jakobinischen<br />

Frankreich zunehmend von ihr distanziert und sich stattdessen für einen Kompromiß<br />

mit dem herrschenden Adel ausgesprochen. Dieser Kompromiß äußerte sich ästhetisch<br />

in der Hinwendung zur klassischen Antike mit seinem Primat der Formstrenge, das<br />

Fragen der Tugend, die in der bürgerlichen Ideologie der Zeit noch einen<br />

fortschrittlichen politischen Charakter trugen, von vornherein ausklammerte. Jean Pauls<br />

Verhältnis zur Klassik wird durch Goethes satirische Darstellung in den Xenien<br />

umrissen, wo er als der Chinese in Rom erscheint, gleichsam als Barbar in der<br />

Kulturhauptstadt, die sich selbstverständlich dort befindet, wo Goethe und später auch<br />

Schiller sich aufhielten, nämlich Weimar. Auch mit seinem Urteil, daß das Romantische<br />

pathologisch sei, meint Goethe Jean Paul, der sich mit seiner ausufernden Phantasie<br />

nicht an die Normen der Klassik halten wollte. Dieser Wildwuchs an Gedanken und<br />

Bildern behagte dann aber auch den Romantikern nationalistischer Färbung wieder<br />

nicht, die, wie etwa Ernst Moritz Arndt, Jean Paul vorwarfen, er habe die männliche<br />

deutsche Seele verweichlicht.(19) Es ließe sich daraus schließen, daß antirevolutionäre<br />

Gesinnung, Konformität an bestehende Verhältnisse, ein gemäßigter Ästhetizismus und<br />

patriotische Männlichkeit die Tugenden sind, die den Zugang zum Kanon garantieren.<br />

Diese Werte, wie sie Goethe und Schiller vertraten und verteidigten, sind dann offenbar<br />

von Kritikern und Literaturwissenschaftlern als den Lehrern der Leser tradiert worden.<br />

Das bedeutet aber auch, daß der Kanon die herrschenden Machtverhältnisse stützt und<br />

daß die Autoren, Verlage, Kritiker und Wissenschaftler, die ihn fördern, durch den Staat<br />

belohnt werden. Und so hat denn Jean Paul selbst gegen den neo-klassischen Kanon und<br />

den "Geschmack" die Praxis der "klassischen" Griechen angerufen: "Die Alten kannten<br />

wohl begeisterte Dichter, aber keine Muster-Dichter; daher war nicht einmal das Wort<br />

»Geschmack« - welches sonst in dem Klassischsein König ist - in ihrer Sprache<br />

vorhanden".(20)<br />

Für welche ideologischen Zwecke im Rahmen der EU-Politik der Kanon verwendet<br />

werden kann, erörterte vor kurzem Richard Herzinger in der Zeit in einem Artikel über<br />

die Frage einer gemeinsamen europäischen Identität. Im Vergleich zu den Vereinigten<br />

Staaten, in denen die nationale Identität nicht aus der Herkunft ihrer Bürger, sondern<br />

"von universalistischen Verfassungsprinzipien" hergeleitet werde, die wiederum "den<br />

humanistischen Prinzipien der griechischen und römischen Zivilisation, des christlichen<br />

Universalismus und der europäischen Aufklärung" folgten,(21) müsse eine spezifisch<br />

europäische Identität anders begründet werden. Den Versuch, Europa im Gegensatz


Kanon und Macht 177<br />

zum ‘supranationalen Einheitsstaat’ der USA als "Zusammenschluß selbständiger<br />

Nationen und ‘Regionen’, deren jeweilige kulturelle Eigenheit nicht angetastet werden<br />

soll" zu verstehen, lehnt Herzinger ab, da er einerseits einen romantischen "seelischen<br />

Ersatz für den Verlust nationalstaatlicher Souveränität" darstelle und andererseits, wie<br />

das Beispiel Belgiens andeutet, "eine Quelle zerstörerischer Konflikte" sein kann, die<br />

die europäische Integration gefährden würde. Ein anderes Modell, eine ‘kulturelle<br />

Identität’ Europas durch den "Rekurs auf das ‘christliche Abendland’" zu erzeugen,<br />

weist Herzinger ebenfalls mit Recht zurück, da dann eine "kulturelle Homogenisierung<br />

nach innen und eine rigide Abgrenzung Europas nach außen die unvermeidliche Folge"<br />

sei. Der Türkei z.B. als einem islamischen Land "wäre die Tür nach Europa für immer<br />

verschlossen, auch wenn es seine Demokratisierung weiter vorantreiben würde".<br />

Außerdem widersprächen einer solchen Ausgrenzung "die engen Verbindungen<br />

zwischen Kleinasien und dem mediterranen Europa", die bis in die Antike<br />

zurückreichten. Europa zeichne sich ja gerade dadurch aus, "daß es in hohem Maße<br />

Einflüsse aus höchst unterschiedlichen außereuropäischen Kulturen aufzunehmen bereit<br />

war". Über die "geistigen Grundlagen des ‘christlichen Abendlandes’" sei jedoch<br />

ebenfalls kaum Einigkeit zu erzielen, da die katholischen Kroaten und die orthodoxen<br />

Serben z.B. darüber unvereinbare Vorstellungen hätten.<br />

Herzinger tröstet aber über die Unmöglichkeit, eine widerspruchslose europäische<br />

Identität zu finden, hinweg, indem er darin die größte Chance Europas erblickt. Nicht<br />

die Kultur, sondern die Industrie- und Finanzwirtschaft seien der "Motor ihrer<br />

Einigung". Damit geht eine Huldigung an den Kapitalismus als "originär europäische<br />

Erfindung" einher. Herzinger schließt seine Überlegungen mit einer unverhohlenen<br />

Hymne auf die "unblutige Integrationskraft" des Geldes ab, die zudem "unideologisch<br />

und kulturell neutral genug" sei, "um das entstehende Staatengebilde für künftige<br />

Mitglieder offenzuhalten. Wo Europa seine Grenzen hat, nach innen und nach außen,<br />

weiß niemand" schlußfolgert er, ohne zu fragen, worin sich ausgerechnet mit Hilfe<br />

dieser Definition eine europäische Identität von einer US-amerikanischen oder<br />

japanischen oder koreanischen Identität unterscheiden soll.<br />

Wenn Herzinger recht hat, und das Geld im kulturellen Bereich zum allgemeinen<br />

Äquivalent wird, dann ist auch der Kanon als unhinterfragbare, höchste Autorität<br />

überflüssig. Statt der ästhetischen und ethischen Werte des Kanons gäbe es nur noch<br />

Notierungen an der Geschmacksbörse. Das würde bedeuten, daß die Hollywood-<br />

Kassenschlager wie Titanic und Godzilla höher bewertet werden würden als eine<br />

Inszenierung von Beckett oder Brecht, weil sie ihren Produzenten einen größeren Profit<br />

eingebracht haben. Damit würde die Masse der Kulturkonsumenten aber tatsächlich<br />

zum Kunstrichter erhoben, wie es Nietzsche als logische Konsequenz einer<br />

demokratischen Kultur vorhersagte. Die Kehrseite dieses Szenarios wäre jedoch, daß<br />

die Künstler bloß noch zu Dienern des Massenmarktes degradiert wären.<br />

Ausschlaggebend für eine vielseitige, demokratische Kultur ist, daß die Entscheidung<br />

über die Werte aus den Händen der Machteliten genommen und zum verhandelbaren<br />

Gegenstand der interessierten Kulturproduzenten und -konsumenten selbst wird.


178 Die unschuldigen Intellektuellen<br />

Anmerkungen:<br />

(1) Peter Bürger, Institution Literatur und Modernisierungsprozeß. Zum Funktionswandel der Literatur.<br />

Mit Beiträgen von Peter Bürger u.a. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983: 13.<br />

(2) Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die<br />

Verteidigungsschrift. Herausgegeben von Fritz Mauthner, Bd. 1 und 2, München: Georg Müller, 1913<br />

(Bibliothek der Philosophen, Bd. 5 und 8). . Bd. 2, S. 119.<br />

(3) Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und<br />

Bürger. Deutsch herausgegeben von Max Frischeisen-Köhler, Leipzig: Felix Meiner, 1918<br />

(Philosophische Bibliothek, Bd. 158), S. 54.<br />

(4) [Blaise] Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Aus dem Französischen<br />

übersetzt von Karl Adolf Blech. Mit einem Vorwort von August Neander, Berlin: Wilhelm Besser, 1840,<br />

S. 408.<br />

(5) Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm<br />

Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. Bd. 4, S. 671 "Kanon (kanän): Richtmaß, Regel.<br />

Kanänej sind logische Regeln (PSELLUS, bei PRANTL, G. d. Log. II, 268). KANT versteht unter<br />

»Kanon« der reinen Vernunft den »Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser<br />

Erkenntnisvermögen überhaupt«. »So ist die allgemeine Logik in ihrem analytischen Teile ein Kanon für<br />

Verstand und Vernunft überhaupt, aber nur der Form nach, denn sie abstrahiert von allem Inhalte« (Krit.<br />

d. r. Vern. S. 604f.). [...] Kanonik (kanonikon ) nennt EPIKUR seine Logik (s. d.), die er der Dialektik<br />

gegenüberstellt und welche eine Lehre von den Normen (canones) der Erkenntnis und der Wahrheit (s. d.)<br />

sein soll. Das kanonikon ist der erste Teil der Philosophie (Diog. L. X, 29; Cicero, Acad. II, 30; De finib.<br />

I, 7; Senec., Epist. 89). T än dialektikän ñj parelkousan ¢podokimazousin; ¢rkein gar touj fusikouj corein<br />

kata touj t än pragmat än fh ongouj (Diog. L. X, 30); to men oÙn kanonikon fodouj (l.c. X, 30)."<br />

Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1 und 2, 2., völlig neu bearb. Auflage,<br />

Berlin: Mittler, 1904. Bd. 1, S. 536.<br />

(6) Denn man sage, was man wolle, in Geschmackssachen, wo nicht, wie bei Gegenständen der<br />

Verstandeserkenntnis, feste Begriffe und Formeln, sondern so manche arrhêta des Gefühls das Urteil<br />

leiten, muß auch nicht selten daß bloße Ansehn eines erkannten und erklärten höhern Genies gelten, und<br />

durch sein Beispiel Geschmackenorm festzustellen befugt sein. Gottfried August Bürger: Vorläufige<br />

Antikritik, Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Auf Grund der Originaldrucke hg. von Gerhard Fricke<br />

und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, 3. Auflage, München: Carl Hanser,<br />

1962. Bd. 5, S. 1230-1231.<br />

(7) Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Karl<br />

Schlechta, München: Hanser, 1954. Bd. 1, S. 224)].<br />

(8) Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, Bd. 1, S. 246)].<br />

(9) Christoph Martin Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Werke, hg. von Fritz Martini<br />

und Hans Werner Seiffert, München: Carl Hanser, 1964 ff. Bd. 1, S. 56. »Nachruhm?« sagte Nashe;<br />

»inkommodiert Euch doch ja des Gespenstes wegen nicht, denn Ihr seid wohl schwerlich ein<br />

Sonntagskind, um es gewahr zu werden. Daß man noch nach meinem Tode so meinen Namen obenhin<br />

ausspreche, und sich weder Hinz noch Kunz dabei denke, ihn auch mit Peter und Paul und allen Näschern<br />

in Europa verwechsele, seht, um dieses kuriose Glück, das so viele Narren körnt, mache ich mir den<br />

Finger noch nicht naß.« Ludwig Tieck: Dichterleben (Erster Teil). Werke in vier Bänden. Nach dem Text<br />

der »Schriften« von 1828-1854, unter Berücksichtigung der Erstdrucke, hg. von Marianne Thalmann, Bd.<br />

1-4, München: Winkler, 1963. Bd. 3, S. 369.<br />

(10) J. Grimm an K. Lachmann 27. November 1825 (ed. A. Leitzmamn 1927, S. 479): "Nach Goethe halt<br />

ich ihn für den größten dt. Autor"; noch für G. Herwegh (ed. Tardel 2, S. 95) war Jean Paul - neben<br />

Goethe und Schiller - "der dritte im Bunde unserer lit. Dreieinigkeit".


Kanon und Macht 179<br />

(11) Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Werke, hg. von Herbert G. Göpfert in<br />

Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirmding und<br />

Jörg Schönert, Bd.1-8, München: Carl Hanser, 1970 ff. Bd. 4, S. 262.<br />

(12) Friedrich Schiller: Die Räuber. Sämtliche Werke, Auf Grund der Originaldrucke hg. von Gerhard<br />

Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, 3. Auflage, München: Carl<br />

Hanser, 1962. Bd. 1, S. 511.<br />

(13) Georg Forster: Cook, der Entdecker. Werke in vier Bänden, hg. von Gerhard Steiner, Bd. 1-4,<br />

Leipzig: Insel, [1971]. Bd. 2, S. 219.<br />

(14) Forster: Cook, der Entdecker, Bd. 2, S. 220.<br />

(15) Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise. Werke, hg. von Norbert Miller und Gustav Lohmann, Bd.<br />

1-6, München: Carl Hanser, 1959-1963. 1. Abt. Bd. 6, S. 300)].<br />

(16) Günter de Bruyn, Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: Fischer<br />

1975, S. 60.<br />

(17) Norbert Miller, Zur Naturgeschichte des Sonderlings. "Dr Katzenbergers Badereise" und Jean Pauls<br />

Abwendung vom italienischen Roman. [Nachwort]. Jean Paul: Dr Katzenbergers Badereise nebst einer<br />

Auswahl verbesserter Werkchen. Hg. und mit einem Nachwort von Norbert Miller. München, Zürich:<br />

Piper 1987 [Hanser 1959, 1962].<br />

(18) Günter de Bruyn, Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: Fischer<br />

1975, S. 150.<br />

(19) Günter de Bruyn, Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: Fischer<br />

1975, S. 289.<br />

(20) Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Werke, hg. von Norbert Miller und Gustav Lohmann, Bd. 1-6,<br />

München: Carl Hanser, 1959-1963. , 1. Abt. Bd. 5, S. 355.<br />

(21) Richard Herzinger, "Die Mischung macht’s. Europa braucht keine gemeinsame Identität." In: Die<br />

Zeit, Nr. 33, 6. August 1998, S. 12.


Rocko oder die Ikonographie des Deutschen im Lehrbuch<br />

Rocko und seine Familie amüsieren die Benutzer des Lehrwerks „Deutsch aktiv” als<br />

blau gepockte Marsmenschen. Man könnte Rocko als Karikatur des Deutschen<br />

bezeichnen, der ein harmlos subversives Element in das Fach Deutsch als Fremdsprache<br />

bringt. Der Deutsche wird nicht nur als das normativ Fremde, sondern als das kognitiv<br />

Fremde dargestellt, also etwas, was so unvorstellbar ist, daß es durch keine<br />

Wahrnehmung verifizierbar ist. Trotzdem wirft dieser Mars-Deutsche ein Licht auf die<br />

Grenzen der interkulturellen Germanistik und des Faches Deutsch als Fremdsprache. 105<br />

Rocko kann als Parodie der interkulturellen Germanistik und des DAF gelesen werden,<br />

die mit dem Anspruch auftreten, ein Verständnis fremder Kulturen zu ermöglichen.<br />

Nun stellt sich jedoch heraus, daß das Fremde durchaus verstehbar ist, denn es ist<br />

nichts anderes als das allzubekannte Eigene. Der Umweg über das Fremde dient, wie<br />

sich herausstellen wird, nur dazu, die Fremden, die Ausländer, in das Wertsystem der<br />

eigenen Kultur einzubinden.<br />

Rocko kann sich als Marsmensch die Narrenfreiheit leisten, nach der sich der<br />

durchschnittliche Bundesbürger insgeheim sehnt. So erhält er zwar etwas angeschlagen<br />

und mit blauem Auge den Führerschein, obwohl er gegen alle Verkehrsregeln verstößt<br />

und er behauptet gegen alle diätische Evidenz, daß eine Dose Cola 0 Kalorien enthält.<br />

Er fährt einen Volkswagen oder eine „Ente", das Symbol des kleinen Mannes.<br />

Dargestellt wird er als ein fettes strahlendes Schwein, das in der Folklore sowohl als<br />

Symbol des Glücks als auch des Deutschen gilt. Die Gemeinsamkeit des<br />

durchschnittlichen Deutschen und des Schweins liegt nicht nur im Äußeren, im<br />

Leibesumfang, sondern auch in seiner Rohheit oder seiner Barbarität, beides<br />

Eigenschaften, die Rocko auf heitere harmlose Weise verkörpert. Er ist das zum<br />

Menschen gewordene Tier, denn wie seine Verwandten übt er bereits den aufrechten<br />

Gang, trägt Kleidung (die bei ihm allerdings auf die Schuhe reduziert ist) und seine Frau<br />

wie seine Schwester schmücken als preisgekrönte Schönheiten „Miss Universum” und<br />

„Miss Mars” seinen Familienstammbaum. Seine Eltern haben den adligen Titel<br />

angenommen, sie heißen die „von Rockels” .Trotzdem können sie ihre tierische Natur<br />

nicht ganz leugnen, wie ihr Schweinerüssel andeutet. Rocko verkörpert den deutschen<br />

Wohlstand in seiner kleinbürgerlichen Form. Das Motto „Rocko ist mein Freund", das<br />

Rockos Gesicht auf einem Aufkleber umrahmt, deutet darauf hin, daß dieser Typ des<br />

Deutschen als liebenswert verstanden werden soll. Das Lehrwerk signalisiert dem<br />

Lerner somit, daß er keine Angst vor den Deutschen zu haben brauche, da sie trotz ihres<br />

fremden Aussehens und Verhaltens im Grunde alle so nett wie Rocko seien. Durch die<br />

105 Karlheinz Ohle in Das Ich und das Andere. Grundzüge einer Soziologie des Fremden. Stuttgart: 1978,<br />

S. 18f., definiert das kognitiv Fremde als „eine absolute Abstraktion, es ist das, was spekulativ vermutet<br />

werden kann, was der Wahrnehmung aber nicht offen liegt” .Dennoch hätten solche Vorstellungen einen<br />

Einfluß auf soziale Entwicklungen: „Zum einen ist es die Begrenzung des Bekannten. [...] Zum anderen<br />

ist dieses Fremde das Potential, aus dem das Bekannte oder besser „Nicht-Fremde” durch „Entfremdung”<br />

geschöpft wird.” Als normativ Fremdes bezeichnet Ohle die pauschalen Kategorien, die das<br />

Ich benötigt, wenn es „abrupt vor eine Vielzahl neuer Eindrücke gestellt wird, an denen es sich orienten<br />

soll” .(S. 26)


182 Deutsch als Fremdsprache<br />

Verharmlosung des Fremden werden aber gerade solche Vorurteile bestätigt, die den<br />

Deutschen schmeicheln. Sie manifestieren sich z. B. in sentimentalen Schlagern, die,<br />

wie die Sängergruppe „Liederjahn” provokativ formuliert, „Deutschland einst und heute<br />

als große Wiese mit blauen Blümelein und blökenden Kühen darstellen wollen” .Gegen<br />

solche Klischees, die innen- wie außenpolitische Machtverhältnisse verschleiern, gilt es,<br />

ein Gegengewicht zu bilden.<br />

Daß die Deutschen Sauerkraut essen, „Krauts” sind, gehört zu den Erkenntnissen der<br />

Volksethnographie ebenso wie, daß sie Lederhosen tragen, Bier trinken und<br />

Volkswagen bauen. Solche Abkürzungen bestimmen andererseits auch das „Wissen”<br />

der Deutschen von den Katzelmachern, den Türken, der gelben Gefahr, den Einwohnern<br />

Afrikas. Ein Zustand, der im Zeitalter des von Frankfurt nach Tokyo jettenden<br />

Geschäftsmanns unhaltbar geworden ist.<br />

Ein Deutscher ist in erster Linie ein Deutscher und erst in zweiter Linie ein Mensch.<br />

So jedenfalls erscheint er in den Lehrbüchern Deutsch als Fremdsprache, wo<br />

Sprachunterschiede und nationale Zugehörigkeit sich in Unterschiede im Geist, in<br />

Kultur, Potential und sogar Körper umsetzen. Die in unserer Kultur sanktionierte<br />

Gewohnheit, Individuen unter weitreichenden Verallgemeinerungen zu subsumieren<br />

und so die Wirklichkeit in Kollektive mit jeweils gemeinsamen Verhaltensweisen<br />

aufzuteilen, wirkt sich bis in die sogenannte „landeskundliche” Information von<br />

Sprachlehrbüchern aus, wo uns diejenigen, die es wissen müssen, sagen, wer der<br />

Deutsche ist.<br />

Klaus Roehler beschreibt das Deutschlandbild, das sich aus der Analyse deutscher<br />

Grammatikbücher zwischen 1900 und 1967 ergibt, wie folgt: „Die Bundesrepublik ist<br />

ein Agrarstaat mit einigen Fabriken, bevölkert in der Hauptsache von Bauern, Hirten,<br />

Jägern, Lehrern, Hundehaltern, Autofahrern, Hausbesitzern und einem Gott. Früher<br />

einmal hat ein nicht näher beschriebener Krieg stattgefunden; das ganze Volk hat aber<br />

gelitten. Die Hauptstadt heißt jetzt Bonn. Die allgemeine Gesinnung ist edel; jeder hat<br />

seinen Platz und dort nur Gutes im Sinn. Konflikte sind nicht unbekannt: jedenfalls hat<br />

es sie früher gegeben; ein Satz wie heute baut man helle und saubere, mit Grünanlagen<br />

umgebene Werke, in denen die Arbeiter ein gesundes Leben führen können« deutet<br />

immerhin an, daß Arbeiter in der Vergangenheit ungesund gelebt haben. Gegen die<br />

ebenfalls nicht näher beschriebene Verderblichkeit von etwas, das Zivilisation genannt<br />

wird, schützt man sich durch Reisen aufs Land. Die Tugenden, die jeder übt, heißen<br />

Ordnung, Fleiß, Gehorsam, Treue und Bescheidenheit.” 106 Dieses Bild ist aus<br />

Sprichwörtern und „objektiven” Sätzen zusammengesetzt, die sich jedoch als getarnte<br />

Meinungssätze entlarven, sobald sie im Zusammenhang mit anderen Sätzen gelesen<br />

werden. So stellt der scheinbar „objektive” Satz „Er verdient sein Brot als Arbeiter” im<br />

Verhältnis zu Sätzen zum Thema „Jäger", die mit 22 zu 5 dominieren, einen getarnten<br />

Meinungssatz dar. Der Arbeiter bildet proportional zum Jäger die Ausnahme. Auf diese<br />

106<br />

Siehe Klaus Roehler, „Die Abrichtung — Deutsche Sätze für Schüler und Erwachsene” .In: Kursbuch<br />

20, März 1970, S. 78 - 104


Rocko oder die Ikonographie des Deutschen 183<br />

Weise konstruieren deutsche Grammatikbücher ein Bild der deutschen Gesellschaft, das<br />

„mit der Ideologie ihrer herrschenden Klasse überein[stimmt]”. 107<br />

Diese Vorurteile versucht Rainer Kußler durch den gezielten Einsatz von<br />

landeskundlichem Material im Literaturunterricht abzubauen. Er führt die Stereotypen<br />

über Deutschland und die Deutschen, die 70% der Studenten im ersten Semester 1979<br />

in einer Erhebung an der Univerität Stellenbosch nannten, auf Kenntnisdefizite über die<br />

soziale Wirklichkeit Deutschlands zurück. Kußler skizziert ihr Deutschlandbild wie<br />

folgt: „Nach zwei verlorenen Weltkriegen und einem gewaltigen Wiederaufstieg ist<br />

Deutschland heute wieder das bedeutendste Land Europas. Es ist ein schönes Land mit<br />

schneebedeckten hohen Bergen, riesigen grünen Wäldern, vielen Flüssen und<br />

romantischen alten Städten, Dörfern, Burgen und Schlössern. Die Deutschen sind<br />

fröhliche, sorglose, tüchtige Leute, die gern Feste feiern, singen und viel Bier trinken.<br />

Sie haben berühmte Musiker und Dichter hervorgebracht. Deutsch ist eine schwierige,<br />

aber schöne Sprache, die sich besonders zum Singen und zum Befehlen eignet.<br />

Bedauerlich ist der gegenwärtige Sittenverfall in Deutschland.” 108 Die 20<br />

Eigenschaften, die den „typischen Deutschen” kennzeichnen, sind in absteigender<br />

Rangfolge: „trinkt viel Bier; hat blonde Haare und blaue Augen; ist froh; singt gern; ist<br />

groß; freundlich; redet viel; feiert viele Feste; tanzt gern; ist meist dick; spricht schnell<br />

und laut; ißt gern und zwar vor allem Kartoffeln und Schweinefleisch; ist klug; vorlaut;<br />

intelligent; pünktlich; fleißig; aufbrausend.” 109 Kußler zeigt anhand eines<br />

literaturwissenschaftlichen Projekts über Bölls „Die verlorene Ehre der Katherina<br />

Blum", wie der Informationsrückstand der Studenten durch zeitgeschichtliche<br />

Dokumente (wie Zeitungen, öffentliche Debatten usw.) behoben werden kann. Das<br />

gewährleistet zugleich ein vertieftes Textverständnis wie ein kritisches Bewußtsein der<br />

sozialen Wirklichkeit Deutschlands. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob Stereotype, die<br />

ja festgefahrene Denkstrukturen darstellen, allein durch Informationen aufgehoben<br />

werden können, ohne daß ihre Ursachen erkannt werden. So berücksichtigt Kußler z. B.<br />

nicht den Stellenwert der Universität Stellenbosch im Bildungssystem und<br />

Apartheidsstaat Südafrikas. Die christlich-nationale Bildung, die die Weißen zu einer<br />

privilegierten Stellung in der Apartheidsgesellschaft heranziehen soll, hatte bestimmt<br />

einen Einfluß auf die Ergebnisse der Erhebung. Da die afrikaanssprachigen<br />

Universitäten sich traditionellerweise stärker an diese Prinzipien gebunden fühlen als<br />

die liberaleren englischsprachigen, auch wenn nicht alle ihre Studenten von Haus aus<br />

Afrikaans sind und es natürlich Ausnahmen gibt, dürfte die Bemerkung über den<br />

Sittenverfall als Bestätigung dieser Einstellung zu verstehen sein. Eine Erhebung unter<br />

schwarzen Studenten würde höchstwahrscheinlich zu ganz anderen Ergebnissen<br />

kommen. Neben dem Bildungssystem wären noch die südafrikanischen Medien als<br />

Faktor zu nennen, der zu dem beschränkten Deutschlandbild der Studenten beiträgt.<br />

Auch sie sind weitgehend durch den Staat oder die Wirtschaft kontrolliert und<br />

verhindern somit ein kritisches Denken.<br />

107 K. Roehler, S. 87<br />

108 Rainer Kußler, „Zum Problem der Integration von Literaturvermittlung und Landeskunde” .In: Alois<br />

Wierlacher (Hg.), Fremdsprache Deutsch 2. München 1980, S. 470<br />

109 R. Kußler, S. 481


184 Deutsch als Fremdsprache<br />

Robert Picht bestätigt im Grunde Kußlers Erkenntnis, wenn er am Beispiel eines<br />

historisch fremden Textes, Fontanes „Frau Jenny Treibel", konstatiert:<br />

„Landeskundliches und textwissenschaftliches Arbeiten sind deshalb nur in der Form<br />

des Projekts, der gezielten Nutzung der für eine konkrete Fragestellung jeweils<br />

erforderlichen, jeweils unterschiedlichen Ressourcen möglich” 110 . Daraus zieht Picht<br />

folgende Konsequenz: „Das Wechselverhältnis von Sprache und Inhalt, Landeskunde<br />

und Textwissenschaft macht die Überschreitung der Fächergrenzen zum<br />

wissenschaftlichen Gebot.” 111 In der Praxis beruht ein solches umfassendes<br />

Informationssystem jedoch, wie Picht behauptet, auf „eine[m] Fundus historischer und<br />

methodischer Kenntnisse und - sprechen wir das anstößige Wort aus - [...] eine[m]<br />

Minimum von Allgemeinbildung", ohne die landeskundliche wie textwissenschaftliche<br />

Projekte nicht zu realisieren seien. 112<br />

Ich stimme mit Picht darin überein, daß historische<br />

und methodische Kenntnisse Voraussetzung einer textwissenschaftlichen Arbeit sind,<br />

doch der Rekurs auf die Allgemeinbildung des Lernenden verschafft den ideologischen<br />

Prämissen, die dem Begriff der Landeskunde gerade entzogen wurden, durch die<br />

Hintertür wieder Einlaß.<br />

Problematisch ist, daß Landeskunde keine Disziplin ist, die mit einer<br />

wissenschaftlichen Methode ihren Gegenstand erforscht. Schon über die Definition des<br />

Gegenstands herrscht Uneinigkeit: handelt es sich um ein Land, eine Nation, eine<br />

Sprachgemeinschaft, oder um eine Kultur? Der Kulturbegriff bleibt jedoch ebenso vage<br />

und arbiträr wie der der Landeskunde, solange er auf die Kultur eines Landes reduziert<br />

wird. Kultur ist nämlich ein Prozeß, der aus der Auseinandersetzung sozialer Klassen<br />

und verschiedener Völker entsteht. Sie ist selbst eine Waffe in diesem Kampf und daher<br />

niemals homogen. Sie greift Elemente der anderen Kultur auf und funktioniert sie um.<br />

Um ihren umfassenden Stoff zu bewältigen, beruft sich Landeskunde auf die<br />

„Allgemeinbildung", die jedoch vereinfacht und methodisch nicht überprüfbar ist. Das<br />

impliziert, daß die Informationen der Landeskunde beliebig sind: einerseits vermittelt<br />

sie ähnlich wie die Medien Meinungen, andererseits Fakten und Daten, ohne jedoch ihre<br />

Repräsentanz nachweisen zu können. Da es im Sprachunterricht um die Produktion und<br />

Rezeption von Aussagen und Texten geht und weil die Lehrkräfte in diesen Disziplinen<br />

ausgebildet sind, bieten sich die Linguistik und die Literaturwissenschaft als methodisch<br />

relevante Wissenschaften an. Für einzelne literaturwissenschaftliche Projekte können<br />

die Soziologie, Psychologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft als<br />

Hilfsdisziplinen herangezogen werden.<br />

Die Lektüre realistischer Romane, wie z. B. Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina<br />

Blum” oder Fontanes „Frau Jenny Treibel” scheint besonders dazu geeignet, ein<br />

differenziertes Verständnis der deutschen Gesellschaft zu erwerben. Der Roman stellt<br />

nämlich ein komplexes Modell der Gesellschaft in einem historischen Augenblick dar,<br />

das es selbst einem Leser, der nicht mit dieser Zeit und Gesellschaft vertraut ist, erlaubt,<br />

die Bedeutung eines ihm unbekannten Zeichens, wie den Namen eines Stadtviertels<br />

110<br />

Robert Picht, „Landeskunde und Textwissenschaft” .In: Alois Wierlacher (Hg.), Fremdsprache<br />

Deutsch I. München 1980, S. 285<br />

111<br />

ebd.<br />

112<br />

ebd., S. 286


Rocko oder die Ikonographie des Deutschen 185<br />

oder einer Zeitung aus dem Zusammenhang heraus zu entschlüsseln. Übrigens sind die<br />

Strukturen der Gesellschaft des Studenten nicht so grundverschieden, als daß sich nicht<br />

Vergleiche ergäben. Ein Grundzug des Kapitalismus ist ja gerade der, daß er sich die<br />

Strukturen der fremden Gesellschaft nutzbar macht, wo eine Vernichtung unmöglich<br />

oder taktisch unangemessen wäre. Aus einem solchen Vergleich ergäbe sich eine<br />

interkulturelle Perspektive mit einer politischen Dimension.<br />

Obwohl sich in den neueren Sprachlehrbüchern keine so offensichtliche Ideologie<br />

manifestiert, wie sie Roehler noch konstatiert, liegen den Dialogen und Texten doch<br />

bestimmte Auswahlprinzipien zugrunde, die eine moderne Ikonographie des Deutschen<br />

konstituieren. Unter Ikonen versteht Pierre Bourdieu konventionelle Vorlagen, Themen<br />

und Vorstellungen, die in Bildern, Geschichten und Allegorien ihren Ausdruck finden.<br />

Aufgabe der Ikonographie ist die Entschlüsselung der Ikonen. Der „immanente Sinn<br />

oder Gehalt” dieser Ikonen kann in einer ikonologischen Interpretation nur dann erfaßt<br />

werden, wenn die ikonographischen Bedeutungen und Kompositionsverfahren als<br />

»kulturelle Symbole«, als Ausdruck der Kultur einer Nation, einer Epoche oder einer<br />

bestimmten Klasse aufgefaßt werden. 113 Mein Argument, das noch auszuführen sein<br />

wird, ist, daß es kein statisches, ahistorisches Bild des Deutschen gibt, und daß es daher<br />

keinen Sinn hat, pauschal etwas über Deutschland und die Deutschen zu sagen. Es gilt,<br />

die Ikone verschiedener Klassen, Kulturen und Subkulturen in ihrer historischen<br />

Bedingtheit zu beschreiben und zu analysieren. Zu diesem Zwecke müssen Texte<br />

herangezogen werden, die eine Situation in ihrer Widersprüchlichkeit darstellen und<br />

nicht solche, die aus didaktischen Gründen den Gegenstand vereinfachen und<br />

verallgemeinern. Nur so kann ein Sprachlehrwerk dem Verdacht entgehen, bloßes<br />

Sprachrohr der Ideologie der herrschenden Klasse zu sein. Ansätze einer solchen<br />

kritischen Auseinandersetzung mit sozialen Problemen enthalten einige Lehrwerke. 114<br />

Das Handbuch für Lehrer des Zertifikats Deutsch macht folgendes Kriterium für die<br />

Auswahl von Lehrwerken geltend: „Ausgehend von alltäglichen Situationen sollen<br />

besondere Verhaltensweisen, abweichende Wertvorstellungen und die Besonderheiten<br />

des öffentlichen Lebens im Land der Zielsprache verdeutlicht werden. Dabei ist es<br />

wichtig, auf einen Abbau der im eigenen Land über die Bevölkerung der Zielsprache<br />

gängigen Vorurteile hinzuwirken; andererseits sollte der Lerner auch erfahren, mit<br />

welchen vorgefaßten Ansichten über sein Land und Volk er eventuell im Land der<br />

Zielsprache zu rechnen hat.” 115 Während die Lerner ihre Vorurteile über das Land und<br />

die Bevölkerung der Zielsprache abbauen, sollen sie sich mit den Vorurteilen über ihr<br />

„Land und Volk” vertraut machen. Das heißt, daß das interkulturelle Gespräch nur in<br />

einer Richtung verläuft: von den ökonomisch Mächtigen zu den ökonomisch<br />

Abhängigen. Die Ausgangskultur wird somit der Kultur der Zielsprache untergeordnet.<br />

113 Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, S.128<br />

114 Vgl. Peter F. Hajny und Horst Wirbelauer, Lesekurs Deutsch. Eine Einführung in die<br />

Texterschließung. Berlin: Langenscheidt 1983, vor allem die Kapitel über „Die Welt der Arbeit” und<br />

„Schizophrenie und Kunst” und Imke Berg, Manfred Maier et. al., Situationen. 31 Kapitel Deutsch für<br />

Erwachsene. Stuttgart: Ernst Klett 1978, in dem das Thema „Arbeitsplatz” kritisch behandelt wird.<br />

115 Das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache. (hrsg. vom) Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. und<br />

Goethe-Institut zur Pflege der deutschen Sprache im Ausland und zur Förderung der internationalen<br />

Zusammenarbeit e. V. Bonn - Frankfurt und München 1972, S. 563


186 Deutsch als Fremdsprache<br />

Dieses Machtgefälle wird durch die Landeskunde verstärkt, indem sie die Merkmale<br />

einer hochentwickelten Kultur festlegt: Architektur und Städtebau, Handwerk und<br />

Industrie, Feste und Freizeit, Film und Theater, Kunst und Musik, Literatur und<br />

Verlage, Informationen und Medien, Sprache und Kommunikation, Bildung und<br />

Wissenschaft, Religion und Philosophie, Staat und Kirche, Föderalismus und<br />

Demokratie. 116 Anhand dieser Kategorien sollen die Lerner ihre eigene Kultur neu<br />

bewerten. Verschwiegen werden jedoch die „Abhängigkeits- und Machtverhältnisse<br />

zwischen Industrie- und Entwicklungsländern", die auch die kulturelle Entfaltung der<br />

Entwicklungsländer verhindern. 117 Götz Großklaus und Alois Wierlacher begründen<br />

dieses Schweigen in der Germanistik und im DAF wie folgt: „Eine Germanistik z. B.,<br />

die sich dieser kritischen Zone der überall aufbrechenden Wert- und Sinnkonflikte<br />

nähert, scheint an vielen Departments (auch der Industrieländer) unerwünscht: es soll<br />

einer Minderheit das unbedrohliche, das ästhetische und philosophische, das schöne<br />

Deutschland vorgeführt werden.” 118<br />

So können die Lerner nicht beurteilen, ob ihre Vorurteile im Unterricht durch<br />

„realitätsgetreuere” Bilder ersetzt wurden, denn nach ihrer Perzeption der „Realität”<br />

wird gar nicht gefragt. Um diesen Mangel zu korrigieren, müßte zunächst einmal von<br />

der Frage nach dem typisch Deutschen abgesehen und auf das Gemeinsame<br />

hingewiesen werden. In dieser Diskussion könnten die Lerner ihr Wissen über die Rolle<br />

Deutschlands in ihrer Geschichte und ihre Erfahrungen mit Deutschen einsetzen. Auf<br />

diesem Wissen kann der Sprach- und Literaturunterricht dann aufbauen.<br />

Nun können aber gerade negative Vorurteile über die Deutschen sie dazu anregen,<br />

über „normale” Verhaltensweisen nachzudenken und sie zu ändern. In seinem Gedicht<br />

„Die Deutschen” versucht Mustapha El Hajaj die Unmenschlichkeit und Sturheit der<br />

Deutschen, die sich hinter solchen Eigenschaften wie ihrer Hundeliebe und<br />

Pünktlichkeit verbirgt, zu entlarven. Er schreibt: „Hunde und Katzen/ leben wie Könige<br />

in Deutschland” und „Die Deutschen sind pünktlich wie die Eisenbahn./ Das kommt<br />

daher,/ daß sie nur ein Gleis kennen, nie vom Weg abgehen,/ kein Unkraut, keine<br />

Blumen/ in den Seitenwegen pflücken.// Sie fahren immer geradeaus,/ sind pünktlich<br />

wie die Eisenbahn/ und nehmen nichts wahr.” 119 Dieses Gedicht erscheint in „Deutsch<br />

aktiv” neben Interviews mit drei jungen Ausländerinnen (einer Türkin, einer Griechin<br />

und einer Spanierin), die das Ausländerproblem nicht in erster Linie bei sich, sondern<br />

bei den Deutschen sehen. Bis auf die Türkin, die seit ihres nicht bestandenen<br />

Hauptschulabschlusses vergeblich nach einer Lehrstelle als Schneiderin sucht, haben<br />

die anderen Mädchen bessere Zukunftschancen in Deutschland als in ihrer Heimat.<br />

116<br />

Karl-Heinz Brücher und Ulrike Wagner, Begreifen und Bewerten. Exemplarische Texte und Übungen<br />

zur kulturhistorischen Landeskunde. Dortmund: Lensing 1981, S. 7<br />

117<br />

Götz Großklaus und Alois Wierlacher, „Zur kulturpolitischen Situierung fremdsprachlicher<br />

Germanistik, insbesondere in Entwicklungsländern” .In: Alois Wierlacher (Hg.), Fremdsprache Deutsch.<br />

Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie, Bd. I. München 1980, S. 97<br />

118<br />

ebd.<br />

119<br />

Gerd Neuner et. al., Deutsch aktiv. Ein Lehrwerk für Erwachsene. Lehrbuch 2. Berlin: Langenscheidt<br />

1980, S. 128


Rocko oder die Ikonographie des Deutschen 187<br />

Während das Verhältnis der nicht-deutschen Europäer zur deutschen Sprache<br />

umkehrbar ist, ist das in den Entwicklungsländern nicht der Fall. Hier bestimmt die<br />

ökonomische Macht das Verhältnis zwischen den Kulturen. Gayatri Spivak<br />

argumentiert, daß der Westen den Osten begehrt, während der Osten vom Westen<br />

ökonomisch abhängig ist. Ein philippinisches Hörspiel veranschaulicht das besonders<br />

deutlich. Es handelt von der Brieffreundschaft einer jungen Philippinin, Luisa, und<br />

einem älteren Deutschen, Ludwig. Luisa sieht in der Bekanntschaft, die eine spätere Ehe<br />

nicht ausschließt, eine Chance, der Armut und Rückständigkeit ihres Dorfes zu<br />

entkommen. Begeistert erklärt sie ihren Freundinnen: „I hope he courts me. I’ll say yes<br />

immediately. I can finally go abroad.” 120 Obwohl die Freundin Marta sie vor dem<br />

Brieffreund warnt, läßt Luisa ihr Wunschbild von einem reichen gutaussehenden Mann<br />

durch nichts beeinträchtigen, auch wenn Ludwigs Nase auf dem Foto zu scharf ist. Als<br />

Beweis seines Reichtums gilt ebenfalls nur ein Foto von einem großen Haus und einem<br />

teuren Auto. Ludwigs Ankunft stellt sich zunächst als Enttäuschung dar. Er ist viel älter<br />

als angegeben, er wäscht sich nicht und stinkt, wie Marta hämisch bemerkt, und er<br />

spricht ein gebrochenes Englisch. Er stellt sich mit „Achtung .Gut morning. Thank you.<br />

My name is Lutvig” vor, und unterbricht das philippinische Gespräch zwischen Luisa<br />

und ihren Freunden mit Phrasen wie „Vat you say?” und „Vie he laugh?” Luisa folgt<br />

ihm trotzdem nach Deutschland und heiratet ihn mit dem Hintergedanken, ihn bald zu<br />

beerben. In Deutschland sperrt Ludwig sie jedoch zunächst in ein Haus ein und verkauft<br />

sie als Nackttänzerin an einen Klub. Als sie sich weigert, wird sie geschlagen. In ihre<br />

Heimat deportiert, erklärt sie ihrer Freundin ihre Situation: „I fought back, but what can<br />

I do. I’m just a Maria Clara, and they’re huge monkeys. Oh, heavens. Fortunately, a<br />

customer took pity on me. He helped me. He made me escape from the club and sent me<br />

to the police. That’s why I was deported.” 121<br />

Sowohl Luisa als auch Ludwig gebrauchen<br />

die Ehe zu ökonomischen Zwecken. Während Ludwig als Zuhälter aus dem Begehren<br />

des Europäers nach der exotischen Frau Gewinn schlägt, kann Luisa aus diesem<br />

Begehren selbst keinen Profit ziehen. Ihre Beziehung bestätigt somit das Machtgefälle<br />

zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern, das sich im Gegensatz von<br />

Kapital und billiger Arbeitsreserve in den Industrieländern manifestiert.<br />

Angesichts solcher disparaten Alltagserfahrungen erweist sich das Ziel des<br />

Fremdsprachenunterrichts, angemessen in alltäglichen Situationen zu reagieren, als<br />

problematisch. Es fragt sich, von wessen Alltag hier die Rede ist. Ob wissenschaftlicher<br />

Experte, Student, Tourist, „Gastarbeiter” oder Asylant, jede dieser unterschiedlichen<br />

Positionen erfordert eine andere Verhaltensweise, die nicht nur die körperliche Gestik,<br />

sondern auch die sprachlichen Strategien bestimmt. Ein Asylant z. B. wird andere<br />

Taktiken bei den Behörden anwenden müssen, als etwa ein wissenschaftlicher Experte,<br />

der an ein Forschungsinstitut eingeladen wird, weil sein Wissen den eigenen Interessen<br />

nützt. Im Falle des Asylanten kommt der Verlust seines früheren Status hinzu, er steht<br />

auf der untersten Stufe der sozialen Rangordnung. Diese Situation stellt im Vergleich zu<br />

seinem bisherigen Leben die Ausnahme und nicht das Normale, Alltägliche dar. Das<br />

Konzept des Alltäglichen subsumiert soziale Unterschiede unter eine scheinbar allen<br />

120 Macario D. Tui, Luisa’s Dream (A Radio Play). In: ani, Vol. IV, No. 2, June 1990, S. 45<br />

121<br />

S. 53


188 Deutsch als Fremdsprache<br />

gemeinsame Normalität. Diese Normalität offenbart sich vor allem dem<br />

unterprivilegierten Ausländer jedoch als Zwang und Gewalt.<br />

Sieht man sich die in den Lehrwerken „Deutsch als Fremdsprache” beschriebenen<br />

Alltagssituationen an, so entsteht das Bild einer normalen Gesellschaft. Die Themen,<br />

die im Lehrwerk „Deutsch aktiv” behandelt werden, lauten: Familie, Schulangst,<br />

Gesundheit/Krankheit, das Auto, die Post, junge Leute, Arbeit und Beruf, Freizeit,<br />

Merkwürdigkeiten, Politik/Medien, Kultur, „Gastarbeiter” und deutschsprachige<br />

Länder. Die Alltagssituationen drehen sich um die Familie, Haustiere, das Auto, die<br />

Post, Reisen und Einkaufen. Die Themen in „Deutsch heute” sind nicht wesentlich<br />

anders, sie gehen jedoch stärker vom Wissen amerikanischer Studenten aus. Ihnen liegt<br />

ein komparativer und kontrastiver Ansatz zugrunde. Die Themen sind Klima und<br />

Geographie der Bundesrepublik, Einkaufen, Studenten in der BRD, Österreich, Natürlich<br />

leben, typisch deutsch und typisch amerikanisch, Türen, die Schweiz, Frauen in der<br />

BRD, Freizeit, Wirtschaft der BRD, Eindrücke aus der DDR und ausländische<br />

Arbeitnehmer. Jedes Kapitel ist durch landeskundliche Notizen (cultural notes) ergänzt.<br />

Sie informieren auf knappem Raum über die Besonderheiten des öffentlichen Lebens<br />

der BRD (Post, Telefon, Universität, Anredeformen, Einkaufen), über Sport, Freizeit,<br />

Kultur (Brecht, Bach, Mozart, Beethoven), über soziale Themen wie<br />

Frauenemanzipation, Arbeiterrechte, die DDR, „ausländische Arbeitnehmer", wie es<br />

neuerdings heißt, und über das Recht auf politisches Asyl. Diese Notizen gehen jedoch<br />

kaum über das Triviale (z. B. die Bedeutung von Postleitzahlen) oder das rein Faktische<br />

hinaus (z. B. die Zahl der Asylanten). Probleme werden höchstens konstatiert, doch<br />

nicht analysiert. So entsteht ein „Allgemeinwissen” ohne methodische Grundlage.<br />

Sowohl in „Deutsch heute” als auch in „Deutsch aktiv” wird ein Alltag dargestellt,<br />

der von keinen sozialen, ökonomischen oder politischen Konflikten bedroht ist. So kann<br />

man sich ruhig darüber unterhalten, ob man lieber im Tante-Emma-Laden oder im<br />

Supermarkt einkaufen geht, wohin die nächste Reise gehen soll, auf der man sich<br />

höchstens über die Staus ärgern muß, falls man mit dem Auto fährt, ob man den Kuchen<br />

lieber künstlich oder natürlich dekoriert, was eine offene bzw. eine geschlossene Tür in<br />

Deutschland und in Amerika bedeutet usw. Ferner erhält der Lerner Tips über die<br />

Sehenswürdigkeiten anderer deutschsprachiger Länder. Selbst wenn in „Deutsch aktiv”<br />

solche Themen wie Schulangst angeschnitten werden, dann geht es nicht in erster Linie<br />

um die sozialen Ursachen, sondern um die Anpassung an die soziale Norm. So wird der<br />

Grund für die Angst des Schülers vor den Eltern nicht in der autoritären Struktur der<br />

Familie gesucht, sondern in der mangelhaften Kommunikation zwischen dem<br />

Klassenlehrer und den Eltern. Der Schüler kann gar nicht erst über seine Angst vor der<br />

Reaktion der Eltern auf das schlechte Zeugnis reden, die sich wiederum um ihr soziales<br />

Ansehen sorgen.<br />

Wenn eine Kritik an den neueren Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache zu üben<br />

wäre, dann die, daß sie dazu tendieren, eine Norm und eine Normalität zu konstruieren,<br />

wo diese Normalität in Frage zu stellen wäre. So wird z. B. nicht verschwiegen, daß der<br />

Leistungsdruck bereits im Grundschulalter einsetzt. Der Leistungszwang erscheint<br />

jedoch als Voraussetzung der hochentwickelten Industriegesellschaft, die zwar einen<br />

hohen menschlichen Preis fordert, doch die einzige tragfähige Gesellschaftsform zu sein


Rocko oder die Ikonographie des Deutschen 189<br />

scheint, wie der gescheiterte Sozialismus angeblich beweist. So entsteht das Bild einer<br />

homogenen Gesellschaft, das der sozialen und politischen Vielfalt und Zersplitterung<br />

nicht gerecht wird. Soziale Randgruppen, wie die Autonomen, die Punks, die Skinheads<br />

und die Neonazis, die sich zumindest teilweise der Kontrolle des Staates entziehen,<br />

scheinen für diese Lehrwerke überhaupt nicht zu existieren.<br />

Die Adressatengruppe der Lehrwerke Deutsch als Fremdsprache scheint der<br />

gebildete und wohlhabende Mittelstand zu sein, der sich der sozialen Probleme in<br />

Deutschland zwar bewußt ist (Arbeitslosigkeit, Fremdarbeiter, Ökologie,<br />

Geburtenrückgang, Numerus Clausus und zuerst die Spaltung und demnächst wohl die<br />

Vereinigung Deutschlands), aber sich nicht so von diesen Problemen betroffen fühlt, als<br />

daß er in die politischen Auseinandersetzungen eingreifen würde. Er beruft sich auf eine<br />

Form der sozialen Marktwirtschaft, die den Kapitalismus durch soziale Hilfen zu<br />

mildern und damit zu stabilisieren versucht. Für die Gastarbeiter sieht die Arbeitsrealität<br />

jedoch anders aus. Sie stehen auf der untersten Stufe der Arbeiterhierarchie und sind<br />

meistens durch keine Gesetze geschützt. Im Gegenteil, sie müssen für jede Arbeit<br />

dankbar sein. Obwohl sich ein Lehrwerk wie „Deutsch aktiv” auch an diese<br />

Adressatengruppe wendet, wird von ihren Arbeitserfahrungen nichts berichtet. Gerade<br />

Günter Wallraffs „Industriereportagen” könnten dazu benutzt werden, um die Realität<br />

der sozialen Marktwirtschaft zu kritisieren. Stattdessen wird den Ausländern jedoch der<br />

Lebensstandard des wohlhabenden und gebildeten Bürgertums als erstrebenswert<br />

vorgeführt. Berichtet wird von den Anpassungsschwierigkeiten an diese Norm, doch<br />

nicht, daß sie als Ausschließungsprinzip der Ausländer fungiert, die nicht den<br />

Anforderungen der Leistungsgesellschaft genügen.


190 Deutsch als Fremdsprache


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