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Studien zur Situation der Geschwister von Menschen mit Behinderung

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<strong>Studien</strong> <strong>zur</strong> <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

Diplomarbeit im Fach Sozialpädagogik<br />

an <strong>der</strong> Universität Siegen<br />

Vorgelegt <strong>von</strong>:<br />

Tamara Drittenpreis und Elisabeth Freund<br />

Schützenweg 3 Am Weingarten 1<br />

88693 Deggenhausertal 35630 Eringshausen<br />

596475 596268<br />

Erstgutachter: Prof. Dr. Norbert Schwarte<br />

Zweitgutachterin: Prof. Dr. phil. Maria Kron<br />

Siegen im März 2005


„ Aber da ist noch die an<strong>der</strong>e Geschichte,<br />

die Geschichte vom kleinen Glück, vom<br />

Lachen und <strong>von</strong> <strong>der</strong> Freude, vom Stolz auf<br />

das Gemeinsame, <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />

unverbrüchlichen Liebe. Und die<br />

Geschichte <strong>von</strong> <strong>der</strong> Einzigartigkeit <strong>der</strong><br />

Schwester und des Bru<strong>der</strong>s, den o<strong>der</strong> die<br />

man nie missen möchte.“<br />

2<br />

Andrea Fischer, M.d.B.<br />

(in Neumann, 2001, S. 10)


Inhaltsverzeichnis<br />

1. Einleitung................................................................................................... 5<br />

Teil I: Grundlagen und Forschungsstand <strong>zur</strong> <strong>Situation</strong>............................... 6<br />

2. Themenfindung und Arbeitsweise........................................................... 7<br />

3. Theoretische Grundlagen....................................................................... 10<br />

3.1. Definition Behin<strong>der</strong>ung....................................................................... 10<br />

3.2. Behin<strong>der</strong>ung und Familie ................................................................... 12<br />

4. Signifikante Merkmale aus <strong>Studien</strong> zum Themenkreis........................ 20<br />

4.1. Belastung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> ................................................................ 20<br />

4.2. Zuwendung <strong>der</strong> Eltern........................................................................ 26<br />

4.3. Ausdrucksformen <strong>von</strong> Aggressionen ................................................. 29<br />

4.4. Einflüsse auf die eigene Entwicklung................................................. 31<br />

4.5. Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt...................................................................... 35<br />

4.6. Anmerkung ........................................................................................ 38<br />

Teil II: Befragung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung..... 39<br />

5. Entwicklung <strong>der</strong> Fragen ......................................................................... 40<br />

5.1. Vorüberlegungen ............................................................................... 40<br />

5.2. Thesenfindung ................................................................................... 41<br />

5.2.1. „Brainstorming“, Thesen zusammentragen .................................... 41<br />

5.2.2. Endgültige Thesen ......................................................................... 46<br />

5.3. Fragen entwickeln.............................................................................. 52<br />

5.4. Fragenkatalog zusammenstellen ....................................................... 57<br />

6. Interviewpartner finden .......................................................................... 59<br />

6.1. Persönliche Ansprache möglicher Interviewpartner........................... 60<br />

6.2. Aufruf in <strong>der</strong> Camphill-Zeitschrift Brücke............................................ 60<br />

6.3. Kontaktieren geeigneter Einrichtungen .............................................. 62<br />

7. Vorbereitung und Durchführung <strong>der</strong> Interviews .................................. 64<br />

8. Auswertung ............................................................................................. 67<br />

8.1. Familiensituation................................................................................ 67<br />

8.1.1. These 1: Eigene Ablösung vom Elternhaus ................................... 67<br />

8.1.2. These 2: Belastung <strong>der</strong> Familie...................................................... 69<br />

8.1.3. These 3: Familie rückt enger zusammen ....................................... 71<br />

8.1.4. These 4: Familiengröße ................................................................. 73<br />

3


8.2. Eigene <strong>Situation</strong>................................................................................. 74<br />

8.2.1. These 5: Beeinflussung des eigenen Lebens................................. 74<br />

8.3. Beziehung zum <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung .................................. 78<br />

8.3.1. These 6: Wut, Neid und Rücksichtnahme ...................................... 78<br />

8.3.2. These 7: Verantwortungsübernahme ............................................. 84<br />

8.3.3. These 8: Integration in eigene Familie ........................................... 87<br />

8.4. Beziehung zu den Eltern.................................................................... 90<br />

8.4.1. These 9: Belastung <strong>der</strong> Eltern........................................................ 90<br />

8.4.2. These 10: Zeit <strong>der</strong> Eltern................................................................ 91<br />

8.5. Elternverhalten................................................................................... 93<br />

8.5.1. These 11: Kompensatorische Erwartungen ................................... 93<br />

8.5.2. These 12: Loslassen und Verantwortungsabgabe ......................... 95<br />

8.6. Umwelt/ Gesellschaft ....................................................................... 100<br />

8.6.1. These 13: Reaktionen .................................................................. 100<br />

9. Zusammenfassung <strong>der</strong> Ergebnisse .................................................... 104<br />

10. Schlussbemerkung ........................................................................... 110<br />

11. Literatur.............................................................................................. 111<br />

Anhang.......................................................................................................... 113<br />

1. Fragenkatalog ....................................................................................... 113<br />

2. Anschreiben .......................................................................................... 115<br />

3. Fragebogen ........................................................................................... 116<br />

4. Interviewabschriften ............................................................................. 117<br />

5. „Danke“.................................................................................................. 118<br />

Erklärung ...................................................................................................... 119<br />

Versicherung ................................................................................................ 120<br />

4


1. Einleitung<br />

Unsere Gesellschaft begegnet <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung und <strong>der</strong>en Angehörigen,<br />

noch immer häufig <strong>mit</strong> Unsicherheit, Ablehnung und Ausgrenzung.<br />

Die Eltern, die zunächst <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung des eigenen Kindes konfrontiert<br />

sind, müssen lernen, diese zu akzeptieren und <strong>mit</strong> <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Lebenssituation<br />

täglich neu umzugehen. Hinzu kommt, dass sie sich <strong>mit</strong> den verschiedensten<br />

Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt auseinan<strong>der</strong>zusetzen müssen. In den wenigsten<br />

Fällen wird bedacht, dass auch die <strong>Geschwister</strong> diese beson<strong>der</strong>e Familiensituation<br />

bewältigen und sich <strong>mit</strong> den Verhaltensweisen ihres Umfeldes arrangieren<br />

müssen.<br />

Auch in <strong>der</strong> Literatur kann festgestellt werden, dass <strong>der</strong> <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung, speziell im deutschsprachigen Raum, bisher<br />

nur wenig Beachtung geschenkt wurde.<br />

Mit dieser Personengruppe werden wir uns in <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit beschäftigen.<br />

Unsere Arbeit glie<strong>der</strong>t sich in zwei Teile:<br />

Zunächst werden wir einige Grundlagen erläutern und signifikante Merkmale<br />

aus aktuellen <strong>Studien</strong> darstellen. Hierbei haben wir uns bewusst für <strong>Studien</strong> aus<br />

Deutschland entschieden, da wir unsere Befragung im deutschsprachigen<br />

Raum durchgeführt haben und wir <strong>von</strong> denselben Grundvoraussetzungen ausgehen<br />

wollten.<br />

Im zweiten Teil stellen wir die Durchführung unserer empirischen Untersuchung<br />

und die daraus resultierenden Ergebnisse dar. Wir beschreiben unser Vorgehen,<br />

<strong>von</strong> <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Fragebögen, über die Suche nach Interviewpartnern,<br />

bis hin <strong>zur</strong> Durchführung <strong>der</strong> Interviews. In <strong>der</strong> Auswertung erläutern wir<br />

unsere Ergebnisse.<br />

Den Abschluss unserer Arbeit bildet eine Zusammenfassung, in <strong>der</strong> wir unsere<br />

Ergebnisse den eingangs angeführten <strong>Studien</strong> gegenüberstellen.<br />

5


Teil I:<br />

Grundlagen und<br />

Forschungsstand <strong>zur</strong> <strong>Situation</strong><br />

6


2. Themenfindung und Arbeitsweise<br />

Bei <strong>der</strong> Suche nach einem Thema für meine Diplomarbeit gab mir mein Vater<br />

den Anstoß, mich <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

zu beschäftigen, denn dies würde mich schließlich selber betreffen.<br />

Anfangs stand ich diesem Thema sehr kritisch gegenüber. Die Behin<strong>der</strong>ung<br />

meiner Schwester würde mich sowieso mein ganzes Leben lang begleiten und<br />

aus diesem Grund wollte ich in meinem beruflichen Leben nicht <strong>mit</strong> dieser Personengruppe<br />

arbeiten. Je mehr ich mich <strong>mit</strong> dieser Fragestellung auseinan<strong>der</strong><br />

setzte, desto deutlicher wurde mir, dass es bei diesem Thema nicht um <strong>Menschen</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung geht.<br />

Es geht um die Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> einer Gruppe <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong>, denen oft<br />

wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, - nämlich den <strong>Geschwister</strong>n <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Ich fand das Thema zunehmend interessanter und befragt Professor Schwarte<br />

nach seiner Meinung. Er riet mir, dieses Thema zu wählen und sagte mir zu,<br />

meine Diplomarbeit zu betreuen.<br />

In einem Gespräch <strong>mit</strong> meiner Freundin, Elisabeth Freund, kamen wir auf die<br />

Idee, diese Arbeit gemeinsam zu schreiben.<br />

(Tamara Drittenpreis)<br />

Nach anfänglichem Zögern wurden uns sehr schnell die Vorteile einer Zusammenarbeit<br />

bewusst.<br />

Zum einen hatten wir uns auf sämtliche Prüfungen im Laufe unseres Studiums<br />

gemeinsam vorbereitet und diese absolviert. Dabei haben wir die Erfahrung<br />

gemacht, dass sich diese Teamarbeit bewährt.<br />

Zum an<strong>der</strong>en würden wir zu zweit mehr Interviews führen und auswerten können<br />

und hätten so<strong>mit</strong> aussagekräftigere Ergebnisse.<br />

Hinzu kommt die Tatsache, dass wir beide völlig verschiedene Erfahrungen <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung gemacht haben und dies eine sehr interessante Konstellation für<br />

eine Zusammenarbeit ergeben würde.<br />

Da Tamara Drittenpreis selber <strong>von</strong> <strong>der</strong> <strong>Situation</strong> betroffen ist, bestand die Gefahr,<br />

dass ihr unter Umständen teilweise die notwendige Objektivität fehlen<br />

könnte. Auch aus diesem Grund war eine Zusammenarbeit für uns vorteilhaft.<br />

7


Wir entschlossen uns, eine empirische Untersuchung <strong>zur</strong> <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung durchzuführen.<br />

Für diese Untersuchung führten wir Interviews <strong>mit</strong> betroffenen <strong>Geschwister</strong>n<br />

und befragten diese zu ihrer <strong>Situation</strong>.<br />

Als Erhebungsinstrument haben wir eine spezifische Form des problemzentrierten<br />

Einzelinterviews gewählt. Die Grundgedanken <strong>der</strong> problemzentrierten<br />

Arbeitsweise sind:<br />

• Der sprachliche Zugang.<br />

• Die Vertrauenssituation, die zwischen Interviewer und Befragtem entstehen<br />

soll.<br />

• Die Tatsache, dass zunächst ein Problem analysiert und anschließend<br />

erforscht wird.<br />

• Durch einen Interviewleitfaden werden die Befragten zwar auf bestimmte<br />

Fragestellungen hingelenkt, sie sollen aber offen darauf antworten.<br />

(vgl. Mayring, 1993, S. 47)<br />

Das Vertrauensverhältnis zwischen Interviewer und Befragtem entsteht durch<br />

die Offenheit bei dieser Interviewform. Durch diese Offenheit soll <strong>der</strong> Interviewpartner<br />

frei antworten können, ohne vorgegebene Antwortalternativen. Dies hat<br />

weitere Vorteile:<br />

• „Man kann überprüfen, ob man <strong>von</strong> den Befragten überhaupt verstanden<br />

wurde.<br />

• Die Befragten können ihre ganz subjektiven Perspektiven und Deutungen<br />

offenlegen [!].<br />

• Die Befragten können selbst Zusammenhänge […] im Interview entwickeln.<br />

• Die konkreten Bedingungen <strong>der</strong> Interviewsituation können thematisiert<br />

werden.“<br />

(Mayring, 1993, S. 47)<br />

Wir entschieden uns zudem für eine standardisierte Form <strong>der</strong> problemzentrierten<br />

Befragung, da eine Standardisierung die Vergleichbarkeit erleichtert. Das<br />

8


Material aus den Gesprächen kann auf die Fragestellungen bezogen werden<br />

und so sehr leicht ausgewertet werden. (vgl. Mayring, 1993, S. 49)<br />

Zunächst befassten wir uns <strong>mit</strong> themenrelevanter Literatur sowie aktuellen <strong>Studien</strong>.<br />

Aus diesen und durch die eingehende Beschäftigung <strong>mit</strong> dem Thema<br />

sammelten und entwickelten wir Thesen, die wir überprüfen wollten. Daraus<br />

wählten wir die Thesen, die uns am wichtigsten erscheinen. Nun formulierten<br />

wir Fragen, <strong>mit</strong> <strong>der</strong>en Hilfe wir unsere Thesen überprüfen wollen. Parallel dazu<br />

suchten wir nach geeigneten Interviewpartnern. Die Interviews führten wir in<br />

einem relativ kompakten Block durch und werteten sie im Anschluss an die<br />

Verschriftlichung aus.<br />

Abschließend fassten wir unser Ergebnisse zusammen und verglichen diese <strong>mit</strong><br />

den Resultaten <strong>der</strong> aktuellen <strong>Studien</strong>.<br />

9


3. Theoretische Grundlagen<br />

3.1. Definition Behin<strong>der</strong>ung<br />

Obwohl in unserer Diplomarbeit die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

im Vor<strong>der</strong>grund stehen, ist es uns wichtig, den Begriff Behin<strong>der</strong>ung zu<br />

definieren.<br />

Der Begriff <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ist sehr vielschichtig und unterschiedliche Definitionen<br />

sind gebräuchlich. Ich werde verschiedene Definition anführen, um die<br />

Vielseitigkeit dieses Begriffs zu verdeutlichen.<br />

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt drei Begrifflichkeiten für die Definition<br />

<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung an:<br />

Aufgrund einer Ursache, einer Erkrankung, angeborenen Schädigung o<strong>der</strong><br />

eines Unfalls, entsteht ein dauerhafter gesundheitlicher Schaden. Dieser führt<br />

zu einer funktionalen Beeinträchtigung <strong>der</strong> Fähigkeiten und Aktivitäten des<br />

Betroffenen. Die soziale Beeinträchtigung ist Folge des Schadens und äußert<br />

sich in persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Konsequenzen. (vgl.<br />

Egle und Scheller)<br />

Im nationalen Rahmen ist <strong>der</strong> Begriff einheitlicher, dennoch gibt es auch hier<br />

verschiedene Ansätze.<br />

Die Gesetzgebung definiert Behin<strong>der</strong>ung wie folgt:<br />

„<strong>Menschen</strong> sind behin<strong>der</strong>t, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit<br />

o<strong>der</strong> seelische Gesundheit <strong>mit</strong> hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate<br />

<strong>von</strong> dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre<br />

Teilhabe am Leben in <strong>der</strong> Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind <strong>von</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ (SGB IX § 2 I)<br />

Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation hat folgende Definition<br />

formuliert:<br />

10


„Es handelt sich hier um einen im anatomisch-physiologischen Bereich anzusiedelnden,<br />

vielschichtigen und gegen die verschiedenen benachbarten Bereiche<br />

nicht immer leicht abzugrenzenden Sammelbegriff. Zu <strong>der</strong> Feststellung dieser<br />

relativen Unschärfe des Begriffes ‚Behin<strong>der</strong>ung’ kommt die Tatsache hinzu,<br />

dass <strong>der</strong> Terminus nicht ausreicht, um die Gesamtheit <strong>der</strong> hier angegebenen<br />

Sachverhalte zu erfassen und die verschiedenen Ebenen aufzuzeigen, in denen<br />

‚Behin<strong>der</strong>ung’ wirksam wird.“ (1984, zit. n. Hünermund)<br />

Eine gemeinsame Definition gibt es in <strong>der</strong> Medizin jedoch noch nicht.<br />

Laut <strong>der</strong> Empfehlung <strong>der</strong> Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates<br />

gelten in <strong>der</strong> Pädagogik alle Kin<strong>der</strong>, Jugendliche und Erwachsene als behin<strong>der</strong>t,<br />

„… die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in <strong>der</strong> sprachlichen Kommunikation<br />

o<strong>der</strong> in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, dass<br />

ihre Teilnahme am Leben in <strong>der</strong> Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb<br />

bedürfen sie beson<strong>der</strong>er pädagogischer För<strong>der</strong>ung. Behin<strong>der</strong>ungen können<br />

ihren Ausgang nehmen <strong>von</strong> Beeinträchtigungen des Sehens, des Hörens, <strong>der</strong><br />

Sprache, <strong>der</strong> Stütz- und Bewegungsfunktionen, <strong>der</strong> Intelligenz, <strong>der</strong> Emotionalität,<br />

des äußeren Erscheinungsbildes sowie <strong>von</strong> bestimmten chronischen<br />

Krankheiten. Häufig treten Mehrfachbehin<strong>der</strong>ungen auf …“ (1973, zit. n.<br />

Hünermund)<br />

Dies sind einige <strong>der</strong> möglichen Definitionen für Behin<strong>der</strong>ung. Jedoch unabhängig<br />

<strong>von</strong> <strong>der</strong> Bezeichnung kann diese subjektiv <strong>von</strong> den Betroffenen und Angehörigen<br />

sehr unterschiedlich erlebt und wahrgenommen werden.<br />

Umgangssprachlich gibt es die unterschiedlichsten Bezeichnungen für <strong>Menschen</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen. Neben neutralen o<strong>der</strong> abwertenden werden oft Begriffe<br />

gebraucht, die „umschreiben“, um nicht benennen zu müssen. Da<strong>mit</strong> können<br />

betroffene <strong>Geschwister</strong> nur schwer umgehen. Sie sollen nicht wissen, was<br />

wirklich los ist, spüren o<strong>der</strong> wissen aber bereits, dass <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong><br />

„etwas an<strong>der</strong>s“ ist. (vgl. Winkelheide und Knees, 2003, S. 70)<br />

Auch die WHO weist in ihrem Konzept auf etwas Entsprechendes hin, in dem<br />

sie vor <strong>der</strong> Gefahr des „Schönredens“ <strong>von</strong> Behin<strong>der</strong>ung warnt:<br />

11


„Wie auch immer Behin<strong>der</strong>ungen genannt werden – sie werden ungeachtet<br />

ihrer Bezeichnung existieren. Daher ist das Problem nicht nur ein sprachliches,<br />

son<strong>der</strong>n auch und vor allem ein Problem des Verhaltens <strong>von</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Menschen</strong><br />

und <strong>der</strong> Gesellschaft gegenüber Behin<strong>der</strong>ten. Nicht eine politisch korrekte<br />

Sprache ist <strong>von</strong>nöten, son<strong>der</strong>n ein korrekter Inhalt und Gebrauch.“ (ICIDH<br />

2 in Winkelheide und Knees, 2003, S. 70)<br />

3.2. Behin<strong>der</strong>ung und Familie<br />

Wird ein Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in eine Familie geboren o<strong>der</strong> stellt sich in <strong>der</strong><br />

Folge eine Behin<strong>der</strong>ung heraus, so bedeutet dies für alle Angehörigen eine<br />

große Umstellung. Die volle Tragweite für die Beteiligten stellt sich erst im Laufe<br />

<strong>der</strong> Zeit heraus.<br />

Seifert schreibt hierzu:<br />

„Ein behin<strong>der</strong>tes Kind verän<strong>der</strong>t den Alltag seiner Familie radikal. Es for<strong>der</strong>t <strong>von</strong><br />

allen Beteiligten einen großen physischen und psychischen Einsatz. Seine Bedürfnisse<br />

stehen im Mittelpunkt und strukturieren den Tagesablauf: Ernährung,<br />

Pflege und Betreuung des Kindes sind zeitaufwendig, Arztbesuche, Therapien,<br />

Behördengänge kommen dazu. Eltern eines behin<strong>der</strong>ten Kindes zu sein ist ein<br />

Fulltime-Job, Tag und Nacht, über Jahre, oft jahrzehntelang. Dazu kommt die<br />

permanente Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung, das Bewußtwerden [!],<br />

<strong>von</strong> einem Tag auf den an<strong>der</strong>en selbst zu einer Randgruppe zu gehören, die<br />

einem bislang fremd war, <strong>mit</strong> allen dazugehörigen Folgen.“ (Seifert, 1997, S.<br />

237)<br />

Seifert (1989) warnt auch vor <strong>der</strong> Gefahr, dass sich die Kontakte <strong>zur</strong> Umwelt<br />

durch die Belastung und die dadurch entstehenden Aufgaben reduzieren und<br />

sich die Familie dadurch isoliert.<br />

Hackenberg (1992) sieht für die Familie ähnliche Belastungen. Außerdem<br />

werde eine persönliche Umorientierung durch die Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung ausgelöst. Hackenberg betont, dass diese aber auch die Entwicklung<br />

und Reifung <strong>der</strong> Betroffenen för<strong>der</strong>n kann.<br />

12


Bedeutung für die Eltern:<br />

„Keine Mutter, kein Vater wird je den Tag, die Stunde, die <strong>Situation</strong> vergessen,<br />

in <strong>der</strong> ihnen diese Wahrheit zugemutet wurde, in <strong>der</strong> sie sie zum ersten Mal<br />

wahrnehmen mußten [!]. Danach beginnt ein langer, mühsamer Weg <strong>der</strong> Auflehnung,<br />

des Nicht-wahrhaben-Wollens, des Nicht-sehen- und Nicht-einsehen-<br />

Können und verzweifelter Traurigkeit.“ (Görres, 1987, S. 17f)<br />

Görres beschreibt hier sehr eindrücklich die Gefühle und die <strong>Situation</strong> <strong>der</strong><br />

Eltern, wenn sie zum ersten Mal <strong>von</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ihres Kindes erfahren.<br />

Aber dies war nur <strong>der</strong> erste Moment, es folgt ein langer Weg, wie Achilles schil<strong>der</strong>t.<br />

„Ein behin<strong>der</strong>tes Kind zu haben ist für die Eltern eine Dauerbelastung, auf die<br />

sie sich erst einstellen müssen und an die sie sich im Laufe <strong>der</strong> Jahre immer<br />

wie<strong>der</strong> neu anpassen müssen. Oft muss <strong>der</strong> Alltag vollständig umorganisiert<br />

werden. Die Mutter gibt die Berufstätigkeit auf, das Haus muß [!] umgebaut o<strong>der</strong><br />

eine rollstuhlgerechtere Wohnung gesucht werden. Das kostet Geld. Und es<br />

erfor<strong>der</strong>t außerdem Kraft und Energie, die den Eltern dann im Umgang <strong>mit</strong> ihren<br />

nichtbehin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong>n fehlen.“ Achilles,1997, S. 55f)<br />

Hackenberg beschreibt 1992 die Bedeutung <strong>der</strong> Geburt eines Kindes <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

o<strong>der</strong> das Auftreten einer Behin<strong>der</strong>ung bei einem kleinen Kind für die<br />

Eltern sogar noch drastischer. Sie sieht es als ein „krisenhaftes Herausgeworfenwerden“<br />

aus dem normalen Lebensablauf. Emotionale Reaktionen darauf<br />

wären Angst, Verzweiflung und Gefühle <strong>von</strong> Ohnmacht. Darauf folgen auf emotionaler,<br />

kognitiver und handlungsbezogener Ebene komplexe Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

und ein Anpassungsprozess an die verän<strong>der</strong>te <strong>Situation</strong>. Die Belastungen<br />

und Anfor<strong>der</strong>ungen an die Familie verän<strong>der</strong>n sich jedoch immer wie<strong>der</strong> und<br />

erfor<strong>der</strong>n neue Anpassungsprozesse. Um zu einer Neuorganisation und da<strong>mit</strong><br />

zu einer Struktur <strong>der</strong> Familie zu gelangen, sind über Jahre hinweg erhebliche<br />

Umorientierungen notwendig.<br />

Auch eine Mutter beschreibt die unterschiedlichen Belastungen, <strong>mit</strong> denen sie<br />

konfrontiert wurde:<br />

13


„Zum einen bekommen wir ein behin<strong>der</strong>tes Kind, was wir verarbeiten, wo<strong>mit</strong> wir<br />

umgehen lernen müssen. An<strong>der</strong>erseits müssen wir die Angehörigen trösten,<br />

allen <strong>Menschen</strong> helfen, <strong>mit</strong> uns in dieser schwierigen <strong>Situation</strong> umzugehen.<br />

Eventuell sind schon Kin<strong>der</strong> da, denen wir erklären müssen, warum es <strong>mit</strong> dem<br />

<strong>Geschwister</strong>chen jetzt nicht alles so läuft, wie man es sich vorgestellt hat.<br />

Irgendwann hat man dann vielleicht den Mut, noch einmal ein Kind zu bekommen,<br />

und man freut sich, dass alles in Ordnung ist, dass das Kind scheinbar<br />

gesund ist. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit merkt man, welche Probleme die nachfolgenden<br />

<strong>Geschwister</strong>kin<strong>der</strong> <strong>mit</strong> sich herumschleppen, welchen Belastungen sie ausgesetzt<br />

sind. Auch hier möchte man natürlich helfen – aber wie?“ (Winkelheide,<br />

2003, S. 120)<br />

Den Verarbeitungsprozess <strong>der</strong> Eltern, <strong>der</strong> notwendig ist, schil<strong>der</strong>t Achilles<br />

(1997) in drei Stufen:<br />

Zunächst ist die Behin<strong>der</strong>ung eines ihrer Kin<strong>der</strong> für die Eltern ein Schock. Viele<br />

reagieren darauf <strong>mit</strong> Verleugnung. In <strong>der</strong> zweiten Stufe beschäftigen die Eltern<br />

die Ursachenforschung und die Suche nach Hilfemöglichkeiten. Erst im nächsten<br />

Schritt kommt die Akzeptanz. Dies ist die längste Phase und in den meisten<br />

Fällen wird sie auch nie endgültig abgeschlossen. Die Eltern lernen nun <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Situation</strong> zu leben und trotz <strong>der</strong> Einschränkungen durch die Behin<strong>der</strong>ung<br />

Freude empfinden zu können. Im schlechtesten Fall resignieren die Eltern und<br />

„erledigen enttäuscht und verbittert ihre täglichen Pflichten“.<br />

Seifert (1997) skizziert einen ähnlichen Prozess <strong>der</strong> Krisenverarbeitung:<br />

Zuerst kommt die anfängliche Ungewissheit, dass <strong>mit</strong> dem Kind irgendetwas<br />

nicht stimmt, die dann <strong>zur</strong> Gewissheit wird und <strong>zur</strong> Aggression führen kann. Es<br />

folgt die Phase <strong>der</strong> Verhandlung, in <strong>der</strong> die Eltern nach Heilungsmethoden suchen<br />

und die <strong>der</strong> Depression. Das Zielstadium ist die Annahme <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung,<br />

die Aktivität und Solidarität auslöst. Auch Seifert ist <strong>der</strong> Meinung, dass nur<br />

wenige diese Stufe erreichen.<br />

Weitere mögliche Reaktionsformen <strong>der</strong> Eltern, die sich aus <strong>der</strong> „behin<strong>der</strong>ten<br />

Familie“ erklären, beschreibt Görres (1987) in Bezug auf den Umgang <strong>mit</strong> den<br />

an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n. Zum Einen gibt es die Überbehütung <strong>der</strong> gesunden Kin<strong>der</strong>,<br />

14


aus Angst ihnen könnte ebenfalls etwas zustoßen. Zum An<strong>der</strong>en können die<br />

<strong>Geschwister</strong> sehr verwöhnt werden, da die Eltern meinen, diese entschädigen<br />

zu müssen. Eine dritte Variante ist die Vernachlässigung. Die Eltern schenken<br />

alle Zeit und Kraft dem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung, so dass für die <strong>Geschwister</strong><br />

nichts mehr bleibt.<br />

Bedeutung für die <strong>Geschwister</strong>:<br />

Für Görres (1987) besteht kein Zweifel, dass <strong>Geschwister</strong> eines behin<strong>der</strong>ten<br />

Kindes immer ungewöhnlich gefor<strong>der</strong>t sind. Dies begründet sie da<strong>mit</strong>, dass sich<br />

durch ein behin<strong>der</strong>tes Kind notwendigerweise alles in <strong>der</strong> Familie verän<strong>der</strong>t und<br />

dadurch müssen sich die <strong>Geschwister</strong> <strong>der</strong> <strong>Situation</strong> unterwerfen. Das Kind <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung konzentriert Aufmerksamkeit, Zuwendung, zeitlichen und finanziellen<br />

Aufwand in einer sehr massiven Weise. Durch diesen Eingriff in das<br />

Familienleben werden notwendige Lebensrechte und Lebensgewohnheiten <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong> eingeschränkt.<br />

Die Alltagssituation <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> beschreibt Seifert (1989) folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

Die <strong>Geschwister</strong><br />

• sind beson<strong>der</strong>en Belastungen ausgesetzt.<br />

• tragen frühzeitig Mitverantwortung.<br />

• sind an <strong>der</strong> Pflege und Betreuung ihres <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

beteiligt.<br />

• müssen Einschränkungen in Kauf nehmen.<br />

• bekommen weniger Zuwendung <strong>von</strong> den Eltern.<br />

• müssen sich <strong>mit</strong> den Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt auf die Behin<strong>der</strong>ung ihres<br />

<strong>Geschwister</strong>s auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />

(vgl. S. 107f)<br />

Daraus ergeben sich für Seifert folgende Belastungen, <strong>der</strong>en Auswirkungen auf<br />

die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> problematisch sein können.<br />

• Es bleibt wenig Zeit <strong>der</strong> Eltern für die <strong>Geschwister</strong>.<br />

• Sie müssen frühzeitig Verantwortung übernehmen.<br />

• Sie müssen sich an <strong>der</strong> Pflege und Betreuung beteiligen.<br />

• Sie müssen häufig eigene Bedürfnisse hinten anstellen.<br />

15


• Sie müssen Einschränkungen in ihren außerhäuslichen Aktivitäten in<br />

Kauf nehmen.<br />

• Sie bekommen weniger Hilfe in schulischen Angelegenheiten.<br />

• Sie sehen sich <strong>mit</strong> hohen Erwartungen <strong>von</strong> Seiten <strong>der</strong> Eltern konfrontiert.<br />

• Sie müssen sich immer wie<strong>der</strong> <strong>mit</strong> den Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt<br />

auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />

(vgl. Seifert, 1989, S.13f)<br />

Nun könnte man sich die Frage stellen: ‚Wer sind die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n<br />

<strong>mit</strong> einer Behin<strong>der</strong>ung?’ Dieser Frage sind Winkelheide und Knees, die bereits<br />

seit Jahren <strong>Geschwister</strong>treffen durchführen, nachgegangen. Die beiden sagen,<br />

dass es das typische <strong>Geschwister</strong>kind nicht gibt.<br />

1. „Es sind Kin<strong>der</strong>, Jugendliche und Erwachsene, die zu einem frühen Zeitpunkt<br />

in ihrem Leben an<strong>der</strong>e als die „normalen Lebensbedingungen“ antreffen.<br />

2. Ihre Kindheit ist geprägt vom Zusammenleben <strong>mit</strong> einem o<strong>der</strong> mehreren<br />

<strong>Menschen</strong>, die „an<strong>der</strong>s“ sind.<br />

3. Dieses Zusammenleben bringt die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

in eine spezifische Auseinan<strong>der</strong>setzung.<br />

4. Diese Auseinan<strong>der</strong>setzung wirft viele Fragen auf.<br />

5. Sie entwickeln eine hohe Sensibilität für Fragen im zwischenmenschlichen<br />

Bereich.<br />

6. Soziale Kompetenz wird <strong>von</strong> ihnen verlangt, manchmal sogar selbstverständlich<br />

eingefor<strong>der</strong>t, weil sie durch den Umgang <strong>mit</strong> dem behin<strong>der</strong>ten<br />

<strong>Geschwister</strong>kind „ohnehin gelernt haben“, sozial kompetent zu sein.<br />

7. Sie werden so oftmals in die Rolle <strong>der</strong> Lehrenden o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vorbil<strong>der</strong> im<br />

Umgang <strong>mit</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung gedrängt, ohne je selbst das<br />

Angebot zu haben, diesen Umgang lernen zu können.<br />

8. Die Leistungen, die sie bringen, werden <strong>von</strong> den Erwachsenen oft als<br />

selbstverständlich angenommen. Es sind Tugenden, die innerhalb <strong>der</strong><br />

Gruppe Gleichaltriger oft nicht wahrgenommen werden o<strong>der</strong> keinen<br />

hohen Stellenwert haben.“<br />

(Winkelheide und Knees, 2003, S. 33f)<br />

16


Sie arbeiteten auch Merkmale heraus, die diese Kin<strong>der</strong> <strong>von</strong> an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n<br />

unterscheidet.<br />

1. „Die nicht selbst gewählte Erfahrung, <strong>mit</strong> behin<strong>der</strong>ten <strong>Menschen</strong> in einer<br />

Familie zusammenzuleben – eine Herausfor<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> sich <strong>Menschen</strong><br />

in <strong>der</strong> Regel nicht freiwillig stellen.<br />

2. Diese Lebenssituation stellt beson<strong>der</strong>e Anfor<strong>der</strong>ungen, sowohl in <strong>der</strong><br />

Alltagsbewältigung als auch in <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung.<br />

3. Es bedarf <strong>der</strong> Entwicklung <strong>von</strong> Anpassungsstrategien, um sich <strong>mit</strong> diesen<br />

Lebensumständen zu arrangieren und <strong>zur</strong>echtzufinden.“<br />

4. (Winkelheide und Knees, 2003, S. 34)<br />

Auch Ilse Achilles formulierte 1997 Unterschiede zwischen <strong>Geschwister</strong>n <strong>von</strong><br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen zu an<strong>der</strong>en <strong>Geschwister</strong>n:<br />

• Sie werden früh <strong>mit</strong> Leid konfrontiert.<br />

• Rivalität ist ihnen verboten.<br />

• Sie entwickeln Schuldgefühle.<br />

• Sie haben weniger Zugang zu den Eltern.<br />

• Ihre Möglichkeiten, Freundschaften zu schließen, sind eingeschränkt.<br />

• Sie erleben die <strong>Geschwister</strong>folge an<strong>der</strong>s.<br />

• Sie werden die Angst nicht los, selber behin<strong>der</strong>t zu sein o<strong>der</strong> zu werden.<br />

• Sie leben in einer „außergewöhnlichen“ Familie.<br />

(vgl. S. 51ff)<br />

Als eine auffällige Reaktionsform <strong>der</strong> älteren <strong>Geschwister</strong> beschreibt Görres<br />

(1987), dass diese leichter <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Situation</strong> klarkommen, da sie das <strong>Geschwister</strong><br />

aus einer größeren Distanz und Überlegenheit heraus eher mütterlich<br />

o<strong>der</strong> väterlich betrachten. Seifert (1989) dagegen erläutert, dass sich die stärkere<br />

Beteiligung an <strong>der</strong> Betreuung bei <strong>der</strong> ältesten Schwester eher nachteilig<br />

auf die Entwicklung auswirkt.<br />

Görres (1987) meint auch, dass es zutreffe, dass „die schwächsten Glie<strong>der</strong><br />

einer Familie am stärksten <strong>von</strong> einer Son<strong>der</strong>situation betroffen sind und dass<br />

die Belastungen jüngerer Kin<strong>der</strong> durch ein behin<strong>der</strong>tes <strong>Geschwister</strong> sogar die<br />

<strong>der</strong> Eltern übersteigen können.“<br />

17


Faktoren für die Verarbeitung:<br />

Görres beschreibt einen wichtigen Faktor für die Verarbeitung:<br />

„So wie Vater und Mutter ihrem behin<strong>der</strong>ten Kind gegenüberstehen, wie sie es<br />

annehmen o<strong>der</strong> ablehnen, ihm warmherzig, selbstverständlich o<strong>der</strong> übertrieben<br />

besorgt und wehleidig, aggressiv und verstört o<strong>der</strong> hilflos und verlegen begegnen,<br />

so werden es auch ihre gesunden Kin<strong>der</strong> tun.“<br />

Auch Ilse Achilles (1997) betont, wie wichtig die Einstellung und <strong>der</strong> Umgang<br />

<strong>der</strong> Eltern für die Verarbeitung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> sind. „Die Art, wie die Eltern <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ihres Kindes umgehen, beeinflußt [!] die Einstellung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>kin<strong>der</strong>.“<br />

(S. 120) Die Kin<strong>der</strong> kommen am besten <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Situation</strong> <strong>zur</strong>echt,<br />

wenn sie erleben, wie ihre Eltern souverän und gelassen da<strong>mit</strong> umgehen.<br />

Seifert (1989) erläutert, dass Kin<strong>der</strong> die Belastung durch die Anwesenheit eines<br />

behin<strong>der</strong>ten Kindes unterschiedlich bewältigen.<br />

Sie betont ebenfalls, dass vor allem die Einstellung und die Verhaltensweisen<br />

<strong>der</strong> Eltern bei <strong>der</strong> Bewältigung eine zentrale Rolle spielen. Vor allem die Zufriedenheit<br />

<strong>der</strong> Mutter hat einen entscheidenden Anteil an einer positiven Bewältigung<br />

ihrer Kin<strong>der</strong>.<br />

Als weitere bedeutsame Einflussfaktoren bei <strong>der</strong> Bewältigung nennt sie:<br />

• die Interaktionsbeziehungen innerhalb <strong>der</strong> Familie<br />

• die Persönlichkeit <strong>der</strong> Mutter und des Vaters<br />

• die Kommunikation innerhalb <strong>der</strong> Familie<br />

• den Alltag <strong>mit</strong> dem <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

• die Freiräume <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

• die Prioritätensetzung in <strong>der</strong> Familie<br />

• das Umfeld<br />

Seifert stellt aber auch fest, dass es trotzdem wichtig ist, dass die eigenen Bedürfnisse<br />

nicht zu kurz kommen:<br />

„Auch wenn das behin<strong>der</strong>te Kind wegen seiner Hilfsbedürftigkeit im Mittelpunkt<br />

<strong>der</strong> Familie steht und den Ablauf das Alltags weitgehend bestimmt, ist es für<br />

alle Beteiligten nicht zuträglich, wenn sie sich selbst dabei hintenanstellen [!].“<br />

(Seifert, 1989, S. 105)<br />

18


Im Folgenden beschreibt Seifert, wie unterschiedlich die <strong>Situation</strong> <strong>von</strong> den <strong>Geschwister</strong>n<br />

verarbeitet werden kann und diese ihr Leben über begleitet:<br />

„Sie haben das Problem, Schwester o<strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> eines geistig behin<strong>der</strong>ten<br />

<strong>Menschen</strong> zu sein, unterschiedlich verarbeitet: Einige fühlen sich in ihrer eigenen<br />

Entwicklung in keiner Weise beeinträchtigt, manche sehen die beson<strong>der</strong>e<br />

Erfahrung als Bereicherung für sich selbst, an<strong>der</strong>e haben die Probleme bis<br />

heute nicht gelöst.“ (Seifert, 1997, S. 242)<br />

Auch wenn für die meisten <strong>Geschwister</strong> das Zusammenleben eine große Belastung<br />

darstellt, können sie nicht generell als „behin<strong>der</strong>te <strong>Geschwister</strong>“ angesehen<br />

werden. Den meisten gelingt es <strong>mit</strong> den Zusatzbelastungen, <strong>mit</strong> denen<br />

sie im Verlaufe ihres Heranwachsens konfrontiert waren, ohne beson<strong>der</strong>e Beeinträchtigung<br />

ihrer Persönlichkeit und ihres subjektiven Wohlbefindens fertig<br />

zu werden. (vgl. Hackenberg, 1992, S. 165)<br />

Diese Auffassung vertritt auch Tröster:<br />

„Die Ergebnisse <strong>der</strong> Risikoforschung machen deutlich, dass – entgegen <strong>der</strong> <strong>von</strong><br />

vielen Eltern gehegten Befürchtung – <strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter o<strong>der</strong> chronisch<br />

kranker Kin<strong>der</strong> in ihrer Entwicklung nicht generell gefährdet sind. Die meisten<br />

Kin<strong>der</strong> kommen gut <strong>mit</strong> den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>zur</strong>echt, die sich aus dem Zusammenleben<br />

<strong>mit</strong> einem behin<strong>der</strong>ten o<strong>der</strong> chronisch kranken <strong>Geschwister</strong><br />

ergeben.“ (Tröster, 1999, S. 172)<br />

19


4. Signifikante Merkmale aus <strong>Studien</strong> zum Themenkreis<br />

Die Diskussion um Behin<strong>der</strong>ung und Familie war in den vergangenen Jahrzehnten<br />

Gegenstand <strong>der</strong> <strong>Studien</strong> und Untersuchungen vieler Autoren.<br />

Vielfach wurde beschrieben, wie die Behin<strong>der</strong>ung eines Kindes die gesamte<br />

Familiensituation beeinflusst, wie <strong>der</strong> Alltag solcher Familien aussieht und <strong>mit</strong><br />

welchen Problemen sich diese auseinan<strong>der</strong>setzen müssen.<br />

Auch die übrigen <strong>Geschwister</strong> dieser Familien müssen lernen, <strong>mit</strong> den durchaus<br />

belastenden, zum Teil gänzlich neuen Umständen zu Recht zu kommen und<br />

da<strong>mit</strong> zu leben.<br />

Im folgenden Kapitel werden wir auf signifikante Merkmale <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>situation<br />

eingehen. Diese Merkmale wurden hauptsächlich in <strong>Studien</strong> <strong>von</strong> Waltraud<br />

Hackenberg, Monika Seifert und Heinrich Tröster dargestellt.<br />

Als signifikante Merkmale wurden die Belastung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> und die Zuwendung<br />

<strong>der</strong> Eltern untersucht. Als zusätzlich belastende Faktoren wurden<br />

Aggressionen <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> gegen das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung genannt.<br />

Verschiedene Autoren äußern sich zum Einfluss, den die Behin<strong>der</strong>ung auf das<br />

Leben und die Entwicklung <strong>der</strong> betroffenen <strong>Geschwister</strong> haben kann.<br />

Ebenfalls untersucht wurden verschiedene Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt und <strong>der</strong><br />

Umgang <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> diesen.<br />

Für dieses Kapitel wählten wir die Themen, die Gegenstand unserer eigenen<br />

empirischen Untersuchung sind.<br />

4.1. Belastung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

„Übereinstimmend werden <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> geistig Behin<strong>der</strong>ten in <strong>der</strong> Literatur<br />

als Risikogruppe bezeichnet, die beson<strong>der</strong>s anfällig für psychische Störungen<br />

ist.“ (Seifert, 1989, S.12)<br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung sind ganz beson<strong>der</strong>en Belastungen<br />

ausgesetzt:<br />

• Ihre Eltern haben oft wenig Zeit für sie, weil <strong>der</strong>en Aufmerksamkeit und<br />

Sorge vorrangig dem <strong>Geschwister</strong> gilt<br />

20


• Sie werden in einigen ihrer Bedürfnisse stark eingeschränkt<br />

• Nicht immer können sie ihre privaten Aktivitäten uneingeschränkt durchführen<br />

• Von ihnen wird früh die Verantwortungsübernahme für das <strong>Geschwister</strong><br />

in gewissen Bereichen verlangt<br />

• Beteiligung an Pflege und Betreuung wird erwartet<br />

• Eltern haben oft hohe Erwartungen an die gesunden <strong>Geschwister</strong>, speziell<br />

was die schulische Leistungen betrifft. Da sie jedoch häufig nur<br />

wenig Zeit haben, ihre Kin<strong>der</strong> diesbezüglich zu unterstützen, ist es für<br />

diese kaum möglich, die Erwartungen zu erfüllen<br />

• Sie werden <strong>von</strong> Tag zu Tag <strong>mit</strong> den verschiedensten Reaktionen <strong>der</strong><br />

Umwelt konfrontiert, die es zu verarbeiten gilt (vgl. Seifert, 1989, S.13f)<br />

Zusätzlich ist zu bedenken, dass auch gewisse Verhaltensstörungen <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung eine starke Belastung darstellen können, denn manche<br />

dieser Verhaltensweisen empfinden die <strong>Geschwister</strong> – speziell in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

– als unangenehm und peinlich.<br />

Ferner haben einige <strong>Geschwister</strong> große Angst davor, bei <strong>der</strong> eigenen Familiengründung<br />

selber <strong>von</strong> Behin<strong>der</strong>ung betroffen zu sein.<br />

Auch Tröster (2000b) beschäftigte sich ausführlich <strong>mit</strong> sämtlichen Bedingungen,<br />

die für die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung als belastend gelten. Im<br />

Zusammenhang <strong>mit</strong> diesem Thema stellt er vier Risikofaktoren vor, die die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> diesbezüglich beeinflussen können:<br />

1. Da die Eltern dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung einen großen Teil ihrer<br />

Zeit und Pflege widmen, bekommen die gesunden Kin<strong>der</strong> zu wenig Aufmerksamkeit<br />

und Zuwendung.<br />

2. Oft werden die Träume, Wünsche und Erwartungen <strong>der</strong> Eltern innerhalb<br />

kürzester Zeit zerstört, wenn sie erfahren, dass ihr Kind eine Behin<strong>der</strong>ung<br />

hat. Diese Erwartungen werden daraufhin häufig auf das gesunde<br />

Kind übertragen, was dessen Leistungsdruck erheblich steigert.<br />

3. Es ist normal, dass sich Kin<strong>der</strong> durch das tägliche Zusammenleben <strong>mit</strong><br />

ihrem <strong>Geschwister</strong> identifizieren. Dies kann dazu führen, dass ihr<br />

21


eigenes Selbstkonzept sehr gering ist. Demzufolge ist es für sie nicht<br />

leicht, eine eigene Identität zu entwickeln.<br />

4. Sie sind sich <strong>der</strong> Erwartungen <strong>der</strong> Eltern bewusst, im Haushalt und bei<br />

<strong>der</strong> täglichen Betreuung des <strong>Geschwister</strong>s Hilfe zu leisten.<br />

Diese Formen <strong>der</strong> Belastung stellt Tröster als direkte Belastungen dar.<br />

Hinzu kommen nun die indirekten Belastungen, zu denen er sämtliche behin<strong>der</strong>ungs-<br />

und krankheitsunspezifischen Risikofaktoren zählt, beispielsweise eine<br />

hohe physische und psychische Belastung <strong>der</strong> Eltern o<strong>der</strong> negative Reaktionen<br />

<strong>der</strong> Umwelt. Diese Faktoren belasten die <strong>Geschwister</strong> demzufolge in indirekter<br />

Weise.<br />

Jedoch existieren bisher keine <strong>Studien</strong>, die die Bedeutung dieser Faktoren für<br />

die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> aufzeigen. (vgl. Tröster, 1999, S. 162)<br />

Auch Marlies Winkelheide beschäftigte sich ausführlich <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Belastung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschwister</strong>. Sie führt seit fast zwanzig Jahren Seminare <strong>mit</strong> <strong>Geschwister</strong>n <strong>von</strong><br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung durch. In ihren Seminaren sollten die Kin<strong>der</strong> und<br />

Jugendlichen unter an<strong>der</strong>em Sätze buchstabieren, in denen sie ihr Befinden in<br />

schlechten Momenten beschreiben.<br />

Es geht mir nicht so gut<br />

• „überflüssig – vernachlässigt werden – haltlos;<br />

• benachteiligt – Bevorzugen des <strong>Geschwister</strong>kindes – eifersüchtig –<br />

nichts auf die Reihe bringen;<br />

• ideenlos – oberflächliches Umgehen (<strong>mit</strong> mir, wenn ich Probleme habe)<br />

– sich nicht trauen, seine Meinung vertreten – hintergangen werden;<br />

• sich alleingelassen fühlen – übersehen werden – Unsicherheit – Hoffnungen<br />

zerstören;<br />

• wütend – weggestoßen werden – schüchtern – nicht für voll genommen<br />

werden;<br />

• ungeduldig – Alter (zu groß, zu klein); [!]“ (Winkelheide, 1994, S. 8)<br />

An diesen Äußerungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> lässt sich sehr gut erkennen, dass sie manchen<br />

<strong>Situation</strong>en im Umgang <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung unsicher<br />

22


und hilflos gegenüberstehen. Sie sind nicht immer in <strong>der</strong> Lage, die Verhaltensweisen<br />

ihres <strong>Geschwister</strong>s zu verstehen und fühlen sich häufig <strong>von</strong> den Eltern<br />

vernachlässigt.<br />

Marlies Winkelheide hält es für sehr wichtig, die Arbeit <strong>mit</strong> <strong>Geschwister</strong>n <strong>von</strong><br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung, sowie <strong>der</strong>en Beratung und Unterstützung zukünftig<br />

noch viel intensiver zu för<strong>der</strong>n als bisher.<br />

Seifert (1989) schreibt in ihrer Studie über <strong>Geschwister</strong> in Familien <strong>mit</strong> geistig<br />

behin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong>n, dass sämtliche belastende Faktoren, die durch die Anwesenheit<br />

eines Kindes <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung bestehen, <strong>von</strong> den <strong>Geschwister</strong>n unterschiedlich<br />

bewältigt werden.<br />

Folgende Merkmale spielen bei dieser Bewältigung eine Rolle:<br />

Das Geschlecht sowie die <strong>Geschwister</strong>position sind ein wichtiger Faktor bei<br />

<strong>der</strong> Bewältigung. Untersuchungen belegten, dass auch das Alter hierbei eine<br />

wichtige Rolle spielt.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e ältere Schwestern kommen nicht sehr gut <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

des <strong>Geschwister</strong>s zu Recht. Von ihnen wird in größerem Maße Hilfe bei Pflege<br />

und Betreuung erwartet, insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn sie zusätzlich noch das<br />

älteste aller <strong>Geschwister</strong> sind. Dies alles führt dazu, dass ihre eigenen Interessen<br />

stark eingeschränkt werden.<br />

Durch den ständigen Kontakt im Haushalt entstehen zusätzlich Meinungsverschiedenheiten<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Mutter, was dazu führt, dass dieses Verhältnis häufig<br />

angespannt ist. Oft nimmt diese Belastung <strong>der</strong> Mädchen erst in dem Moment<br />

ab, wenn das <strong>Geschwister</strong> in eine Einrichtung kommt.<br />

Nun konzentriert sich die Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Mutter häufig auf die älteren Brü<strong>der</strong>.<br />

Von ihnen wird bei <strong>der</strong> Betreuung des <strong>Geschwister</strong>s außerhalb des Hauses<br />

mehr Hilfestellung erwartet. Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren sie selten in<br />

die häuslichen Pflichten eingebunden.<br />

In an<strong>der</strong>en Untersuchungen dagegen wird bestätigt, dass es bei <strong>der</strong> Betreuung<br />

unter den <strong>Geschwister</strong>n unwesentliche o<strong>der</strong> gar keine Unterschiede gibt.<br />

Weiterhin kam man zu dem Ergebnis, dass vor allem jüngere Brü<strong>der</strong> <strong>von</strong> Jungen<br />

<strong>mit</strong> geistiger Behin<strong>der</strong>ung schwer <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>situation umgehen<br />

können.<br />

23


Dies kann unter an<strong>der</strong>em daran liegen, dass ältere <strong>Geschwister</strong> eher die Verantwortung<br />

übernehmen und sich um das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung sorgen<br />

und kümmern. Dagegen sind in <strong>der</strong> Beziehung <strong>von</strong> jüngeren Kin<strong>der</strong>n zu ihrem<br />

<strong>Geschwister</strong> Konkurrenzdenken und Streitigkeiten häufige Eigenschaften. (vgl.<br />

Seifert, 1989; S. 17f)<br />

Von den wenigen Untersuchungen, die bisher <strong>zur</strong> Schwere <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

vorliegen, führen einige an, dass diese durchaus eine Rolle bei <strong>der</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> gesunden <strong>Geschwister</strong> spielt. Je schwerer die Behin<strong>der</strong>ung ist, desto stärker<br />

kann die Beeinträchtigung <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> übrigen <strong>Geschwister</strong> sein.<br />

In an<strong>der</strong>en Untersuchungen dagegen kam man zu dem Ergebnis, dass dieser<br />

Faktor bei <strong>der</strong> Entwicklung überhaupt keine Rolle spielt. (vgl. Seifert, 1989, S.<br />

18f)<br />

Auch <strong>zur</strong> Familiengröße und dem sozioökonomischen Status liegen völlig<br />

unterschiedliche Ergebnisse vor. In einigen Untersuchungen wird die Familiensituation<br />

<strong>mit</strong> nur zwei Kin<strong>der</strong>n als problematisch dargestellt, da sich zum einen<br />

die Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Eltern primär auf das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung richtet, sie<br />

aber zum an<strong>der</strong>en Erwartungen an das gesunde Kind haben, die dieses nur<br />

schwer erfüllen kann.<br />

Dies soll nun aber nicht bedeuten, dass die <strong>Situation</strong> in größeren Familien<br />

grundsätzlich besser ist. Hier wurde festgestellt, dass gerade <strong>Geschwister</strong> dieser<br />

Familien häufiger Probleme im Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s<br />

in <strong>der</strong> Öffentlichkeit und im sozialen Umfeld haben.<br />

In zahlreichen Untersuchungen wurde deutlich, dass zudem <strong>der</strong> sozioökonomische<br />

Status einer Familie eine entscheidende Rolle spielt, wenn es um den<br />

Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung geht. Studenten aus finanziell gehobenen<br />

Schichten beispielsweise haben oft eine positive Einstellung zu ihrem <strong>Geschwister</strong>.<br />

Entscheidend hier ist <strong>der</strong> Umgang <strong>der</strong> Eltern <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung,<br />

denn dieser hat erheblichen Einfluss auf die Einstellung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Allerdings<br />

wird <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n dieser Familien selten die Übernahme bestimmter Betreuungsaufgaben<br />

verlangt, da solche Unterstützungen durch die finanziell gesicherte<br />

<strong>Situation</strong> oft <strong>von</strong> Außen in Anspruch genommen werden kann.<br />

24


Studenten aus den unteren Schichten dagegen werden seltener durch das Verhalten<br />

<strong>der</strong> Eltern diesbezüglich beeinflusst. Männer haben auch in diesem Fall<br />

deutlich weniger Pflichten im Bereich <strong>der</strong> Betreuung als Frauen, welche häufig<br />

einen Großteil <strong>der</strong> Verantwortung für das <strong>Geschwister</strong> übernehmen. In solchen<br />

Familien gilt eine große <strong>Geschwister</strong>zahl allerdings durchaus als entlastend,<br />

denn so können bestimmte Aufgaben unter den <strong>Geschwister</strong>n aufgeteilt<br />

werden. (vgl. Seifert, 1989, S. 19f)<br />

Die Einstellung <strong>der</strong> Eltern zu <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ihres Kindes sowie die Art und<br />

Weise, wie sie im Alltag da<strong>mit</strong> umgehen, prägt nach einigen Untersuchungen<br />

die Sichtweise <strong>der</strong> gesunden <strong>Geschwister</strong> deutlich.<br />

Es stellte sich heraus, dass vor allem die Sichtweise <strong>der</strong> Mutter wichtig für<br />

einen positiven Umgang ihrer Kin<strong>der</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s ist.<br />

Wenn die Mutter <strong>mit</strong> ihrer allgemeinen Lebenssituation zufrieden ist, für sich<br />

selber Aktivitäten außerhalb des Hauses wahrt und so<strong>mit</strong> auch in diesen Bereichen<br />

soziale Kontakte pflegt, wirkt sich dies positiv auf die gesamte Familiensituation<br />

und so<strong>mit</strong> auch auf die übrigen <strong>Geschwister</strong> aus.<br />

An<strong>der</strong>erseits werden Fälle beschreiben, in denen <strong>der</strong> Umgang <strong>der</strong> Eltern <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Situation</strong> keinerlei Auswirkungen auf die Sichtweise <strong>der</strong> übrigen <strong>Geschwister</strong><br />

hat. Denn obwohl sie ihrem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung negativ gegenüberstanden,<br />

wurde dieses Verhalten nicht automatisch <strong>von</strong> den <strong>Geschwister</strong>n übernommen.<br />

(vgl. Seifert, 1989, S. 21)<br />

„<strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong> erweisen sich in <strong>der</strong> psychologischen Untersuchung<br />

als Risikogruppe, insofern sie zahlreichen zusätzlichen Belastungen<br />

praktischer, emotionaler und kognitiver Art im Vergleich zu Gleichaltrigen ausgesetzt<br />

sind. Dennoch vermögen ein Großteil <strong>der</strong> untersuchten <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

diesen Belastungen fertig zu werden, ohne psychosoziale Störungen zu<br />

entwickeln.“ (Hackenberg, 1992, S. 16)<br />

25


4.2. Zuwendung <strong>der</strong> Eltern<br />

Ilse Achilles (1997) führt an, dass die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

weniger Zugang zu den Eltern haben. Für die Eltern ist ein Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

eine Dauerbelastung, auf die sie sich zunächst einstellen und an die sie<br />

sich dann immer wie<strong>der</strong> neu anpassen müssen. Dies for<strong>der</strong>t viel Kraft und<br />

Energie, die dann im Umgang <strong>mit</strong> den übrigen Kin<strong>der</strong>n fehlt. Über den vielen zu<br />

bewältigenden Aufgaben vergessen die Eltern manchmal, dass auch die an<strong>der</strong>en<br />

Kin<strong>der</strong> ihre Zuwendung, Annerkennung und Hilfe brauchen würden. Dies<br />

kann dazu führen, dass die nichtbehin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong> weniger intensiven Kontakt<br />

zu den Eltern haben, als es normal und richtig wäre. Häufig zeigt sich dies beim<br />

Thema Hausaufgaben, wo die Kin<strong>der</strong> berichten, sie bekämen weniger Hilfe als<br />

ihre Klassenkameraden.<br />

Auch Hackenberg, die in Achilles (1997) ein Interview gibt, sieht eine große<br />

Gefahr in <strong>der</strong> emotionalen Vernachlässigung <strong>der</strong> nichtbehin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong> durch<br />

ihre Eltern.<br />

Achilles betont, dass die bewusste Hinwendung zum nichtbehin<strong>der</strong>ten Kind<br />

äußerst wichtig ist, denn sie ver<strong>mit</strong>telt ihm das Gefühl für den eigenen Wert.<br />

Dies zeigt sich wie<strong>der</strong>holt in Schil<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>. Sie betonen, wie<br />

sehr sie es genossen, wenn die Mutter o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vater sich mal für sie alleine<br />

Zeit nahmen.<br />

Auch Hackenberg kommt in ihrer Untersuchung <strong>mit</strong> 101 <strong>Geschwister</strong>n (1982)<br />

zu dem Ergebnis, dass das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung häufig als Liebling <strong>der</strong> Eltern<br />

benannt wird und oft verwöhnt werde. Dies kann so verstanden werden, dass<br />

viele <strong>Geschwister</strong> eine vorrangige Stellung des Kindes <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung wahrnehmen.<br />

Bereits 1987 sieht Silvia Görres die Gefahr einer Vernachlässigung <strong>der</strong> übrigen<br />

Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>, wenn die Zuwendung zu einem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu<br />

stark o<strong>der</strong> einseitig wird. Dies führt dazu, dass die <strong>Geschwister</strong> hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Verteilung <strong>der</strong> Gefühle vernachlässigt werden. Görres betont, dass es schwer<br />

ist, das rechte Maß zwischen einer verwöhnenden, überzogenen Liebe zum<br />

Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung und <strong>der</strong> berechtigten For<strong>der</strong>ung nach einer Einordnung<br />

ins Familiengeschehen zu finden.<br />

26


Grundsätzlich ist es so, dass die konzentrierte Aufmerksamkeit auf das <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung notwendige Kräfte und Gefühle <strong>von</strong> an<strong>der</strong>en Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>n<br />

abzieht und diese dadurch zu kurz kommen.<br />

Manchen Eltern ist diese Gefahr durchaus bewusst. Edmund Klingshirn, ein<br />

betroffener Vater berichtet 1993 in einem Artikel, wie es immer wie<strong>der</strong> passierte,<br />

dass die Tochter <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung, Lena, in den Mittelpunkt rückte. „Ich<br />

merkte, ich muß [!] die Lena richtig wegschieben, daß [!] Platz für ihre Schwester<br />

Hanna entsteht. Das ist nicht untypisch. So war es oft in den <strong>zur</strong>ückliegenden<br />

Jahren.“ (S. 116)<br />

Die Empfindungen und Wahrnehmungen <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> fallen dabei doch<br />

unterscheidlich aus. So zitiert Seifert 1997 zunächst die Sicht einer Befragten<br />

ihrer Untersuchung: „Man kriegt eigentlich nur Zuwendung, wenn man behin<strong>der</strong>t<br />

ist.“ (S. 243) Eine an<strong>der</strong>e Befragte gab an, dass sie ihre Kindheit „ganz toll“<br />

gefunden hätte und das Zusammenleben <strong>mit</strong> ihrem Bru<strong>der</strong> letztlich für sie eine<br />

Bereicherung war.<br />

Seifert begründet diese unterschiedlichen Wahrnehmungen da<strong>mit</strong>, dass nicht<br />

die Behin<strong>der</strong>ungen dafür verantwortlich sind, wenn Entwicklungen problematisch<br />

verlaufen, son<strong>der</strong>n dies <strong>von</strong> vielen individuellen Umständen, wie den Lebensbedingungen<br />

<strong>der</strong> Familie, den Beziehungen innerhalb <strong>der</strong> Familie sowie<br />

dem sozialen Umfeld <strong>der</strong> Familie und an<strong>der</strong>en Umständen abhängt.<br />

Tröster (2000a) stellt zusammenfassend fest, dass offensichtlich nicht das<br />

Problem einer Vernachlässigung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> besteht. Die Eltern wenden<br />

genauso viel Zeit für ihre nichtbehin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong> auf, wie Eltern, die keine Kin<strong>der</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung haben. Die Eltern schaffen es, den Bedürfnissen ihrer Kin<strong>der</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung nachzukommen, ohne die übrigen dabei zu vernachlässigen.<br />

Das Problem, das dabei entsteht, ist die ungleiche Verteilung <strong>der</strong> elterlichen<br />

Zuwendung. Dadurch fühlt sich ein Teil <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> benachteiligt und<br />

<strong>zur</strong>ückgesetzt, die <strong>Geschwister</strong>beziehung wird hierbei jedoch nicht beeinträchtigt.<br />

Die Fokussierung <strong>der</strong> Eltern auf eines ihrer Kin<strong>der</strong> hat also keine verstärkte<br />

Eifersucht und Rivalität zwischen den <strong>Geschwister</strong>n <strong>zur</strong> Folge.<br />

27


Die Frage, ob sich das elterliche Zuwendungsverhalten in solchen Familien auf<br />

die Entwicklung <strong>der</strong> nichtbehin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong> auswirkt, ist allerdings noch nicht<br />

geklärt. Die Auswirkungen <strong>der</strong> elterlichen Zuwendung hängen laut Tröster auch<br />

<strong>von</strong> an<strong>der</strong>en Faktoren ab. So spielt die Art <strong>der</strong> Zuwendung, die Schwere <strong>der</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung und die Interpretation dieser in den Augen <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> eine<br />

Rolle.<br />

Tröster ist <strong>der</strong> Meinung, dass die <strong>Geschwister</strong>problematik im Rahmen <strong>der</strong> psychosozialen<br />

Unterstützung Berücksichtigung finden muss, auch wenn diesbezüglich<br />

noch einiges unklar ist. Um spezifischen Risiken entgegenzuwirken,<br />

müssen die Bedürfnisse <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> ins Betreuungskonzept einbezogen<br />

werden.<br />

Tröster sieht die Gefährdung allerdings nicht nur in <strong>der</strong> Fokussierung <strong>der</strong> elterlichen<br />

Zuwendung. Gefahr besteht auch durch die Übertragung <strong>von</strong> Verantwortung<br />

für die Betreuung des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung, die erhöhten Leistungsanfor<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Eltern und <strong>der</strong> Schwierigkeit für die <strong>Geschwister</strong>, eine<br />

eigene, <strong>von</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung unabhängige Identität zu entwickeln. Diese potenziellen<br />

Gefährdungen müssen berücksichtigt und in eine psychosoziale Unterstützung<br />

<strong>mit</strong> einbezogen werden.<br />

Hierzu erläutert Tröster drei Präventionsansätze, die sich anbieten, um den<br />

Risiken, die sich aus <strong>der</strong> elterlichen Fokussierung ergeben, entgegenzuwirken:<br />

1. Um zu verhin<strong>der</strong>n, dass die vermehrte Sorge <strong>der</strong> Eltern um das Kind <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung <strong>von</strong> den <strong>Geschwister</strong>n als Ablehnung o<strong>der</strong> Zurücksetzung<br />

<strong>der</strong> eigenen Person verstanden wird, sollen die Eltern darauf Einfluss<br />

nehmen, wie die <strong>Geschwister</strong> das Zuwendungsverhalten ihrer Eltern<br />

wahrnehmen. Dabei geht es nicht darum, die medizinischen Hintergründe<br />

zu erläutern, son<strong>der</strong>n viel mehr, den <strong>Geschwister</strong>n nahe zu bringen,<br />

woraus sich die beson<strong>der</strong>en Unterstützungsbedürfnisse ergeben<br />

und wieso diese notwendig sind.<br />

2. Den <strong>Geschwister</strong>n soll die Möglichkeit gegeben werden, Ärger o<strong>der</strong><br />

Enttäuschung auch über das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zum Ausdruck zu<br />

bringen. Nur wenn die Kin<strong>der</strong> wissen, dass sie dies ohne Schuldgefühle<br />

28


äußern können, besteht für die Eltern und Helfer die Möglichkeit, Zugang<br />

zu ihnen zu finden und ihre Probleme aufzugreifen.<br />

3. Im Rahmen <strong>der</strong> psychosozialen Unterstützung sollten außerdem die Befürchtungen<br />

<strong>der</strong> Eltern aufgegriffen werden, da<strong>mit</strong> ihnen bei <strong>der</strong> Bewältigung<br />

ihrer Selbstzweifel und Schuldgefühle geholfen werden kann.<br />

(vgl. Tröster, 2000a, S. 33)<br />

4.3. Ausdrucksformen <strong>von</strong> Aggressionen<br />

Nach Meinung vieler Psychologen gibt es im Leben außer <strong>der</strong> Beziehung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschwister</strong> untereinan<strong>der</strong> keine, in <strong>der</strong> Gefühle wie Hass, Wut und Neid so<br />

offen ausgelebt werden. Dies ist begründet in <strong>der</strong> lebenslangen Beziehung zum<br />

<strong>Geschwister</strong>. Konflikte <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Menschen</strong> können ohne große Probleme<br />

vermieden werden.<br />

Überdies kennen wir keinen <strong>Menschen</strong> so gut wie den eigenen Bru<strong>der</strong> o<strong>der</strong> die<br />

eigene Schwester und während es uns wichtig ist, dass Freunde o<strong>der</strong> fremde<br />

<strong>Menschen</strong> eine gute Meinung <strong>von</strong> uns haben, ist dies bei Bru<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Schwester<br />

für uns weniger <strong>von</strong> Bedeutung.<br />

So scheuen wir uns nicht, diesen <strong>Menschen</strong> im Streit mutwillig <strong>mit</strong> seinen<br />

Schwächen zu konfrontieren und ihn zu verletzen. Aus diesem Grund ist die<br />

<strong>Geschwister</strong>beziehung eine <strong>der</strong> ehrlichsten Beziehungen generell. (vgl. Achilles,<br />

1997, S. 54)<br />

In dieser Beziehung ist es alltäglich, dass ein gewisser Kampf um die Gunst<br />

und Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Eltern stattfindet. Durchsetzungsvermögen, Konkurrenz-verhalten,<br />

Identitätsfindung, Abgrenzung und Nähe sind die gewichtigsten<br />

Faktoren, um die es sich hierbei handelt.<br />

All diese Faktoren jedoch nehmen in ihrer Wichtigkeit ab, wenn <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />

die Schwester eine Behin<strong>der</strong>ung hat, denn nun werden <strong>von</strong> nicht behin<strong>der</strong>ten<br />

<strong>Geschwister</strong>n überwiegend Rücksichtnahme und Verständnis erwartet. (vgl.<br />

Achilles, 1997, S. 53)<br />

Sie sehen sich <strong>mit</strong> <strong>Situation</strong>en konfrontiert, denen sie hilflos und ausgeliefert<br />

sind. <strong>Situation</strong>en, in denen sie nicht verstehen, warum abermals sie es sind, die<br />

nachgeben müssen o<strong>der</strong> warum die Eltern wie<strong>der</strong> einmal auf <strong>der</strong> Seite des<br />

<strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung stehen.<br />

29


Daher beginnen sie schnell, sich anzupassen und ihre Bedürfnisse <strong>zur</strong>ückzustellen,<br />

was dazu führt, dass sie Wut und Groll entwickeln, <strong>mit</strong> denen sie jedoch<br />

nicht umzugehen wissen. Sie wissen nur, dass sie diese keinesfalls auf<br />

das hilflose <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung richten dürfen. (vgl. Achilles, 1997,<br />

S. 53)<br />

Insbeson<strong>der</strong>e Jungen im Alter <strong>von</strong> 10 bis 17 Jahren neigen in solchen Konfliktsituationen<br />

zu einer sehr geringen Selbstverteidigung. Sie richten aggressive<br />

Tendenzen <strong>von</strong> <strong>der</strong> Außenwelt gegen die eigene Person.<br />

(vgl. Hackenberg, 1992, S. 178)<br />

Die <strong>Geschwister</strong> verleugnen häufig ihre negativen Gefühle. Dies zeigt sich<br />

daran, dass sie durchaus berechtigten Ärger auf den Bru<strong>der</strong> o<strong>der</strong> die Schwester<br />

herunterschlucken und sich ihm/ihr gegenüber freundlich und geduldig verhalten.<br />

Diese auffallend soziale Haltung resultiert oft aus einer gewissen Selbstüberfor<strong>der</strong>ung.<br />

Solche Verhltensweisen sowie das Verleugnen negativer Gefühle<br />

erweisen sich jedoch als schädigend und ungünstig für die weitere Entwicklung<br />

<strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>.<br />

(vgl. Hackenberg, 1996, S. 8)<br />

Die unterdrückte Wut gegenüber ihren <strong>Geschwister</strong>n führt dazu, dass diese<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen Schuldgefühle entwickeln. Sie schämen sich dafür,<br />

solche negativen Gedanken zu haben. In vielen Fällen haben sie diese Einstellung<br />

sich selber gegenüber ein Leben lang und befürchten, dass An<strong>der</strong>e <strong>von</strong><br />

ihrer Wut und ihrem Groll etwas erfahren könnten.<br />

Es gibt aber noch einen an<strong>der</strong>en Grund, warum Schuldgefühle entstehen können.<br />

Das Bewusstsein <strong>der</strong> Überlegenheit macht die <strong>Geschwister</strong> nicht in jedem<br />

Fall stark und selbstbewusst, son<strong>der</strong>n führt gelegentlich auch zu Schamgefühlen.<br />

Sie fragen sich, warum sie selber nicht <strong>von</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung betroffen<br />

sind, warum es gerade dem Bru<strong>der</strong> o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schwester so schlecht geht.<br />

Die <strong>Geschwister</strong> gehen <strong>mit</strong> diesen Schuldgefühlen unterschiedlich um. Wichtige<br />

Kriterien sind hier unter an<strong>der</strong>em <strong>der</strong> Charakter, die Intelligenz und das soziale<br />

Umfeld.<br />

Einige <strong>von</strong> ihnen beginnen, sich aufzuopfern und versuchen, ständig verfügbar<br />

zu sein, wodurch sie natürlich maßlos überfor<strong>der</strong>t sind, während An<strong>der</strong>e<br />

30


sich gänzlich <strong>zur</strong>ückziehen und nach Möglichkeit früh ihre eigenen Wege<br />

gehen.<br />

In beiden Fällen jedoch werden diese Gefühle verdrängt, was <strong>zur</strong> Folge haben<br />

kann, dass ihr Gefühlsleben eingeschränkt wird und sie depressiv o<strong>der</strong> aggressiv<br />

werden.<br />

(vgl. Achilles, 1997, S. 54f)<br />

4.4. Einflüsse auf die eigene Entwicklung<br />

Achilles stellt 1997 fest, dass es darüber, ob, wie und in welchem Maß ein Kind<br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung die Persönlichkeitsentwicklung seiner <strong>Geschwister</strong> beeinflusst,<br />

nur wenige <strong>Studien</strong> und kaum Literatur gibt. Hauptsächlich aus dem angloamerikanischen<br />

Raum gibt es einige <strong>Studien</strong>, in denen die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n<br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung als Risikogruppe gelten. Sie fühlen sich vom Leben benachteiligt<br />

und sind neben an<strong>der</strong>en Schwierigkeiten anfälliger für psychische Störungen.<br />

Allerdings führt Achilles zwei Gründe für diese negative Entwicklungsprognose<br />

an. Die Untersuchungsergebnisse stammen alle <strong>von</strong> problembeladenen<br />

<strong>Menschen</strong>. Außerdem haben die Wissenschaftler meist nur nach den negativen<br />

Auswirkungen geforscht und positive Aspekte des Zusammenlebens außer<br />

Acht gelassen.<br />

Erst neuere <strong>Studien</strong> beschäftigen sich <strong>mit</strong> den charakterbildenden, entwicklungsför<strong>der</strong>nden<br />

Aspekten, die das Zusammenleben <strong>mit</strong> einem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

auch haben kann.<br />

Hackenberg erläutert in einem Interview in Achilles (1997) einige Faktoren, die<br />

bei einer positiven Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> eine Rolle spielen. Die elterliche<br />

Lebenszufriedenheit, beson<strong>der</strong>s die <strong>der</strong> Mutter ist hier <strong>von</strong> großer Bedeutung.<br />

Ein weiterer Faktor ist die Art <strong>der</strong> Kommunikation in <strong>der</strong> Familie. Dazu<br />

gehört auch die Einbeziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in wichtige Entscheidungen, wie Zukunftsentscheidungen<br />

die für das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung getroffen werden.<br />

Es ist wichtig, dass die <strong>Geschwister</strong> in ihrer Entwicklung ein Gleichgewicht<br />

zwischen Altruismus und Selbstbehauptung finden.<br />

31


In Achilles (1997) schil<strong>der</strong>t eine junge Frau, dass sie durch das Aufwachsen <strong>mit</strong><br />

ihren <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung eine starke Solidarität <strong>mit</strong> sozial schwachen<br />

Gruppen und einen Extrasinn für Gefahrensituationen entwickelt hat.<br />

„Braucht jemand Hilfe, bin ich <strong>zur</strong> Stelle, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken.“<br />

(S. 87)<br />

In einem Überblick über die Forschungsergebnisse stellt Seifert (1989) fest,<br />

dass einige <strong>Geschwister</strong> sich stark in ihren Entwicklungsmöglichkeiten beeinträchtigt<br />

fühlen. An<strong>der</strong>e dagegen geben an, dass es für ihre Persönlichkeitsreifung<br />

und ihr Sozialverhalten ein Gewinn war, <strong>mit</strong> einem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

aufgewachsen zu sein.<br />

In ihrer eigenen Untersuchung zeigt sich Seifert ebenfalls ein solch differenziertes<br />

Bild. Die Mehrzahl <strong>der</strong> <strong>von</strong> ihr befragten <strong>Geschwister</strong> gab an, dass die<br />

frühen Erfahrungen Einfluss auf die weitere Lebensgestaltung in persönlichen<br />

und beruflichen Bereichen hatten.<br />

Hackenberg fand 1992 in ihren Untersuchungen heraus, dass die Mehrzahl <strong>der</strong><br />

Jugendlichen häufiger positive als negative Einflüsse in <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

für ihr Leben nennen. Ein Drittel <strong>der</strong> Jugendlichen berichten <strong>von</strong> positiven<br />

und negativen Einflüssen; ein Viertel sehen nur positive Aspekte. Ebenfalls<br />

ein Viertel bemerkte kaum o<strong>der</strong> gar keine Einflüsse auf ihr eigenes Leben.<br />

15 % <strong>der</strong> Jugendliche sehen nur negative Einflüsse.<br />

Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei den Eltern auf die Frage nach <strong>der</strong> Beeinflussung<br />

für die <strong>Geschwister</strong> ab. Ein Drittel <strong>der</strong> Eltern sehen keinen o<strong>der</strong> nur<br />

einen sehr geringen Einfluss. 20% bemerken einen positiven Einfluss. Etwa ein<br />

Viertel <strong>der</strong> Eltern sehen sowohl positive als auch negative Aspekte. Ebenfalls<br />

20% sehen nur negative Einflüsse. (vgl. Hackenberg, 1992, S. 86)<br />

In Bezug auf die Identitätsbildung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> fallen bei einem Vergleich<br />

Hackenbergs (1992) <strong>mit</strong> durchschnittlichen Gleichaltrigen keine bedeutsamen<br />

Abweichungen in positiver o<strong>der</strong> negativer Richtung auf.<br />

32


Partnerwahl:<br />

Viele Jugendliche sind <strong>der</strong> Meinung, dass die Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s<br />

ihre Partnerwahl einschränkt. Allerdings sehen die meisten darin ein wichtiges<br />

Auswahlkriterium, „als Charaktertest sozusagen“. (vgl. Achilles, 1997, S. 70)<br />

Dies zeigt auch die Schil<strong>der</strong>ung einer jungen Frau: „… ist das in meinen Augen<br />

eine Charakterschwäche. Wer Behin<strong>der</strong>ung ablehnt, paßt [!] nicht zu mir.“<br />

(Achilles, 1997, S. 89)<br />

Ein weiteres Beispiel einer Frau, <strong>der</strong>en Bru<strong>der</strong> eine Behin<strong>der</strong>ung hat: „Jemand<br />

<strong>der</strong> über einen Behin<strong>der</strong>ten lacht – <strong>der</strong> käme für mich überhaupt nicht in Frage.“<br />

(Achilles, 1997, S. 208)<br />

Görres (1987) sieht ebenfalls eine Beeinflussung bei <strong>der</strong> Partnerwahl. Auch sie<br />

ist <strong>der</strong> Meinung, dass diese durch die Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s eingeschränkt<br />

wird. Sie sieht darin aber ebenfalls die positive Seite des Auswahlkriteriums,<br />

so dass man dann auch sicher sein kann, einen Partner gefunden zu<br />

haben, <strong>der</strong> bereit ist, die Belastung <strong>mit</strong>zutragen.<br />

Die Jugendlichen in Hackenbergs Untersuchung (1992) hatten ähnliche Befürchtungen<br />

bezüglich ablehnen<strong>der</strong> Haltung potenzieller Partner. Für die meisten<br />

war aber eine positive Einstellung des Partners zum <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

sehr wichtig und deshalb wurde dies als wesentliches Selektionskriterium<br />

genannt.<br />

Seifert (1989) dagegen ist <strong>der</strong> Meinung, dass die Tatsache eines <strong>Geschwister</strong>s<br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung keinen Einfluss auf die Partnerwahl hat.<br />

Berufswahl:<br />

Es scheint so, erläutert Achilles (1997) auch wenn es nicht schlüssig belegbar<br />

ist, dass <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung eher in soziale Berufe<br />

streben als an<strong>der</strong>e. Da sie früh gelernt haben, <strong>mit</strong> menschlicher Schwäche und<br />

Unzulänglichkeit umzugehen, ist dies nicht überraschend. Allerdings kennt<br />

Achilles mindestens genauso viele <strong>Geschwister</strong>, die in an<strong>der</strong>e Berufe streben<br />

33


o<strong>der</strong> in diesen arbeiten. Manche <strong>Geschwister</strong> wollen sich bewusst nicht auch<br />

noch im Berufsalltag <strong>mit</strong> den Problemen <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />

Auch bei <strong>der</strong> Berufswahl vertritt Seifert (1989) die Ansicht, dass die Erfahrungen<br />

aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung keinen<br />

Einfluss haben.<br />

Hackenberg untermauert Seiferts Ansicht, die Berufswahl erfolge unabhängig<br />

<strong>von</strong> den Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> einem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung.<br />

In ihrer Untersuchung geben nur 17% <strong>der</strong> Jugendlichen an, später<br />

im sozialen Bereich arbeiten zu wollen. Da<strong>von</strong> sieht lediglich ein kleiner Teil<br />

seine Zukunft in <strong>der</strong> Arbeit <strong>mit</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung. (vgl. Hackenberg,<br />

1992, S. 102, 113)<br />

Hackenberg (1992) sieht eine erfolgreiche Verarbeitung <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung im<br />

Hinblick auf die eigene Lebensplanung darin, dass die Behin<strong>der</strong>ung integriert<br />

werden kann, ohne das eigene Leben zentral zu bestimmen.<br />

Weiter führt sie an, dass das gemeinsame Aufwachsen <strong>mit</strong> einem behin<strong>der</strong>ten<br />

Kind langfristig auch eine positive Bedeutung für die <strong>Geschwister</strong> haben kann.<br />

Bei einem großen Anteil <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> steht das Erleben persönlichen Gewinns<br />

durch die Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung den spezifischen<br />

Belastungen gegenüber.<br />

So beschreibt es auch Eva Strasser 1993 in einem Artikel: „Die Behin<strong>der</strong>ung<br />

<strong>von</strong> Tina - … - hat mich zweifellos sehr geprägt. Insgesamt betrachte ich diesen<br />

<strong>Menschen</strong> aber v. a. als Gewinn in meinem Leben… Jemand, ohne den mein<br />

Leben ärmer wäre.“ (S. 116)<br />

„Der Umgang <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung ist zu einem wichtigen Maßstab in ihrem Leben<br />

geworden.“ (Achilles, 1997, S.70)<br />

34


4.5. Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt<br />

Gesellschaft und Behin<strong>der</strong>ung<br />

Die Lebenssituation <strong>der</strong> Familien ist immer im Zusammenhang bestimmter<br />

Strukturen <strong>der</strong> Gesellschaft zu sehen. Hierzu gehören die ökonomische, die<br />

politische, die soziale, die technologische und die kulturelle Struktur.<br />

Traditionen und Ideologien sind Teil des kulturellen Systems, wozu auch die<br />

allgemeine gesellschaftliche Sichtweise gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

gehört.<br />

Hauptmerkmale dieser Sichtweise sind noch immer Vorurteile, Abgrenzungen<br />

und Ablehnung, denn in unserer Kultur werden überwiegend Gesundheit, jugendliche<br />

Schönheit und Leistungsstärke in den Vor<strong>der</strong>grund gestellt.<br />

Behin<strong>der</strong>ung hat in dieser Kultur keine allzu großen Chancen und so müssen<br />

Eltern, die da<strong>von</strong> betroffen sind, gleich <strong>mit</strong> zwei Problemen fertig werden.<br />

Einerseits gilt es für sie, zunächst einmal selber die Tatsache zu verarbeiten,<br />

dass sich ihre Wünsche und Erwartungen bezüglich ihres Kindes nicht erfüllen<br />

werden. Sie müssen die neue <strong>Situation</strong> früher o<strong>der</strong> später annehmen und<br />

schließlich die Behin<strong>der</strong>ung akzeptieren. An<strong>der</strong>erseits werden sie zusätzlich <strong>mit</strong><br />

Unverständnis und Ablehnung aus <strong>der</strong> Umwelt konfrontiert.<br />

Wie eine Gesellschaft <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung allgemein gegenübersteht,<br />

erkennt man oft an <strong>der</strong> Sozialpolitik eines Landes, denn das Wohlergehen betroffener<br />

Familien ist stark <strong>von</strong> <strong>der</strong> personellen Unterstützung des jeweiligen<br />

Staates abhängig. (Seifert, 1990, S. 104f)<br />

Ebenso wie die Eltern müssen auch die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

lernen, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> familiären <strong>Situation</strong> umzugehen. Im Falle eines jüngeren<br />

<strong>Geschwister</strong>s werden ab dem Zeitpunkt <strong>von</strong> dessen Geburt nicht nur die Eltern,<br />

son<strong>der</strong>n auch sie <strong>mit</strong> völlig neuen Umständen konfrontiert, <strong>mit</strong> denen sie sich<br />

arrangieren müssen.<br />

„Spezifische Belastungen und Konflikte für die <strong>Geschwister</strong> sind auf mehreren<br />

Ebenen zu sehen. Das Spektrum reicht <strong>von</strong> praktischen Belastungen durch<br />

Haushalts- und Betreuungspflichten über intrapsychische und intrafamiliäre<br />

35


Schwierigkeiten bis hin zu Konflikten <strong>mit</strong> dem sozialen Umfeld und <strong>mit</strong> gesellschaftlichen<br />

Wertvorstellungen.“ (Hackenberg, 1992, S. 18)<br />

Beson<strong>der</strong>s die <strong>Geschwister</strong> leiden unter den oft negativen Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt,<br />

denn insbeson<strong>der</strong>e im Jugendalter sind die Entwicklung <strong>der</strong> eigenen Moral<br />

sowie eigener Wertvorstellungen eine große Herausfor<strong>der</strong>ung für sie. Die Meinung<br />

<strong>der</strong> Freunde ist ihnen in diesem Alter sehr wichtig, was dazu führt, dass<br />

sie bei negativen Äußerungen <strong>der</strong>er über ihr <strong>Geschwister</strong> versuchen, diese<br />

Sichtweise durch Erklärungen und Diskussionen zu än<strong>der</strong>n. O<strong>der</strong> aber sie ziehen<br />

sich <strong>zur</strong>ück und beschließen, die Behin<strong>der</strong>ung so gut wie möglich zu verheimlichen.<br />

In den meisten Fällen bleiben für sie jedoch die Normen, wie innerhalb <strong>der</strong> Familie<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung umgegangen wird, verbindlich und dies bedeutet,<br />

dass sie sich immer in irgendeiner Art und Weise <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Umwelt arrangieren<br />

müssen. (vgl. Hackenberg, 1992, S. 100)<br />

Görres (1987) führt in ihrem Buch über das Leben <strong>mit</strong> einem behin<strong>der</strong>ten Kind<br />

Beispiele auf, die einige nicht seltene Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />

Sie erzählt <strong>von</strong> einer jungen Mutter, die zwei Kin<strong>der</strong> hat.<br />

Das Kostümfest<br />

Eines Tages wird das gesunde Kind <strong>von</strong> einer Bekannten <strong>der</strong> Familie zu einem<br />

Kin<strong>der</strong>kostümfest eingeladen. Die Mutter würde gerne fragen, ob ihr Kind <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung ebenfalls eingeladen ist, wartet aber zunächst den Verlauf des<br />

Gespräches ab. Sie hofft, ihre Gesprächspartnerin würde aus eigener Initiative<br />

auf dieses Thema kommen. Jedoch wartet sie vergebens.<br />

Sie ist sehr traurig über dieses Verhalten und überlegt zunächst, die Teilnahme<br />

ihres gesunden Kindes auch abzusagen. Diese Enttäuschung möchte sie ihm<br />

jedoch ersparen.<br />

Nun steht sie vor <strong>der</strong> schweren Aufgabe, dies ihrem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung erklären<br />

zu müssen. Sie verspricht ihm, während dieser Zeit zusammen etwas<br />

Schönes zu unternehmen.<br />

36


Als das Kind abends vom Kostümfest abgeholt wird, bricht das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung beim Anblick all <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in Tränen aus und möchte gerne dort<br />

bleiben. Wie soll es auch verstehen, dass es dort nicht erwünscht ist?<br />

„Vielleicht ist es sozialer in seinem Verhalten, liebevoller, zufriedener als manche<br />

seiner verwöhnten o<strong>der</strong> ungebärdigen Spielgefährten. Aber sein niedriger<br />

Intelligenzquotient, sein an<strong>der</strong>es Aussehen und Sprechen machen es ungeprüft<br />

zu einem unerwünschten Mitglied <strong>der</strong> Gesellschaft. Diese Gesellschaft erspart<br />

sich durch Vorurteile eine Auseinan<strong>der</strong>setzung und eine Begegnung <strong>mit</strong> sogenannten<br />

[!] Außenseitern, die heilsam und korrigierend in das Selbstverständnis<br />

einer in diesem Fall aus Kin<strong>der</strong>n bestehenden Gesellschaft eingreifen könnte.<br />

Kin<strong>der</strong> übernehmen Vorurteile und Meinungen <strong>von</strong> den Erwachsenen, sie selbst<br />

sind gewöhnlich neugierig-offen und vorurteilsfrei.“ (Görres, 1987, S. 89)<br />

Das oben genannte Beispiel ist nur eines unter vielen, welches <strong>Situation</strong>en<br />

deutlich macht, <strong>mit</strong> denen sich Eltern und so<strong>mit</strong> auch die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung täglich auseinan<strong>der</strong>setzen müssen.<br />

Ein Umfeld, welches diese <strong>Menschen</strong> annimmt, so wie sie sind, welches versucht,<br />

Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Angehörige zu unterstützen anstatt sie auszugrenzen,<br />

erspart gerade den <strong>Geschwister</strong>n viel Unsicherheit, Scham und Zweifel.<br />

(vgl. Achilles, 1997, S. 155)<br />

37


4.6. Anmerkung<br />

Nachdem wir in dem vorangegangenen Kapitel einen Überblick über einige signifikante<br />

Merkmale <strong>der</strong> Literatur und <strong>der</strong> vorhandenen <strong>Studien</strong> gegeben haben,<br />

werden wir zum empirischen Teil unserer Arbeit übergehen. Später greifen wir<br />

diese Aspekte wie<strong>der</strong> auf und stellen sie unseren Ergebnissen gegenüber.<br />

Unserer Meinung nach wurde einigen wichtigen Themen <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en <strong>Geschwister</strong>situation<br />

in <strong>der</strong> Literatur bisher nur wenig Beachtung geschenkt. Diese<br />

haben wir in unsere Befragung <strong>mit</strong> einbezogen.<br />

Uns ist natürlich bewusst, dass unsere Untersuchung <strong>mit</strong> lediglich 25 Interviewpartnern<br />

eine eingeschränkte Aussagekraft haben wird, sind aber trotzdem sehr<br />

gespannt auf unsere Ergebnisse, auch wenn diese „nur“ <strong>von</strong> einer kleinen<br />

Personengruppe stammen.<br />

38


Teil II:<br />

Befragung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

39


5. Entwicklung <strong>der</strong> Fragen<br />

5.1. Vorüberlegungen<br />

Zunächst trugen wir Fragen aus unserem eigenen Hintergrund zusammen.<br />

Wir begannen <strong>mit</strong> dem Sammeln und merkten schnell, dass wir <strong>mit</strong> dieser Methode<br />

leicht den Überblick verloren. Wir hatten zwar eine große Anzahl an Fragen,<br />

jedoch waren diese unübersichtlich und ungeordnet.<br />

Nach kurzer Zeit wurde uns klar, dass wir ausschließlich <strong>mit</strong> Hilfe <strong>von</strong> Thesen<br />

einen vernünftigen Fragenkatalog erstellen konnten. Aus diesem Grund suchten<br />

wir nach Thesen, die wir <strong>mit</strong> unserer Untersuchung bestätigen o<strong>der</strong> in Frage<br />

stellen wollten.<br />

Bei <strong>der</strong> Findung dieser setzten wir uns zwei Ziele:<br />

Einerseits wollten wir speziell solche Thesen überprüfen, die im Allgemeinen als<br />

selbstverständlich angesehen werden.<br />

Sehr oft liest man in vorhandener Literatur über „Tatsachen“ und „Fakten“, die<br />

durchaus einleuchtend sind und logisch klingen. Häufig geht man da<strong>von</strong> aus,<br />

dass das Zusammenleben <strong>mit</strong> einem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung die Ablösung<br />

vom Elternhaus im Jugendalter beeinflusst. Man nimmt an, dass das gesunde<br />

<strong>Geschwister</strong> entwe<strong>der</strong> früher auszieht, weil die <strong>Situation</strong> zu belastend ist,<br />

o<strong>der</strong> aber, dass es länger zu Hause bleibt, aus Pflichtbewusstsein den Eltern<br />

gegenüber o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Gründen. Es ist nachvollziehbar, dass die gesamte<br />

Familiensituation bei ständigem Aufenthalt des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

zu Hause für das gesunde <strong>Geschwister</strong> sehr belastend ist.<br />

Aber ist dies denn wirklich bei <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> betroffenen Familien <strong>der</strong> Fall?<br />

Treffen diese „Tatsachen“ und „Fakten“ aus <strong>der</strong> <strong>von</strong> uns gelesenen Literatur<br />

wirklich zu?<br />

Es war unser Ziel, dies <strong>mit</strong> Hilfe unserer Befragung herauszufinden.<br />

An<strong>der</strong>erseits wollten wir uns <strong>mit</strong> Thesen beschäftigen, die uns persönlich sehr<br />

interessieren. Wie oft wird man im Alltag <strong>mit</strong> dem Thema Behin<strong>der</strong>ung konfrontiert,<br />

ohne sich wirklich Gedanken über das Leben dieser <strong>Menschen</strong> zu machen;<br />

Gedanken darüber, wie ihr Alltag aussieht, wie sie ihr Leben meistern und<br />

<strong>mit</strong> welchen Problemen sie <strong>zur</strong>echtkommen müssen; Gedanken darüber, wie<br />

ihre Mitmenschen, ihre Familien und Freunde <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Situation</strong> umgehen?<br />

40


Da Tamara Drittenpreis selbst eine Schwester <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung hat, fanden wir<br />

alleine durch häufige Gespräche über ihre <strong>Situation</strong> und die <strong>der</strong> übrigen Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong><br />

sehr interessante Anregungen, welche Grundlage für einige unserer<br />

Thesen wurden.<br />

Nach <strong>der</strong> Absolvierung zweier Praktika im Bereich <strong>der</strong> Arbeit <strong>mit</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung hatte auch ich intensivere Einblicke in dieses Thema bekommen.<br />

Durch das Miterleben des Schulalltages <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung sowie die<br />

Mitarbeit in einer Werkstatt für <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung entstanden so<strong>mit</strong><br />

weitere interessante Meinungen und Sichtweisen, die ebenfalls Grundlage für<br />

die Thesenbildung wurden.<br />

Zudem bekamen wir Anregungen <strong>von</strong> Herrn Keicher, dem Vorsitzenden <strong>der</strong><br />

Bundeselternvereinigung e.V., die sehr interessiert an unseren Ergebnissen ist<br />

und unsere Arbeit <strong>mit</strong> finanziellen Mitteln unterstützte.<br />

Aufgrund dieser Zusammenarbeit war es uns natürlich ein Anliegen, auch seine<br />

Ideen und Vorschläge in unsere Überlegungen zu integrieren.<br />

5.2. Thesenfindung<br />

5.2.1. „Brainstorming“, Thesen zusammentragen<br />

Insgesamt trugen wir 45 Thesen zusammen und listeten sie einzeln auf Karteikarten<br />

auf. Diese teilten wir in verschiedene Kategorien auf, die nach Themen<br />

geordnet sind.<br />

Hierzu möchte ich erwähnen, dass wir nur die <strong>der</strong> folgenden Thesen gekennzeichnet<br />

haben, die wir sinngemäß aus <strong>der</strong> Literatur übernommen haben. Die<br />

übrigen entstanden durch Anregungen unserer Gesprächspartner im Vorfeld<br />

sowie durch eigene Ideen.<br />

Familiensituation:<br />

allgemein:<br />

1. Die altersentsprechende Ablösung vom Elternhaus im Jugendalter wird<br />

durch die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation beeinflusst. (Vorzeitig o<strong>der</strong> verzögert)<br />

(vgl. Hackenberg, 1992, S. 46)<br />

41


2. Bei ständiger Gegenwart des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung steht die<br />

gesamte Familie unter starker Belastung. (vgl. Hackenberg, 1992, S. 14)<br />

3. Die Schwere <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ist ein entscheiden<strong>der</strong> Faktor für die<br />

Verarbeitung und die Einstellung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>. (vgl. Hackenberg,<br />

1987, S. 211)<br />

Familienkonstellation:<br />

4. Durch die Behin<strong>der</strong>ung rückt die Familie enger zusammen.<br />

5. Die Familiengröße ist ein wichtiger Faktor dafür, wie die <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

ihrer beson<strong>der</strong>en Familiensituation zu Recht kommen. (vgl. Seifert,<br />

1989, S. 19)<br />

6. Die Geburt des behin<strong>der</strong>ten <strong>Geschwister</strong>s hatte Auswirkungen auf die<br />

weitere Familienplanung.<br />

Unterstützung:<br />

7. Wenn Unterstützung <strong>von</strong> außerhalb besteht, kann die <strong>Situation</strong> <strong>der</strong><br />

Familie erheblich erleichtert werden. (vgl. Seifert, 1989, S. 43)<br />

8. Wohlhabende Eltern haben den Vorteil, dass sie sich eher Hilfe <strong>von</strong><br />

außen leisten können. (vgl. Seifert, 1989, S. 20)<br />

Eigene <strong>Situation</strong>:<br />

allgemein:<br />

9. <strong>Menschen</strong> <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen werden früh <strong>mit</strong><br />

körperlicher und/o<strong>der</strong> geistiger Schwäche und Unvermögen konfrontiert.<br />

(vgl. Hackenberg, 1987, S. 67)<br />

10. <strong>Menschen</strong> <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen sind in ihrer Feizeit<br />

durch bestimmte Betreuungsaufgaben eingeschränkt. (vgl. Hackenberg,<br />

1987, S. 67)<br />

11. Viele leben <strong>mit</strong> Groll auf die Familiensituation und <strong>mit</strong> Schuldgefühlen<br />

wegen Ihrer Wut auf die Eltern und das behin<strong>der</strong>te Kind. (vgl. Seifert,<br />

1989, S. 15)<br />

12. <strong>Menschen</strong> <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen haben als Kin<strong>der</strong> unter<br />

<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ihres <strong>Geschwister</strong>s zu leiden.<br />

42


Soziale Einstellung:<br />

13. <strong>Menschen</strong> <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen sind sozialer als an<strong>der</strong>e<br />

<strong>Menschen</strong>. (haben mehr soziale Kompetenzen)<br />

14. Die Berufsvorstellungen vieler <strong>Geschwister</strong> sind sozial ausgerichtet.<br />

Erfahrungen für die Zukunft:<br />

15. Der späterer Partner darf kein Problem <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung haben.<br />

16. Die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> dem behin<strong>der</strong>ten <strong>Geschwister</strong><br />

können Selbstkonzept und Lebensziele beeinflussen. (vgl.<br />

Seifert, 1989, S. 22)<br />

Beziehung zum behin<strong>der</strong>ten <strong>Geschwister</strong>:<br />

allgemein:<br />

17. In einem begrenzten und geschützten Kontakt <strong>mit</strong> dem behin<strong>der</strong>ten Kind<br />

können die meisten <strong>Geschwister</strong> eine positive Beziehung zu ihm entwickeln.<br />

18. Den meisten <strong>Geschwister</strong>n gelingt eine gute Anpassung an die Erfor<strong>der</strong>nisse<br />

des Zusammenlebens <strong>mit</strong> einem behin<strong>der</strong>ten <strong>Geschwister</strong>.<br />

Wut/Ärger:<br />

19. Wut auf <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung wegen:<br />

• „seltsamen“ Verhaltens des <strong>Geschwister</strong>s<br />

• Neid auf die Gunst <strong>der</strong> Eltern<br />

• Rücksichtnahme<br />

20. Wut auf <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung wird nicht zugelassen.<br />

<strong>Geschwister</strong>konstellation:<br />

21. Die Mehrheit <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> erhalten Verantwortung gegenüber dem<br />

Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung. (vgl. Seifert, 1989, S. 13)<br />

22. Ältere <strong>Geschwister</strong> können leichter eine Art Elternrolle dem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

gegenüber einnehmen (das führt zu einer Art Befriedigung),<br />

43


während jüngere leicht in Konkurrenz/Kompetenzschwierigkeiten geraten.<br />

(vgl. Seifert, 1989, S. 18)<br />

23. Ältere <strong>Geschwister</strong> haben größere Probleme <strong>mit</strong> ihren <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung als Jüngere.<br />

Zukunft:<br />

24. Viele <strong>Geschwister</strong> machen sich schon früh Gedanken über die Zukunft<br />

des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung.<br />

25. Viele <strong>der</strong> Betroffenen fühlen sich verpflichtet, sich im Alter (o<strong>der</strong> bei Tod<br />

<strong>der</strong> Eltern) um das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern.<br />

26. Für die meisten <strong>Geschwister</strong> ist es eine Selbstverständlichkeit, ihr <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung später in die eigene Familie zu integrieren<br />

(Verantwortungsübernahme).<br />

Beziehung zu den Eltern:<br />

allgemein:<br />

27. Das Vertrauensverhältnis zwischen den Eltern und den gesunden Kin<strong>der</strong>n<br />

leidet unter <strong>der</strong> Zusatzbelastung. (vgl. Hackenberg, 1987, S. 67)<br />

Zeit/ Belastung:<br />

28. Viele <strong>Geschwister</strong> haben/hatten unter <strong>der</strong> Zusatzbelastung ihrer Eltern<br />

zu leiden.<br />

29. Die Mehrheit <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> wünscht sich mehr Zeit alleine <strong>mit</strong> den<br />

Eltern.<br />

Rücksichtnahme:<br />

30. Viele müssen als Kin<strong>der</strong> oft <strong>zur</strong>ückstecken und Rücksicht nehmen. (vgl.<br />

Seifert, 1987, S. 13)<br />

31. Viele <strong>Geschwister</strong> müssen wichtige Zeit und Möglichkeiten entbehren,<br />

weil sämtliche Energien <strong>der</strong> Familie dem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zuteil<br />

werden. (vgl. Seifert, 1987, S. 13)<br />

44


Elternverhalten:<br />

allgemein:<br />

32. Die kompensatorischen Erwartungen <strong>der</strong> Eltern können auch<br />

Auswirkungen auf die Zukunftspläne <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>/Jugendlichen haben.<br />

(vgl. Hackenberg, 1992, S. 46)<br />

33. Viele <strong>Geschwister</strong> haben den Eindruck, dass die Eltern bei Streit <strong>der</strong><br />

<strong>Geschwister</strong> untereinan<strong>der</strong> ihnen die Schuld geben.<br />

34. Die Belastung <strong>der</strong> Eltern durch die Behin<strong>der</strong>ung eines ihrer Kin<strong>der</strong><br />

beeinflusst die Beziehung zu den gesunden Kin<strong>der</strong>n wesentlich. (vgl.<br />

Hackenberg, 1987, S. 67)<br />

Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung:<br />

35. Aus den größeren Anfor<strong>der</strong>ungen heraus entwickeln Eltern oftmals eine<br />

beson<strong>der</strong>e Kompetenz für die Bewältigung schwieriger <strong>Situation</strong>en.<br />

36. Je mehr die <strong>Geschwister</strong> eine Akzeptanz <strong>der</strong> Eltern für das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

wahrnehmen, umso besser können sie selbst <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

umgehen. (vgl. Seifert, 1989, S. 21)<br />

37. Früher wurde in viele Familien die Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s verschwiegen.<br />

Loslassen:<br />

38. Eltern <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung können schwerer loslassen und die<br />

Verantwortung abgeben.<br />

Umwelt/ Gesellschaft:<br />

allgemein:<br />

39. Auffälliges Verhalten des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung ist den Kin<strong>der</strong>n<br />

vor an<strong>der</strong>en peinlich und unangenehm.<br />

40. Die Umwelt reagiert auf das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung ablehnend<br />

(auch Freunde, Verwandte, Bekannte). (vgl. Hackenberg, 1992, S. 100)<br />

41. Bei <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> wissen ihre Freunde über die<br />

Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s Bescheid.<br />

45


42. Viele berichten <strong>von</strong> Schwierigkeiten und Problemen in <strong>der</strong> Konfrontation<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> sozialen Umwelt. (vgl. Seifert, 1989, S. 14)<br />

Toleranz:<br />

43. <strong>Menschen</strong> <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen geraten in ihrer Kin<strong>der</strong>-<br />

/ Jugendzeit in Konflikte zwischen <strong>der</strong> familiären Solidarität und an<strong>der</strong>en<br />

gesellschaftlichen Normen außerhalb <strong>der</strong> Familie. (vgl. Hackenberg,<br />

1987, S. 67)<br />

44. Viele <strong>Geschwister</strong> stehen an<strong>der</strong>en <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen offener<br />

gegenüber.<br />

45. Viele <strong>Geschwister</strong> sind allgemein toleranter und sich mehr den Gefahren<br />

<strong>von</strong> Vorurteilen bewusst.<br />

Wir beabsichtigten, aus diesen Thesen im Nachhinein die Fragen für unseren<br />

Fragenkatalog zu bilden. Nach Absprache <strong>mit</strong> unserem Professor beschlossen<br />

wir, uns auf 13 Thesen zu beschränken, da <strong>der</strong> entstehende Arbeitsaufwand<br />

an<strong>der</strong>nfalls den Rahmen unserer Arbeit übersteigen würde.<br />

5.2.2. Endgültige Thesen<br />

Nach langen und gründlichen Überlegungen standen folgende Thesen <strong>zur</strong> weiteren<br />

Bearbeitung fest:<br />

Familiensituation:<br />

allgemein:<br />

1. Die altersentsprechende Ablösung vom Elternhaus im Jugendalter wird<br />

durch die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation beeinflusst (vorzeitig o<strong>der</strong> verzögert).<br />

2. Bei ständiger Gegenwart des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung steht die<br />

gesamte Familie unter starker Belastung.<br />

46


Familienkonstellation:<br />

3. Durch die Behin<strong>der</strong>ung rückt die Familie enger zusammen.<br />

4. Die Familiengröße ist ein wichtiger Faktor dafür, wie die <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

ihrer beson<strong>der</strong>en Familiensituation zu Recht kommen.<br />

Eigene <strong>Situation</strong>:<br />

Erfahrungen für die Zukunft:<br />

5. Die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

können Selbstkonzept und Lebensziele beeinflussen.<br />

Beziehung zum behin<strong>der</strong>ten <strong>Geschwister</strong>:<br />

Wut/Ärger/Neid:<br />

6. Wut auf <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung wegen:<br />

Zukunft:<br />

• „seltsamen“ Verhaltens des <strong>Geschwister</strong>s<br />

• Neid auf die Gunst <strong>der</strong> Eltern<br />

• Rücksichtnahme<br />

7. Viele <strong>der</strong> Betroffenen fühlen sich verpflichtet, sich im Alter (o<strong>der</strong> bei Tod<br />

<strong>der</strong> Eltern) um das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern.<br />

8. Für die meisten <strong>Geschwister</strong> ist es eine Selbstverständlichkeit, ihr <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung später in die eigene Familie zu integrieren.<br />

Beziehung zu den Eltern:<br />

Zeit/Belastung:<br />

9. Die Belastung <strong>der</strong> Eltern durch die Behin<strong>der</strong>ung eines ihrer Kin<strong>der</strong><br />

beeinflusst die Beziehung zu den gesunden Kin<strong>der</strong>n wesentlich.<br />

10. Viele <strong>Geschwister</strong> müssen wichtige Zeit und Möglichkeiten entbehren,<br />

weil alle Energien <strong>der</strong> Familie dem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zuteil werden.<br />

47


Elternverhalten:<br />

allgemein:<br />

11. Die kompensatorischen Erwartungen <strong>der</strong> Eltern können auch<br />

Auswirkungen auf die Zukunftspläne <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>/Jugendlichen haben.<br />

Loslassen:<br />

12. Eltern <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung können schwerer loslassen und die<br />

Verantwortung abgeben.<br />

Umwelt/Gesellschaft:<br />

Toleranz:<br />

13. <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen stehen im Zwiespalt<br />

zwischen <strong>der</strong> familiären Norm, das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu lieben und<br />

zu akzeptieren, und den ihnen vielerorts begegnenden gesellschaftlichen<br />

Normen, die <strong>von</strong> Abgrenzung bis hin <strong>zur</strong> Ablehnung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung geprägt sind.<br />

Im Folgenden möchten wir nun bei einigen Thesen genauer begründen, weshalb<br />

wir uns jeweils für o<strong>der</strong> gegen diese entschieden haben.<br />

Aus folgenden Gründen haben wir uns für diese Thesen entschieden:<br />

These: Die altersentsprechende Ablösung vom Elternhaus im Jugendalter wird<br />

durch die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation beeinflusst. (vorzeitig o<strong>der</strong> verzögert)<br />

Während meines Praktikums in einer Werkstatt für <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

erlebte ich einige <strong>Situation</strong>en, aus denen ich schließen konnte, in welch<br />

schlimmen Familienverhältnissen manche dieser <strong>Menschen</strong> leben.<br />

Oft schämen sich Angehörige sowie die <strong>Geschwister</strong> für das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung,<br />

sie/er wird in manchen Fällen sogar nach Möglichkeit <strong>von</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

fern gehalten.<br />

Natürlich gibt es aber auch Fälle, in denen die Behin<strong>der</strong>ung so gravierend ist,<br />

dass alleine dadurch die Familiensituation für die gesunden <strong>Geschwister</strong>, sowie<br />

48


für die Eltern sehr belastend ist. Auch in diesem Fall war ich <strong>der</strong> Meinung, dass<br />

ein solcher Umstand die Ablösung stark beeinflusst.<br />

Aber ich denke, dass auch die allgemeine Sichtweise <strong>der</strong> Gesellschaft in die<br />

Richtung tendiert, dieser These zuzustimmen, denn die meisten <strong>von</strong> uns haben<br />

kein <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung und können so<strong>mit</strong> nur ahnen, wie ihr Leben<br />

in einer solchen Familie aussehen würde. Und ich wage zu behaupten, dass wir<br />

uns dieses Leben durchaus nicht einfach und unproblematisch vorstellen würden.<br />

Auch durch diese Argumentation könnte man zu dem Schluss kommen,<br />

dass die Ablösung in jedem Fall beeinflusst wird.<br />

Tamara Drittenpreis jedoch konnte dies nicht bestätigen. Da sie selber eine<br />

Schwester <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung hat, konnte sie in unseren Gesprächen aus ihren<br />

eigenen Erfahrungen berichten. Ihre eigene Ablösung wurde in keiner Weise<br />

durch die spezielle <strong>Geschwister</strong>konstellation beeinflusst und sie hatte dies auch<br />

im Bekanntenkreis beobachtet.<br />

Schon aufgrund dieser verschiedenen Standpunkte waren wir <strong>der</strong> Meinung,<br />

dass diese These durchaus überprüft werden sollte.<br />

These: Die Familie rückt enger zusammen!<br />

Rückt die Familie wirklich enger zusammen durch das Zusammenleben <strong>mit</strong><br />

einem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung? Diese These war für uns sehr interessant, weil<br />

wir hier sehr unterschiedliche Antworten erwarteten. Man kann sich gut vorstellen,<br />

dass eine Familie durch schwierige <strong>Situation</strong>en, Problembewältigung und<br />

natürlich durch zusammen erlebtes Glück, durch Freude an- und <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong>,<br />

Tag für Tag zusammen wächst und sich näher kommt. Ist dies jedoch immer<br />

noch so, wenn problematische <strong>Situation</strong>en überwiegen, wenn Eltern immer<br />

wie<strong>der</strong> an ihre Grenzen stoßen, weil die körperliche und seelische Belastung zu<br />

groß ist?<br />

Man kann da<strong>von</strong> ausgehen, dass solche <strong>Situation</strong>en für alle Eltern nicht leicht<br />

zu bewältigen sind und sie so<strong>mit</strong> <strong>von</strong> Zeit zu Zeit überreizt und genervt reagieren.<br />

Darunter leiden natürlich im Beson<strong>der</strong>en die übrigen <strong>Geschwister</strong>. Rückt<br />

die Familie auch unter solchen Umständen enger zusammen? Wir sind sehr<br />

gespannt auf unser Ergebnis!<br />

49


These: Wut auf <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung wegen<br />

• „seltsamen“ Verhaltens<br />

• Neid auf die Gunst <strong>der</strong> Eltern<br />

• Rücksichtnahme<br />

Im Verlauf <strong>der</strong> Diskussion über diese These kamen uns schnell einige Gründe,<br />

die zu <strong>der</strong>en Bestätigung führen könnten. Wir überlegten, welche Umstände im<br />

familiären Zusammenleben Wut o<strong>der</strong> Neid bei den gesunden <strong>Geschwister</strong>n<br />

hervorrufen könnten und kamen zu folgenden Ergebnissen:<br />

• „Seltsames“ o<strong>der</strong> auffälliges Verhalten des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

kann für die gesunden <strong>Geschwister</strong> durchaus unangenehm o<strong>der</strong><br />

peinlich sein. Gerade in einem bestimmten Alter ist es für sie nicht leicht,<br />

da<strong>mit</strong> umzugehen. Oft schämen sie sich deswegen vor ihren Freunden.<br />

• Durch die Zusatzbelastung <strong>der</strong> Eltern ist <strong>der</strong>en Zeit für die gesunden <strong>Geschwister</strong><br />

oft begrenzt. Dies kann in vielen Fällen Neid auf das <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung hervorrufen.<br />

• Durch die Zusatzbelastung <strong>der</strong> Eltern und die „spezielle“ Familiensituation<br />

wird <strong>von</strong> den gesunden <strong>Geschwister</strong>n oft mehr Rücksichtnahme<br />

verlangt, wofür sie sicherlich nicht immer Verständnis aufbringen können.<br />

These: Eltern <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung können schwerer loslassen und die<br />

Verantwortung abgeben!<br />

Diese These haben wir unter an<strong>der</strong>em daher gewählt, weil Herr Keicher <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />

Bundeselternvereinigung e.V. speziell an <strong>der</strong>en Bearbeitung interessiert ist.<br />

Auch wir sind <strong>der</strong> Meinung, dass das „Loslassen“ ein brisantes Thema ist, denn<br />

grundsätzlich fällt es allen Eltern schwer, ihre Kin<strong>der</strong> eines Tages gehen zu lassen,<br />

auch wenn diese schon fast erwachsen und weitgehend eigenständig sind.<br />

Wie schwer mag es dann erst für Eltern sein, ihr Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung eines<br />

Tages in eine Einrichtung „gehen“ zu lassen, wo es doch in bestimmten Fällen<br />

noch auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes ist? Sie müssen loslassen,<br />

obwohl sie wissen, dass ihr Kind in vielen <strong>Situation</strong>en nicht in <strong>der</strong> Lage ist, ohne<br />

die Hilfe frem<strong>der</strong> Personen <strong>zur</strong>echtzukommen.<br />

50


Dagegen könnte man sich jedoch auch vorstellen, dass es für manche <strong>der</strong> betroffenen<br />

Eltern eine unbeschreibliche Erleichterung sein kann, wenn ihr Kind in<br />

eine Einrichtung kommt, in <strong>der</strong> sie es gut versorgt wissen.<br />

Vielleicht sind sie erleichtert, weil sie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> täglichen Pflege und Betreuung<br />

<strong>mit</strong>tlerweile schlicht und einfach überfor<strong>der</strong>t sind. Vielleicht freuen sie sich darauf,<br />

wie<strong>der</strong> mehr Zeit für sich selber, den Partner und die übrige Familie zu<br />

haben.<br />

Überwiegt in diesem Fall die Erleichterung o<strong>der</strong> fällt es schwerer, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Trennung<br />

umzugehen?<br />

Unsere Auswertungen werden es zeigen!<br />

Aus folgenden Gründen haben wir uns gegen diese Thesen entschieden:<br />

These: Die Schwere <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ist ein entscheiden<strong>der</strong> Faktor für die Ver-<br />

arbeitung und Einstellung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>!<br />

Hier wurde uns schon nach kurzer Überlegung klar, dass es nicht möglich ist,<br />

diese These stichhaltig zu überprüfen. Um dies zu erreichen, müssten die Befragten<br />

in <strong>der</strong> Lage sein, zu differenzieren. Sie müssten differenzieren, ob die<br />

Art und Weise, wie sie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung umgehen, nun wirklich <strong>von</strong> <strong>der</strong>en<br />

Schwere abhängt o<strong>der</strong> ob dieser Faktor für ihre Einstellung und Verarbeitung<br />

nicht <strong>von</strong> Bedeutung ist.<br />

Aber wie sollen sie dies beurteilen? Auch in diesem Fall können sie nicht wissen,<br />

wie ihre <strong>Situation</strong> aussähe, wenn die Behin<strong>der</strong>ung ihres <strong>Geschwister</strong>s<br />

leichter, beziehungsweise schwerer wäre. Aus diesem Grund hätte höchst<br />

wahrscheinlich kaum einer unserer Interviewpartner Fragen zu dieser These<br />

aus wirklicher Überzeugung beantworten können.<br />

These: <strong>Menschen</strong> <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung sind sozialer als an<strong>der</strong>e<br />

<strong>Menschen</strong>. (haben mehr soziale Kompetenzen)<br />

Auch in diesem Fall ist es schwer möglich, zu differenzieren. Keine <strong>der</strong> betroffenen<br />

Personen weiß, wie ihre soziale Einstellung aussähe, wenn kein <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> Familie wäre.<br />

51


Hinzu kommt außerdem, dass <strong>der</strong> Begriff „sozial“ äußerst schwer zu definieren<br />

ist. Sehr wahrscheinlich würde ihn je<strong>der</strong> Betroffene an<strong>der</strong>s betrachten. So<strong>mit</strong><br />

könnten wir uns lei<strong>der</strong> auch auf diese Ergebnisse nicht eindeutig stützen.<br />

These: Aus den größeren Anfor<strong>der</strong>ungen heraus entwickeln Eltern oftmals eine<br />

beson<strong>der</strong>e Kompetenz für die Bewältigung schwieriger <strong>Situation</strong>en!<br />

Diese These lässt sich ebenfalls schwer überprüfen, denn wir kamen nach kurzen<br />

Überlegungen zu dem Schluss, dass Kin<strong>der</strong> generell schlecht in <strong>der</strong> Lage<br />

sind zu beurteilen, wie ihre Eltern <strong>mit</strong> schwierigen, belastenden <strong>Situation</strong>en umgehen,<br />

geschweige denn, ob sie beson<strong>der</strong>e Kompetenzen für dessen Bewältigung<br />

entwickeln.<br />

Oft kennen sie die Verhaltensweisen, wie ihre Eltern <strong>mit</strong> größeren Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

umgehen, <strong>von</strong> klein an.<br />

Auch wenn sie selber das ältere <strong>Geschwister</strong> in <strong>der</strong> Familie sind und die Eltern<br />

erst durch die Geburt des Jüngeren <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung lernen müssen, <strong>mit</strong> den<br />

neuen Belastungen umzugehen, sind sie doch in den meisten Fällen noch zu<br />

klein, um dies zu realisieren.<br />

Woher sollen sie wissen, welche Kompetenzen ihre Eltern im Falle einer an<strong>der</strong>en<br />

Familienkonstellation hätten? Fragen zu dieser These hätte man sicherlich<br />

eher bei einer Elternbefragung stellen können.<br />

5.3. Fragen entwickeln<br />

Nachdem nun unsere 13 Thesen feststanden, mussten wir die dazugehörigen<br />

Fragen finden und formulieren. Wir beschlossen, jede <strong>der</strong> Thesen einzeln zu<br />

bearbeiten. Dazu sammelten wir mögliche Fragen und berieten, welche dieser<br />

Fragen die für die jeweiligen Thesen effektivsten und ausführlichsten Antworten<br />

liefern würden.<br />

Wichtig war uns hierbei vor allem, verschiedene Alternativen zu den Fragestellungen<br />

zu finden, denn schon nach kurzer Zeit stellten wir fest, dass fast alle<br />

unsere zuerst formulierten Fragen „geschlossene“ Fragen waren. Da unser Ziel<br />

jedoch darin bestand, <strong>mit</strong> unseren Fragen so viele Informationen wie möglich zu<br />

bekommen, mussten wir sie so formulieren, dass sie den Interviewpartner zu<br />

52


längeren Ausführungen anregten. Im Idealfall sollte <strong>der</strong> Befragte dadurch auch<br />

an vergessene Geschehnisse o<strong>der</strong> Details erinnert werden. Wir dachten<br />

darüber nach, auf welche Art und Weise die vorhandenen Fragen „offen“ gestellt<br />

werden könnten.<br />

Wir führten nun ein Probeinterview durch, um die Effektivität <strong>der</strong> formulierten<br />

Fragen zu testen.<br />

Im Folgenden stellen wir die Fragen nach Thesen geordnet in ihrer Endformulierung<br />

vor.<br />

These 1:<br />

Die altersentsprechende Ablösung vom Elternhaus im Jugendalter wird durch<br />

die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation beeinflusst (vorzeitig o<strong>der</strong> verzögert).<br />

1. Inwiefern glauben Sie, hat die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation Ihre Ablösung<br />

vom Elternhaus im Jugendalter beeinflusst (z.B. wesentlich früher<br />

o<strong>der</strong> später)?<br />

2. Denken Sie, dies wäre sonst an<strong>der</strong>s gewesen? Wie?<br />

These 2:<br />

Bei ständiger Gegenwart des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung steht die gesamte<br />

Familie unter starker Belastung.<br />

3. Hat Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu Hause gelebt?<br />

4. Falls zu Hause, empfanden Sie dies als Belastung?<br />

5. Falls nicht zu Hause, wie war es in den Ferienzeiten? Empfanden Sie<br />

dies als Belastung?<br />

6. Woran hat sich die Belastung gezeigt? Bitte nennen Sie ein Beispiel.<br />

These 3:<br />

Durch die Behin<strong>der</strong>ung rückt die Familie enger zusammen.<br />

7. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Familie durch die Behin<strong>der</strong>ung Ihrer<br />

Schwester/Ihres Bru<strong>der</strong>s enger <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> verbunden ist?<br />

8. In welchen beson<strong>der</strong>en <strong>Situation</strong>en?<br />

53


These 4:<br />

Die Familiengröße ist ein wichtiger Faktor dafür, wie die <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> ihrer<br />

beson<strong>der</strong>en Familiensituation zu Recht kommen.<br />

9. Wie viele <strong>Geschwister</strong> haben Sie?<br />

10. Haben Sie sich <strong>mit</strong> Ihren <strong>Geschwister</strong>n über Ihre beson<strong>der</strong>e<br />

Familiensituation ausgetauscht?<br />

11. Inwieweit fanden Sie Rückhalt bei Ihren <strong>Geschwister</strong>n?<br />

12. Hatten Sie manchmal das Bedürfnis, sich in einigen <strong>Situation</strong>en <strong>mit</strong><br />

einem weiteren <strong>Geschwister</strong> austauschen zu können?<br />

These 5:<br />

Die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

können Selbstkonzept und Lebensziele beeinflussen.<br />

13. Haben die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> Ihrem <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung Ihr Leben beeinflusst?<br />

14. In welchen Bereichen (Partnerwahl, Beruf, Freunde, Mobilität)?<br />

15. Wenn nein, warum nicht?<br />

These 6:<br />

Wut auf <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung wegen:<br />

• „seltsamen“ Verhaltens des <strong>Geschwister</strong>s<br />

• Neid auf die Gunst <strong>der</strong> Eltern<br />

• Rücksichtnahme<br />

16. Gab es <strong>Situation</strong>en, in denen Sie sich über Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

geärgert haben?<br />

17. Haben Sie diesen negativen Gefühlen Ausdruck verliehen o<strong>der</strong> waren<br />

Sie gehemmt? Warum? Inwiefern?<br />

18. Gab/gibt es „seltsame“/eigenartige Verhaltensweisen Ihres <strong>Geschwister</strong>s<br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung, die Sie ärgerlich machen? Welche?<br />

19. Gab es <strong>Situation</strong>en in denen Sie neidisch auf Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung waren? In welchen? Warum?<br />

20. Inwiefern mussten Sie im Zusammenleben <strong>mit</strong> Ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung Rücksicht nehmen?<br />

54


21. Gab es <strong>Situation</strong>en, in denen Sie deshalb wütend waren?<br />

22. Welche?<br />

These 7:<br />

Viele <strong>der</strong> Betroffenen fühlen sich verpflichtet, sich im Alter (o<strong>der</strong> bei Tod <strong>der</strong><br />

Eltern) um das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern.<br />

23. Wie stellen Sie sich die Zukunft Ihres <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

vor?<br />

24. Machen Sie sich Sorgen darüber?<br />

25. Wie und wodurch hat das angefangen? Gab es dazu einen konkreten<br />

Anlass? Welchen?<br />

26. Inwiefern fühlen Sie sich verpflichtet, sich um Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern?<br />

These 8:<br />

Für die meisten <strong>Geschwister</strong> ist es eine Selbstverständlichkeit, ihr <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung später in die eigene Familie zu integrieren.<br />

27. Wie integrieren Sie Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in Ihre eigene<br />

Familie?<br />

28. Ist das für Sie selbstverständlich?<br />

29. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihrem Partner und Ihren Kin<strong>der</strong>n<br />

und Ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung beschreiben?<br />

30. Kommt Ihr <strong>Geschwister</strong> in den Ferienzeiten <strong>der</strong> Einrichtung in Ihre<br />

eigene Familie?<br />

31. Wie nehmen Ihre Kin<strong>der</strong> bzw. Ihr Partner das auf?<br />

These 9:<br />

Die Belastung <strong>der</strong> Eltern durch die Behin<strong>der</strong>ung eines ihrer Kin<strong>der</strong> beeinflusst<br />

die Beziehung zu den gesunden Kin<strong>der</strong>n wesentlich.<br />

32. Haben Sie die Zusatzbelastung Ihrer Eltern oft gespürt?<br />

33. Worin hat sich dies gezeigt?<br />

34. Hatte dies große Auswirkungen auf Ihre eigene Beziehung zu Ihren<br />

Eltern?<br />

55


35. Welche?<br />

These 10:<br />

Viele <strong>Geschwister</strong> müssen wichtige Zeit und Möglichkeiten entbehren, weil alle<br />

Energien <strong>der</strong> Familie dem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zuteil wurden.<br />

36. Hatten Ihre Eltern Ihrer Meinung nach genügend Zeit für Sie?<br />

37. In welchen <strong>Situation</strong>en wünschten Sie sich, dass Ihre Eltern mehr Zeit<br />

für Sie alleine gehabt hätten?<br />

38. Wieso war diese Zeit für Sie nicht vorhanden?<br />

These 11:<br />

Die kompensatorischen Erwartungen <strong>der</strong> Eltern können auch Auswirkungen auf<br />

die Zukunftspläne <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>/Jugendlichen haben.<br />

39. Hatten Ihre Eltern Zukunftspläne für Sie?<br />

40. Welche?<br />

41. Hatte dies Auswirkungen auf Ihre Zukunftsentscheidungen?<br />

42. Meinen Sie, dies wäre an<strong>der</strong>s gewesen, wenn Sie kein <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung gehabt hätten?<br />

These 12:<br />

Eltern <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung können schwerer loslassen und die Verantwortung<br />

abgeben.<br />

43. Wie gestaltete sich <strong>der</strong> Übergang, als Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

<strong>von</strong> zu Hause in eine Einrichtung kam?<br />

44. Wie gingen Ihre Eltern da<strong>mit</strong> um?<br />

45. Hatten Sie das Gefühl, dieses „Loslassen“ fiel Ihren Eltern beson<strong>der</strong>s<br />

schwer?<br />

46. Woran hat sich das gezeigt?<br />

47. Wer hat momentan die Verantwortung für Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

(rechtlicher Betreuer und wer kümmert sich privat, z.B. in Ferienzeiten)?<br />

48. Haben Sie das Gefühl, Ihre Eltern können/konnten diese Verantwortung<br />

nur schwer abgeben?<br />

56


These 13:<br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung stehen im Zwiespalt zwischen <strong>der</strong><br />

familiären Norm, das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu lieben und zu akzeptieren und<br />

den Ihnen vielerorts begegnenden gesellschaftlichen Normen, die <strong>von</strong> Abgrenzung<br />

bis hin <strong>zur</strong> Ablehnung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung geprägt sind.<br />

49. Viele erleben einen deutlichen Unterschied zwischen dem, wie innerhalb<br />

<strong>der</strong> Familie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung Ihres <strong>Geschwister</strong> umgegangen wird<br />

und dem Verhalten <strong>der</strong> Umwelt ihm gegenüber (Bekannte, Verwandtschaft,<br />

Nachbarn).<br />

War dies bei ihnen auch so?<br />

50. Nennen Sie dazu bitte ein Beispiel!<br />

5.4. Fragenkatalog zusammenstellen<br />

Nachdem die Fragen, aus denen unser Fragenkatalog bestehen sollte, feststanden,<br />

erstellten wir einen thematischen Leitfaden.<br />

Die Qualität des Gespräches zeichnet sich letztendlich durch die sorgfältig gewählte<br />

Reihenfolge <strong>der</strong> Fragen nach verschiedenen Themengebieten aus.<br />

Aus diesem Grund erschien es uns sinnvoll, zunächst nach <strong>der</strong> „allgemeinen“<br />

Familiensituation zu fragen, wie etwa nach <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>anzahl, <strong>der</strong> <strong>Situation</strong><br />

des Zusammenlebens zu Hause und ob dies als sehr belastend empfunden<br />

wurde.<br />

Erst danach sollten auf „speziellere“ Themen eingegangen werden, wie zum<br />

Beispiel Wut, Ärger und Neid, Rücksichtnahme, die Zusatzbelastung <strong>der</strong> Eltern<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en vorhandene Zeit für die gesunden Kin<strong>der</strong>.<br />

Die daraufhin folgenden Fragen betreffen das eigene Leben <strong>der</strong> Interviewpartner<br />

und inwiefern dieses durch die Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s beeinflusst<br />

wurde o<strong>der</strong> heute noch beeinflusst wird.<br />

Das Loslassen <strong>der</strong> Eltern ihres Kindes <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung sowie die Frage nach<br />

dessen Zukunft erschienen uns sehr passend für den folgenden Teil unseres<br />

Interviews, bevor wir abschließend die spätere Integration des <strong>Geschwister</strong>s in<br />

die eigene Familie ansprechen wollten. Diese Integration ist sicherlich ein<br />

57


Thema, <strong>mit</strong> dem sich alle Befragten entwe<strong>der</strong> schon auseinan<strong>der</strong> gesetzt haben<br />

o<strong>der</strong> es aber in Zukunft tun werden müssen.<br />

Die endgültige Fassung des Fragenkataloges finden Sie im Anhang als<br />

Anlage 1<br />

58


6. Interviewpartner finden<br />

Um Interviewpartner zu finden sahen wir folgende Möglichkeiten:<br />

1. Die persönliche Ansprache <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>, die wir kennen<br />

2. Einen Aufruf in <strong>der</strong> Camphill-Zeitschrift „Die Brücke“<br />

3. Kontaktaufnahme <strong>mit</strong> Einrichtungen für <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen<br />

Uns war bewusst, dass wir <strong>mit</strong> den beiden letzten Wegen vermutlich nur <strong>Geschwister</strong><br />

aus anthroposophischen Kreisen finden würden. Ich denke, man kann<br />

bei diesen Familien da<strong>von</strong> ausgehen, dass sie eher engagierter sind, da sie<br />

sich die Einrichtung für das Kind o<strong>der</strong> den erwachsenen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

selbst ausgewählt haben und sich darum gekümmert haben, dass das<br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung diese Einrichtung besuchen o<strong>der</strong> sogar dort leben<br />

kann.<br />

Auch bei <strong>der</strong> Möglichkeit, <strong>Geschwister</strong>, die wir selbst kennen, anzusprechen,<br />

waren wir uns im Klaren darüber, dass wir wie<strong>der</strong>um nur solche aus eher engagierteren<br />

Familien finden würden, da die jeweiligen <strong>Geschwister</strong> aus meinem<br />

o<strong>der</strong> dem Bekanntenkreis meiner Familie stammten. Die meisten kannte ich<br />

aus einer begleiteten Gesprächsgruppe meiner Mutter; einige hatte meine<br />

Mutter auch durch das Therapeutische Reiten kennen gelernt.<br />

Auf diese Art und Weise konnten wir nur eine sehr eingeengte Gruppe <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n<br />

finden. Dies nahmen wir aber aus zwei Gründen gerne in Kauf:<br />

Zum einen boten sich uns auf diesen Wegen die leichtesten Zugänge zu den<br />

<strong>Geschwister</strong>n, um diese für unser Vorhaben zu gewinnen. Ich hatte bereits<br />

Kontakte geknüpft o<strong>der</strong> wusste, dass mir dies schnell gelingen würde.<br />

Außerdem vermuteten wir, dass es extrem schwer ist, an Familien aus sozial<br />

schwächeren Ebenen heranzukommen. Oftmals lehnen Eltern dieser Familien<br />

ein solches Vorhaben <strong>von</strong> vornherein ab und lassen es nicht zu, dass man die<br />

<strong>Geschwister</strong> selbst fragt, ob sie zu einem Interview bereit wären. Auch bei an<strong>der</strong>en<br />

Einrichtungen, die ebenfalls solche Familien betreuen, haben wir eher<br />

negative Erfahrungen in <strong>der</strong> Zusammenarbeit gemacht.<br />

59


Zum an<strong>der</strong>en dachten wir, dass es sogar sinnvoll sein kann, sich eine bestimmte<br />

Gesellschaftsgruppe heraus zu greifen, auf welche sich unsere Befragung<br />

beschränkt, da<strong>mit</strong> unsere Untersuchung aussagekräftiger wird, wenn auch<br />

nur für diese Gruppe <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n.<br />

Es wäre sicherlich schwieriger, allgemein gültige Aussagen zu treffen, wenn wir<br />

in unserer kleinen Gruppe <strong>von</strong> Befragten extreme Schwankungen innerhalb <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Verhältnisse <strong>der</strong> Befragten hätten.<br />

Aus diesem Grund erschien uns eine eher homogene Gruppe sinnvoller.<br />

6.1. Persönliche Ansprache möglicher Interviewpartner<br />

Als einfachste Möglichkeit, Interviewpartner zu finden, erwies sich, <strong>mit</strong> bekannte<br />

<strong>Geschwister</strong> persönlich anzusprechen. Weitere <strong>Geschwister</strong> fanden wir aufgrund<br />

vieler Kontakte meiner Mutter zu an<strong>der</strong>en betroffenen Familien.<br />

Auf diesem Weg fanden wir 13 <strong>Geschwister</strong>, die bereit waren, uns ein Interview<br />

zu geben. Lediglich eine Person lehnte ein Interview ab.<br />

6.2. Aufruf in <strong>der</strong> Camphill-Zeitschrift Brücke<br />

In <strong>der</strong> Zeitschrift „Die Brücke“, welche vom Freundeskreis Camphill herausgegeben<br />

wird, starteten wir einen Aufruf, in welchem wir unser Anliegen dargestellt<br />

und <strong>Geschwister</strong> darum gebeten haben, sich bei uns zu melden.<br />

Der Freundeskreis Camphill ist ein Zusammenschluss aller Camphill-Einrichtungen<br />

in Deutschland. Camphill-Einrichtungen sind antroposophische Lebens-,<br />

Wohn- und Arbeitsgemeinschaften <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> und ohne Behin<strong>der</strong>ung.<br />

In <strong>der</strong> Zeitschrift „Die Brücke“ wird über aktuelle Themen aus den einzelnen<br />

Einrichtungen berichtet.<br />

Ich schrieb dafür folgenden Artikel, <strong>der</strong> dann auch in dieser Form abgedruckt<br />

wurde:<br />

60


<strong>Geschwister</strong> gesucht!<br />

Im Rahmen meines Sozialpädagogikstudiums an <strong>der</strong> Universität Siegen<br />

schreibe ich <strong>mit</strong> einer <strong>Studien</strong>kollegin eine Diplomarbeit über die <strong>Situation</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Geschwister</strong>n behin<strong>der</strong>ter <strong>Menschen</strong>.<br />

Ich selbst habe eine behin<strong>der</strong>te Schwester, welche in Föhrenbühl lebt und dort<br />

die Werkstufe besucht.<br />

Uns interessiert beson<strong>der</strong>s die <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> aus ihrer eigenen<br />

Sicht. Welche Vor- und Nachteile ergaben sich? Gab es etwas, das ihre Familie<br />

beson<strong>der</strong>s machte?<br />

Dies alles möchten wir durch Interviews zusammentragen und auswerten. Wir<br />

möchten dadurch erfahren, ob viele <strong>Geschwister</strong> dieselben Erfahrungen gemacht<br />

haben und wo<strong>von</strong> diese abhängen.<br />

Um dies herausfinden zu können, würden wir Sie gerne befragen. Am liebsten<br />

persönlich in einem Gespräch, da hierbei besser auf individuelle Gegebenheiten<br />

eingegangen werden kann. Sollte es jedoch erfor<strong>der</strong>lich sein, würden wir<br />

uns auch über die Gelegenheit freuen, <strong>mit</strong> Ihnen ein Telefoninterview zu führen.<br />

Wir bitten alle <strong>Geschwister</strong>, die sich vorstellen können, uns ein solches Interview<br />

zu geben, sich bei uns zu melden. Sämtliche Angaben werden dabei<br />

streng vertraulich behandelt und werden nur anonym wie<strong>der</strong> gegeben.<br />

Also, liebe <strong>Geschwister</strong> bitte melden Sie sich bei uns!<br />

Wir brauchen jeden um am Schluss eine repräsentative Aussage machen zu<br />

können.<br />

Kontakt: Tamara Drittenpreis<br />

Schützenweg 3, 88693 Deggenhausertal<br />

Tel.: 07555-922013; Fax: 07555-922099;<br />

Handy: 0170-3476839; drittenpreis@gmx.de<br />

Auf diesen Artikel meldeten sich 12 <strong>Geschwister</strong> bei mir, die uns ein Interview<br />

geben wollten.<br />

Außerdem meldete sich Herr Keicher, <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> Bundeselternvereinigung<br />

e.V.. Er hatte meinen Aufruf ebenfalls gelesen und fand das Thema sehr<br />

interessant. Herr Keicher bot mir an, dass sein Verein uns unterstützen werde,<br />

wenn wir ihnen nach Beendigung die Ergebnisse unserer Untersuchung <strong>zur</strong><br />

Verfügung stellen würden. Die Unterstützung sollte so aussehen, dass er uns<br />

zum einen weitere Interviewpartner nennen würde. Zum an<strong>der</strong>en wollte <strong>der</strong><br />

Verein uns finanziell bei den Fahrtkosten unterstützen, da wir alle Interviews<br />

persönlich durchführen wollten und dadurch weite Strecken <strong>zur</strong>ücklegen<br />

mussten.<br />

61


Wir freuten uns sehr über die große Resonanz auf meinen Artikel und ich<br />

schrieb daraufhin für die nächste Ausgabe <strong>der</strong> Zeitschrift „Die Brücke“ einen<br />

kurzen Dankesartikel, um den <strong>Geschwister</strong>n, die sich bis dahin gemeldet hatten,<br />

eine erste Rückmeldung auf diesem Wege zu geben.<br />

Folgen<strong>der</strong> Artikel wurde abgedruckt:<br />

Herzliches Dankeschön!<br />

Wir hatten in <strong>der</strong> letzten Brücke einen Aufruf gestartet, in welchem wir <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung für unsere Diplomarbeit gesucht haben.<br />

Wir möchten uns nun ganz herzlich bei:<br />

• allen <strong>Geschwister</strong>n, die sich gemeldet haben,<br />

• allen daran Beteiligten, dass einige <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> unserem Vorhaben<br />

erfahren haben,<br />

bedanken.<br />

Wir freuen uns über soviel Resonanz auf unser Thema und sehen dadurch,<br />

dass wir ein für viele interessantes Thema bearbeiten.<br />

Bei weiterem Interesse werden wir in einer <strong>der</strong> folgenden Brücke einen Artikel<br />

über unsere Ergebnisse schreiben.<br />

Wir freuen uns auf die anstehenden Interviews!<br />

Tamara Drittenpreis und Elisabeth Freund<br />

Sogar auf diesen zweiten Artikel hin meldete sich noch ein Vater, <strong>der</strong> es nach<br />

dem ersten Artikel vergessen hatte und sich nun wie<strong>der</strong> daran erinnerte, dass<br />

er sich bei mir melden wollte.<br />

6.3. Kontaktieren geeigneter Einrichtungen<br />

Meine Idee war, die Camphill-Einrichtungen am Bodensee anzusprechen, ob<br />

sie uns bei <strong>der</strong> Suche nach <strong>Geschwister</strong>n behilflich sein könnten.<br />

Ich entwarf einen Brief, <strong>der</strong> dann bei den nächsten Eltern- bzw. Angehörigenschreiben<br />

<strong>mit</strong> versendet werden sollte. Mit den Einrichtungen hatte ich unterschiedliche<br />

Erfahrungen gemacht. Ich hatte bei drei Einrichtungen angefragt.<br />

Zwei <strong>der</strong> Einrichtungen waren sofort bereit, uns zu unterstützen. Die dritte<br />

konnte sich dies nicht vorstellen.<br />

62


Da sich aber auf unseren Aufruf in <strong>der</strong> „Brücke“ in <strong>der</strong> Zwischenzeit sehr viele<br />

<strong>Geschwister</strong> gemeldet hatten, sahen wir <strong>von</strong> diesem Vorhaben wie<strong>der</strong> ab.<br />

Über eine Bekannte, die in <strong>der</strong> Camphill-Lebensgemeinschaft Lehenhof lebt<br />

und arbeitet, bot sich die Möglichkeit, einige <strong>Geschwister</strong>, persönlich anzusprechen.<br />

So fanden wir weitere drei <strong>Geschwister</strong>, die wir interviewen konnten.<br />

Insgesamt hatten wir durch die unterschiedlichen Vorgehensweisen 35 <strong>Geschwister</strong><br />

gefunden, die bereit waren uns ein Interview zu geben.<br />

Die Beson<strong>der</strong>heit bei zwei unserer Interviewpartner ist, dass <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

bereits verstorben ist. Bei zwei weiteren ist das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

ein Pflegekind.<br />

63


7. Vorbereitung und Durchführung <strong>der</strong> Interviews<br />

Aus den 35 möglichen Interviewpartnern wählten wir 25 Personen aus, die wir<br />

befragen wollten. Die Auswahl erfolgte hauptsächlich nach den Kriterien <strong>der</strong><br />

Entfernung und <strong>der</strong> Möglichkeit einer gemeinsamen Terminfindung, wobei alle<br />

unsere Interviewpartner sehr kooperativ waren. In den meisten Fällen wurde<br />

<strong>der</strong> <strong>von</strong> uns vorgeschlagene Termin <strong>von</strong> unseren Interviewpartnern ermöglicht.<br />

Auf meinen Aufruf in <strong>der</strong> „Brücke“ hatten sich Interviewpartner aus ganz<br />

Deutschland, aus <strong>der</strong> Schweiz und aus Österreich gemeldet. Es lag nun an uns,<br />

einen sinnvollen Interviewablaufplan zu erstellen, wobei wir möglichst alle Interviewpartner,<br />

die sich selbst bei uns gemeldet hatten, auch berücksichtigen<br />

wollten.<br />

Wir entschlossen uns zunächst einige Interviews zu führen, die jeweils Tagesreisen<br />

<strong>von</strong> Siegen entfernt waren. Unsere zweite intensive Interviewphase<br />

führten wir am Bodensee und in <strong>der</strong> Ulmer Gegend durch. Viele <strong>der</strong> Interviewpartner,<br />

die wir über die Camphill-Einrichtungen gefunden hatten, waren um die<br />

Weihnachtszeit bei ihren Familien. In dieser Zeit führten wir 14 unserer Interviews.<br />

Die restlichen Befragungen fanden an zwei Wochenenden im Januar<br />

statt. Das erste Wochenende hatten wir Interviewtermine in Stuttgart und <strong>der</strong><br />

Heilbronner Gegend. Das darauf folgende Wochenende fuhren wir nach Hamburg<br />

und Kiel.<br />

Eine Woche vor dem jeweiligen Interviewtermin sandten wir unseren Interviewpartnern<br />

einen Brief, in dem wir ihnen den Termin bestätigten und versuchten,<br />

einen kurzen Überblick über das zu geben, was sie erwartet. Zum einen wollten<br />

wir da<strong>mit</strong> den <strong>Geschwister</strong>n die Unsicherheit nehmen, so dass sie etwas genauer<br />

Bescheid wussten, wo<strong>mit</strong> sie rechnen mussten. Zum an<strong>der</strong>en hofften wir<br />

aber auch, <strong>mit</strong> unserem Brief zu erreichen, dass die <strong>Geschwister</strong> sich dadurch<br />

<strong>mit</strong> den angesprochenen Themengebieten nochmals genauer beschäftigen<br />

würden und sich bestimmte <strong>Situation</strong>en aus ihrer Kindheit auch wie<strong>der</strong> ins Gedächtnis<br />

rufen konnten.<br />

Bei den Interviewterminen haben wir <strong>von</strong> sehr vielen <strong>Geschwister</strong>n eine positive<br />

Rückmeldung bekommen. Sie waren erfreut über diese kurze aber doch informative<br />

Vorabinformation über unser Vorhaben.<br />

64


Unser Anschreiben an die <strong>Geschwister</strong> finden Sie als Anlage 2 im Anhang.<br />

Am Tag des Interviews selbst wurden wir immer sehr freundlich und herzlich<br />

begrüßt.<br />

Wir erläuterten nochmals unser Vorhaben und erklärten den Sinn unserer Befragung.<br />

Daraufhin leiteten wir zum Interview über.<br />

Wir ließen die <strong>Geschwister</strong> zunächst einen kurzen Fragebogen <strong>zur</strong> familiären<br />

<strong>Situation</strong> ausfüllen. (Diesen finden Sie im Anhang als Anlage 3.) Dadurch hatten<br />

wir einen lockeren Einstieg und kamen leicht ins Gespräch über das Thema.<br />

Bevor wir <strong>mit</strong> dem Interview begannen, fragten wir unsere Interviewpartner, ob<br />

sie da<strong>mit</strong> einverstanden wären, wenn wir ein Tonband <strong>mit</strong>laufen lassen würden.<br />

Dem stimmten alle zu.<br />

Anschließend versicherten wir den <strong>Geschwister</strong>n nochmals, dass alle Daten nur<br />

in anonymisierter Form verwendet und weiter gegeben werden.<br />

Wir versuchten nun im Gespräch eine lockere und vertraute Atmosphäre zu<br />

schaffen, so dass ein Vertrauensverhältnis entstehen konnte. Sehr wichtig war<br />

uns auch ein sensibler Umgang <strong>mit</strong> den Bedürfnissen und Empfindungen <strong>der</strong><br />

Interviewpartner. Wir waren während des Interviews sehr aufmerksam, um auf<br />

entstehende Stimmungen eingehen und reagieren zu können. Teilweise kam es<br />

auch vor, dass wir einen Interviewpartner wie<strong>der</strong> auf die richtige Frage lenken<br />

mussten, wenn er zu sehr <strong>von</strong> <strong>der</strong> Fragestellung abgewichen war.<br />

Am Ende des Interviews gaben wir unseren Interviewpartnern die Möglichkeit,<br />

noch etwas zu ergänzen o<strong>der</strong> zu berichten, was ihnen wichtig erschien.<br />

Oft entstand nach dem Interview noch ein Gespräch über unsere Arbeit. Es<br />

wurde nun noch einmal genauer gefragt, wie wir überhaupt auf dieses Thema<br />

gekommen sind und was uns dabei wichtig sei. Die meisten Interviewpartner<br />

interessierten sich sehr für unsere Ergebnisse und waren überrascht über<br />

einige Tendenzen, die sich für uns im Laufe <strong>der</strong> Interviews abgezeichnet hatten.<br />

Gelegentlich bat man uns, unsere Arbeit nach Fertigstellung lesen zu dürfen.<br />

65


Zum Schluss möchte ich festhalten, dass alle befragten Personen ganz „tolle“<br />

Interviewpartner waren. Überall wurden wir sehr herzlich begrüßt und man<br />

stand unserem Vorhaben <strong>mit</strong> großem Interesse und Begeisterung gegenüber.<br />

Alle Interviewpartner haben sehr offen und ausführlich über ihre teils sehr<br />

intimen und persönlichen Familienverhältnisse gesprochen, wofür wir uns<br />

nochmals ganz herzlich bedanken möchten. Dies ist für uns bei weitem keine<br />

Selbstverständlichkeit und wir waren sehr erfreut darüber, dass alle Interviewpartner<br />

das Gefühl hatten, so offen <strong>mit</strong> uns sprechen zu können. Ein bisschen<br />

sind wir auch stolz darauf, dass es uns gelungen ist, bei allen Interviewterminen<br />

eine solche Gesprächssituation entstehen zu lassen, dass sich die jeweiligen<br />

Interviewpartner wohl gefühlt haben. Dies war nicht immer leicht, da wir teilweise<br />

vier Interviews an einem Tag hatten, wodurch es uns manchmal etwas<br />

schwer fiel, sich immer wie<strong>der</strong> auf einen neuen <strong>Menschen</strong> und dessen Geschichte<br />

einzulassen. Insgesamt ist uns dies jedoch, denke ich, recht gut gelungen<br />

und wir konnten überall sehr interessante und aufschlussreiche Gespräche<br />

führen.<br />

Bei einer erneuten Befragung würden wir allerdings darauf achten, an einem<br />

Tag nicht mehr als drei Interviewtermine anzusetzen, da<strong>mit</strong> es einem nicht so<br />

schwer fällt, auch dem letzten Interviewpartner die volle Aufmerksamkeit und<br />

Konzentration zu schenken.<br />

66


8. Auswertung<br />

Im folgenden Teil stellen wir die Ergebnisse unserer Befragung dar. Hierzu<br />

greifen wir unsere eingangs entwickelten Thesen erneut auf. Wir werden überprüfen,<br />

ob sich die jeweiligen Thesen durch die Aussagen unserer Interviewpartner<br />

bestätigen lassen o<strong>der</strong> nicht. Da<strong>mit</strong> eine genauere Vorstellung <strong>von</strong> den<br />

Ausführungen <strong>der</strong> Befragten möglich ist, werden einige Ausschnitte aus den<br />

Interviews wie<strong>der</strong>gegeben. Die Namen <strong>der</strong> Interviewpartner wurden dabei <strong>von</strong><br />

uns geän<strong>der</strong>t, so dass <strong>der</strong>en Anony<strong>mit</strong>ät gewahrt bleibt.<br />

Folgende Abkürzungen wurden in den Interviewabschriften verwendet:<br />

B: Befragte/r<br />

I: Interviewerin<br />

P: Protokollantin<br />

8.1. Familiensituation<br />

8.1.1. These 1: Eigene Ablösung vom Elternhaus<br />

Die altersentsprechende Ablösung vom Elternhaus im Jugendalter wird durch<br />

die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation beeinflusst (vorzeitig o<strong>der</strong> verzögert).<br />

Schon die Auswertung unserer ersten These lieferte uns überraschende Ergebnisse,<br />

denn lediglich drei <strong>der</strong> 25 Befragten gaben an, dass die Ablösung vom<br />

Elternhaus durch ihre spezielle <strong>Geschwister</strong>situation beeinflusst wurde.<br />

Von diesen drei Personen konnte einer auf die Frage, inwiefern diese Beeinflussung<br />

stattfand, keine genauen Angaben machen, während die übrigen beiden<br />

uns durchaus Gründe nennen konnten.<br />

Beispiel 1:<br />

I: Ähm, inwiefern denkst du hat jetzt eure spezielle <strong>Geschwister</strong>situation deine<br />

eigene Ablösung vom Elternhaus beeinflusst? Früher, später, wie auch immer?<br />

B: Mhm, des kann man, ja des ist ne längere Geschichte, also meine Eltern haben<br />

irgendwann keine Lust mehr gehabt, Patrik immer <strong>von</strong> Hamburg am<br />

67


Bodensee immer abzuholen, weil ihnen dieser Weg zu weit war und dann<br />

haben sie irgendwann gemerkt, es wäre eigentlich schön, wenn wir in <strong>der</strong> Nähe<br />

sind eben. Und mein Vater hatte eine Buchhandlung hier zusammen <strong>mit</strong> seinem<br />

Bru<strong>der</strong> und die lief nicht mehr so gut und dann haben sie, als Urs und ich schon<br />

aus <strong>der</strong> Schule raus waren, also da war ich 19, nach meinem Abi sind sie weggezogen<br />

und zwar sind sie eben nach Süddeutschland gezogen um für Patrik,<br />

um mehr in seine Nähe zu sein. Und dadurch im Grunde hatte ich hier zu<br />

Hause, hier in Hamburg kein zu Hause mehr, weil meine Eltern haben das<br />

Haus verkauft und so und ich, ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mich so abnabeln<br />

musste, oft ist es ja nur, dass man noch ein Zimmer zu Hause hat und<br />

dann kommt man noch <strong>zur</strong>ück und dann ist da noch ein Zimmer und das Zuhause<br />

ist noch da, des war bei mir aber nicht so und des hatte natürlich auch<br />

<strong>mit</strong> Patrik zu tun, nicht nur <strong>mit</strong> <strong>der</strong> beruflichen Entscheidung meiner Eltern o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> beruflichen Laufbahn, son<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Patrik zu tun und das war bei mir so das<br />

gleiche Thema, meine Eltern waren froh, dass ich alles für mich alleine geplant<br />

hatte. Ich hatte mein Studium, was, das war mir klar, was ich machen wollte, ich<br />

habe das auch alles selber in die Hand genommen und das ist bestimmt so ne<br />

Sache, die, die sich sonst an<strong>der</strong>s entwickelt hätte.<br />

I: Und du bist dann alleine hier in Hamburg geblieben?<br />

B: Ja, ich hab dann ein Jahr für die Aufnahmeprüfung an <strong>der</strong> Musikhochschule<br />

geübt und hab da erst mal bei meiner Großmutter o<strong>der</strong> bei meinen Großeltern<br />

gewohnt, war natürlich auch ein bisschen Familie, aber ich glaub, die Ablösung<br />

vom Elternhaus war eben auch durch die Behin<strong>der</strong>ung meines Bru<strong>der</strong>s beeinflusst.<br />

Ich hab da...<br />

I: Sonst wärst du wahrscheinlich noch zu Hause geblieben...<br />

B: Dann wäre ich wahrscheinlich noch zu Hause geblieben, ja, so zwei, drei<br />

Jahre o<strong>der</strong> so.<br />

(vgl. Anhang, Interview 25)<br />

Zwei <strong>der</strong> Befragten sind <strong>der</strong> Meinung, dass ihre Ablösung sich an<strong>der</strong>s gestaltet<br />

hätte, wenn sie kein <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung haben würden.<br />

Neun <strong>Geschwister</strong> hatten nicht das Gefühl, dass dies irgendetwas an <strong>der</strong> <strong>Situation</strong><br />

geän<strong>der</strong>t hätte.<br />

Einer unserer Interviewpartner konnte nicht <strong>mit</strong> Sicherheit sagen, ob dies auf<br />

seine Ablösung Auswirkungen hatte, während die übrigen 13 zu dieser Frage<br />

keine Angabe machten.<br />

Beispiel 2:<br />

I: Ja, also denkst du schon, dass jetzt die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation irgendwie<br />

deine Ablösung auf jeden Fall beeinflusst hat vom Elternhaus?<br />

B: Das würd ich schon sagen, ja! Bei ihm ging ’s dann, er war <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Schule<br />

fertig und dann in <strong>der</strong> Lebensgemeinschaft, was auf jeden Fall das Beste für ihn<br />

ist, denk ich und, ja allgemein Ablösungsprozess hat auf jeden Fall länger<br />

68


gedauert. Was ich auch jetzt im Nachhinein n bisschen bereue, aber... Aber,<br />

aber die Schuld nicht ihm gebe! Also, das gar nicht!<br />

I: Denkst du aber, das wär an<strong>der</strong>s gewesen, wenn du ’n nichtbehin<strong>der</strong>ten Bru<strong>der</strong><br />

gehabt hättest?<br />

B: Eben, das ist genau die Frage! Also, ich denke, dann hätte meine Mutter<br />

auch, also wenn das jetzt kein behin<strong>der</strong>ter Bru<strong>der</strong> gewesen wär, und er wär <strong>mit</strong><br />

neunzehn auch ausgezogen vor mir, würd' sagen, dann hätte meine Mutter also<br />

wahrscheinlich nicht so ne große Aufgabe ich meine, viel Arbeit <strong>mit</strong> ihm gehabt<br />

und das war halt schwer, ich denke, sie hätte vielleicht da auch irgendwie gearbeitet,<br />

o<strong>der</strong>... das war einfach dann schon, dass sie schon froh war, dass sie<br />

dann für einen o<strong>der</strong> für meinen Vater und mich noch Mittagessen kochen<br />

konnte. Da ist das auch ganz traditionell, meine Mutter Hausfrau.<br />

(vgl. Anhang, Interview 5)<br />

Unseren Ergebnissen zufolge lässt sich sagen, dass die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation<br />

in den meisten Fällen keine Auswirkungen auf die eigene Ablösung<br />

vom Elternhaus hatte.<br />

8.1.2. These 2: Belastung <strong>der</strong> Familie<br />

Bei ständiger Gegenwart des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung steht die gesamte<br />

Familie unter starker Belastung.<br />

Bei fast allen unserer Interviewpartner hat das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu<br />

Hause gelebt. Nur in einem Fall lebte <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in einer Einrichtung.<br />

Allerdings hatten wir vier Fälle, in denen das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung im<br />

Alter zwischen 12 und 14 Jahren in eine Einrichtung kam.<br />

Die Hälfte <strong>der</strong> Befragten empfand dies nicht als Belastung. Acht <strong>Geschwister</strong><br />

waren jedoch gegenteiliger Meinung. Für die übrigen war es teilweise belastend.<br />

Viele <strong>Geschwister</strong> sagen, dass sie dies heute allerdings an<strong>der</strong>s sehen. Sie<br />

empfinden es im Rückblick als Belastung, während sie es damals als Kind nicht<br />

„direkt“ so gesehen haben.<br />

Hier einige Beispiele, wie unterschiedlich die Belastung empfunden wurde:<br />

69


Beispiel 1:<br />

I: Hast du, ähm, kannst du vielleicht ein bestimmtes Beispiel nennen, was dir<br />

gerade einfällt o<strong>der</strong> insgesamt <strong>Situation</strong>en?<br />

B: Ähm, es war insofern ne Belastung, dass sie nie in <strong>der</strong> Lage war, sich wirklich<br />

so zu äußern und alles zu verstehen, des heißt, wenn wir uns unterhalten<br />

haben, war es immer so, dass sie ihren Beitrag natürlich auch leisten wollte,<br />

des heißt wir mussten, also ich musste mich immer sehr <strong>zur</strong>ück nehmen, bzw.<br />

die ganze Familie eigentlich. Also man konnte sich nicht einfach so unterhalten,<br />

son<strong>der</strong>n musste dann immer Rücksicht nehmen, darauf, dass sie jetzt ihren<br />

Beitrag auch leisten will, <strong>der</strong> dann natürlich nicht so zu dem tatsächlichen Kontext<br />

gepasst hat und ähm, sie hat dann halt auch oft die Witze nicht verstanden<br />

o<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> Ironie o<strong>der</strong> so was sowieso nicht und überhaupt die Inhalte oft nicht<br />

verstanden und hat dann was völlig an<strong>der</strong>es gesagt und ähm, da musste man<br />

dann natürlich drauf eingehen. Also war es oft nicht möglich, dass wirklich so ne<br />

richtige Unterhaltung statt gefunden hat. Also ich denke, das ist was. Und ähm,<br />

sie hat Zwänge, also sie ähm, was weiß ich, ich bin z.B. Allergikerin, ich niese,<br />

sie sagt Gesundheit, ich kann nicht Danke sagen, weil ich schon wie<strong>der</strong> niese,<br />

dann sagt sie 50 mal Gesundheit und hört nicht mehr auf da<strong>mit</strong>. Und ähm, also<br />

des sind einfach so Sachen, des ist einfach belastend, des ist einfach für alle<br />

sehr belastend, ja. Und insofern würde ich einfach sagen, Ja.<br />

(vgl. Anhang, Interview 15)<br />

Beispiel 2:<br />

I: Haben Sie das als Belastung empfunden, früher?<br />

B: Mhm, also ich muss dazu sagen, es war früher so, dass ich dann natürlich<br />

die Ältere war, mein Bru<strong>der</strong> ist ja jünger wie ich und da musste ich die Gisela<br />

irgendwo immer <strong>mit</strong>nehmen und da kann ich mich schon an manche <strong>Situation</strong><br />

erinnern, Geburtstag z.B. ich wollt meine Freundinnen einladen und die Gisela<br />

war noch dabei und da gibt es dann doch Kin<strong>der</strong>, die dann nicht damals gekommen<br />

sind, weil dann komischer Weise die Eltern <strong>von</strong> diesen Kin<strong>der</strong>n g’sagt<br />

haben, da könnt ihr doch nicht hingehen, des isch ansteckend und des, diese<br />

<strong>Situation</strong>, des war für mich schon ne schwere Belastung. Also da hab ich schon<br />

drunter gelitten.<br />

(vgl. Anhang, Interview 19)<br />

Beispiel 3:<br />

I: Können Sie da ein paar Beispiele nennen, die Sie konkret belastend fanden?<br />

B: Äh, zum Beispiel war das so, dass mein Bru<strong>der</strong>, ich glaube, über den Umgang<br />

<strong>mit</strong> geistig Behin<strong>der</strong>ten wusste man einfach zu <strong>der</strong> Zeit noch nicht sehr<br />

viel, aber meine Mutter war <strong>mit</strong> ihm in Bethel gewesen und da ist ja auch ein<br />

Kin<strong>der</strong>krankenhaus und so und da hieß es dann zum Beispiel, ja um die Entwicklung<br />

<strong>von</strong> ihm zu för<strong>der</strong>n, wäre es sinnvoll, dass er also viel Nähe und<br />

Wärme erlebt, und dann wurde das eben so umgesetzt, ob das nun <strong>der</strong> Rat <strong>von</strong><br />

diesem Professor war, weiß ich nicht, aber jedenfalls wurde es so umgesetzt,<br />

dass er also zum Beispiel in meinem Zimmer schlief. Und letztendlich ich als<br />

Kind schon auch Kin<strong>der</strong>mädchen war. O<strong>der</strong> die Nachtschwester o<strong>der</strong> wie auch<br />

70


immer und das war natürlich sagen wir mal so, in einem Haus, wo man so<br />

denkt, je<strong>der</strong> hat sein eigenes Zimmer und es gab auch Personal, war das dann<br />

schon ungewöhnlich.<br />

(vgl. Anhang, Interview 24)<br />

Zudem gaben die meisten <strong>der</strong> Befragten an, die Zusatzbelastung ihrer Eltern<br />

bemerkt zu haben. Sechs unserer Interviewpartner spürten diese nicht und eine<br />

Person machte keine Angaben.<br />

Beispiel 4:<br />

I: Hmm. Hast du die Zusatzbelastung <strong>von</strong> deinen Eltern oft gespürt?<br />

B: Ja, wenn halt so Phasen warn, wo’s irgendwie dramatisch dann war, o<strong>der</strong><br />

so, o<strong>der</strong> wo sie ham müssen wie<strong>der</strong> zu irgend'ner Untersuchung o<strong>der</strong> so, da<br />

hat man dann schon g'merkt, dass einfach n Druck da isch und, und die<br />

Angscht, dass jetzt auch das gut geht... Und, ja das war ja einmal so, da hat<br />

man ihn ja so operiert am Rücken, das war dann scho schlimmer. Da ging’s <strong>der</strong><br />

Mama dann scho richtig schlecht, da hascht dann scho einfach Angscht `kriegt<br />

auch. Ob alles gut geht und...<br />

(vgl. Anhang, Interview 11)<br />

Zusammenfassend kann man festhalten, dass zwar die Hälfte <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

auf die direkte Frage nach <strong>der</strong> Belastung angaben, diese nicht gespürt zu haben,<br />

fast alle jedoch aussagten, dies <strong>mit</strong> zunehmendem Alter an<strong>der</strong>s zu empfinden.<br />

Heute sind sie <strong>der</strong> Meinung, dass die <strong>Situation</strong> durchaus belastend war,<br />

dies jedoch keinen negativen Einfluss auf ihre Entwicklung hatte. Ebenso gaben<br />

fast alle an, die Zusatzbelastung <strong>der</strong> Eltern deutlich gespürt zu haben.<br />

Abschließend kann man sagen, dass die Gegenwart des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

für die gesamte Familie eine Belastung darstellte.<br />

8.1.3. These 3: Familie rückt enger zusammen<br />

Durch die Behin<strong>der</strong>ung rückt die Familie enger zusammen.<br />

Neun <strong>der</strong> <strong>von</strong> uns Befragten hatten das Gefühl, dass ihre Familie durch die Behin<strong>der</strong>ung<br />

ihres <strong>Geschwister</strong>s enger <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> verbunden ist. Die Hälfte gab<br />

an, dass sie dies nicht empfinden, o<strong>der</strong> dass das da<strong>mit</strong> nichts zu tun hätte. Drei<br />

unserer Interviewpartner waren sich nicht sicher und meinten, „sie könnten das<br />

so nicht sagen“. Eine Person machte keine Angabe dazu.<br />

71


Folgen<strong>der</strong> Ausschnitt aus einem unserer Interviews zeigt, wie die Familie zusammen<br />

wachsen kann:<br />

Beispiel 1:<br />

I: Mhm. Hast du denn das Gefühl, dass eure Familie dadurch enger <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong><br />

verbunden ist, durch die Behin<strong>der</strong>ung <strong>von</strong> <strong>der</strong> Nina?<br />

B: Mhm, ähm, ich denk schon, weil ähm, also wenn ich jetzt überleg, ja also es<br />

gab jetzt bestimmte Zeiten, wo es <strong>der</strong> Nina sehr schlecht ging und wo dann halt<br />

man merkt, wie arg die an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> Familie so zusammen halten und auch sich<br />

alle gleich, alle gemeinsam darum sorgen und ähm, ja, wie dann halt alle so an<br />

einem Strang ziehen. Weil Nina halt Familien<strong>mit</strong>glied ist und alle lieben sie und<br />

alle sind da.<br />

(vgl. Anhang, Interview 18)<br />

Eher negativ hat es diese Befragte erlebt:<br />

Beispiel 2:<br />

I: Ja, hast du denn das Gefühl, dass deine Familie durch die Behin<strong>der</strong>ung deiner<br />

Schwester enger <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> verbunden ist?<br />

B: Nein.<br />

I: Dadurch nicht.<br />

B: Eher umgekehrt, ja, also ich denke auch, dass des, also, wenn ich das so,<br />

ich hab das ja nur <strong>mit</strong>bekommen bei sehr vielen Familien und ähm, ich denke,<br />

du hast entwe<strong>der</strong> dieses Phänomen, dass es die Familie sprengt, ja, o<strong>der</strong> dass<br />

es die Familie eben ganz eng zusammen schweißt o<strong>der</strong> dass sie es eben<br />

sprengt auf eine Art und Weise, die eben nicht dazu führt, dass die Eltern sich<br />

scheiden lassen, aber dass es ähm, also bei uns ist immer alles dieses Deckmäntelchen<br />

Harmonie, ja, und Dinge werden einfach nicht angesprochen, aber<br />

deswegen ist die Familie trotzdem gesprengt.<br />

(vgl. Anhang, Interview 15)<br />

Bei vielen Familien hatten wir das Gefühl, dass eine sehr enge Verbundenheit<br />

zwischen den Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>n besteht. Ein großer Teil unserer Interviewpartner<br />

war jedoch nicht <strong>der</strong> Meinung, dass dies etwas <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

ihres <strong>Geschwister</strong>s zu tun hat.<br />

Aufgrund dieser Aussagen können wir diese These nicht bestätigen, obwohl wir<br />

in den Familien oft eine starke Zusammengehörigkeit erlebten.<br />

72


8.1.4. These 4: Familiengröße<br />

Die Familiengröße ist ein wichtiger Faktor dafür, wie die <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> ihrer<br />

beson<strong>der</strong>en Familiensituation zu Recht kommen.<br />

Sieben <strong>der</strong> <strong>von</strong> uns befragten <strong>Geschwister</strong> haben außer ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung keine weiteren Brü<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Schwestern. Etwas mehr als die Hälfte<br />

hat insgesamt zwei <strong>Geschwister</strong>. Drei Interviewpartner haben neben ihrem <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung noch zwei weitere <strong>Geschwister</strong>kin<strong>der</strong>. In nur einem<br />

Fall hatte die Befragte noch mehr <strong>Geschwister</strong>. Also hatten 18 <strong>der</strong> Befragten<br />

die Möglichkeit zum Austausch <strong>mit</strong> ihren <strong>Geschwister</strong>n.<br />

Da<strong>von</strong> haben sich jedoch nur fünf tatsächlich <strong>mit</strong> ihren <strong>Geschwister</strong>n ausgetauscht.<br />

Die übrigen gaben an, dies in ihrer Kindheit nicht getan zu haben. Von<br />

diesen hat sich allerdings ein Drittel später, im Erwachsenenalter <strong>mit</strong> ihren <strong>Geschwister</strong>n<br />

ausgetauscht.<br />

Von den Befragten, die sich <strong>mit</strong> ihren <strong>Geschwister</strong>n ausgetauscht haben, gaben<br />

drei an, Rückhalt bei diesen gefunden zu haben. Die übrigen fanden durch den<br />

Austausch keinen Rückhalt o<strong>der</strong> machten dazu keine Angabe.<br />

Insgesamt haben sich jedoch nur zwei <strong>der</strong> Befragten weitere <strong>Geschwister</strong> gewünscht,<br />

um sich austauschen zu können. Die restlichen hatten kein Bedürfnis<br />

danach o<strong>der</strong> machten keine weiteren Angaben dazu.<br />

Auch <strong>von</strong> den Interviewpartnern, die keine an<strong>der</strong>en <strong>Geschwister</strong> hatten,<br />

wünschte sich nur einer weitere zum Austausch. Die übrigen sechs hatten diesen<br />

Wunsch nicht.<br />

In diesem Fall ist es für uns nicht möglich, detaillierte Ergebnisse zu präsentieren.<br />

Denn <strong>von</strong> den fünf <strong>Geschwister</strong>n, die angaben, sich über die <strong>Situation</strong> ausgetauscht<br />

zu haben, fanden nur drei dadurch Rückhalt, so dass dies keinen<br />

Rückschluss <strong>von</strong> <strong>der</strong> Familiengröße auf die Verarbeitung <strong>der</strong> Familiensituation<br />

zulässt.<br />

73


8.2. Eigene <strong>Situation</strong><br />

8.2.1. These 5: Beeinflussung des eigenen Lebens<br />

Die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behinde-<br />

rung können Selbstkonzept und Lebensziele beeinflussen.<br />

Die Antworten zu dieser Frage entsprachen durchaus unseren Erwartungen,<br />

denn 23 <strong>der</strong> befragten Personen sagten, dass ihr Leben durch ihr <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Sicherheit beeinflusst wurde.<br />

Lediglich eine Person gab an, dass dies in keiner Weise Einfluss auf ihr Leben<br />

hatte. Eine <strong>der</strong> Befragten machte dazu keine Angabe.<br />

Wir befragten unsere Interviewpartner zu verschiedenen Lebensbereichen und<br />

erhielten folgende Ergebnisse:<br />

Partnerwahl:<br />

Für 15 <strong>der</strong> Befragten ist die Einstellung des Partners gegenüber dem <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung ein sehr wichtiger Faktor. Die Vorstellung, <strong>mit</strong> einem<br />

<strong>Menschen</strong> zusammen zu leben, <strong>der</strong> sich <strong>mit</strong> diesem Thema nicht auseinan<strong>der</strong><br />

setzen möchte, ist für sie undenkbar.<br />

Fünf Personen dagegen empfanden dies als nicht sehr wichtig, während die<br />

übrigen fünf dazu keine Angabe machten.<br />

Beispiel 1:<br />

I: Aber könntest du dir ’ne Freundin vorstellen, die ’n Problem <strong>mit</strong> deinem Bru<strong>der</strong><br />

hat?<br />

B: Hehe... (lacht)<br />

I: O<strong>der</strong> die schon voreingenommen ist, die generell ein Problem <strong>mit</strong> <strong>Menschen</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung hat?<br />

B: Das ist ne schwere Frage. Also, ich glaub, die würd' dann generell nicht in<br />

mein Gesamtbild passen sozusagen, ja. Wenn das so jemand ist. Also, es ist,<br />

glaub ich schwer, jemanden zu finden, <strong>der</strong>, ja weiß nicht, kann ich mir eigentlich<br />

nicht vorstellen, dass mir so ne Person als Gesamtbild gefallen würde, die so<br />

was total ablehnt, o<strong>der</strong>, das kann ich mir nicht vorstellen!<br />

(vgl. Anhang, Interview 5)<br />

74


Beispiel 2:<br />

I: Hat sie deine Partnerwahl auch beeinflusst? Ähm, kannst du dir, wie wär das<br />

jetzt gewesen, also... Ja, doof zu sagen. Einen Partner, <strong>der</strong> einfach Probleme<br />

da<strong>mit</strong> gehabt hätte, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung allgemein, o<strong>der</strong> so, kannst du dir das<br />

vorstellen? O<strong>der</strong> auch Freunde, wenn du jemanden kennen lernst und du<br />

merkst dann, <strong>der</strong>... also, das geht gar nicht <strong>mit</strong> dem...<br />

B: Also, ich glaub, das könnte ich mir jetzt wirklich schlecht vorstellen. Hab ich<br />

ja schon erlebt, ich hab ’nen Bekannten, <strong>der</strong> hat ganz wenig bisher nur <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ten<br />

zu tun gehabt, <strong>der</strong> ist auch <strong>der</strong> Anja gegenüber immer ein bisschen<br />

gehalten, so, <strong>der</strong> weiß net so richtig, wie <strong>der</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> umgehen soll.<br />

Aber, also, ich sag ja immer: Ganz normal, wie <strong>mit</strong> ’nem ganz normalen <strong>Menschen</strong>.<br />

Und die will auch nur ganz normal sein, die will hier keine Son<strong>der</strong>rolle bekommen.<br />

Also, die hat schon Son<strong>der</strong>rolle genug, also die sagt immer: „Ich bin<br />

schon... Behandelt mich ganz normal!“ Ich glaub, die hat auch, die hat da<strong>mit</strong><br />

echt ’n Problem, also, ich will, dass sie ganz normal behandelt wird wie... <strong>mit</strong><br />

euch. Also, ganz normal, das sagt die auch immer: „Ich will hier keine Son<strong>der</strong>stellung!“<br />

Und deshalb, also ich könnt mir das glaub ich schlecht vorstellen.<br />

(vgl. Anhang, Interview 2)<br />

Berufswahl:<br />

Neun <strong>der</strong> Befragten Personen konnten <strong>mit</strong> Sicherheit sagen, dass ihre Berufswahl<br />

durch ihr Leben <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung beeinflusst wurde,<br />

beziehungsweise dass sie deswegen einen Beruf gewählt haben, <strong>der</strong> in irgendeiner<br />

Weise in die soziale Richtung tendiert.<br />

Beispiel 3:<br />

I: Ähm, denkst du, dass die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> deinem<br />

Bru<strong>der</strong> dein Leben beeinflusst haben?<br />

B: Ja klar! Also, ich glaub, das kommt nicht <strong>von</strong> ungefähr, dass meine Mutter<br />

nach sechzehn Jahren Gilbert angefangen hat, Son<strong>der</strong>pädagogik zu studieren<br />

und, und ich nach, ähm, wie alt war ich? Ich [...] Sozialpädagogik studiert hab,<br />

ich denk, das hat sehr wohl irgendwo seine Gründe dafür.<br />

(vgl. Anhang, Interview 20)<br />

Beispiel 4:<br />

B: In welchen Bereichen? Also, ich denk, <strong>von</strong> <strong>der</strong>, vom sozialen Engagement<br />

her hat man einfach ne ganz andre, also, wir ham alle soziale Berufe zum Beispiel,<br />

ähm dann mein Verhältnis gegenüber Behin<strong>der</strong>ten allgemein ist ganz an<strong>der</strong>s<br />

wie jetzt jemand, wo so was gar net kennt, o<strong>der</strong> mein Verhältnis <strong>zur</strong> Abtreibung<br />

zum Beispiel uns solche Sache, denk ich, prägt einen unheimlich.<br />

(vgl. Anhang, Interview 10)<br />

75


Weitere neun Personen waren <strong>der</strong> Meinung, dass die Wahl ihres Berufes nichts<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s zu tun hat, während einer nicht genau<br />

sagen konnte, ob dies da<strong>mit</strong> in Zusammenhang steht. Sechs Personen machten<br />

dazu keine Angabe.<br />

Beispiel 5:<br />

I: Auch beruflich?<br />

B: Nöö, beruflich, des sicher nicht nee, weil ich hab ja nichts in die Richtung<br />

Sozialpädagogik gemacht. Also meinen Beruf hab ich gewählt, weil des isch<br />

des, was ich kann, also so <strong>von</strong> <strong>der</strong> Schule her, hat sich des so entwickelt, dass<br />

ich ja, des machen wollt und auch mach.<br />

(vgl. Anhang, Interview 17)<br />

Beispiel 6:<br />

I: Auch im Bereich Ihres Berufes z.B.? Ich weiß nicht, was sind Sie?<br />

B: Ich bin selbstständige Buchhalterin.<br />

I: Also haben Sie <strong>mit</strong> so 'nem sozialen Beruf gar nichts dann zu tun?<br />

B: Nee, ich war vorher im Verkauf tätig und bin jetzt selbst seit 25 Jahren bin ich<br />

jetzt selbst, also selbstständig bin ich erst seit drei Jahren, aber war schon immer<br />

dann im Bereich Buchhaltung tätig.<br />

I: Mhm.<br />

B: Also ich hab da<strong>mit</strong> gar nichts zu tun, ich hab früher mal ein bisschen aufm<br />

Lehen äh, aufm Föhrenbühl ausgeholfen und aber, des hab ich dann g’merkt,<br />

des kann ich net, da hab ich viel zu viel Mitleid g’habt, also des war für mich, ich<br />

wollt ’s zwar mal probieren, aber des war nicht mein Bereich.<br />

(vgl. Anhang, Interview 19)<br />

Freunde:<br />

Auf dieses Thema wurde nicht in allen Interviews eingegangen, was dazu führt,<br />

dass uns hierzu <strong>von</strong> 16 <strong>der</strong> Befragten keine Angaben vorliegen. Trotzdem können<br />

wir sagen, dass sieben unserer Interviewpartner die Einstellung ihrer<br />

Freunde gegenüber ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung sehr wichtig ist. Diese<br />

Personen gaben an, dass <strong>Menschen</strong>, die ihrem <strong>Geschwister</strong> nicht offen entgegentreten,<br />

für sie als Freunde nicht in Frage kämen.<br />

Für zwei <strong>der</strong> Befragten ist dieser Faktor jedoch nicht <strong>von</strong> Bedeutung.<br />

76


Mobilität:<br />

Für vier <strong>der</strong> befragten Personen käme es nicht in Frage, für längere Zeit im<br />

Ausland o<strong>der</strong> an einem Ort zu leben, <strong>der</strong> zu weit <strong>von</strong> ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung entfernt ist. Sie möchten in <strong>der</strong> Nähe ihres <strong>Geschwister</strong>s leben,<br />

um für es da zu sein, wenn sie gebraucht werden.<br />

Fünf Personen gaben an, dass dies für sie keine Rolle spielt, denn sie sind <strong>der</strong><br />

Meinung, dass ihr <strong>Geschwister</strong> dort wo es ist, gut aufgehoben ist und sie gehen<br />

da<strong>von</strong> aus, dass die Eltern die anfallenden Betreuungsaufgaben übernehmen,<br />

solange es ihnen möglich ist.<br />

Beispiel 7:<br />

I: Und im Bereich <strong>der</strong> Mobilität, wenn du zum Beispiel im Ausland beruflich zu<br />

tun hättest, käm das für dich in Frage? Könntest du das wegen, also deinem<br />

Bru<strong>der</strong>? O<strong>der</strong> würdest du in <strong>der</strong> Nähe bleiben wollen, hier in Deutschland...?<br />

B: Och, ich würd' auch ins Ausland gehen, weil er ist gut aufgehoben, ich weiß,<br />

dass er’s gut hat, ich weiß, dass er sehr gut versorgt ist und ähm, klar, solang<br />

meine Eltern noch leben, wird das Ganze auch noch abgerundet, dadurch, dass<br />

er nach Hause kann. Und wenn meine Eltern nicht mehr leben, dann wird es<br />

sicherlich `n Stück weit an<strong>der</strong>s aussehen, aber das bezieht sich hauptsächlich<br />

auf die Ferien, auf freie Tage und, und ich sag mal, da würd' ich auch kein<br />

Problem sehen, ihn an den Tagen zu holen, auch wenn’s in Brasilien ist. Das ist<br />

dann halt ’n Flug, okay.<br />

(vgl. Anhang, Interview 22)<br />

Einer <strong>der</strong> Befragten hatte sich vorher überhaupt noch keine Gedanken darüber<br />

gemacht und ist deswegen nicht sicher, ob dies für ihn eine Rolle spielt. Die<br />

übrigen 15 Personen machten hierzu gar keine Angabe.<br />

Abschließend kann man festhalten, dass die Erfahrungen aus dem Zusammenleben<br />

<strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung unsere Interviewpartner in<br />

sämtlichen Bereichen ihres Lebens beeinflusst haben und auch heute noch beeinflussen.<br />

77


8.3. Beziehung zum <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

8.3.1. These 6: Wut, Neid und Rücksichtnahme<br />

Wut auf <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung wegen:<br />

• „seltsamen“ Verhaltens des <strong>Geschwister</strong>s<br />

• Neid auf die Gunst <strong>der</strong> Eltern<br />

• Rücksichtnahme<br />

20 <strong>der</strong> befragten Personen konnten eindeutig sagen, dass sie sich über ihr <strong>Geschwister</strong><br />

geärgert haben, was uns allerdings nicht sehr überraschte. Für sie<br />

war <strong>der</strong> gelegentliche Ärger über ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung völlig normal,<br />

denn sie sind <strong>der</strong> Meinung, dass dies <strong>mit</strong> gesunden <strong>Geschwister</strong>n in keinem<br />

Fall an<strong>der</strong>s gewesen wäre.<br />

Die übrigen fünf Befragten konnten sich an keine <strong>Situation</strong> erinnern, in denen<br />

sie Ärger über ihr <strong>Geschwister</strong> empfanden. Sie gaben zwar an, dass dies bestimmt<br />

auch vorgekommen sei, maßen dem jedoch so wenig Bedeutung zu,<br />

dass sie keine konkreten Fälle wie<strong>der</strong>geben konnten.<br />

Beispiel 1:<br />

I: Mhm, jetzt kommt die Frage: Gab es <strong>Situation</strong>en konkret in denen Sie sich<br />

geärgert haben über Ihre Schwester, wo Sie wütend waren? Wissen Sie noch<br />

welche?<br />

B: Ja mir sind so ein paar eingefallen. Also sie ist, sie ist zu einer Son<strong>der</strong>schule<br />

gegangen, also, wir sind eben <strong>zur</strong> Schule gegangen und dann mussten wir sie<br />

da danach abholen und sie hatte dann so, ja so genannte Ticks, sie hatte auch<br />

ihre Fixierungen irgendwann dann, ja und also dann zum Beispiel Leute <strong>mit</strong><br />

Verbänden, des konnte was ganz kleines sein unter <strong>der</strong> Strumpfhose o<strong>der</strong> so,<br />

des hab ich überhaupt nicht gesehen und sie dann <strong>von</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong><br />

Kreuzung konnte es sein, dass sie dann über die Kreuzung schießt, ne. O<strong>der</strong><br />

Leuten dann die Sonnenbrille runtergrabscht und mir war das natürlich total<br />

peinlich, dann und dann musste man das irgendwie erklären, weil man ihr ihre<br />

Behin<strong>der</strong>ung auf den ersten Blick so nicht ansieht, also des sicherlich auch<br />

noch erschwerend, sag ich mal, da hat man noch so ein Bonus, also wenn des<br />

irgendwie zu sehen ist, ja und sie sieht erst mal so ziemlich normal aus ne und<br />

denn machte sie eben Sachen, die einfach unverschämt waren, die einfach in<br />

die Privatsphäre <strong>von</strong> Leuten eingreift und da musste man das erklären als, na<br />

ja, wo man auch noch ein kleiner Hempf ist und mir war das oberpeinlich und<br />

gleichzeitig hatte ich auch immer, also vor den Leuten, wenn es dann dazu gekommen<br />

ist und an<strong>der</strong>erseits hatte ich immer Angst, weil es manchmal einfach<br />

78


so schnell ging, und dann eben, wenn man sich des vorstellt, sie läuft auf die<br />

an<strong>der</strong>e Seite einer Kreuzung, einfach bei Rot über die Ampel ne, also da kannte<br />

sie nichts, da hat sie nicht mehr auf irgendein Auto geguckt o<strong>der</strong> so, son<strong>der</strong>n da<br />

drüben stand einer und dem wollte sie nun an seinen Verband o<strong>der</strong> die Brille<br />

o<strong>der</strong> ja und dann ist sie da hingestürzt und dann musste man da hinterher o<strong>der</strong><br />

sie da<strong>von</strong> abhalten o<strong>der</strong> des vorher sehn, ne. Und dann im Zusammenleben<br />

natürlich auch, ja wenn man des Zimmer teilt und dann hat sie praktisch meine<br />

Privatsachen nicht respektiert ne, also ich weiß, ich hatte <strong>von</strong> meinem ersten<br />

Geld einen Radio gekauft o<strong>der</strong> Kassettenrekor<strong>der</strong>, ich hab immer gesagt, die<br />

darf da nicht rangehen und dann ist sie natürlich rangegangen ja. Ja gut, so,<br />

aber des ist sicherlich auch ne normale <strong>Situation</strong>, die immer <strong>mit</strong> jüngeren <strong>Geschwister</strong>n<br />

passiert, nur noch ein bisschen verstärkt eben.<br />

(vgl. Anhang, Interview 1)<br />

Nun wollten wir natürlich herausfinden, ob die <strong>Geschwister</strong> ihren Ärger in den<br />

betreffenden <strong>Situation</strong>en auch gezeigt haben o<strong>der</strong> ob sie aus Rücksichtnahme<br />

dementsprechend <strong>zur</strong>ückhaltend waren.<br />

Von den 20 Personen, die angaben, sich durchaus über ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung geärgert zu haben, haben 16 ihrem Ärger dann auch Ausdruck<br />

verliehen und versucht, ihren eigenen Standpunkt zu vertreten.<br />

Beispiel 2:<br />

I: Hmm. Und du hast das dann auch gezeigt, dass dich das geärgert hat? O<strong>der</strong><br />

hast du dich eher da <strong>zur</strong>ückgehalten o<strong>der</strong> gehemmt gefühlt?<br />

B: (lacht) Gezeigt, ich würd' schon sagen, ja, also wir haben uns da grad letztens<br />

mal wie<strong>der</strong> drüber unterhalten, da gibt’s ja so ’n paar lustige Geschichtchen.<br />

Ähm, ich war dann teilweise ein bisschen bösartig auch: Guck mal, Steffen,<br />

ne süße kleine Hummel, willst du die nicht mal streicheln? (Alle lachen)<br />

(vgl. Anhang, Interview 22)<br />

Vier unserer Interviewpartner hatten da<strong>mit</strong> jedoch große Probleme und hielten<br />

sich stark <strong>zur</strong>ück, weil sie dachten, Rücksicht auf ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

nehmen zu müssen und dies außerdem in vielen Fällen <strong>von</strong> ihnen erwartet<br />

wurde.<br />

Beispiel 3:<br />

I: Aber haben Sie denn, wenn Sie dann so manchmal so negative Gefühle<br />

hatten o<strong>der</strong> auch Ihren Eltern gegenüber, dem Ausdruck verliehen o<strong>der</strong> eher<br />

gehemmt?<br />

B: Überhaupt nicht! Nee, nee, also ich hab dann ja einfach geguckt, dass ich<br />

mich <strong>mit</strong> meinen Büchern beschäftige o<strong>der</strong> dass man sich einfach wenn’s geht,<br />

absetzt. Und, ja, aber es war eigentlich nicht möglich, gell, in ner kleinen<br />

79


Wohnung, wo’s nur ein Kin<strong>der</strong>zimmer gibt, man kann sich da ganz schwer<br />

aus’m Weg gehen und ich wär ja auch gern, auch gerne in ne Jugendgruppe<br />

gegangen, o<strong>der</strong> so, ne, wo ich mal wirklich nur normale Leute um mich herum<br />

gehabt hätte, aber das, das war auch nicht möglich, wir sind innerhalb <strong>von</strong> drei<br />

Jahren zweimal umgezogen. Erst nach Köln, dann nach Süddeutschland, dann<br />

nach Neckarsulm und dann hatte man da auch genug zu tun, sich dann wie<strong>der</strong><br />

in ne neue Umgebung reinzufinden und dann, ja, war das lei<strong>der</strong> nicht möglich,<br />

also ich wär unheimlich gerne in ne Jugendgruppe reingegangen, das muss ich<br />

wirklich sagen. Ich hab mir das jetzt auch so überlegt, wo ich die Fragen da gesehen<br />

hab, es wäre hilfreich gewesen, auch für meinen eigenen Lebensweg,<br />

wenn ich da, ja einfach einen kleinen Ausgleich gehabt hätte, ja zu diesem behin<strong>der</strong>ten<br />

<strong>Geschwister</strong>.<br />

(vgl. Anhang, Interview 21)<br />

Als wir nach „seltsamen“ o<strong>der</strong> auffälligen Verhaltensweisen <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

unserer Interviewpartner fragten, waren wir sehr gespannt, <strong>von</strong> welchen Erlebnissen<br />

diese uns berichten können. Und tatsächlich sind die Empfindungen <strong>der</strong><br />

befragten <strong>Geschwister</strong> in solchen <strong>Situation</strong>en sehr unterschiedlich.<br />

Von den Befragten gaben sieben Personen an, sich überhaupt nicht an auffällige<br />

Verhaltensweisen ihres <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung erinnern zu können.<br />

Natürlich ist zu bedenken, dass die Behin<strong>der</strong>ung in diesem Fall oft <strong>von</strong> leichterer<br />

Art ist, deswegen ist sie häufig auch nicht auf den ersten Blick erkennbar.<br />

18 <strong>der</strong> befragten <strong>Geschwister</strong> konnten durchaus <strong>von</strong> solchen <strong>Situation</strong>en erzählen.<br />

Acht <strong>von</strong> diesen gaben an, sich über diese Verhaltensweisen ihres <strong>Geschwister</strong>s<br />

auch heute noch sehr zu ärgern, beziehungsweise, dass ihnen diese<br />

auch heute noch sehr unangenehm sind.<br />

Die übrigen zehn dagegen konnten nach eigenen Aussagen schon immer gut<br />

da<strong>mit</strong> umgehen. Sie erzählten, dass es sie nie gestört hat: „Es gehört einfach<br />

dazu. Ich stehe da drüber!“<br />

Beispiel 4:<br />

I: Kannst du dich an seltsame o<strong>der</strong> eigenartige Verhaltensweisen deiner<br />

Schwester erinnern, z.B. in <strong>der</strong> Öffentlichkeit o<strong>der</strong> so, die dich geärgert haben<br />

o<strong>der</strong> vielleicht auch peinlich waren dir?<br />

B: Ähm, also ich bin da nicht, also ich glaube, des ist was, was mich nicht so<br />

stört. Also einfach, weil ich eben so aufgewachsen bin, wie ich aufgewachsen<br />

bin. Also ich kann mich an sehr viele seltsame Verhaltensweisen erinnern, wobei<br />

ich sagen muss, es ist mir eigentlich nicht so peinlich, also o<strong>der</strong> war es<br />

vielleicht nicht, ich glaube, es fängt jetzt eher so an, weil ich so viel Distanz jetzt<br />

zu ihr habe, aber es war, früher war es mir eigentlich nicht so peinlich, also sie<br />

macht so Sachen, wie dass sie wild fremde Leute anspricht und sagt, ich hätt<br />

gern was <strong>von</strong> deinen Pommes o<strong>der</strong> so, o<strong>der</strong>, dass sie in aller Öffentlichkeit laut<br />

80


singt und durch die Gegend tanzt, also des sind einfach so Dinge, des macht<br />

sonst keiner, ja aber, des stört mich jetzt eigentlich gar nicht so groß. Also ich<br />

amüsiere mich immer eher über die an<strong>der</strong>en Leute, die sich dadurch gestört<br />

fühlen. Aber, also gut, eine <strong>Situation</strong> gab’s, da kam jemand zu Besuch, <strong>der</strong><br />

wollte mein Austausch, meine Austauschschülerin damals ähm, abholen und<br />

sie hat, war gerade auf <strong>der</strong> Toilette und hatte ihre Hose runter gezogen und ist<br />

dann so an die Tür gegangen und hat die aufgemacht. Da hab ich mich geniert.<br />

Das war mir unangenehm. Aber sonst eigentlich nicht.<br />

(vgl. Anhang, Interview 15)<br />

Beispiel 5:<br />

I: Ja. O<strong>der</strong> hast du so, ist dir aufgefallen, dass sie so eigenartige Verhaltensweisen,<br />

wo du so dachtest, ja, o<strong>der</strong> wo sie dich geärgert hat in <strong>der</strong> Öffentlichkeit,<br />

was dir auch mal unangenehm war o<strong>der</strong> so...?<br />

B: Also, so richtig, also, es passier’n schon halt manchmal Sachen, ich erinner’<br />

mich an letztes Jahr, da waren wir am Weihnachtsmarkt in Köln und da waren<br />

wir irgendwo bei Saturn o<strong>der</strong> so was, und, und da ist da grad <strong>der</strong> Akku <strong>von</strong> ihrem<br />

CI ausgefallen. Auf einmal sagt die TOTAL laut...<br />

I: Was is 'n CI?<br />

B: Hm, ein [Anmerkung schlecht verständlich] -Implantat hat die bekommen,<br />

eingesetzt.<br />

I: Ach so, was ihr...<br />

B: Ja genau, was ihr Hören verstärkt, sie hört Umweltgeräusche...<br />

I: Ach so, hmm.<br />

B: ... Sie hört Autos, und sich selbst, es ist ganz wichtig, dass sie ihre Sprache<br />

behält. Und dann passieren halt manchmal so peinliche Dinge, dann ist es ausgefallen,<br />

dann weiß sie überhaupt nicht, wie laut sie redet und dann stehen wir<br />

im Saturn und dann schreit die mich total laut an: „Heeeey!“, und ich guck die<br />

an, also, also alle Leute gucken, aber das ist halt Anja!<br />

(vgl. Anhang, Interview 2)<br />

Acht unserer Interviewpartner waren häufig neidisch auf ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung, etwa, weil die Eltern mehr Zeit in dessen Pflege und Betreuung<br />

investierten und sie den Eindruck hatten, selber zu kurz zu kommen o<strong>der</strong> aber<br />

weil sie das Gefühl nicht los wurden, dass ihr <strong>Geschwister</strong> in vielen <strong>Situation</strong>en<br />

Recht bekam und generell bevorzugt wurde.<br />

Beispiel 6:<br />

I: Mhm, gab es <strong>Situation</strong>en, in denen Sie neidisch waren auf Ihre Schwester?<br />

B: Ja gut, des, des, es waren schon <strong>Situation</strong>en, also ganz speziell, wenn <strong>Situation</strong>en,<br />

dass äh, sie was, also ich was erzählt habe und sie kam dann dazwischen,<br />

hat dazwischen erzählt und dann wurde ihr zugehört und meine<br />

81


Geschichte, da hat man einfach nicht mehr hingehört und das, ja, das hat mich<br />

schon, des hat mir schon gestunken.<br />

(vgl. Anhang, Interview 19)<br />

Die übrigen 17 <strong>Geschwister</strong> konnten keine konkreten <strong>Situation</strong>en nennen, in<br />

denen sie neidisch auf ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung waren.<br />

Bezüglich unserer Fragen zum Thema Rücksichtnahme bekamen wir, wie erwartet,<br />

sehr eindeutige Antworten. 20 <strong>der</strong> befragten <strong>Geschwister</strong> konnten sich<br />

noch sehr gut daran erinnern, dass diese häufig <strong>von</strong> ihnen erwartet wurde.<br />

Viele <strong>von</strong> ihnen nahmen zusätzlich auch deswegen Rücksicht, um ihre Eltern<br />

ein wenig zu entlasten.<br />

Beispiel 7:<br />

I: Hmm, inwiefern musstest du Rücksicht nehmen im Zusammenleben <strong>mit</strong> deinem<br />

Bru<strong>der</strong>?<br />

B: Also, das das größte Problem äh aus, aus meiner Sicht war, dass wir lange<br />

Zeit in einem Zimmer leben mussten. Und da ist natürlich Rücksicht an allen<br />

Ecken und Enden an <strong>der</strong> Tagesordnung. Und äh das hat wirklich zu Problemen<br />

geführt, zu größeren Problemen. Und ich hab damals auch n Riesentheater<br />

gemacht, ich weiß nicht mehr genau, wie’s im Detail war, aber irgendwann hat<br />

mir mein Vater den Kellerraum ausgebaut.<br />

P: Aber das war im Prinzip auch aus Platzgründen? Weil es gab kein an<strong>der</strong>es<br />

Zimmer, o<strong>der</strong>?<br />

B: Ja, die Wohnung hat einfach nicht mehr hergegeben. Küche. Bad und eins<br />

zwei drei Zimmer in <strong>der</strong> eigentlichen Wohnung, obwohl ’s eigentlich 'n halbes<br />

Haus war, ne halbe Etage <strong>von</strong> nem Zweifamilienhaus, aber waren eigentlich<br />

auch große Räume, aber eben zu wenig. Und den hab ich dann wie gesagt<br />

später bekommen, indem ich ’n Teil des, des Kellers ausgebaut bekommen<br />

habe <strong>von</strong> meinem Vater, aber bis dahin gab’s nur...<br />

I: Das hat schon eingeschränkt...? Klar, wenn man zusammen das Zimmer<br />

teilt...<br />

B: Das, das das fängt natürlich, das fängt natürlich generell da<strong>mit</strong> an, dass äh,<br />

wenn man Freunde <strong>mit</strong> nach Hause bringt, dass man im Prinzip nie seine Ruhe<br />

hat. In dem Alter denk ich, ist das schon wichtig, wenn man so sechs, sieben,<br />

acht ist o<strong>der</strong> so, ist das <strong>von</strong> Bedeutung. Später noch mehr gut, aber später hab<br />

ich das an<strong>der</strong>e Zimmer gehabt, weil dann äh wär’s denk ich noch viel schlimmer<br />

gewesen, aber...<br />

(vgl. Anhang, Interview 22)<br />

Beispiel 8:<br />

I: Hm, ja. Ähm ja, die nächste Frage passt auch, inwiefern musstest du, äh<br />

musst du im Zusammenleben <strong>mit</strong> deinem Bru<strong>der</strong> Rücksicht nehmen?<br />

82


B: Also, eigentlich hauptsächlich nur, wenn’s darum geht, wenn meine Eltern<br />

halt alleine wegwollten, dass ich dann halt daheim bleiben musste. Aber in den<br />

meisten <strong>Situation</strong>en war das dann auch kein Problem, okay, manche, ich wollt<br />

zum Beispiel mal unbedingt zu `nem Basketballspiel und zwar, das war <strong>der</strong> Saisonhöhepunkt,<br />

Oberelchen gegen Ulm, erste Liga halt, hab mich ein Jahr drauf<br />

gefreut, und da hat’s geheißen: Ja, wir gehen, was weiß ich, da und da Abendessen,<br />

ich soll bitte da bleiben, aber, da hat zuerst, meine Mutter, hat’s geheißen:<br />

Ja, nee, wenn wir einmal weggehn und so kannscht du einmal dableiben,<br />

aber mein Vater hat dann schon gemeint, dass sie das Essen auch verschieben<br />

können. Also, wie gesagt, hauptsächlich, wenn’s darum geht, dass, also das<br />

Haupte, dass er nicht alleine sein sollte <strong>von</strong> meinen Eltern aus gesehen.<br />

(vgl. Anhang, Interview 9)<br />

Beispiel 9:<br />

I: Ja klar. Wobei des ist jetzt mehr ne an<strong>der</strong>e Frage, dann machen wir die erst<br />

mal und zwar inwiefern du eben Rücksicht nehmen musstest im Zusammenleben?<br />

B: Ja also, die Ferien, irgendwann so <strong>mit</strong> 17 hab ich dann auch alleine Ferien<br />

gemacht, des hab ich dann auch sehr genossen, aber ähm, damals war’s eben<br />

oft so, ja abends kein Besuch zu Hause, weil es musste Ruhe sein, da<strong>mit</strong> Patrik<br />

schlief. Wir haben’s aber auch nie ausprobiert, ja man hätte es mal ausprobieren<br />

können, ich mein, oft sind ja Kin<strong>der</strong> auch, dann wenn die im Bett sind, dann<br />

schlafen die, aber er wurde eben so ein bisschen <strong>mit</strong> Glacehandschuhen angefasst<br />

und dann dieses Rücksicht, ja <strong>mit</strong> den Ferien <strong>mit</strong> ähm, ja im Grunde ja<br />

auch Rücksicht nehmen, dadurch dass er immer so im Mittelpunkt stand o<strong>der</strong><br />

seine Bedürfnisse viel mehr, nicht er, son<strong>der</strong>n seine Bedürfnisse standen immer<br />

im Mittelpunkt, ja. Und das, ja das hat mich auch schon genervt.<br />

(vgl. Anhang, Interview 25)<br />

Die übrigen fünf Befragten konnten jedoch nicht bestätigen, dass <strong>von</strong> ihnen<br />

aufgrund ihrer speziellen <strong>Geschwister</strong>situation beson<strong>der</strong>s viel Rücksicht erwartet<br />

wurde.<br />

Von den 20 Personen, die Rücksicht auf ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung nehmen<br />

mussten, gaben acht an, deswegen durchaus Ärger und Wut empfunden<br />

zu haben.<br />

Sieben unserer Interviewpartner konnten dies nicht bestätigen, während die<br />

übrigen fünf dazu keine Angaben machten.<br />

Die meisten <strong>der</strong> befragten Personen erlebten <strong>Situation</strong>en, in denen sie sich<br />

über ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung geärgert haben. Ebenso gaben fast alle<br />

an, dass sie häufig Rücksicht nehmen mussten. Jedoch wurde dies <strong>von</strong> allen<br />

als normal erlebt und nicht <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung in Verbindung gebracht.<br />

83


Manche <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> erzählten sogar, dass sie dadurch rücksichtsvoller und<br />

„sozialer“ geworden seien. Nur wenige gaben an, neidisch auf ihr <strong>Geschwister</strong><br />

gewesen zu sein.<br />

8.3.2. These 7: Verantwortungsübernahme<br />

Viele <strong>der</strong> Betroffenen fühlen sich verpflichtet, sich im Alter (o<strong>der</strong> bei Tod <strong>der</strong><br />

Eltern) um das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern.<br />

Zunächst fragten wir unsere Interviewpartner, wie sie sich die Zukunft ihres <strong>Geschwister</strong>s<br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung vorstellen. Da es bei dieser Frage jedoch schwierig<br />

ist, Ergebnisse nach Zahlen zu er<strong>mit</strong>teln, möchten wir nun einige Beispiele auflisten,<br />

um einen kleinen Einblick in die verschiedenen Antworten zu ermöglichen.<br />

Beispiel 1:<br />

I: Wie stellst du dir denn die Zukunft für deinen Bru<strong>der</strong> vor?<br />

B: Gute Frage. Ich hoffe er kann dort oben bleiben. Mein Bru<strong>der</strong> liebt die Natur,<br />

er ist auch <strong>mit</strong> dem Fahrrad, wir sind am Feldrand aufgewachsen und da war<br />

dann auch <strong>der</strong> Wald und dazwischen ist ein Bauernhof und da ist er dann immer<br />

<strong>mit</strong> dem Fahrrad hin, und in dem Jahr, als er dann nicht mehr in <strong>der</strong> Schule<br />

war, hat er da schon <strong>mit</strong>geholfen. Und deswegen finde ich das jetzt super genial,<br />

dass er da oben auf dem Bauernhof halt irgendwie Knecht ist und <strong>der</strong><br />

Bauer ist wohl auch super zufrieden <strong>mit</strong> ihm, <strong>der</strong> kann <strong>mit</strong>denken und so und<br />

weiß, was er jetzt machen muss. Ich würde mir wünschen, mein Bru<strong>der</strong> könnte<br />

da oben bleiben. Er hat es halt perfekt getroffen. Vielleicht dass man ihm auch<br />

mal die Möglichkeit gibt, auch in eine an<strong>der</strong>e Einrichtung zu gehen, wobei ich<br />

nicht das Gefühl habe, dass Downies dafür jetzt prädestiniert sind, einfach auch<br />

mal an<strong>der</strong>s sehen zu wollen, ich denke <strong>von</strong> allen Behin<strong>der</strong>ten sind das die, die<br />

am meisten irgendwie ihre feste Struktur haben wollen und nicht unbedingt eine<br />

Weiterentwicklung brauchen. Ähm, den Nachteil <strong>von</strong> <strong>der</strong> Einrichtung da oben,<br />

finde ich, obwohl das wird jetzt auch langsam besser, dass man halt keine<br />

Partnerschaften haben kann, ja und mein Bru<strong>der</strong> ist schon so ein bisschen<br />

Hormon gesteuert und ähm, das ist bei den Anthroposophen so die Grundeinstellung<br />

und das sehe ich irgendwie als einziger Nachteil <strong>von</strong> da oben. Mal gucken,<br />

jetzt wollen sie irgendwie betreutes Wohnen für Paare einrichten, na ja,<br />

mal sehen, was das wird. Ja, ansonsten ist da natürlich noch die Urlaubsache.<br />

Er hat ja, weiß ich nicht, drei o<strong>der</strong> vier Wochen im Sommer Urlaub und dann im<br />

Winter hat er ja auch noch mal jetzt Weihnachten zwei Wochen. Was tun wenn<br />

meine Eltern nicht mehr können? Also, solange ich noch hier so alleine wohne,<br />

denke ich ist das kein Problem, aber wenn man dann irgendwann eine Familie<br />

84


hat, muss man sich darüber Gedanken machen, wie man ihn in den Urlaub <strong>mit</strong><br />

integriert. (…)<br />

(vgl. Anhang, Interview 4)<br />

Beispiel 2:<br />

I: Wie stellst du dir denn die Zukunft für deinen Bru<strong>der</strong> vor?<br />

B: Das ist immer schwierig. Weil er hat jetzt angefangen zu arbeiten, das findet<br />

er auch ganz toll, was er da arbeitet, diese Stöpslerei. Hmm, ja, die Zukunft, arg<br />

viel, arg viel andre Perspektiven hat er ja net, als in `ne Werkstatt zu gehen und<br />

da zu arbeiten und unter Umständen irgendwann mal dort zu leben.<br />

(vgl. Anhang, Interview 7)<br />

Beispiel 3:<br />

I: Ja, mhm, wie stellst du dir denn die Zukunft <strong>von</strong> deinem Bru<strong>der</strong> vor?<br />

B: Gut, er wird sicher in <strong>der</strong> Wohngruppe bleiben, weil <strong>der</strong> in so 'nem Maß körperlich<br />

behin<strong>der</strong>t ist, dass man ihn gar nicht daheim haben kann. Also <strong>der</strong> war<br />

jetzt zwei mal bei mir hier, da hat dann jemand ihn getragen, <strong>der</strong> nächste hat<br />

den Rollstuhl getragen, des ist ein Unding, also man muss schon, meine Eltern<br />

die haben so einen Treppenlifter, dass er, weil des so ein halb hohes Parterre<br />

ist, auch einen Duschlifter und Zivis kommen, allein schon ihn auf ’s Klo setzen,<br />

ein riesen Ding, man braucht so ein Bett, was hoch und runter fährt, da<strong>mit</strong> man<br />

nicht immer so runter sich bücken muss und ich sag mal, die Zukunft <strong>von</strong> ihm<br />

wird sicher in 'ner Wohngruppe sein, ne behin<strong>der</strong>ten gerechten Wohnheim, wo<br />

natürlich ein Familienkontakt ist, dass, ich weiß net, jetzt bei den Eltern und<br />

dann wird des sicherlich weniger werden und dann muss man schauen, wie es<br />

dann geht. Vielleicht auch dass er dann irgendwann nur noch an Weihnachten<br />

o<strong>der</strong> so kommt, des seh ich ganz realistisch.<br />

(vgl. Anhang, Interview 17)<br />

Eindeutig Sorgen über die Zukunft ihres <strong>Geschwister</strong>s machen sich sechs<br />

unserer Interviewpartner. 16 <strong>von</strong> ihnen sorgen sich entwe<strong>der</strong> überhaupt nicht<br />

o<strong>der</strong> haben sich bisher wenig Gedanken darüber gemacht. Drei <strong>der</strong> befragten<br />

Personen machten keine Angaben zu dieser Frage.<br />

Auch hier werden wir einige Beispiele anführen, die zeigen, aus welchen Gründen<br />

sich manche <strong>der</strong> Befragten um die Zukunft ihres <strong>Geschwister</strong>s sorgen.<br />

Beispiel 4:<br />

I: Du machst dir da auch Sorgen?<br />

B: Ja, ich mach mir da arge Sorgen, weil ich halt sehe so. Ja, arbeiten und sie<br />

will halt total gerne, ja aber das, ja. Aber, ja, zwei, zwei, drei, vier Stunden,<br />

85


mehr geht da echt net, da ist die einfach fertig. Körperlich, die hilft auch immer<br />

oft so im Laden und da machen wir das zusammen, aber das einräumen, das<br />

ist schon, ja irgendwie, das kann ich net beschreiben. Es sind einfach so, trotz<br />

Elan und sie will, aber es ist dann einfach, weil ich glaub, das ist so anstrengend,<br />

wenn man nix hört, das kannst du dir gar nicht vorstellen, die Ohren zuhalten,<br />

immer konzentrieren auf das, was da kommt, immer aufpassen, was will<br />

die <strong>von</strong> mir, <strong>mit</strong> allen Sinnen dabei sein, ja, und dass sie so schlecht sieht,<br />

kommt ja dann auch noch dazu. Schon Sorge, ja wer will die einstellen? Wir<br />

haben uns auch schon oft überlegt, am besten beantragen wir grad Sozialhilfe,<br />

die wird sie auch bekommen, ja realistisch sieht die das ja! Also, wie hat sie<br />

schon oft gesagt: „Das [Anmerkung schlecht verständlich]“ Ja!<br />

(vgl. Anhang, Interview 2)<br />

Beispiel 5:<br />

I: Machst du dir Sorgen um ihre Zukunft?<br />

B: Ja, es isch halt scho a bisserl komisch, wenn man weiß, dass sie halt nie so<br />

richtig, ähm, anerkannte Berufe machen werden kann. Also, Hauptschulabschluss,<br />

wenn se den schafft, isch halt immer noch nicht so, wie wenn de Realschulabschluss<br />

o<strong>der</strong> Gymi hasch und so und durch ihre Einschränkung beim<br />

Laufen wird se auch vieles net so schnell o<strong>der</strong> so gut machen können, wie ein<br />

normales Kind.<br />

(vgl. Anhang, Interview 12)<br />

Für 17 unserer Interviewpartner ist es eine Selbstverständlichkeit, für ihr <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung da zu sein, speziell wenn die Eltern diese Rolle nicht<br />

mehr übernehmen können. Drei Personen gaben an, sich dazu verpflichtet zu<br />

fühlen, und weitere drei machten dazu keine Angabe. Die übrigen zwei <strong>Geschwister</strong><br />

fühlen sich zwar zum Teil dazu verpflichtet, sind aber nicht bereit,<br />

diese Aufgaben zu übernehmen.<br />

Beispiel 6:<br />

I: Okay. Ähm, inwiefern fühlst du dich verpflichtet, dich um deinen Bru<strong>der</strong> zu<br />

kümmern, hatten wir eben schon ein bisschen…? Wenn deine Eltern mal nicht<br />

mehr können...<br />

B: Gut, wie gesagt, sind halt diese Dinge, die jetzt meine Eltern machen, die<br />

werd ich sicherlich machen. Ich würd' nicht sagen müssen, son<strong>der</strong>n wollen eigentlich<br />

auch, ja es ist jetzt nicht, dass mir das, dass mir das lästig wäre. Beispiel,<br />

Theresia und ich, wir haben jetzt grad ein Haus gekauft und ein Grundsatz<br />

<strong>von</strong> vorne rein waren Selbstverständlichkeiten wie zu überlegen, wenn<br />

Steffen dann kommt, wo kommt er dann hin? Wie wird sein Zimmer aussehen?<br />

Also, ist eigentlich ne Selbstverständlichkeit, ja muss nicht extra diskutiert werden,<br />

nur einfach die ganzen Überlegungen, wie such ich die Tapete aus, den<br />

Boden, mach ich neue Fenster rein? So halt auch, wo kriegt er sein Zimmer?<br />

(vgl. Anhang, Interview 22)<br />

86


Beispiel 7:<br />

I: Inwiefern fühlst du dich denn verpflichtet, dich um deinen Bru<strong>der</strong> zu kümmern?<br />

B: Ehrlich gesagt, eigentlich liegt die Verantwortung nicht bei mir, des seh ich<br />

relativ hart, nur ich möchte halt auch, dass es ihm gut geht ja, und ähm, aber es<br />

geht ihm nicht gut, wenn ich ihn jede Woche einmal besuch ja, da geht’s ihm<br />

auch net besser, wie wenn ich ihn alle zwei Wochen besuch ja, ich denk, man<br />

muss einfach gucken, dass er gut versorgt ist, dass er in einer Gruppe ist, in <strong>der</strong><br />

er sich wohl fühlt und dass er auch finanziell abgesichert ist und dass er einfach<br />

Kleidung kriegt und dass er da auch mal <strong>mit</strong> behin<strong>der</strong>ten Gruppen ’nen Urlaub<br />

machen kann, all so Dinge. Ja, das muss einfach gewährleistet sein, dass er<br />

sich wohl fühlt. Ich sag mal, da muss man einfach drauf gucken, drauf achten.<br />

Ich könnt ihn nicht pflegen, ja, also da hätte ich we<strong>der</strong> die Kraft noch die Lust<br />

zu, ja, ich geh arbeiten.<br />

(vgl. Anhang, Interview 17)<br />

Abschließend hierzu muss erwähnt werden, dass die meisten <strong>der</strong> Befragten<br />

unter Übernahme <strong>der</strong> Betreuungsaufgaben das Sorgen für ihre <strong>Geschwister</strong> in<br />

begrenzten Zeiträumen verstehen, das heißt zu solchen Zeiten, in denen das<br />

<strong>Geschwister</strong> nicht in <strong>der</strong> jeweiligen Einrichtung ist.<br />

Insgesamt kann man festhalten, dass es für die meisten unserer Interviewpartner<br />

keine Verpflichtung son<strong>der</strong>n eine Selbstverständlichkeit ist, sich später<br />

um ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern. Allerdings nur, wenn dies ein<br />

gewisses Maß nicht überschreitet.<br />

8.3.3. These 8: Integration in eigene Familie<br />

Für die meisten <strong>Geschwister</strong> ist es eine Selbstverständlichkeit, ihr <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung später in die eigene Familie zu integrieren.<br />

Momentan integriert die Hälfte <strong>der</strong> <strong>von</strong> uns Befragten ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

in die eigene Familie. Neun <strong>Geschwister</strong> tun dies noch nicht. Die<br />

meisten da<strong>von</strong> haben noch keine eigene Familie und planen in Zukunft, ihr <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu integrieren. Drei <strong>der</strong> Interviewpartner machten<br />

dazu keine Angabe, bei zweien war das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung allerdings<br />

bereits verstorben.<br />

87


Beispiel 1:<br />

I: Also, du kannst dir dann auch vorstellen, eben dann deinen Bru<strong>der</strong> später<br />

auch in deine eigene Familie zu integriern, o<strong>der</strong>...?<br />

B: … Also, da seh ich auch kein, keine Bedenken, er war auch hier diese<br />

Sommerferien war er hier bei uns, also wir wohnen jetzt seit Juni hier und es<br />

war natürlich auch für ihn interessant, als wir zusammengezogen sind, und das<br />

lief dann so gut, dass er dann noch mal gekommen ist, also außerplanmäßig,<br />

weil er unbedingt wollte!<br />

(vgl. Anhang, Interview 5)<br />

Beispiel 2:<br />

I: Also integrierst du deine Schwester auch jetzt gar nicht in deine Familie?<br />

B: Nein, also, ähm, klar, wenn natürlich irgendwie mal Festivitäten sind o<strong>der</strong> so,<br />

habe ich es immer wie<strong>der</strong> mal probiert, dass ich sie halt auch mal hierher geholt<br />

habe o<strong>der</strong> so, aber ähm, es ist einfach echt schwer, also weil wir uns einfach<br />

auch nicht so gut verstehen, also weil sie dann immer so in ihre Zwänge hineinkommt<br />

und ähm, ich des dann ganz schlecht auffangen kann und ja, ich habe<br />

im Moment nicht die Kraft dafür. Und ich weiß auch nicht, ob ich die jemals haben<br />

werde, weiß ich nicht.<br />

(vgl. Anhang, Interview 15)<br />

Für 21 <strong>der</strong> Befragten ist es selbstverständlich, ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

in ihre eigene Familie zu integrieren, allerdings nur, solang es für eine bestimmte<br />

Zeit wäre, wie z.B. die Ferienzeiten. Das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

für immer in die eigene Familie aufzunehmen, konnte sich fast keiner unserer<br />

Interviewpartner vorstellen. Für nur ein <strong>Geschwister</strong> war es nicht selbstverständlich,<br />

das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu integrieren.<br />

Die Hälfte <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> gab an, dass das Verhältnis zwischen ihrem Partner<br />

und ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung gut sei. In einem Fall meinte <strong>der</strong> Befragte,<br />

dass es kein Verhältnis zwischen seiner Partnerin und seinem Bru<strong>der</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung gäbe, dies läge allerdings daran, dass die Partnerin in Südamerika<br />

lebt. Die übrigen machten dazu keine Angabe.<br />

Die meisten Interviewpartner, die bereits Kin<strong>der</strong> hatten, beurteilten das Verhältnis<br />

zwischen ihren Kin<strong>der</strong>n und ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung positiv. In<br />

nur einem Fall gab es Probleme, was aber am Alter des Kindes lag. Denn die<br />

Befragte war überzeugt, dass sich dies <strong>mit</strong> zunehmendem Alter des Kindes<br />

wie<strong>der</strong> legen würde. Die übrigen 18 Befragten hatten noch keine eigenen<br />

Kin<strong>der</strong>.<br />

88


Beispiel 3:<br />

I: Ja, in deiner eigenen Familie. Wie integrierst du sie da? Also, o<strong>der</strong> halt <strong>mit</strong><br />

deinem Mann, also...<br />

B: Ohh, er sagt immer, es ist seine Lieblingsschwägerin. Ja, das ist auch glaub<br />

ich wirklich so. Ja.<br />

(vgl. Anhang, Interview 2)<br />

Beispiel 4:<br />

P: Aber sie verstehen sich schon gut?<br />

B: Ja, ja! Auf jeden Fall! Auf jeden Fall! Das ist auch, <strong>von</strong> meinem Bru<strong>der</strong>, ich<br />

mein, jede Freundin, die ich hatte, die hat er in sein Herz geschlossen sozusagen,<br />

das war dann die Freundin <strong>von</strong> meinem Brü<strong>der</strong>chen, ja. Und deshalb ist<br />

da<strong>von</strong> schon mal ne Basis und natürlich, die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, die erst mal<br />

auch so ’n bisschen, wie geh ich da<strong>mit</strong> um? Aber so, das hat eigentlich immer<br />

ganz gut gepasst! …<br />

(vgl. Anhang, Interview 5)<br />

Beispiel 5:<br />

I: Ähm, wie ist denn das Verhältnis zwischen deinem Mann und deinen Kin<strong>der</strong>n<br />

und deiner Schwester?<br />

B: Ähm, also zwischen meinem Mann und meiner Schwester sehr gut. Also, <strong>der</strong><br />

ist halt einfach, geht locker <strong>mit</strong> ihr um und das ist klasse, also da kann sie sehr<br />

gut <strong>mit</strong>. Wobei mein Mann sie sehr, sehr selten sieht und ähm, einfach auch<br />

wahnsinnig viel Arbeit <strong>der</strong> hat, <strong>mit</strong> dem Betrieb am Hals. Ähm, zwischen den<br />

Kin<strong>der</strong>n und meiner Schwester ist unterschiedlich, also mein Sohn, ähm, kann<br />

gut <strong>mit</strong> ihr, wobei es natürlich auch so ist, dass sie sich auch nur sehr selten<br />

sehen, und ähm, dass es schwierig ist, wirklich was dann <strong>mit</strong> ihr zu machen.<br />

Also sie sitzt dann halt einfach da und guckt ihr Buch an o<strong>der</strong> macht irgendwas<br />

für sich und ähm, so wirklich <strong>mit</strong> ihr in Kontakt treten ist einfach schwierig. Und<br />

meine Tochter hat ein bisschen Schiss vor ihr. Also weil sie dann halt auch immer<br />

dieses, also sie liebt halt Babys und dann geht sie dann halt einfach hin<br />

und ist dann auch vielleicht ein bisserl grob-motorisch und ja, also da halt so ein<br />

bisschen, ja da ist gar nichts im Moment.<br />

(vgl. Anhang, Interview 15)<br />

Bei fünf <strong>der</strong> Befragten kommt das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in den Ferienzeiten<br />

zu ihnen. Bei den übrigen ist das nicht <strong>der</strong> Fall, allerdings kommt bei diesen<br />

das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in den Ferienzeiten noch zu den Eltern.<br />

Zusammenfassend lässt sich die Aussage treffen, dass es für annähernd alle<br />

Befragten selbstverständlich ist, ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in ihre eigene<br />

Familie zu integrieren.<br />

89


8.4. Beziehung zu den Eltern<br />

8.4.1. These 9: Belastung <strong>der</strong> Eltern<br />

Die Belastung <strong>der</strong> Eltern durch die Behin<strong>der</strong>ung eines ihrer Kin<strong>der</strong> beeinflusst<br />

die Beziehung zu den gesunden Kin<strong>der</strong>n wesentlich.<br />

Wie bereits bei These 2 geschil<strong>der</strong>t, spürten die meisten Befragten die Zusatzbelastung<br />

ihrer Eltern. Sechs unserer Interviewpartner bemerkten diese nicht<br />

und eine Person machte keine Angaben.<br />

Beispiel 1:<br />

I: Hast du denn die Zusatzbelastung deiner Eltern oft gespürt?<br />

B: Ja, also vor allem meiner Mutter. Also meine Mutter war eigentlich, o<strong>der</strong> ist<br />

immer noch allein dafür verantwortlich. Also, sie wird da allein gelassen <strong>von</strong><br />

allen, auch <strong>von</strong> mir, und ähm, also des habe ich sehr oft gespürt, weil sie sehr<br />

oft am Ende war. …<br />

(vgl. Anhang, Interview 15)<br />

Beispiel 2:<br />

I: [..]. Haben Sie die Zusatzbelastung Ihrer Eltern oft gespürt?<br />

B: Jetzt <strong>von</strong> meiner Mutter schon. Von meinem Vater, also da bin ich die ganzen<br />

Jahre nie draus schlau geworden, wie er die <strong>Situation</strong> meistert, o<strong>der</strong> wie er<br />

da<strong>mit</strong> umgeht, des hab ich nie, er hat da nichts an sich ran gelassen. Des kann<br />

ich nicht sagen.<br />

(vgl. Anhang, Interview 19)<br />

Beispiel 3:<br />

I: Ähm, hast du die Zusatzbelastung deiner Eltern gespürt?<br />

B: Ja. Und zwar, da gibt es so ein Schlüsselerlebnis, dass meine Mutter eine<br />

Schule für Patrik suchte in Hamburg noch, also er ist ja erst <strong>mit</strong> zwölf nach<br />

Camphill gekommen und es gab im Grunde keine richtige Schule, wo man ihn<br />

gerne hingeben wollte. Und da ähm, waren mein älterer Bru<strong>der</strong> und ich mal einen<br />

Tag bei meinen Großeltern und dann kam sie dorthin und wollte uns abholen<br />

und ich merkte, wie sie total verzweifelt war und wie sie <strong>mit</strong> ihrer Mutter,<br />

also meiner Großmutter sagte, ich weiß nicht, was weiter, was sie sagen soll,<br />

es geht irgendwie alles nicht und irgendwie, also sie hatte Patrik wohl dabei und<br />

<strong>der</strong> war irgendwie dann auch noch ausgeflippt, da vor den Leuten und die<br />

konnten da<strong>mit</strong> nicht umgehen, des war so eine staatliche Einrichtung, die ihn<br />

gar nicht einstufen konnten und des war, da hab ich so gemerkt, Mensch irgendwie<br />

haben wir hier ein großes, irgendwie haben wir hier was zu tragen,<br />

was Schweres. …(vgl. Anhang, Interview 25)<br />

90


Von den Befragten, die angaben, die Zusatzbelastung ihrer Eltern zu spüren,<br />

sagten zehn, dass dies Auswirkungen auf ihre eigene Beziehung zu den Eltern<br />

hatte. Fünf <strong>Geschwister</strong> bemerkten keine Auswirkungen. Die übrigen machten<br />

keine Angaben dazu.<br />

Beispiel 4:<br />

I: Hm, ja. Denkst du, dass diese Zusatzbelastung Auswirkungen auf deine Beziehung<br />

zu deinen Eltern hatte?<br />

B: Ja. Damals, damals bestimmt, weil ähm, ich denke, dass ich vielleicht viel<br />

auf mich allein gestellt war, ich hab früher ziemlich viel dummes Zeug angestellt.<br />

Und das hat natürlich regelmäßig Ärger gegeben, weil da schließt sich ja<br />

dann <strong>der</strong> Kreis, das ist belastend für die Beziehung zu den Eltern, natürlich!<br />

(vgl. Anhang, Interview 22)<br />

Ob eine Beeinflussung auf die Beziehung zu den Eltern durch <strong>der</strong>en Belastung<br />

statt fand, lässt sich nicht eindeutig sagen. Hier sind die Aussagen unserer Befragten<br />

sehr unterschiedlich. Man kann aber sicherlich festhalten, dass knapp<br />

die Hälfte <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> aussagte, dass die Beziehung zu ihren Eltern durch<br />

<strong>der</strong>en Zusatzbelastung beeinflusst wurde.<br />

8.4.2. These 10: Zeit <strong>der</strong> Eltern<br />

Viele <strong>Geschwister</strong> mussten wichtige Zeit und Möglichkeiten entbehren, weil alle<br />

Energien <strong>der</strong> Familie dem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zuteil werden.<br />

Entgegen unseren Erwartungen gaben 17 unserer Interviewpartner an, dass<br />

ihre Eltern früher genug Zeit für sie hatten. Die übrigen acht Personen machten<br />

gegensätzliche Angaben.<br />

Hierzu möchten wir erwähnen, dass die Zeit <strong>der</strong> Eltern für viele dieser Befragten<br />

nicht immer aufgrund des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung gefehlt hat. In<br />

manchen Familien war dies auch aus beruflichen Gründen <strong>der</strong> Eltern <strong>der</strong> Fall.<br />

Die folgenden Beispiele zeigen einige <strong>Situation</strong>en, die das „Zeitproblem“ <strong>der</strong><br />

Eltern beschreiben.<br />

91


Beispiel 1:<br />

I: Also, hättest du dir schon gewünscht, dass deine Eltern alleine für dich früher<br />

auch mal mehr Zeit gehabt hätten? O<strong>der</strong> hattet ihr Möglichkeiten, alleine was zu<br />

machen?<br />

B: Wir hatten da Möglichkeiten, also ich denk, das äh irgendwann auch wirklich<br />

Probleme gegeben und meine Eltern haben da drauf reagiert, also mein Vater<br />

beispielsweise, was mir jetzt spontan dazu einfällt, ist dann <strong>mit</strong> mir alleine weggefahrn,<br />

sind wir campen gefahren nach Frankreich. Auch regelmäßig, also es<br />

ist dann sehr intensiv da drauf geschaut worden, dass ich da eben nicht mehr<br />

zu kurz komme.<br />

P: Aber kannst du dich an bestimmte <strong>Situation</strong>en erinnern, in denen du dir<br />

mehr Zeit gewünscht hättest?<br />

B: Gut, ich denke, es war auch oft ein generelles Problem, dass sich alles um<br />

Sascha gedreht hat, also dadurch allein, dass er auf ne Privatschule, ne Waldorfschule<br />

gegangen ist, war natürlich angesagt, Sascha <strong>zur</strong> Schule fahren,<br />

Sascha <strong>von</strong> <strong>der</strong> Schule abholen. Von vorne herein immer mal ne halbe Stunde,<br />

wenn nicht noch mehr, <strong>von</strong> Steinbach nach Frankfurt reinfahren und <strong>von</strong><br />

Frankfurt <strong>zur</strong>ück. Also, da<strong>mit</strong>, da<strong>mit</strong> fing das schon an, das, dieses Drumherum,<br />

jetzt gar nicht mal so sehr, dass, dass ich die Zeit hätte haben wollen für mich,<br />

son<strong>der</strong>n einfach nur so immer dieses, dieser Tagesablauf, <strong>der</strong> praktisch geprägt<br />

war durch meinen Bru<strong>der</strong>. Ich hab das ja alles nicht gebraucht, ich bin aus’m<br />

Haus gegangen, bin in den Bus gestiegen, bin nach Kronberg gefahren, bin<br />

<strong>mit</strong>tags <strong>mit</strong> dem Bus wie<strong>der</strong> heimgefahren. Und dann natürlich auch später, wo<br />

ich den Führerschein hatte, dann durft ich das hin und wie<strong>der</strong> auch machen.<br />

Das war dann nicht mehr so die, die krasse Zeit würd' ich sagen, also weil da<br />

hat man mehr Verständnis so dieses Alter, aber, aber früher war das eher nervig.<br />

Also, da hätt ich mir gewünscht schon, dass das einfach `n bisschen...<br />

I: Lockerer...<br />

B: Lockerer ist, dass das nicht so ist.<br />

(vgl. Anhang, Interview 22)<br />

Beispiel 2:<br />

I: Und ähm, in welchen <strong>Situation</strong>en hätten Sie sich denn gewünscht, dass Ihre<br />

Eltern mal mehr Zeit gehabt hätten?<br />

B: Och ja, im, im Urlaub eigentlich schon. Unter <strong>der</strong> Woche...ja, am Wochenende<br />

vielleicht auch mehr. Dass wir also auch mal vielleicht was ohne unsre<br />

Schwester unternommen hätten, wie sie größer wurde, also dass man einfach<br />

mal, mein Vater vielleicht uns zwei Größere genommen hätte und gesagt,<br />

komm, jetzt machen wir mal was für uns, ne, ohne die behin<strong>der</strong>te Schwester.<br />

P: Mal alleine <strong>mit</strong> den Eltern.<br />

B: Alleine <strong>mit</strong> den Eltern, aber man konnte meine Schwester ja auch, ja meine<br />

Großmutter hat sie am Anfang mal genommen, wie sie ein Baby war, wie wir in<br />

Urlaub wollte, aber ne im Urlaub waren wir eigentlich gar nicht in dem Sommer,<br />

als sie geboren war.<br />

I: Und, wieso war denn diese Zeit für Sie nicht vorhanden?<br />

92


B: Für mich?<br />

I: Ja, also jetzt grade am Wochenende wie Sie sagten o<strong>der</strong> so...<br />

B: Meine Eltern waren andauernd <strong>mit</strong> meiner Schwester beschäftigt, also ich<br />

hab mich dann, ich hab dann sehr gern gelesen, hab mich <strong>mit</strong>’m Buch irgendwo<br />

hin verkrümelt und hab dann gelesen. Und, okay, o<strong>der</strong> wenn man auf’m Campingplatz<br />

waren, hab ich mich allein ins Boot gesetzt und bin allein meine Touren<br />

gefahren. Also dadurch bin ich vielleicht auch relativ schnell auch selbstständig<br />

geworden, was auch kein Fehler ist so im Nachhinein, klar. Konnten sie<br />

wahrscheinlich nicht an<strong>der</strong>s machen, meine Eltern, ja es war schon, war schon<br />

nicht einfach. Ich mein, wenn ich so an<strong>der</strong>e Familien seh,...<br />

I: Ja klar, man kann’s ja immer nur vergleichen, man weiß ja nicht, wie’s an<strong>der</strong>s<br />

aussieht.<br />

B: Ja genau.<br />

(vgl. Anhang, Interview 21)<br />

Dieses Beispiel zeigt, welche Wirkung <strong>der</strong> elterliche Zeitmangel auch auf die<br />

Kin<strong>der</strong> haben kann.<br />

Die Interviewpartnerin hat sich sehr oft alleine beschäftigen müssen. Sie hat<br />

sich <strong>zur</strong>ückgezogen und die Zeit regelrecht genossen, die sie nicht <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Familie verbringen musste, denn in solchen Momenten konnte sie sich einfach<br />

einmal erholen <strong>von</strong> <strong>der</strong> ständigen Betreuung ihrer Schwester <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Die meisten <strong>der</strong> befragten <strong>Geschwister</strong> gaben jedoch an, dass das Entbehren<br />

<strong>von</strong> Zeit <strong>mit</strong> den Eltern sowie <strong>von</strong> manchen Möglichkeiten, die sie in einer an<strong>der</strong>en<br />

Familiensituation gehabt hätten, einfach dazugehörte. Sie konnten nicht<br />

behaupten, unter diesen Umständen ernsthaft gelitten zu haben.<br />

8.5. Elternverhalten<br />

8.5.1. These 11: Kompensatorische Erwartungen<br />

Die kompensatorischen Erwartungen <strong>der</strong> Eltern können auch Auswirkungen auf<br />

die Zukunftspläne <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>/Jugendlichen haben.<br />

Nur ein kleiner Teil <strong>der</strong> Eltern hatte bestimmte Pläne und Vorstellungen für die<br />

Zukunft ihrer gesunden Kin<strong>der</strong>, denn lediglich sieben <strong>der</strong> Befragten konnten<br />

dies bestätigen. 18 unserer Interviewpartner hingegen waren <strong>der</strong> Meinung, dass<br />

93


ihre Eltern sie völlig eigenständig über die eigene Zukunft und ihre Pläne diesbezüglich<br />

entscheiden ließen.<br />

Im Folgenden stellen wir nun einige Pläne <strong>der</strong> Eltern für ihre Kin<strong>der</strong> vor.<br />

Beispiel 1:<br />

I: Kannst du dich erinnern, dass deine Eltern bestimmte Zukunftspläne für dich<br />

hatten o<strong>der</strong> haben?<br />

B: Ja (lacht). Mein Vater hätte gerne, wenn ich Medizin studier’. Aber das<br />

schaff ich nicht, ich würde das schon gerne machen, aber das ist zu viel, da<br />

müsst ich Latein nebenbei noch nehmen und müsste `n NC ziemlich gut haben.<br />

Und das ist, glaub ich, das schaff ich nicht `n bisschen zu hoch.<br />

(vgl. Anhang, Interview 3)<br />

Beispiel 2:<br />

I: [...] Hatten deine Eltern Zukunftspläne für Sie? Also, für dich?<br />

B: Ja, eigentlich schon <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Firma und so...<br />

I: Ja? Hier <strong>mit</strong> einsteigen und so. Und hatten die denn Auswirkungen auf deine<br />

Zukunftsentscheidungen? Die Pläne, o<strong>der</strong>...? War das für dich auch okay so?<br />

B: Nee, ich hab da schon mal <strong>mit</strong>gschafft so nach <strong>der</strong> Schule, macht mir<br />

Spaß.<br />

I: Das war auch so dein Ding hier so?<br />

B: Ja.<br />

(vgl. Anhang, Interview 8)<br />

Beispiel 3:<br />

I: Hatten deine Eltern Zukunftspläne für dich?<br />

B: Ja. Ja, auf jeden Fall, klar, klare Vorstellungen. Eben, dass man ein guter<br />

Mensch zu sein hat, sozial engagiert sein muss und...<br />

I: Studium...<br />

B: Studium ja, aber des war, des war jetzt eher, ich weiß nicht inwieweit, ja, des<br />

hat denke ich, auch viel <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Lebensgeschichte meiner Eltern zu tun. Meine<br />

Mutter hat nur Mittlere Reife gemacht in Anführungsstrichen, mein Stiefvater hat<br />

eben, ähm, kein Abschluss gehabt, bzw. nur Mittlere Reife gehabt und ähm, <strong>der</strong><br />

hat eben des Abitur nachgemacht, bzw. er hat ähm, ein Abschluss nachgemacht,<br />

da<strong>mit</strong> er studieren kann und des war ein ziemlicher Kraftaufwand und<br />

des war genau zu <strong>der</strong> Zeit, wo ich Abitur gemacht hab, bzw. eben kurz vorher<br />

und da haben die des eben am eigenen Leib erlebt, wie des ist, wenn du so<br />

was nachmachen musst und was das für eine Belastung ist und daher kam das<br />

eben auch so ein bisschen. Und ich mein, ich hab halt damals <strong>mit</strong> denen den<br />

Kuhhandel gemacht, weil ich war in Rengo auf <strong>der</strong> Schule und ähm, da haben<br />

94


sie gerade die Fachhochschulreife abgeschafft, wo ich soweit war und des war<br />

für mich immer des gewesen, wo ich gesagt hab, als wenn, des kann ich ja machen<br />

o<strong>der</strong> des ist irgendwie so ein Mittelding und dann sind alle glücklich da<strong>mit</strong>,<br />

ja, ich muss nicht Abi machen und die an<strong>der</strong>en haben so des, dass ich sagen<br />

kann, ich halt mir den Weg offen, zu studieren, wenn ich des unbedingt möchte.<br />

Und dann bin ich eben gegangen, also ich bin dann einfach nach Hessen gegangen<br />

und hab’s leichte Abi gemacht. Ja, was im Endeffekt dann auch nicht so<br />

schwer war.<br />

(vgl. Anhang, Interview 15)<br />

Nun interessierte uns natürlich sehr, ob die Zukunftsvorstellungen <strong>der</strong> Eltern für<br />

ihre gesunden Kin<strong>der</strong> tatsächlich Auswirkungen auf <strong>der</strong>en Zukunft hatten und<br />

ob diese Pläne an<strong>der</strong>s ausgesehen hätten, wenn in <strong>der</strong> Familie kein Kind <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung gewesen wäre. Denn schließlich hört man sehr oft, dass die Eltern<br />

aufgrund des Kindes <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung gerade an die gesunden <strong>Geschwister</strong><br />

höhere Ansprüche stellen und größere Erwartungen an sie haben.<br />

Von den sieben Befragten, die berichteten, dass ihre Eltern durchaus Zukunftspläne<br />

für sie hatten, wurden drei nach eigenen Angaben durch diese Pläne beeinflusst,<br />

während die übrigen vier ihre eigenen Vorstellungen verwirklichten.<br />

Lediglich eine dieser sieben Personen ist da<strong>von</strong> überzeugt, dass die Eltern<br />

ohne das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung diese Pläne für sie selber nicht gehabt<br />

hätten. Vier dieser sieben Personen jedoch sind <strong>der</strong> Meinung, dass diese<br />

Zukunftspläne nichts <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung des <strong>Geschwister</strong>s zu tun hatten.<br />

Einer unserer Interviewpartner machte zu dieser Frage gar keine Angabe.<br />

Wir hatten in unseren Interviews nicht den Eindruck, dass <strong>von</strong> den Befragten<br />

kompensatorische Erwartungen ihrer Eltern erfüllt werden mussten. Die meisten<br />

Eltern überließen diese Entscheidungen ihren Kin<strong>der</strong>n.<br />

8.5.2. These 12: Loslassen und Verantwortungsabgabe<br />

Eltern <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung können schwerer loslassen und die Ver-<br />

antwortung abgeben.<br />

Die Hälfte unserer Interviewpartner gab an, dass sich <strong>der</strong> Übergang, als das<br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in eine Einrichtung kam, schwierig gestaltet hat.<br />

Bei zwei <strong>der</strong> Befragten war dies problemlos. Die übrigen machten dazu keine<br />

95


Angabe. Teilweise lebt in diesen Fällen das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung auch<br />

noch zu Hause.<br />

Beispiel 1:<br />

I: Und ähm, wie gestaltete sich dann das Loslassen, also das Loslassen Ihrer<br />

Eltern, als er dann wirklich nach Föhrenbühl gezogen ist auch?<br />

B: ... Wir [Anm.: Eltern und Interviewpartnerin] waren am Anfang oft hinter den<br />

Büschen gehockt und haben ins Haus reingeguckt, um den Armin irgendwo zu<br />

sehen, und haben also, ich weiß noch, alle <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> Rotz und Wasser geheult,<br />

hinter diesem Busch und haben einfach so vom Kopf her gewusst, es ist<br />

wichtig, es ist richtig, des wollen wir, des muss sein und also auch Föhrenbühl<br />

ist das richtige, also da waren wir überzeugt, ich glaube auch, in eine an<strong>der</strong>e<br />

Einrichtung hätte sich die Frage nicht gestellt, des war einfach wirklich, wir hatten<br />

so Vertrauen in die Arbeit <strong>von</strong> Föhrenbühl und <strong>von</strong> ja, dass wir gesagt haben,<br />

das ist richtig, aber es war halt ne Kopfentscheidung und auf die Zukunft<br />

gerichtet, des hat <strong>mit</strong> dem Bauch her, das war schwierig und dann haben wir<br />

auch auf Heiligenberg, immer wenn wir gehört haben, es kommt wie<strong>der</strong> ne<br />

Gruppe vom Föhrenbühl, immer geguckt, ist <strong>der</strong> Armin dabei o<strong>der</strong> nicht, weil er<br />

sollte uns ja in <strong>der</strong> Zeit auch nicht irgendwo einfach so begegnen, des hätte ja<br />

auch uns alle wie<strong>der</strong> <strong>zur</strong>ück geworfen, ja, und dass wir dann wie<strong>der</strong> weggezogen<br />

sind vom Heiligenberg nach Konstanz. Das denke ich, das war wie<strong>der</strong> ne<br />

belastende und schwierige Zeit, also einfach, da haben wir ziemliche Wechselbä<strong>der</strong><br />

durchgemacht, ich erinnere mich an so manchen Abend, gehen wir noch<br />

mal schnell runter und dann waren wir da so hinter dem Helen-Keller-Haus<br />

hinter den Büschen und haben geguckt, ob wir den Armin irgendwo sehen und<br />

haben um die Wette geschluchzt, ja. Das war belastend.<br />

(vgl. Anhang, Interview 16)<br />

Beispiel 2:<br />

I: Dein Bru<strong>der</strong> ist ja dann in eine Wohngruppe gekommen. Weißt du noch, wie<br />

sich <strong>der</strong> Übergang gestaltet hat?<br />

B: Um Gottes Willen furchtbar, ja, <strong>der</strong> isch spät in ne Wohngruppe gekommen.<br />

I: Wie alt war er da?<br />

B: Ich glaub <strong>mit</strong> 29 o<strong>der</strong> 30. Also extrem spät und ich fand den Ablöseprozess<br />

einfach furchtbar. Aber, des waren meine Eltern, die geklammert haben.<br />

(vgl. Anhang, Interview 17)<br />

Hier noch ein Beispiel, wo sich <strong>der</strong> Übergang als problemlos erwiesen hat:<br />

Beispiel 3:<br />

I: Ähm, wissen Sie noch, wie sich <strong>der</strong> Übergang gestaltet hat, als Ihre Schwester<br />

in eine Einrichtung kam <strong>von</strong> zu Hause?<br />

96


B: Des war gar nicht schwierig, weil die Gisela ja eh schon äh, über 20 Jahre<br />

dann schon auf den Lehenhof gegangen ist und abends dann zwar heim gekommen<br />

ist, aber so war des jetzt für sie gar nicht, äh, gar nicht so schwierig<br />

und äh, so den Kontakt äh, hat ich ja denn als ich aus dem Haus war dann auch<br />

nicht mehr. Dann wenn ich halt mei Mutter besucht hab und die Gisela war da,<br />

denn war’s halt so, aber deswegen denk ich nicht, ist des an<strong>der</strong>s.<br />

(vgl. Anhang, Interview 19)<br />

Die meisten Befragten hatten das Gefühl, dass die Eltern <strong>mit</strong> dem Übergang<br />

des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in eine Einrichtung nur schwer umgehen<br />

konnten. Nur eine Person hatte die Vermutung, den Eltern würde es leicht<br />

fallen. Sechs <strong>Geschwister</strong> machten hier keine Angaben.<br />

Beispiel 4:<br />

I: Wie ging des denn deinen Eltern, wenn sie ihn da immer hinbringen mussten?<br />

B: Schon schwierig, ich glaube, so dieses ganze entspannen können, wenn er<br />

dann weg war, war doch nicht da. Weil man sich natürlich schon immer überlegt<br />

hat, wie läuft es da, wie kommen die, also weil er wirklich so ein spezieller Son<strong>der</strong>fall<br />

war, also er konnte sich auch überhaupt nicht äußern o<strong>der</strong> irgendwie<br />

zeigen, das passt jetzt nicht, das tut weh o<strong>der</strong> so, konnte er ja nicht und wenn<br />

jemand, also man musste ihn wirklich sehr gut kennen, um zu wissen, wie des<br />

für ihn am schönsten ist und am besten und des kann keiner, auch wenn man<br />

eine Woche denjenigen einarbeitet o<strong>der</strong> denen erklärt, des kann keiner so<br />

nachmachen und spüren.<br />

(vgl. Anhang, Interview 14)<br />

Die Frage, ob den Eltern dieses „Loslassen“ des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

beson<strong>der</strong>s schwer fiel, beantworteten fast alle Befragten <strong>mit</strong> Ja. Eine Person<br />

verneinte und eine weitere machte keine Angabe. Einige unserer Interviewpartner<br />

gaben jedoch an, dass es <strong>der</strong> Mutter schwerer fiel als dem Vater.<br />

Beispiel 5:<br />

I: Hattest du das Gefühl, das das Loslassen deinen Eltern schwer gefallen ist?<br />

B: Ja, definitiv. Bis heute.<br />

I: Gab es bestimmte Verhaltensweisen, wo es dir direkt aufgefallen ist o<strong>der</strong> eher<br />

insgesamt so?<br />

B: Ähm, na es wird permanent darüber nachgedacht, ob es ihm denn da gut<br />

geht, ob denn die Leute auch daran denken, dass er die warme Jacke anhat<br />

und täglich wäscht und ich weiß nicht was also, stellt euch vor, ihr seid fünf und<br />

probiert euch zu erinnern, was eure Eltern gesagt haben, das volle Programm<br />

ja, und das geht bis heute so, ja und dann nehmen wir jetzt die Wintersachen<br />

<strong>mit</strong> und nehmen die Sommer <strong>mit</strong> und Emil, du musst dann auch das anziehen,<br />

97


wenn die Mutter weg ist macht <strong>der</strong> Emil nichts mehr <strong>von</strong> dem was die gesagt<br />

hat, ja. Aber trotzdem wird da immer noch drüber nachgedacht. […]<br />

(vgl. Anhang, Interview 4)<br />

Beispiel 6:<br />

I: Hmm, also das Loslassen fiel deinen Eltern schon sehr schwer?<br />

B: Hmm! Stichpunkt ist wirklich Loslassen, ja! Also, ich denk, das ist grundsätzlich<br />

ein Elternproblem und ich denk, im Falle eines behin<strong>der</strong>ten Kindes noch<br />

mal ein Extraproblem, weil das behin<strong>der</strong>te Kind nie richtig erwachsen wird und<br />

grad bei meinem Bru<strong>der</strong> ist es so, die Behin<strong>der</strong>ung zeichnet sich durch ne geistige<br />

Zurückgebliebenheit aus, also man hat immer den Eindruck bei dem Sascha,<br />

man hat <strong>mit</strong> 'nem Kind zu tun. Es ist auch Ende <strong>von</strong> <strong>der</strong> Entwicklung. Und<br />

demnach wird halt so ’n Kind auch immer Kind bleiben und auch immer als Kind<br />

behandelt werden. Und ich denk, für Eltern ist es einfach leichter, einen zwanzigjährigen<br />

loszulassen als 'nen zehnjährigen, <strong>der</strong> vielleicht zwanzig ist, aber<br />

trotzdem <strong>von</strong> <strong>der</strong> Entwicklung her ein zehnjähriger.<br />

(vgl. Anhang, Interview 22)<br />

In 16 Fällen haben die Eltern die Verantwortung für das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Drei <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> haben diese selbst. In vier Fällen brauchte das<br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung keinen rechtlichen Betreuer, da sie körperlich behin<strong>der</strong>t<br />

sind und so<strong>mit</strong> die Verantwortung selbst übernehmen können. Der Rest<br />

<strong>der</strong> Befragten machte dazu keine Angaben, dies waren jedoch jene Fälle, in<br />

denen das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung bereits gestorben war.<br />

Zehn unserer Interviewpartner hatten das Gefühl, dass es ihren Eltern schwer<br />

fallen würde o<strong>der</strong> fiel, diese Verantwortung abzugeben. Acht <strong>Geschwister</strong><br />

meinten, dass ihre Eltern da<strong>mit</strong> weniger Probleme haben würden. Allerdings<br />

waren sie nur deswegen dieser Meinung, da sie und die Eltern da<strong>von</strong> ausgingen,<br />

dass die Verantwortung auf sie selbst abgegeben wird und da<strong>mit</strong> in <strong>der</strong><br />

Familie bleibt. Dadurch sind die Eltern sich sicher, dass das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung gut versorgt ist.<br />

Eine Person meinte, dass es den Eltern teilweise schwer fallen würde. Er vermutete,<br />

dass die Eltern bestimmte Bereiche schneller und leichter abgeben<br />

würden, wie z.B. das Finanzielle und an<strong>der</strong>e Bereiche eher nicht so schnell, wie<br />

z.B. das Gesundheitliche. Sechs <strong>der</strong> Befragten machten hierzu keine Angaben.<br />

Wir hatten in den Gesprächen das Gefühl, dass es den meisten Eltern aus Sicht<br />

ihrer Kin<strong>der</strong> sehr viel schwerer fallen würde, wenn sie die Verantwortung an<br />

98


fremde Leute o<strong>der</strong> die Einrichtung, in <strong>der</strong> das <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

lebt, abgeben müssten.<br />

Beispiel 7:<br />

I: Hast du das Gef..., nee. Ach doch, hast du das Gefühl, dass deine Eltern die<br />

Verantwortung schwer abgeben könnten, wenn sie’s mal machen müssten?<br />

B: Ich glaub, das geht, weil wir das jetzt schon ganz gut üben und ich denk, ich<br />

hab sie momentan bisher noch nicht enttäuscht, hoff ich, denk ich zumindest,<br />

also ich denk mal, das ist okay.<br />

P: Du meinst, das ist dann auch mehr so schrittweise...<br />

B: Jaa, das ist ihnen auch sehr wichtig ähm, Sie drängen mich dann nicht, aber<br />

wenn ich sag, das und das würd' ich gern <strong>mit</strong>kriegen, gar kein Problem, …<br />

(vgl. Anhang, Interview 20)<br />

Beispiel 8:<br />

I: Mhm. Hast du das Gefühl, dass deine Mutter die Verantwortung später mal<br />

nur schwer abgeben kann?<br />

B: Was meinst du <strong>mit</strong> später?<br />

I: Also wenn sie einfach nicht mehr kann, sprich zum Beispiel dann an euch<br />

o<strong>der</strong>...<br />

B: Wenn sie zu alt ist?<br />

I: Ja.<br />

B: Ähm, also abgeben kann, ja wahrscheinlich schon, vor allem weil sie auch<br />

ganz doll aufpasst, dass sie mir und meinem älteren Bru<strong>der</strong> nicht <strong>zur</strong> Last fallen<br />

will. Also sie hat schon für sich, sie sagt jetzt nicht, ihr seid die <strong>Geschwister</strong>, ihr<br />

müsste euch auch kümmern, also sie würde bis zum Umfallen irgendwie Kräfte<br />

aufbringen, um sich um ihn zu kümmern, bevor sie irgendwas sagen würde,<br />

o<strong>der</strong> was einfor<strong>der</strong>n würde und sie gibt dies, sie ist kein Typ, <strong>der</strong> gern Verantwortung<br />

abgibt, des ist auch in ihrem Beruf nicht so und insofern wird sie dies<br />

auch <strong>mit</strong> Patrik nicht so leicht machen. Des ist bestimmt ein Phänomen <strong>von</strong><br />

Müttern behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong>.<br />

(vgl. Anhang, Interview 25)<br />

Abschließend kann man sagen, dass bis auf eine Ausnahme alle <strong>Geschwister</strong><br />

angaben, ihren Eltern sei das Loslassen sehr schwer gefallen.<br />

Bei <strong>der</strong> Verantwortungsübergabe zeichnet sich ein differenzierteres Bild ab. Es<br />

ist hier stark da<strong>von</strong> abhängig, an wen die Eltern diese abgeben sollen.<br />

99


8.6. Umwelt/ Gesellschaft<br />

8.6.1. These 13: Reaktionen<br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung stehen im Zwiespalt zwischen <strong>der</strong><br />

familiären Norm, das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu lieben und zu akzeptieren und<br />

den ihnen vielerorts begegnenden gesellschaftlichen Normen, die <strong>von</strong> Abgren-<br />

zung bis hin <strong>zur</strong> Ablehnung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung geprägt sind.<br />

18 unserer Interviewpartner konnten sich an Erfahrungen erinnern, die sie diesbezüglich<br />

gemacht haben. Sie kannten den Unterschied zwischen dem Umgang<br />

<strong>der</strong> Familie untereinan<strong>der</strong> und dem oft sehr unsicheren o<strong>der</strong> ablehnenden<br />

Verhalten <strong>der</strong> Umwelt gegenüber ihren <strong>Geschwister</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung. Sechs<br />

<strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> dagegen konnten <strong>von</strong> keinen <strong>Situation</strong>en dieser Art berichten.<br />

Eine Person machte dazu keine Angaben.<br />

Natürlich interessierte uns bei dieser Frage vorrangig, wie unsere Interviewpartner<br />

<strong>mit</strong> solchen Erlebnissen umgingen, beziehungsweise ob sie darunter zu<br />

leiden hatten.<br />

Von den 18 <strong>Geschwister</strong>n, die solche Erlebnisse aus dem Alltag kennen, gaben<br />

elf an, dass sie sich sehr über solches Verhalten ärgerten, jedoch „darüber<br />

standen“, während zwei <strong>der</strong> Befragten solche Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt als sehr<br />

belastend empfanden. Die übrigen fünf machten dazu keine Angaben.<br />

Abschließend einige Beispiele, wie unsere Interviewpartner Reaktionen <strong>der</strong><br />

Umwelt empfunden und beschrieben haben.<br />

Beispiel 1:<br />

I: Also die Familie geht ja oft sehr normal, klar normal <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung um<br />

und die Umwelt o<strong>der</strong> auch Verwandte, Nachbarn, gibt’s da manchmal schon<br />

Verhaltensweisen, die einem auffallen, ob Sie sich da auch an Sachen erinnern<br />

können?<br />

B: Ich hab da keine bewusste Erinnerung daran, aber ich hab auch ein<br />

schlechtes Gedächtnis. Ich weiß, dass zum Beispiel, eine Tante meiner Mutter<br />

unmögliche Vorwürfe gemacht hatte, so quasi, euch bestraft Gott, also schon<br />

schlimme, wirklich schlimme Sachen. Gab’s bestimmt, aber da kann ich, da hab<br />

ich keine bewusste Erinnerung dran, also es da irgendwelche Diffamierungen<br />

gab o<strong>der</strong>...<br />

100


P: Ihnen selber ist es im Prinzip nicht begegnet bei eigenen Freunden o<strong>der</strong> so?<br />

B: Nee, also gut, wir hatten nicht viel Freunde zu Hause, ja, des war so ein<br />

Punkt na, dass ähm, und die, die da waren, da war sie <strong>mit</strong> dabei, da gehörte sie<br />

dazu und kann ich nicht.<br />

(vgl. Anhang, Interview 1)<br />

Beispiel 2:<br />

I: Ähm, es ist ja oft so, dass innerhalb <strong>der</strong> Familie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ganz<br />

an<strong>der</strong>s umgegangen wird als <strong>von</strong> außen... <strong>von</strong> <strong>der</strong> Umwelt, <strong>von</strong> Freunden,<br />

Nachbarn. Kannst du das auch bestätigen? Hast du da <strong>Situation</strong>en äh gemerkt,<br />

in denen das sehr auffällig war? Dass die Umwelt an<strong>der</strong>s da<strong>mit</strong> umgegangen<br />

ist?<br />

B: ...Ja, halt so, ich mein, wenn ich jetzt als Kind irgend ’n Mist mach, also<br />

wenn ich mal auf, <strong>mit</strong>’m Fußball auf ’s Garagentor vom Nachbarn geschossen,<br />

dann krieg ich auch wirklich ’n Anschiss vom Nachbar und <strong>der</strong> Nachbar würde<br />

jetzt nie meinen Bru<strong>der</strong> irgendwie anscheißen. Man nimmt dann halt auch<br />

Rücksicht auf die Behin<strong>der</strong>ung und geht dann eher zu meinen Eltern und sagt,<br />

ja, ob er sich ’n bisschen <strong>zur</strong>ückhalten könnte...<br />

P: O<strong>der</strong> dass Freunde auch mal ablehnend reagiert haben?<br />

B: ...Und äh, ansonsten muss ich echt sagen, also ’n paar Leute, also jetzt wie<br />

gesagt, nicht Freunde, aber ’n paar Leute schauen da halt manchmal blöd hin<br />

und gaffen auch manchmal richtig, also das sind echt wenige und äh, einmal da<br />

war ich dreizehn, vierzehn, hab Zeitung ausgetragen, hab meinen Bru<strong>der</strong> <strong>mit</strong>genommen.<br />

Und da, einer, den hab ich gekannt, also wohnt ’n paar Straßen<br />

weiter, äh <strong>der</strong> hat dann ’n richtig blöden Spruch abgelassen. Ich weiß nicht<br />

mehr wörtlich, aber irgendwie ob ich jetzt wie<strong>der</strong> äh ’n sozialen Tag o<strong>der</strong> was<br />

weiß ich, auf kranke Leute aufpasse, ich krieg ’s nicht mehr ganz hin, aber irgend<br />

'nen richtig blöden Spruch hat er losgelassen und auch noch in Gegenwart<br />

<strong>von</strong> meinem Bru<strong>der</strong> und das... da hab ich mich auch ziemlich aufgeregt,<br />

also ich hab nix gesagt jetzt, da denkt man halt, okay, lass die Leute schwätzen,<br />

das kannscht eh nicht än<strong>der</strong>n, aber... ansonsten, also wie gesagt, <strong>von</strong><br />

Freunden kam da nie irgend ’ne blöde Reaktion, die schauen sich’s halt an, wie<br />

er so ist und äh, sagen nett „Grüß Gott“ und „Hallo“ und sagen auch mal ’n paar<br />

kleinere Sätze, aber sonst gab’s eigentlich nichts...<br />

(vgl. Anhang, Interview 9)<br />

Beispiel 3:<br />

I: Jetzt kommen wir noch mal auf das, was Sie eben schon meinten <strong>mit</strong> Ihrer<br />

Oma, und zwar, viele erleben wirklich diesen deutlichen Unterschied, zwischen<br />

dem, wie in <strong>der</strong> Familie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung und auch <strong>mit</strong> dem <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung umgegangen wird, dass man den einfach liebt und dass er ein<br />

vollwertiges Familien<strong>mit</strong>glied ist, und den Reaktionen <strong>von</strong> außen, also <strong>der</strong> Umwelt,<br />

also sprich auch Nachbarn, Verwandtschaft, Bekannte, Freunde. Wie haben<br />

Sie des denn erlebt?<br />

B: Also ich denk, das war <strong>der</strong> Teil, wo sicherlich auch belastend war, für uns<br />

alle und auch einfach, weil das so verletzend oftmals war. Dass es wirklich<br />

101


dann hieß, ja Familienfeiern, ihr kommt, aber ohne Armin. Und uns gibt’s eben,<br />

uns gab’s nur zusammen, dann sind wir eben gar nicht gekommen. Ich denke,<br />

das ist äh, ähm, das hat uns aber, glaub, auch stark gemacht <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong>, dass<br />

wir eben gesagt haben, also uns gibt’s entwe<strong>der</strong> zusammen o<strong>der</strong> gar nicht, ja.<br />

[…] Also, ich denk, einfach so <strong>von</strong> <strong>der</strong> Seite, wo man’s vielleicht, o<strong>der</strong> wo wir’s<br />

am ehesten erwartet hätten, so <strong>von</strong> Verwandtschaft und so, da kam eigentlich<br />

nur zusätzliche Bürde, es kam keine Entlastung und dort, ich sag jetzt mal,<br />

wildfremde <strong>Menschen</strong>, wie Gertrud eben, die sich über die Gemeinde bei uns<br />

gemeldet hatte, und dann g’sagt hat, ja ich helf euch und, und, so viele Jahre<br />

uns begleitet hat als Familie und immer wie<strong>der</strong> einfach so, ich denk an euch,<br />

wie geht’s euch, wie geht’s dem Armin, grad so, es braucht ja oftmals nur so<br />

Kleinigkeiten, dass es einem irgendwo gut geht, den Tag über, dass kam <strong>von</strong><br />

'ner Seite, o<strong>der</strong> eben <strong>von</strong> Seiten, wo wir es eigentlich nicht erwartet haben. […]<br />

Und ja, ich denke also, die Reaktionen so <strong>von</strong> außen, o<strong>der</strong> auch dann irgend so<br />

Aussprüche, ja, so was hätte es unter Hitler nicht gegeben, wenn man einkaufen<br />

geht o<strong>der</strong> auch, ich denk, des ist heut seh ich das auch ein bisschen<br />

an<strong>der</strong>s, dass dann eben einem fremde Leute Geld in die Hand drücken und<br />

sagen, kaufen sie dem Kind doch was schönes. Ich denk, es ist auch schwierig,<br />

ne gute Reaktion zu zeigen, ich denk, die haben, die haben das sicherlich nicht<br />

böse gemeint, ich hab das als Jugendliche, ich habe das völlig blöd empfunden,<br />

also ich fand das gar nicht gut, warum, warum, krieg ich jetzt <strong>von</strong> irgendwelchen<br />

Geld, um meinem Bru<strong>der</strong> was zu kaufen o<strong>der</strong> mir was zu kaufen, des machen<br />

sie doch bei an<strong>der</strong>en auch nicht. Aber ich kann irgendwo kann ich heut auch<br />

eher verstehen, warum das so ist, ich denk, das ist einfach auch ne gewisse<br />

Hilflosigkeit, ja, wie geh ich um und wie, einfach weg gucken will man ja auch<br />

nicht und, und, irgendwas machen, o<strong>der</strong> was macht man und ja, ich denk aber<br />

trotzdem, es ist da einiges sich am verän<strong>der</strong>n.<br />

(vgl. Anhang, Interview 16)<br />

Beispiel 4:<br />

I: Mhm. Es ist ja oft ein deutlicher Unterschied, zwischen dem wie innerhalb <strong>der</strong><br />

Familie umgegangen wird <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung und zwischen <strong>der</strong> Reaktion <strong>der</strong><br />

Umwelt. Können Sie da auch was sagen, Erfahrungen?<br />

B: Ja die Umwelt, also hier aufm Dorf muss ich sagen, die ham des relativ offen<br />

und nett ham sie die Gisela aufgenommen. Aber ich kann mich schon an <strong>Situation</strong>en<br />

erinnern, wenn wir dann scho mal im Urlaub waren, also mal so 'nen<br />

Tagesurlaub, mehr war ja groß nicht drin, äh, und man war dann irgendwo,<br />

dass dann scho Leut gekommen sind und äh, äh, stehen geblieben sind und<br />

gegafft haben und äh, und eine <strong>Situation</strong> hab ich dann mal erlebt, da war ich<br />

dann schon älter, und da war ich in 'ner Gasstätte und da kamen dann äh, äh,<br />

Kin<strong>der</strong> aus em Föhrenbühl und sind da hin gesessen und nachher kam ein Gast<br />

und <strong>der</strong> hat dann zu <strong>der</strong> Wirtin gesagt, also sie soll doch bitte die Leute rausschicken,<br />

ihnen würd' ’s essen vergehen. Und da hab ich mich dann natürlich,<br />

die Wirtin hat dann gut reagiert, die hat dann nachher g’sagt, wenn einer geht,<br />

dann sind sie des und da hab ich mich dann natürlich bin ich auch zu dene Leut<br />

hin und dann hab ich dene also gehörig die Meinung gesagt.<br />

I: Haben Sie gemacht?<br />

102


B: Ja. Ja, weil des hat mich <strong>der</strong>maßen gestört, aber ich muss dazu sagen, da<br />

war ich dann auch schon älter.<br />

I: Ja und wie haben die dann reagiert, also?<br />

B: Die sind dann gegangen. Die Leut die haben dann, glaub ich, schon<br />

gemerkt, dass sie da ’nen großen Fehler gemacht haben, die sind dann<br />

gegangen.<br />

(vgl. Anhang, Interview 19)<br />

Beispiel 5:<br />

I: Mhm, ähm, es ist ja oft ein deutlicher Unterschied, zwischen dem wie innerhalb<br />

<strong>der</strong> Familie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung umgegangen wird und zwischen dem, wie<br />

die Umwelt darauf reagiert. Können Sie da auch bestimmte <strong>Situation</strong>en erzählen?<br />

Was Ihnen beson<strong>der</strong>s aufgefallen ist, eventuell.<br />

B: …Und also hier so in diesem Dorf, seit <strong>der</strong> Eric hier lebt, des ist ja jetzt auch<br />

schon 22 Jahre, da ist das ganz an<strong>der</strong>s, also hier leben eben sehr viele Leute,<br />

die einfach an den Plöner See gezogen sind, weil es schön ist, viele Hamburger,<br />

fremde Leute so, es gibt hier nicht diesen Dorfclan. Aber immerhin bei<br />

einem Dorf <strong>mit</strong> 700 Einwohnern auch auf ein paar Teile noch verteilt, könnte<br />

man sich so was eigentlich auch vorstellen, das ist aber nicht <strong>der</strong> Fall. Hier wird<br />

er schon doch eher begafft, die Leute rufen mich an, wenn er hier irgendwo,<br />

wenn er alleine auf Wan<strong>der</strong>schaft gegangen ist, aber es kann auch genauso gut<br />

sein, dass die nicht mich anrufen, son<strong>der</strong>n die Polizei rufen und, des hab ich<br />

auch schon erlebt, dass, er hatte mal so ne Phase, wo er immer öfter auf die<br />

Suche ging nach irgendwas und klingelte dann einfach an fremden Türen und<br />

dann rufen die einfach die Polizei, obwohl sie eigentlich theoretisch wissen, wo<br />

er hingehört.<br />

(vgl. Anhang, Interview 24)<br />

103


9. Zusammenfassung <strong>der</strong> Ergebnisse<br />

Wir werden nun unsere Ergebnisse kurz zusammenfassen. Anschließend werden<br />

wir diese den eingangs erläuterten <strong>Studien</strong> aus <strong>der</strong> Literatur gegenüberstellen.<br />

Familiensituation:<br />

Wir haben festgestellt, dass die gesamte Familie bei ständiger Anwesenheit des<br />

Kindes <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung unter einer starken Belastung steht, dies aber keine<br />

Auswirkungen auf die altersentsprechende Ablösung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> vom<br />

Elternhaus hat.<br />

Man könnte annehmen, dass diese gemeinsame Belastung die Familien enger<br />

zusammen schweißt, dies ist jedoch nur teilweise <strong>der</strong> Fall.<br />

Die Frage, ob die Familiengröße einen Einfluss auf die <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Hierzu haben wir sehr<br />

unterschiedliche Antworten bekommen.<br />

Eigene <strong>Situation</strong>:<br />

Es ist offensichtlich, dass die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> dem<br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung unsere Interviewpartner in sämtlichen Bereichen<br />

ihres Lebens beeinflussen.<br />

Beziehung zum <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung:<br />

Annähernd alle <strong>der</strong> befragten Personen <strong>von</strong> <strong>Situation</strong>en berichteten, in denen<br />

sie Rücksicht nehmen mussten o<strong>der</strong> sich über ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

geärgert haben. Neidisch auf die Gunst <strong>der</strong> Eltern waren dagegen nur wenige.<br />

Bezogen auf die Zukunft, ist es für nahezu alle unsere Interviewpartner eine<br />

Selbstverständlichkeit, sich um ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern.<br />

In einem gewissen Maß wollen sie ihr <strong>Geschwister</strong> auch in ihre eigene Familie<br />

integrieren.<br />

104


Beziehung zu den Eltern:<br />

Die Hälfte <strong>der</strong> Befragten gab an, dass ihre Beziehung zu den Eltern durch<br />

<strong>der</strong>en Zusatzbelastung beeinflusst wurde. Zwei Drittel <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> sind <strong>der</strong><br />

Meinung, dass ihre Eltern ausreichend Zeit für sie hatten. Sie empfanden ihre<br />

Familiensituation als „völlig normal“.<br />

Elternverhalten:<br />

Die Vermutung, die Eltern <strong>der</strong> Befragten hätten an ihre Kin<strong>der</strong> die Erwartung,<br />

dass diese die Leistungen, die das Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung nicht erfüllen kann,<br />

<strong>mit</strong>tragen müssen, stellte sich als falsch heraus. Alle unsere Interviewpartner<br />

durften frei und selbstständig entscheiden, wie sie ihre Zukunft gestalten wollten.<br />

Keiner hatte das Gefühl, er müsse auf Wünsche <strong>der</strong> Eltern Rücksicht nehmen.<br />

Alle Befragten schil<strong>der</strong>ten, dass das Loslassen des <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

für ihre Eltern ein großes Problem darstellte. Ein ähnliches Bild zeichnet<br />

sich bei <strong>der</strong> Verantwortungsübergabe ab. Auch dies fiel o<strong>der</strong> fällt den meisten<br />

Eltern schwer, außer wenn die Verantwortung innerhalb <strong>der</strong> Familie weiter gegeben<br />

wird.<br />

Umwelt/Gesellschaft:<br />

Die Mehrzahl unserer Interviewpartner konnte <strong>von</strong> Erfahrungen über unterschiedlichste<br />

Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt berichten. Diese reichten <strong>von</strong> sehr positiven<br />

bis hin zu extrem negativen Äußerungen. Die meisten <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong><br />

gaben jedoch an, da<strong>mit</strong> gut umgehen zu können.<br />

Gegenüberstellung:<br />

Belastung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>:<br />

Autoren wie Monika Seifert o<strong>der</strong> Heinrich Tröster, die sich bisher <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Situation</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung beschäftigten, kamen zu<br />

einem nahezu eindeutigen Ergebnis. Sie fanden heraus, dass das Zusammenleben<br />

im Alltag für die <strong>Geschwister</strong> eine generelle Belastung darstellt, die diese<br />

jedoch völlig unterschiedlich verarbeiten und bewältigen.<br />

105


Zu dementsprechenden Ergebnissen kamen wir auch in unserer Untersuchung,<br />

denn fast alle befragten Personen konnten <strong>von</strong> Belastungen im<br />

Zusammenleben <strong>mit</strong> ihrem <strong>Geschwister</strong> berichten. Wie unsere Interviewpartner<br />

<strong>mit</strong> diesen Belastungen umgingen und diese erlebten, zeigt sich in einigen <strong>der</strong><br />

Interviews deutlich, denn die Verarbeitungs- und Bewältigungsformen sind auch<br />

in diesem Fall sehr vielseitig.<br />

Zuwendung <strong>der</strong> Eltern:<br />

Alle zu Beginn angeführten Autoren sehen die Gefahr <strong>der</strong> Vernachlässigung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung. Die große Aufmerksamkeit auf die<br />

Bedürfnisse des Kindes <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung beansprucht sämtliche Kraft und Zeit<br />

<strong>der</strong> Eltern, so dass die <strong>Geschwister</strong> oft zu kurz kommen. Sehr wichtig ist deshalb<br />

eine bewusste Hinwendung <strong>der</strong> Eltern zu diesen.<br />

Lediglich Tröster differenziert hier und sagt, dass objektiv gesehen keine Vernachlässigung<br />

statt findet. Er räumt aber ein, dass das subjektive Empfinden<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s sein kann.<br />

Unsere Ergebnisse spiegeln dieses Bild nicht wie<strong>der</strong>. Der überwiegende Teil<br />

unserer Interviewpartner hatte nicht das Gefühl, dass sie <strong>von</strong> ihren Eltern zu<br />

wenig Zuwendung bekommen haben. Viele berichteten auch <strong>von</strong> einer bewussten<br />

Hinwendung <strong>der</strong> Eltern zu ihnen in bestimmten <strong>Situation</strong>en. Ein Drittel<br />

<strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> hätte sich mehr Zeit <strong>mit</strong> den Eltern gewünscht, räumte aber<br />

ein, dass die Behin<strong>der</strong>ung nicht die einzige Ursache für die nicht vorhandene<br />

Zeit war.<br />

Aggressionen <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>:<br />

In Werken <strong>von</strong> Autoren wie Ilse Achilles o<strong>der</strong> Heinrich Tröster kann man lesen,<br />

dass <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung ihren Ärger sowie ihre Wut<br />

auf diese sehr häufig unterdrücken. Da <strong>von</strong> ihnen regelmäßig Verständnis und<br />

Rücksicht erwartet wird, lassen sie ihren teilweise durchaus berechtigten Ärger<br />

auf das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung nicht zu.<br />

Die Aussagen <strong>der</strong> <strong>von</strong> uns befragten Personen bestätigen dies nicht, denn<br />

nahezu alle verliehen ihrem Ärger in solchen <strong>Situation</strong>en Ausdruck. Nach <strong>der</strong>en<br />

106


Sichtweise hatten jegliche ihrer Meinungsverschiedenheiten die gleiche<br />

Bedeutung wie ein ganz normaler Streit unter <strong>Geschwister</strong>n.<br />

Lediglich eine geringe Anzahl unserer Interviewpartner berichtete da<strong>von</strong>, ihre<br />

Aggressionen in solchen Momenten unterdrückt zu haben.<br />

Einflüsse auf die eigene Entwicklung:<br />

Achilles, Seifert und Hackenberg sind sich einig, dass das Zusammenleben <strong>mit</strong><br />

einem Kind <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung auf die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> Einfluss<br />

nimmt. Ob diese Beeinflussung positive o<strong>der</strong> negative Folgen hat, hängt <strong>von</strong><br />

vielen Faktoren ab. Auch in Schil<strong>der</strong>ungen <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n findet man beide<br />

Aspekte, allerdings tendiert ein etwas größerer Teil dazu, mehr positive Gesichtspunkte<br />

in <strong>der</strong> Beeinflussung zu sehen.<br />

Bei <strong>der</strong> Partnerwahl <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> spielt die Behin<strong>der</strong>ung fast immer eine<br />

Rolle. Viele sehen dies als einen Charaktertest und da<strong>mit</strong> als wichtiges Auswahlkriterium,<br />

welches sie positiv bewerten. Lediglich Seifert ist hier an<strong>der</strong>er<br />

Meinung.<br />

Bei <strong>der</strong> Berufswahl sind sich die Autoren wie<strong>der</strong> einig, dass die Behin<strong>der</strong>ung<br />

des <strong>Geschwister</strong>s keine o<strong>der</strong> nur eine sehr geringe Rolle spielt. Man findet zwar<br />

vereinzelt eine Tendenz zu sozialen Berufen, meist aber nicht zu <strong>der</strong> Arbeit <strong>mit</strong><br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen.<br />

Unsere Befragung brachte ähnliche Ergebnisse. Fast alle Interviewpartner waren<br />

<strong>der</strong> Ansicht, dass die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung ihr Leben beeinflusst hat.<br />

Auch im Bereich <strong>der</strong> Partnerwahl bestätigten sich die Ergebnisse. Die meisten<br />

gaben an, dass die Einstellung des Partners zu Behin<strong>der</strong>ungen ein wichtiges<br />

Auswahlkriterium sei.<br />

Die Berufswahl hatte bei einem Drittel unserer Befragten etwas <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

des <strong>Geschwister</strong>s zu tun. Allerdings arbeiten nur sehr wenige im sozialen<br />

Bereich, so dass man sagen kann, dass sich die Ergebnisse aus <strong>der</strong> Literatur<br />

ebenfalls bestätigt haben.<br />

107


Reaktionen <strong>der</strong> Umwelt:<br />

In vorhandener Literatur <strong>von</strong> Autoren wie Waltraud Hackenberg, Silvia Görres<br />

o<strong>der</strong> Ilse Achilles sowie in unserer eigenen Untersuchung können Betroffene<br />

<strong>von</strong> jeglichen Rektionen und Verhaltensweisen ihres Umfeldes bezüglich ihres<br />

<strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung berichten. Für einige <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> sind Erfahrungen<br />

dieser Art sehr belastend. An<strong>der</strong>en wie<strong>der</strong>um fällt es leichter, <strong>mit</strong><br />

solchen Erlebnissen umzugehen. In unseren Interviews gewannen wir den Eindruck,<br />

dass dies unter an<strong>der</strong>em da<strong>von</strong> abhängig ist, wie die Betroffenen selber<br />

<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung ihres <strong>Geschwister</strong>s gegenüberstehen und inwiefern sie sich<br />

persönlich da<strong>mit</strong> auseinan<strong>der</strong>gesetzt haben.<br />

Auch unsere Interviewpartner berichteten <strong>von</strong> ihren völlig unterschiedlichen<br />

Umgangsweisen <strong>mit</strong> Reaktionen <strong>der</strong> Öffentlichkeit auf ihr <strong>Geschwister</strong>.<br />

Sonstige:<br />

Die These „Die Familie rückt enger zusammen“ fanden wir sehr interessant.<br />

Wir waren uns sicher, dass die Zusatzbelastung die Familie entwe<strong>der</strong> enger<br />

zusammen rücken lässt o<strong>der</strong> das Gegenteil bewirkt. Wir fanden dazu keine Angaben<br />

in <strong>der</strong> Literatur und deshalb wollten wir die Wirkung überprüfen. Allerdings<br />

waren unsere Ergebnisse weniger interessant, als wir uns erhofft hatten.<br />

Nur ein Drittel <strong>der</strong> Befragten hatte tatsächlich das Gefühl, dass die Familie<br />

durch die Behin<strong>der</strong>ung enger <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> verbunden sei. Die meisten gaben<br />

an, dass sie dies nicht empfänden o<strong>der</strong> nicht beurteilen könnten. Von daher<br />

denken wir, dass man diese Fragestellung in weiteren Untersuchungen vernachlässigen<br />

kann.<br />

Viele <strong>der</strong> Betroffenen fühlen sich verpflichtet, sich im Alter (o<strong>der</strong> bei Tod<br />

<strong>der</strong> Eltern) um das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern.<br />

Wir wollten <strong>mit</strong> dieser These herausfinden, ob die <strong>Geschwister</strong> sich verpflichtet<br />

fühlen, sich um ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu kümmern o<strong>der</strong> ob dies für<br />

sie eine Selbstverständlichkeit ist. Das Ergebnis war eindeutig: Für die Mehrzahl<br />

unserer Befragten ist dies eine Selbstverständlichkeit. Sie wollen sich um<br />

ihr <strong>Geschwister</strong> kümmern. Wir denken, es wäre für viele <strong>Geschwister</strong> eine Erleichterung,<br />

wenn sie wüssten, was dies bedeutet. – Welche Bereiche <strong>der</strong> Verantwortung<br />

gibt es? Was heißt diese Verantwortungsübernahme konkret? Was<br />

108


muss berücksichtigt werden? – Dies sind Fragen, die viele <strong>Geschwister</strong> beschäftigen.<br />

Es wäre hilfreich, wenn es dafür eine Anlaufstelle gäbe, die eine<br />

Beratung hierzu anbieten würde – dies könnten wir uns auch im Rahmen einer<br />

<strong>Geschwister</strong>tagung <strong>der</strong> Einrichtung des <strong>Geschwister</strong>s vorstellen.<br />

Für fast alle unserer Interviewpartner ist es tatsächlich eine Selbstverständlichkeit,<br />

das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung später in die eigene Familie zu<br />

integrieren. Allerdings wurde oft genannt, dass sich dies in den Ferienzeiten<br />

teilweise etwas schwierig gestalte. Man möchte das <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

gerne zu sich holen, die Zeiten überschneiden sich jedoch oft <strong>mit</strong> den<br />

Ferienzeiten <strong>der</strong> eigenen Kin<strong>der</strong>. In denen möchte man gemeinsam wegfahren,<br />

was lei<strong>der</strong> oft nicht in dieser Besetzung möglich ist. Unserer Meinung nach<br />

müsste es mehr Ferienangebot für Familien <strong>mit</strong> Kin<strong>der</strong>n und Familienangehörigen<br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ungen geben. Es gibt bereits einige wenige Ferienstätten, in<br />

denen so etwas möglich ist. Es gibt in diesen Häusern Fachkräfte, welche die<br />

Betreuung <strong>der</strong> Person <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung übernehmen, falls in <strong>der</strong> Familie <strong>der</strong><br />

Wunsch entsteht einmal etwas alleine zu unternehmen. Wir denken, das Entstehen<br />

weiterer solcher Einrichtungen sollte geför<strong>der</strong>t und publik gemacht werden,<br />

da<strong>mit</strong> die <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> dieser Möglichkeit erfahren.<br />

Eltern <strong>von</strong> Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung können schwerer loslassen und die<br />

Verantwortung abgeben.<br />

Dem Großteil <strong>der</strong> Eltern unserer Befragten fiel das Loslassen des Kindes <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung sehr schwer. Bei <strong>der</strong> Verantwortungsabgabe zeichnete sich ein<br />

differenzierteres Bild ab. Sollte die Verantwortung an die eigenen Kin<strong>der</strong> übergeben<br />

werden, war dies in den meisten Fällen problemlos, bei an<strong>der</strong>en Personen<br />

fiel es den Eltern wesentlich schwerer. Wir sind <strong>der</strong> Meinung, dass man die<br />

Eltern hierbei durch Beratung und Begleitung unterstützen sollte. Dazu müssten<br />

solche Beratungsangebote eingerichtet werden.<br />

109


10. Schlussbemerkung<br />

Die Durchführung unserer Untersuchungen <strong>zur</strong> <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung war für uns persönlich sehr interessant und<br />

aufschlussreich.<br />

Einige <strong>der</strong> <strong>von</strong> uns aufgestellten Thesen konnten durch unsere Befragung<br />

bestätigt werden, an<strong>der</strong>e nicht. Es war uns nicht möglich, alle Aussagen <strong>der</strong><br />

<strong>von</strong> uns ausgewerteten <strong>Studien</strong> nach zu vollziehen, da wir teilweise zu wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />

Ergebnissen kamen. Unserer Ansicht nach besteht auf diesem<br />

Gebiet weiterhin Forschungsbedarf, zumal beson<strong>der</strong>s im deutschen Sprachraum<br />

vergleichsweise wenig Literatur vorhanden ist.<br />

Eine weitere Schlussfolgerung, die unsere Befragung und Auswertung nahe<br />

legt, ist, dass die bestehenden Hilfsangebote ausgeweitet werden sollten, im<br />

Beson<strong>der</strong>en im Bereich <strong>der</strong> Prävention. Wir sind <strong>der</strong> Meinung, dass sich viele<br />

Problematiken vermeiden ließen, wenn die Eltern frühzeitig auf die <strong>Geschwister</strong>situation<br />

aufmerksam würden. Dadurch würden die <strong>Geschwister</strong> weniger aus<br />

dem Blickwinkel <strong>der</strong> Eltern fallen.<br />

Abschließend halten wir fest, dass die meisten <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> die Problematiken,<br />

die sich aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> einem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

ergeben haben, gut verarbeitet haben und diese keine negativen Einflüsse auf<br />

die eigene Entwicklung hatten. Im Gegenteil in den meisten Fällen berichten die<br />

<strong>Geschwister</strong> über positive Einflüsse.<br />

110


11. Literatur<br />

Achilles, Ilse (1995): Was bei <strong>Geschwister</strong>n behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ist. In:<br />

Psychologie Heute, Heft 8, S. 40 - 43<br />

Achilles, Ilse (1997): „… und um mich kümmert sich keiner“ – Die <strong>Situation</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong>. München: Piper Verlag<br />

Achilles, Ilse (2002): <strong>Geschwister</strong> bleibt man sein Leben lang. In: Zusammen,<br />

Heft 10, S. 4 - 7<br />

Egle, Franz und Scheller, Christian: Was ist Behin<strong>der</strong>ung?<br />

http://www.talentmarketing.de/wahlpflichtfach/reha_web/1_behin<strong>der</strong>ung.htm<br />

(18.01.2005)<br />

Görres, Silvia (1987): Leben <strong>mit</strong> einem behin<strong>der</strong>ten Kind. München: Piper<br />

Verlag<br />

Hackenberg, Waltraud (1982): Untersuchung <strong>zur</strong> Psycho-sozialen <strong>Situation</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong>, Inaugural-Dissertation <strong>zur</strong> Erlangung <strong>der</strong><br />

Doktorwürde <strong>der</strong> Philosophischen Fakultät <strong>der</strong> Rheinischen Friedrichs-Wilhelms-Universität,<br />

Bonn<br />

Hackenberg, Waltraud (1983): Das behin<strong>der</strong>te Kind als Belastung und Chance<br />

für seine <strong>Geschwister</strong> – Ergebnisse aus einer empirischen Studie. In: Geistige<br />

Behin<strong>der</strong>ung, Heft 2, S. 87 - 96<br />

Hackenberg, Waltraud (1987): Die psycho-soziale <strong>Situation</strong> <strong>von</strong> <strong>Geschwister</strong>n<br />

behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong>. Heidelberg: Edition Schindele<br />

Hackenberg, Waltraud (1992): <strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong> im Jugendalter<br />

– Probleme und Verarbeitungsformen. Berlin: Edition Marhold<br />

Hackenberg, Waltraud (1993): Entwicklungsaufgaben für <strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter<br />

Kin<strong>der</strong> im Jugendalter. In: Geistige Behin<strong>der</strong>ung, Heft 2, S. 148 - 153<br />

Hünermund, Holger: Die Vielseitigkeit des Begriffs "Behin<strong>der</strong>ung"?<br />

http://www.behin<strong>der</strong>ung.org/definit.htm (18.01.2005)<br />

Mayring, Philipp (1993): Einführung in die qualitative Sozialforschung. Weinheim:<br />

Beltz Psychologie Verlags Union<br />

Neumann, Heike (2001): Verkürzte Kindheit - Vom Leben <strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter<br />

<strong>Menschen</strong>. Krummwisch: Königsfurt Verlag<br />

Schatz, Günther (1990): Familien <strong>mit</strong> geistig behin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong>n. In: Zeitschrift<br />

für Heilpädagogik, Heft 11, S. 753 - 761<br />

Seifert, Monika (1989): <strong>Geschwister</strong> in Familien <strong>mit</strong> geistig behin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong>n.<br />

Bad Heilbrunn/Obb.: Verlag Julius Klinkhardt<br />

111


Seifert, Monika (1990): Zur <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> <strong>von</strong> geistig behin<strong>der</strong>ten<br />

<strong>Menschen</strong> – Eine Studie aus ökologischer Sicht. In: Geistige Behin<strong>der</strong>ung, Heft<br />

2, S. 100 - 109<br />

Seifert, Monika (1997): Was bedeutet ein geistig behin<strong>der</strong>tes Kind für die<br />

Familie. In: Geistige Behin<strong>der</strong>ung, Heft 3, S. 237 - 250<br />

Sozialgesetzbuch IX (2003) München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv)<br />

Stangl, Werner (1997): Formen des qualitativen Interviews.<br />

http://arbeitsblaetter.stangltaller.at/FORSCHUNGSMETHODEN/Interview.shtml<br />

(20.01.2005)<br />

Strasser, Eva/ Wisnet, Christine/ Klingshirn, Edmund/ Schädler, Johannes<br />

(1993): Dir fehlt ja nichts! Die <strong>Situation</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>. In: Frühför<strong>der</strong>ung<br />

interdisziplinär, Heft 12, S. 115 - 123<br />

Tröster, Heinrich (1999): Sind <strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter o<strong>der</strong> chronisch kranker<br />

Kin<strong>der</strong> in ihrer Entwicklung gefährdet? Ein Überblick über den Stand <strong>der</strong> Forschung.<br />

In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Heft 3, S. 160 - 176<br />

Tröster, Heinrich (2000a): Erhalten <strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter o<strong>der</strong> chronisch<br />

kranker Kin<strong>der</strong> zu wenig elterliche Zuwendung? In: Heilpädagogische Forschung,<br />

Heft 1, S. 26 - 35<br />

Tröster, Heinrich (2000b): Die Belastung <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong><br />

durch Betreuungsaufgaben und Hausarbeit. In: Heilpädagogische Forschung,<br />

Heft 2, S. 80 - 92<br />

Tröster, Heinrich (2001): Die Beziehung zwischen behin<strong>der</strong>ten und nichtbehin<strong>der</strong>ten<br />

<strong>Geschwister</strong>n. Ein Überblick über den Forschungsstand. In: Zeitschrift<br />

für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, Heft 1, S. 2 - 19<br />

Winkelheide, Marlies (1992): Ich bin doch auch noch da – Aus <strong>der</strong> Arbeit <strong>mit</strong><br />

<strong>Geschwister</strong>n behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong>. Bremen: Trialog Verlag<br />

Winkelheide, Marlies (1994): „Ich bin doch auch noch da!“ In: Zusammen, Heft<br />

9, S. 6 - 11<br />

Winkelheide, Marlies und Knees, Charlotte (2003): …doch <strong>Geschwister</strong> sein<br />

dagegen sehr, Schicksale und Chancen <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong> behin<strong>der</strong>ter <strong>Menschen</strong>.<br />

Krummwisch: Königsfurt Verlag<br />

112


Anhang<br />

1. Fragenkatalog<br />

1. Wie viele <strong>Geschwister</strong> haben Sie?<br />

2. Hat Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu Hause gelebt?<br />

3. Falls zu Hause, empfanden Sie dies als Belastung?<br />

4. Falls nicht zu Hause, wie war es in den Ferienzeiten? Empfanden Sie dies<br />

als Belastung?<br />

5. Woran hat sich die Belastung gezeigt? Bitte nennen Sie ein Beispiel.<br />

6. Haben Sie sich <strong>mit</strong> Ihren <strong>Geschwister</strong>n über Ihre beson<strong>der</strong>e Familiensituation<br />

ausgetauscht?<br />

7. Inwieweit fanden Sie Rückhalt bei Ihren <strong>Geschwister</strong>n?<br />

8. Hatten Sie manchmal das Bedürfnis, sich in einigen <strong>Situation</strong>en <strong>mit</strong> einem<br />

weiteren <strong>Geschwister</strong> austauschen zu können?<br />

9. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Familie durch die Behin<strong>der</strong>ung Ihrer<br />

Schwester/Ihres Bru<strong>der</strong>s enger <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> verbunden ist?<br />

10. In welchen beson<strong>der</strong>en <strong>Situation</strong>en?<br />

11. Gab es <strong>Situation</strong>en in denen Sie sich über Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

geärgert haben?<br />

12. Haben Sie diesen negativen Gefühlen Ausdruck verliehen o<strong>der</strong> waren Sie<br />

gehemmt? Warum? Inwiefern?<br />

13. Gab/gibt es „seltsame“/eigenartige Verhaltensweisen Ihres <strong>Geschwister</strong>s<br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung, die Sie ärgerlich machen? Welche?<br />

14. Gab es <strong>Situation</strong>en in denen Sie neidisch auf Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

waren? In welchen? Warum?<br />

15. Inwiefern mussten Sie im Zusammenleben <strong>mit</strong> Ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung Rücksicht nehmen?<br />

16. Gab es <strong>Situation</strong>en, in denen Sie deshalb wütend waren?<br />

17. Welche?<br />

18. Hatten ihre Eltern Ihrer Meinung nach genügend Zeit für Sie?<br />

19. In welchen <strong>Situation</strong>en wünschten Sie sich, dass Ihre Eltern mehr Zeit für<br />

Sie alleine hatten?<br />

20. Wieso war diese Zeit für Sie nicht vorhanden?<br />

21. Haben Sie die Zusatzbelastung Ihrer Eltern oft gespürt?<br />

22. Worin hat sich dies gezeigt?<br />

23. Hatte dies große Auswirkungen auf Ihre eigene Beziehung zu Ihren Eltern?<br />

24. Welche?<br />

25. Viele erleben einen deutlichen Unterschied zwischen dem, wie innerhalb<br />

<strong>der</strong> Familie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung Ihres <strong>Geschwister</strong> umgegangen wird und<br />

dem Verhalten <strong>der</strong> Umwelt ihm gegenüber (Bekannte, Verwandtschaft,<br />

Nachbarn).<br />

War dies bei Ihnen auch so?<br />

26. Nennen Sie dazu bitte ein Beispiel!<br />

113


27. Haben die Erfahrungen aus dem Zusammenleben <strong>mit</strong> Ihrem <strong>Geschwister</strong><br />

<strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung Ihr Leben beeinflusst?<br />

28. In welchen Bereichen (Partnerwahl, Beruf, Freunde, Mobilität)?<br />

29. Wenn nein, warum nicht?<br />

30. Inwiefern glauben Sie, hat die spezielle <strong>Geschwister</strong>situation Ihre Ablösung<br />

vom Elternhaus im Jugendalter beeinflusst? (z.B. wesentlich früher o<strong>der</strong><br />

später)<br />

31. Denken Sie, dies wäre sonst an<strong>der</strong>s gewesen? Wie?<br />

32. Hatten Ihre Eltern Zukunftspläne für Sie?<br />

33. Welche?<br />

34. Hatte dies Auswirkungen auf Ihre Zukunftsentscheidungen?<br />

35. Meinen Sie, dies wäre an<strong>der</strong>s gewesen, wenn Sie kein <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

gehabt hätten?<br />

36. Wie gestaltete sich <strong>der</strong> Übergang, als Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung <strong>von</strong><br />

zu Hause in eine Einrichtung kam?<br />

37. Wie gingen Ihre Eltern da<strong>mit</strong> um?<br />

38. Hatten Sie das Gefühl, dieses „Loslassen“ fiel Ihren Eltern beson<strong>der</strong>s<br />

schwer?<br />

39. Woran hat sich das gezeigt?<br />

40. Wer hat momentan die Verantwortung für Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

(rechtlicher Betreuer und wer kümmert sich privat, z.B. Ferienzeiten)?<br />

41. Haben Sie das Gefühl, Ihre Eltern können/konnten diese Verantwortung nur<br />

schwer abgeben?<br />

42. Wie stellen Sie sich die Zukunft Ihres <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung vor?<br />

43. Machen Sie sich Sorgen darüber?<br />

44. Wie und wodurch hat das angefangen? Gab es dazu einen konkreten<br />

Anlass? Welchen?<br />

45. Inwiefern fühlen Sie sich verpflichtet, sich um Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

zu kümmern?<br />

46. Wie integrieren Sie Ihr <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung in Ihre eigene<br />

Familie?<br />

47. Ist das für Sie selbstverständlich?<br />

48. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihrem Partner und Ihren Kin<strong>der</strong>n<br />

und Ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung beschreiben?<br />

49. Kommt Ihr <strong>Geschwister</strong> in den Ferienzeiten <strong>der</strong> Einrichtung in ihre eigene<br />

Familie?<br />

50. Wie nehmen Ihre Kin<strong>der</strong> bzw. Ihr Partner das auf?<br />

114


2. Anschreiben<br />

Interviewpartner<br />

Strasse<br />

Ort<br />

Sehr geehrte XXXX,<br />

115<br />

Tamara Drittenpreis<br />

Hans-Holbein-Str. 1<br />

57076 Siegen<br />

0271-77349757<br />

0170-3476839<br />

Siegen, den 05.01.2005<br />

hier<strong>mit</strong> möchten wir Ihnen unseren gemeinsamen Interviewtermin am<br />

XX.XX.200X bestätigen. Den Tag und die Uhrzeit können wir noch telefonisch<br />

verabreden. Hierzu melde ich mich bei Ihnen.<br />

Wir danken Ihnen für Ihre Bereitschaft, <strong>mit</strong> uns über Ihre Erfahrungen im Zusammenleben<br />

<strong>mit</strong> Ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung zu sprechen.<br />

Im Rahmen unseres Gesprächs wollen wir auf folgende Fragen eingehen:<br />

1. Erfahrungen im alltäglichen Zusammenleben <strong>mit</strong> dem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ung<br />

2. Zusatzbelastung <strong>der</strong> Eltern und <strong>der</strong>en Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Situation</strong><br />

3. Auswirkungen auf die eigene Zukunft (Lebensgestaltung und Ablösung)<br />

4. Wie gestaltete sich die Verantwortungsabgabe und <strong>der</strong> Ablöseprozess Ihrer<br />

Eltern gegenüber Ihrem <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

5. Zukunft Ihres <strong>Geschwister</strong>s <strong>mit</strong> Behin<strong>der</strong>ung und Integration in Ihre Familie<br />

Wir freuen uns schon sehr auf unseren gemeinsamen Termin und verbleiben<br />

bis dahin <strong>mit</strong> herzlichen Grüssen,<br />

Tamara Drittenpreis Elisabeth Freund


3. Fragebogen<br />

Name:<br />

Vorname:<br />

Geburtsdatum:<br />

Familienstand:<br />

Beruf:<br />

<strong>Geschwister</strong>:<br />

Bitte listen Sie Ihre <strong>Geschwister</strong> <strong>mit</strong> Namen und Altersangaben auf.<br />

Bitte markieren Sie Ihr behin<strong>der</strong>tes <strong>Geschwister</strong>.<br />

____________ ____________ ____________ ____________<br />

(Name)<br />

____________ ____________ ____________ ____________<br />

(Alter)<br />

Welche Behin<strong>der</strong>ung hat Ihr <strong>Geschwister</strong>?<br />

Wo lebte Ihr behin<strong>der</strong>tes <strong>Geschwister</strong> früher, wo lebt es heute?<br />

Früher:<br />

Heute:<br />

Eltern: Mutter Vater<br />

Alter: _____________ _____________<br />

Berufe: _____________ _____________<br />

Leben Ihre Eltern zusammen o<strong>der</strong> getrennt? (Falls getrennt, seit<br />

wann?)<br />

116


4. Interviewabschriften<br />

Unsere Interviewabschriften finden Sie in einem separaten Teil.<br />

117


5. „Danke“<br />

„Danke“<br />

An dieser Stelle möchten wir allen Personen danken, die zum Gelingen unserer<br />

Diplomarbeit beigetragen haben. Wir haben uns sehr über die Hilfe und Unterstützung<br />

gefreut!<br />

Ein herzliches Dankeschön richten wir an:<br />

• Unsere Interviewpartner<br />

• Christa Schnell, für die Hilfe bei <strong>der</strong> <strong>Geschwister</strong>suche<br />

• Herrn Keicher und <strong>der</strong> Bundeselternvereinigung e.V.<br />

• Martin Schuberth, für das Korrekturlesen<br />

• Tobias Schnell, für die Hilfe in Computerfragen und seine sonstige<br />

Unterstützung<br />

• Unsere Eltern, für ihre Geduld und die vielen wertvollen Ratschläge<br />

Abschließend möchten wir all den Personen danken, die an dieser Stelle nicht<br />

namentlich erwähnt werden, in dieser Zeit aber für uns da waren und immer die<br />

passenden Worte fanden.<br />

118


Erklärung<br />

Folgende Kapitel hat Tamara Drittenpreis erstellt:<br />

Kapitel 3<br />

Kapitel 4.2, 4.4, 4.6<br />

Kapitel 6<br />

Kapitel 7<br />

Kapitel 8.1.2, 8.1.3, 8.1.4, 8.3.3, 8.4.1, 8.5.2<br />

Kapitel 10<br />

Folgende Kapitel hat Elisabeth Freund erstellt:<br />

Kapitel 4.1, 4.3, 4.5<br />

Kapitel 5<br />

Kapitel 8.1.1, 8.2.1, 8.3.1, 8.3.2, 8.4.2, 8.5.1, 8.6.1<br />

Folgende Kapitel wurden gemeinsam erstellt:<br />

Kapitel 1<br />

Kapitel 2<br />

Kapitel 4<br />

Kapitel 9<br />

Kapitel 11<br />

119


Versicherung<br />

Hier<strong>mit</strong> bestätigen wir, diese Diplomarbeit eigenständig und ohne fremde Hilfe<br />

erstellt zu haben.<br />

Alle verwendeten Quellen haben wir vollständig angegeben.<br />

Siegen, den 15. März 2005<br />

Tamara Drittenpreis Elisabeth Freund<br />

120

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