Präludium: Das Schiff Sie - Literaturzirkel
Präludium: Das Schiff Sie - Literaturzirkel
Präludium: Das Schiff Sie - Literaturzirkel
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<strong>Das</strong> Buch<br />
Einst war die River of Stars ein stolzer Luxusliner, der mit<br />
seinem gigantischen Magnetsegel im Sonnenwind flog und<br />
einem exklusiven Publikum die Wunder des Weltalls präsentierte.<br />
Aber Ende des 21. Jahrhunderts hat der <strong>Sie</strong>geszug des<br />
Fusionstriebwerks längst begonnen. Auch die River wurde<br />
mit dem neuen Antrieb ausgestattet und zu einem Transporter<br />
umgebaut, der nun zwischen Mars und Jupiter pendelt …<br />
Auf einem dieser Transportflüge stirbt unvermittelt Captain<br />
Hand. Sein Tod ist jedoch nur der Auftakt zu einer Kette von<br />
Katastrophen: Unter den exzentrischen Besatzungsmitgliedern<br />
der River brechen seit langem schwelende Konflikte<br />
auf. Intrigen und gegenseitige Unterstellungen bilden einen<br />
harten Kontrast zu den Wünschen nach Kameradschaft, Intimität<br />
und Geborgenheit in der Weite des Weltraums. Als<br />
dann ein Fusionsreaktor ausfällt, glaubt die alte »Segel«-<br />
Crew ihre Stunde gekommen: Heimlich wird das Magnetsegel<br />
wieder aktiviert. Doch der Versuch, den Glanz der alten<br />
Tage wiederzubeleben, gerät zum Desaster …<br />
»Der Fluss der Sterne« ist ein Weltraumabenteuer, wie es so<br />
noch nicht geschrieben wurde – eine grandiose Mischung<br />
aus Space Opera und klassischer Seefahrergeschichte, ein<br />
psychologisches Drama vor der Kulisse des unendlichen<br />
Weltraums.<br />
Der Autor<br />
Michael Flynn, Jahrgang 1947, arbeitet neben seiner schriftstellerischen<br />
Tätigkeit als Statistiker. Mit seinen Romanen<br />
und Erzählungen zählt er seit Jahren zu den bedeutendsten<br />
zeitgenössischen Science-Fiction-Autoren der USA. Er lebt<br />
in Easton, Pennsylvania.
MICHAEL FLYNN<br />
DER<br />
DERFLUSS<br />
STERNE<br />
Roman<br />
Aus dem Amerikanischen<br />
von Andreas Brandhorst<br />
Deutsche Erstausgabe<br />
WILHELM HEYNE VERLAG<br />
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe<br />
THE WRECK OF The RiveR of STaRS<br />
Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst<br />
Verlagsgruppe Random House f sc-d e u-0100<br />
<strong>Das</strong> für dieses Buch verwendete f sc-zertifizierte Papier<br />
München Super liefert Mochenwangen.<br />
Deutsche Erstausgabe 3/08<br />
Copyright © 2003 by Michael Flynn<br />
Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by<br />
Wilhelm Heyne Verlag, München<br />
in der Verlagsgruppe Random House GmbH<br />
www.heyne.de<br />
Printed in Germany 2008<br />
Umschlagbild: Manchu<br />
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München<br />
Satz: Greiner & Reichel, Köln<br />
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck<br />
ISBN: 978-3-453-52367-8
für Charles Sheffield,<br />
einen Gentleman, Gelehrten<br />
und guten freund.
Die Crew<br />
Evan Dodge Hand. .......................Captain<br />
Stepan Gorgas .....................Erster Offizier<br />
’Abd al-Aziz Corrigan ...............Zweiter Offizier<br />
Eugenie Satterwaithe .. Dritter Offizier und Segelmeister<br />
Der verstorbene Enver Bey Koch ............Ingenieur<br />
Ramakrishnan Bhatterji ..................Ingenieur<br />
Mikoyan Hidei ....................Ingenieursmaat<br />
<strong>Das</strong> Lotosjuwel ...................Sysop und Purser<br />
Eaton Grubb. .......Biosysteme/ Lebenserhaltung/ Koch<br />
Franziska Wong, Dr. med. ...............Bordärztin<br />
Timothy »Moth« Ratline ...............Frachtmeister<br />
Nkieruke Okoye ...................Erster Wrangler<br />
Raphael »Rave« Evermore ...........Zweiter Wrangler<br />
Vierundzwanzig deCant ............ Dritter Wrangler<br />
Ivar Akhaturian ..................Letzter Wrangler<br />
Bigelow Fife ...........................Passagier
<strong>Präludium</strong>: <strong>Das</strong> <strong>Schiff</strong><br />
S ie nannten sie River of Stars, und im Jahr 2051 breitete<br />
sie ihre supraleitenden Sonnenwindsegel aus. Damals<br />
musste sie einen prachtvollen Anblick geboten haben: der<br />
Rumpf neu und glänzend, ihre Segel in Regenbogenfarben<br />
schimmernd, die Besatzungsmitglieder mit weißen<br />
Handschuhen und in schwarz-silbernen Uniformen, die<br />
Passagiere reich und köstlich dekadent. Es waren Morphi-<br />
Stars und mit Juwelen geschmückte Matriarchinnen, Sporthelden<br />
und Prostituierte, Gangster, Computerfreaks und<br />
Mitglieder sogenannter Königshäuser. In jenen Glamourjahren<br />
beherrschten Magnetsegel den Himmel, und die<br />
River of Stars war das größte und prächtigste <strong>Schiff</strong> einer<br />
wunderschönen Flotte.<br />
Doch die ruhmvollen Jahre vergingen schnell. Coltraine<br />
war noch ihr Captain, als das Geschäft mit dem Luxus<br />
nachließ und aus der Flut der Reichen und Berühmten ein<br />
Rinnsal wurde. Und selbst jenen wenigen, die noch nach<br />
dem Erlebnis lechzten, wurde klar, dass es nicht mehr der<br />
Mode entsprach. Aber wie Coltraine zu Toledo sagte, als er<br />
ihr das Kommando übergab: <strong>Das</strong> Geschäft mit dem Luxus<br />
war von Anfang an zum Untergang verurteilt gewesen.<br />
Sex, Laster und Dekadenz hatten einen sichereren Platz auf<br />
9
der Erde. Für ein <strong>Schiff</strong> mit solchen Schwingen gab es noch<br />
ehrbare, wenn auch alltägliche Dinge zu tun.<br />
Der Mars war damals das Zentrum des Geschehens.<br />
Abenteurer, Sandkönige, Taugenichtse, Terraformer, zweite<br />
Söhne, unanständige Mädchen und Zeppelinpiloten – der<br />
Mars zog sie an, brach einige und spuckte andere aus.<br />
Selbst Besatzungsmitglieder ließen sich manchmal beim<br />
Erreichen des Mars auszahlen und machten sich auf zu den<br />
bunten Verlockungen von Port Rosario. »Manchen Reichtum<br />
ward gegeben«, hieß es in dem alten Lied,<br />
10<br />
»andren nahm der Mars das Leben.<br />
Manche erschienen im heuerhort.<br />
Und wollten wieder zurück an Bord.«<br />
Toledo und später auch Johnson und Fu-hsi trugen Hoffnungen<br />
nach draußen und kehrten mit Splittern zurück.<br />
Jene Epoche war von einer prickelnden Energie bestimmt<br />
gewesen, die die müde alte Erde seit LEOs * Zähmung während<br />
der Zermürbenden Zehner nicht mehr gesehen hatte,<br />
und das Erkunden neuer Grenzen bereitete der River mehr<br />
Stolz als das Streicheln der Reichen und Berühmten.<br />
<strong>Das</strong> Farnsworth-Triebwerk leitete schließlich ihren Niedergang<br />
ein. Fu-hsi sah es kommen und quittierte den<br />
Dienst, was vor ihr kein anderer Captain der River getan<br />
hatte. So fiel es Terranova zu, das einst stolze <strong>Schiff</strong> gedemütigt<br />
zu sehen. Magnetsegel hatten das All vierzig Jahre<br />
beherrscht, und die River of Stars fast zwanzig, doch das<br />
Farnsworth-Triebwerk machte Jupiters Monde zur neuen<br />
* LEO: Low Earth Orbit, dt. tiefer Erdorbit; Anm. d. Übers.
Grenze. <strong>Das</strong> Luna-Ganymed-Rennen ging in die Geschichte<br />
ein, und das Magnetsegel wurde nur noch als Fusionskorrekturtriebwerk<br />
eingesetzt. Terranova hätte sich nie<br />
auf die Wette einlassen sollen, aber es war eine Frage des<br />
Stolzes – und der Stolz liebt die Niederlage mehr als eine<br />
Kapitulation.<br />
Für eine Weile blieb die River in Jupiters Magnetosphäre<br />
und war geschäftlich aktiv, indem sie der äußeren Atmosphäre<br />
des Gasriesen Wasserstoff entnahm. Die Rivers hielten<br />
sich lange Stunden im schier unerträglichen Heulen der<br />
Kompressoren auf und bestätigten sich gegenseitig, wie<br />
wichtig sie noch waren.<br />
»Die farnsworther können nicht fliegen,<br />
ohne den ›h‹, den sie von uns kriegen.«<br />
Doch tief in ihrem Herzen wussten sie, dass sie nicht mehr<br />
waren als Wasserträger für die Atomis.<br />
2083 kaufte die Centaurus Corporation die MSS River<br />
of Stars und stattete sie in den Deimos-Werften mit vier<br />
Farnsworth-Käfigen aus. Für die Crew war das die größte<br />
Demütigung. Sakrileg, rief einer der Veteranen, als sie ihre<br />
Kojen aufgaben, und der Rest bereitete Ingenieur und Maat<br />
nicht unbedingt ein herzliches Willkommen. Die River<br />
behielt sowohl Segel und Takelage – wegen der Flexibilität,<br />
behauptete das Management – als auch ihre geschätzte<br />
MSS-Bezeichnung. Offiziell galt sie als »Hybridschiff«, inoffiziell<br />
als Bastard. Der Segelmeister grübelte über die Situation<br />
nach, und vier Tage hinter Deimos ging er durch die<br />
Luftschleuse, um mit dem Langen Weg zu beginnen. Den<br />
Ingenieur ließ er mit einem Messer im Herzen zurück.<br />
11
Es kam zu einem großen Skandal. Der Untersuchungsausschuss<br />
war eine Sensation, und die Entscheidung stand<br />
bereits fest. Centaurus legte die River still, ohne sie je geflogen<br />
zu haben.<br />
Rettet die River!, erscholl der Ruf. Segelbegeisterte voller<br />
Sehnsucht nach der Zeit des Zaubers und der Romantik<br />
verpfändeten ihre Habseligkeiten – obwohl Zauber und Romantik<br />
zu jenem Zeitpunkt bereits verschwunden waren.<br />
Die Crew investierte ihre Prämien und Gefahrenzulagen,<br />
und auf dem Totenbett fügte Coltraine seinem Testament<br />
ein großzügiges Kodizill hinzu. <strong>Das</strong> Konsortium kaufte die<br />
River, nahm sie auseinander und baute sie zum Frachter<br />
um. Die Luxusmodule, der Klub Drei Delfine, das Kasino<br />
Schwarzer Himmel – nichts davon blieb übrig. Die River<br />
bestand nur noch aus der einen, dicken Scheibe der ehemaligen<br />
primären Decks, und große Teile der inneren Sektionen<br />
wurden aufgegeben. Nur der lange, elegante Aerogel-<br />
Hauptmast erinnerte an vergangene Segelzeiten – doch er<br />
diente allein der Zierde. Auf Wirtschaftlichkeit kam es an,<br />
und nach einem letzten, viel zu kurzen Segelflug wurden<br />
die supraleitenden Ringe aufgespult und gelagert.<br />
Und so kam es, dass im Jahr 2084 der Allgemeinen Ära<br />
die MSS River of Stars als Trampfrachter aufbrach und damit<br />
begann, im Mittleren System Frachtgut zu transportieren.<br />
Anschließend ging es mit ihrem Glück zu Ende.<br />
12
Der Captain<br />
E van Dodge Hand, Captain des Trampschiffs River of<br />
Stars, seufzte und blickte in den Belüftungsschacht seiner<br />
Kabine. Der Schmerz schien jetzt fern zu sein, irgendwie<br />
irreal, als beträfe er jemand anders. Sein Körper war<br />
nur noch eine Hülle, etwas, das keine Rolle mehr spielte. Er<br />
hatte das Gefühl, dass er – der »Er«, der er selbst war – damit<br />
begann, den Leib zu verlassen und darüber zu schweben.<br />
»Mr. Gorgas«, wandte er sich an den Ersten Offizier,<br />
der ein wenig abseits saß, mit einem ’Puter beschäftigt.<br />
»Mr. Gorgas, ich habe das Gefühl zu schweben.«<br />
Der Erste Offizier Stepan Gorgas sah kaum von seinem<br />
Laptop auf. »Natürlich schweben <strong>Sie</strong>. <strong>Das</strong> Triebwerk ist<br />
deaktiviert. Derzeit beschleunigen wir nicht.« Er fragte sich<br />
bei diesen Worten, warum Corrigan noch nicht auf den<br />
Grund dafür hingewiesen hatte.<br />
»Tragen <strong>Sie</strong> dies ins Logbuch ein, Mr. Gorgas: Wenn ein<br />
Mensch stirbt, schwebt seine Seele fort. Die Beobachtung<br />
könnte sehr bedeutsam sein. Sorgen <strong>Sie</strong> dafür, dass sie<br />
gepostet wird.«<br />
Gorgas seufzte. »In Ordnung«, sagte er und brachte seine<br />
österreichische Infanterie näher an Austerlitz heran. Die<br />
klei nen Regimentsquadrate krochen über die Karte auf<br />
13
dem Clipscreen. Es war ihm zugefallen, in dieser Nacht<br />
beim Captain zu sitzen, aber das bedeutete nicht, dass er<br />
Gefallen an dieser Pflicht fand oder dass sie seine volle<br />
Aufmerksamkeit verlangte. Jemanden beim Sterben zuzusehen<br />
… Dabei gab es kaum etwas, das den Kopf beschäftigt<br />
hielt. Gorgas hatte acht Jahre unter Hands Kommando<br />
gearbeitet, länger als sonst jemand an Bord, abgesehen von<br />
Satterwaithe und Ratline, und fünfundneunzig Monate<br />
davon hatte er Hand verabscheut.<br />
Der Captain beobachtete das Gitter des Belüftungsschachts.<br />
Es wies viele Quadrate auf, stellte Hand fest.<br />
Vielleicht zahllose. Eine absurde Vorstellung. Ihre Anzahl<br />
musste begrenzt sein. Es erschien ihm aus irgendeinem<br />
Grund wichtig, die Quadrate zu zählen, und so begann<br />
Hand damit. Es wurde kalt in der Kabine, und er wollte die<br />
Decke hochziehen, doch sein Arm bewegte sich nicht. Er<br />
schien gar keinen Arm mehr zu haben. »Wie sonderbar«,<br />
sagte er.<br />
Gorgas achtete nicht auf ihn, aber nach einer Weile<br />
wurde ihm bewusst, dass Hand nicht darauf hingewiesen<br />
hatte, was er sonderbar fand. Er blickte durchs Zimmer,<br />
bemerkte den entspannten Ausdruck in Hands Gesicht und<br />
den in die Leere reichenden Blick.<br />
Gorgas seufzte verärgert. »<strong>Schiff</strong>«, sagte er barsch, als<br />
hätte die künstliche Intelligenz ihre Pflichten vernachlässigt.<br />
»Warte«, meldete sich das <strong>Schiff</strong>.<br />
»Nachricht. An: Dr. Wong. Text: Hand ist gestorben.<br />
Senden.«<br />
»Bestätigung.«<br />
Gorgas speicherte seinen Schirm mit den vorrückenden<br />
14
Franzosen, löste den Gurt und schwebte durch die Kabine.<br />
Die Farnsworths lieferten einen Schub von etwas mehr<br />
als vier Milligees, gerade genug Beschleunigung, um dem<br />
Raum eine vage Vorstellung von oben und unten zu geben.<br />
Aber Bhatterji hatte das Triebwerk deaktiviert, und<br />
Gorgas schwebte wie ein Engel zur Koje des Captains und<br />
verharrte darüber.<br />
ich bin über den Captain aufgestiegen, dachte er. Metaphorisch<br />
und intellektuell war das oft der Fall gewesen,<br />
aber jetzt stimmte es buchstäblich. Gorgas verzichtete<br />
darauf, die Leiche zu berühren, ihre Kleidung zurechtzurücken<br />
oder ihr die Augen zu schließen. Er sah einfach<br />
nur in das erschlaffte, friedliche Gesicht und stellte fest,<br />
dass der Blick jener Augen auf etwas in der Ferne gerichtet<br />
zu sein schien. Was hat hand gesehen?, fragte er sich. Und<br />
worüber lächelt er?<br />
Wahrscheinlich darüber, das Kommando abzugeben.<br />
Noch im Tod freute er sich über das Durcheinander, das er<br />
Gorgas hinterlassen hatte.<br />
Franziska Wong, Dr. med., neuestes Mitglied jenes Durcheinanders,<br />
erweckte den Eindruck, nur aus Stöcken und<br />
Zwirn zu bestehen; ein ordentliches Schütteln schien mehr<br />
zu sein, als ihre Ligamente aushalten konnten. Unterarme<br />
und Unterschenkel waren lang und spindeldürr, die Brüste<br />
klein.<br />
Darin bestand der Fluch der Raumgeborenen: <strong>Das</strong> Fleisch<br />
für die länger gewordenen Glieder wurde anderen Teilen<br />
des Körpers gestohlen. <strong>Das</strong> störte sie manchmal, wenn sie<br />
von der Erde oder dem Mars stammende Bilder von Schönheit<br />
betrachtete.<br />
15
Wong hatte an der LEO-Universität in Goddard City Medizin<br />
studiert und sich (notgedrungen) auf die Krankheiten<br />
der Mirkogravitation spezialisiert. Zwei Jahre hatte sie in<br />
Goddards Klinik verbracht, zwei weitere in High Nairobi,<br />
dabei von Abenteuern und dem Anblick ferner, exotischer<br />
Orte geträumt. Dann war die fS Ned DuBois gekommen,<br />
ohne Bordarzt, und sie hatte die Chance genutzt.<br />
Doch das Innere eines <strong>Schiff</strong>es wies große Ähnlichkeit<br />
mit dem Innern eines Orbitalhabitats auf, und auch mit den<br />
Labyrinthen unter der Oberfläche von Luna und Mars, wie<br />
sie bald feststellte. Kleine, enge Zimmer und schmale Korridore;<br />
recycelte Luft, recyceltes Wasser und nach einiger<br />
Zeit auch recycelte Gedanken. Nach und nach, über die<br />
Jahre hinweg, gab Wong die Suche nach fernen, exotischen<br />
Orten auf, ohne sich nie ganz von der Hoffnung zu trennen,<br />
dass sie existierten.<br />
Die Leiche des Captains war für sie eine Rüge. <strong>Sie</strong> hatte es<br />
nicht geschafft, ihn am Leben zu erhalten. Es war ihr nicht<br />
einmal gelungen, eine Diagnose zu erstellen. Behutsam<br />
streckte sie die Glieder, schloss die Augen und bedeckte<br />
das Gesicht. Der arme Mann wirkte im Tod sehr zerbrechlich:<br />
irgendwie kleiner, als wäre etwas aus ihm gewichen.<br />
Wohin auch immer er entschwunden sein mochte – Evan<br />
Hand hatte die River of Stars verlassen.<br />
Der Erste Offizier Gorgas saß über seinen ’Puter gebeugt<br />
und hatte kaum auf Wong reagiert, als sie hereingekommen<br />
war. Die Ärztin vermutete, dass er sich nach dem Tod<br />
des Captains um wichtige administrative Dinge kümmern<br />
musste. <strong>Sie</strong> vermerkte die Zeit im medizinischen Logbuch<br />
des <strong>Schiff</strong>es und fügte ihre Bestätigung hinzu – rechtlich<br />
gesehen starb der Captain in diesem Moment, und sie hatte<br />
16
das Gefühl, ihn auf eine obskure, bürokratische Weise getötet<br />
zu haben.<br />
Wong schob die Ränder des Tuchs unter den Leichnam,<br />
damit es in der Schwerelosigkeit nicht fortschwebte,<br />
während sie einen Leichensack aus dem Lager holte. »Ich<br />
schätze, von nun an wird es an Bord nicht mehr so ›Evan<br />
Hand-ed‹ * zugehen.«<br />
Der Erste Offizier sah von einem ’Puter auf. »Wie bitte?<br />
Erlauben <strong>Sie</strong> sich einen Scherz? Der Captain ist gerade gestorben,<br />
und <strong>Sie</strong> machen sich über seinen Namen lustig?«<br />
Wong nahm den Vorwurf mit geneigtem Kopf entgegen.<br />
<strong>Das</strong> Wortspiel hatte Evan sehr gefallen. Er hatte es selbst<br />
oft benutzt, und Wong hatte es wiederholt, um einen Teil<br />
seines bizarren Humors zu erhalten. Spott lag ihr fern. Gorgas<br />
war viele Jahre mit dem Captain unterwegs gewesen,<br />
und deshalb musste ihn Hands Tod besonders hart getroffen<br />
haben. Er behielt seinen Schmerz für sich, wie viele<br />
Männer, aber trotzdem brauchte er ein Wort des Trostes.<br />
»<strong>Das</strong> <strong>Schiff</strong> wird ihn vermissen«, sagte Wong.<br />
<strong>Sie</strong> vermisste ihn zweifellos. Evan war ein fröhlicher<br />
Mensch gewesen, immer mit einem Lächeln auf den Lippen,<br />
immer zu einem Scherz bereit. Der Erste Offizier<br />
erschien ihr ernst, aber mit all den Lastern und ohne die<br />
Tugenden, die Ernst mit sich brachte. Ja, sie war erst seit<br />
kurzer Zeit an Bord der River, und Gorgas’ ernstes Gebaren<br />
und seine Bissigkeit mochten nur eine Maske sein für den<br />
Kummer, den er angesichts des Todes eines guten Freunds<br />
empfand.<br />
* Unübersetzbares Wortspiel: »even-handed« bedeutet so viel wie gerecht,<br />
unvoreingenommen; Anmerkung des Übersetzers.<br />
17
Unterdessen widmete sich Gorgas wieder seiner Simulation<br />
von Austerlitz. Die Spielintelligenz hatte die französischen<br />
Streitkräfte auf eine völlig unerwartete Weise<br />
bewegt. Ein Defekt in der Erfahrungsbasis des neuralen<br />
Netzes? Oder ein subtiles Manöver, dessen Bedeutung er<br />
nicht verstand? Gorgas versuchte, sich auf die Regimentsquadrate<br />
zu konzentrieren, aber die Bemerkung der Bordärztin<br />
ließ ihn nicht los. Warum der Scherz? Lag verborgene<br />
Verachtung darin? Über Wongs Präsenz grübelte er<br />
nach, seit Hand sie bei Achilles an Bord geholt hatte. <strong>Sie</strong><br />
hatte das Gesicht eines Pferds und den Charakter eines<br />
Schafs. Aber Gorgas erinnerte sich an Hands breites Grinsen<br />
und fragte sich, ob Wong ihm mehr gegeben hatte als<br />
nur ihre Referenzen. Die Verordnung verlangte, dass bei<br />
jedem Transit, der länger als drei Monate dauerte, ein Arzt<br />
zur Crew gehört, doch Hand hatte nicht lange gesucht, um<br />
jene Koje zu füllen. Ein Glücksfall, hatte er gesagt. Eine<br />
Ärztin, die von ihrem früheren <strong>Schiff</strong> zurückgelassen worden<br />
war – sie hatte verschlafen und dadurch das Auslaufen<br />
verpasst. Aber Achilles war klein, wusste Gorgas, und die<br />
Crew der Krasnarow schien nicht lange nach dem fehlenden<br />
Besatzungsmitglied gesucht zu haben.<br />
Tief unten im <strong>Schiff</strong>, im düsteren roten Licht des Triebwerkskontrollraums,<br />
umgeben von scharfen, elektrischen<br />
Gerüchen und dudelsackartigem Summen, sah Ramakrishnan<br />
Bhatterji auf das diagnostische Display. Er wirkte wie<br />
jemand, der erleben musste, dass seine langjährige Geliebte<br />
plötzlich nicht mehr zu ihm ins Bett kommen wollte; oder,<br />
besser gesagt, dass sie steif und kalt neben ihm lag, ohne<br />
auf seine Liebkosungen zu reagieren.<br />
18
»Keine Fusion«, sagte er, halb schockiert und halb verletzt.<br />
»Überhaupt keine Energie.«<br />
»Vielleicht liegt es am Timing«, erwiderte der Ingenieursmaat.<br />
»Ja …« Bhatterji schlug mit dem Testgurt auf seine flache<br />
Hand, als er darüber nachdachte. »<strong>Das</strong> Timing ist sehr<br />
wichtig«, sagte er. »Beim Farnsworth-Triebwerk wie bei<br />
der Liebe. Alles muss im richtigen Moment zusammenkommen:<br />
das Einfügen, das Festklammern, das schnelle<br />
Pulsieren und die viel zu kurze Freigabe reiner Energie.«<br />
Er beobachtete, wie sich die glatten, jungen Wangen seines<br />
Maats röteten. Die Verfärbung reichte bis zur Kopfhaut,<br />
und das dortige blonde Stoppelhaar schien ebenfalls rot<br />
zu werden. Bhatterji lächelte, gestattete sich aber nicht,<br />
an zukünftige Freuden zu denken. <strong>Das</strong>s solche Unschuld<br />
existierte, verdiente Würdigung; und dass sie bald verloren<br />
gehen würde, konnte man bedauern. Aber sie würde an<br />
Ramakrishnan Bhatterji verloren gehen, und darauf konnte<br />
er sich freuen. Er legte die Hand auf Mikos geschmeidige<br />
und anmutige Schulter. »Man muss dem Triebwerk gut<br />
zureden«, sagte er. »Man muss es streicheln, damit es den<br />
erwarteten Dienst leistet.« Er drückte ein wenig zu und<br />
fühlte, wie fest das Fleisch unter dem Overall war.<br />
Mikoyan Hidei hatte den <strong>Schiff</strong>svertrag bei Amalthea unterschrieben<br />
und befand sich inzwischen seit etwas mehr<br />
als hundert Tagen an Bord. Jeder einzelne dieser Tage lief<br />
für den Ingenieur auf köstliche Agonie hinaus, denn sein<br />
Maat war graziös und wunderschön – die schönste Jugendliche,<br />
die er in vielen Jahren gesehen hatte, Rave Evermore<br />
nicht ausgeschlossen. Weitaus weniger reizende Figuren<br />
zierten die Tempel von Khajuraho, wo alle der Liebe be-<br />
19
kannten Stellungen in zeitlosem Stein erstarrt sind. Im<br />
Ver trag hatte Miko ihr Alter mit siebzehn angegeben und<br />
dabei sicher ein wenig übertrieben. Vermutlich eine Ausreißerin.<br />
Geflohen vor einem langweiligen Leben in der<br />
Landwirtschaft oder bei der Sauerstoffgewinnung. Oder sie<br />
hatte nur von elterlicher Autorität genug gehabt und war<br />
aufgebrochen, um nach fernen Horizonten zu suchen.<br />
»Wie lange bleiben wir genullt?«, erklang eine Bass-Stimme.<br />
Es war eine kantige Stimme, von spröden Konsonanten<br />
bearbeitet. Jedes Wort wurde mit großer Deutlichkeit<br />
ausgesprochen, und erst nach dem Ende der letzten Silbe<br />
wagte es das nächste Wort, den Kopf zu heben. <strong>Das</strong> Ergebnis:<br />
Ein schlichter Gruß klang wie eine Proklamation, eine<br />
einfache Frage wie eine Forderung. Bhatterji hielt nicht viel<br />
von Forderungen, brachte ein Lächeln vor seine Zähne und<br />
drehte sich zum Neuankömmling um.<br />
Der Zweite Offizier ’Abd al-Aziz Corrigan wirkte verbrannt,<br />
wie jemand, der zu lange dem Feuer ausgesetzt<br />
ge wesen war. Es lag zum einen Teil an der endlosen Sonne<br />
der himmelslosen Leere, und zum anderen an den Mikromaschinen,<br />
die seinen Körper vor dem dauernden Regen<br />
der kosmischen Strahlung schützten. Seine Haut fühlte sich<br />
ledrig an: hart, aber auch flexibel. Hinzu kam ein leicht<br />
scharfer Geruch, der an ungepflegtes Leder erinnerte. Wie<br />
die Bordärztin hatte er den langen, schmächtigen Leib der<br />
Raumgeborenen; allerdings kam er von den Asteroiden<br />
und nicht von LEO. Bhatterji stellte ihn sich als Schlange<br />
vor, ein Bild, das von seinen tief in den Höhlen liegenden<br />
Reptilienaugen und einer Zunge, die immer wieder die<br />
Lippen befeuchtete, verstärkt wurde. Den Begriff Schlange<br />
verwendete man oft in Bezug auf die Raumgeborenen, aber<br />
20
höfliche Leute vermieden ihn, zumindest in der Präsenz<br />
von Schlangen.<br />
»Wir haben die Fehlfunktion noch nicht lokalisiert«,<br />
sagte Bhatterji. Dieses Eingeständnis fiel ihm schwer.<br />
Corrigans Blick huschte von Bhatterji zu Miko. Er verabscheute<br />
den Schmutz des Maschinenraums, der selbst<br />
dann unordentlich wirkte, wenn sich alles an seinem Platz<br />
befand. Bhatterji selbst war ein gedrungener Klumpen von<br />
einem Mann: hässlich, mit dicken Fingern und einer Nase,<br />
die er sich einmal bei einem Kampf gebrochen hatte und<br />
die nachlässig gerichtet worden war. Für Corrigan gab es<br />
keinen großen Unterschied zwischen dem Ingenieur und<br />
dem hirnlosen Triebwerk.<br />
Bei seinem Maat sah die Sache ganz anders aus. Ein<br />
elfenhaftes Gesicht, die Haut blass – Mikoyan Hidei bildete<br />
ästhetisch den totalen Kontrast zum Ingenieur. <strong>Sie</strong> war<br />
elegant und gutmütig, hatte ein Lächeln, das Corrigan beunruhigend<br />
verführerisch fand. <strong>Das</strong>s man sie außerhalb<br />
der Dienstzeit kaum sah, machte sie noch geheimnisvoller.<br />
Der Blick des Zweiten Offiziers folgte Miko auch dann,<br />
als er zum Ingenieur sprach. »Ohne Beschleunigung wird<br />
unsere Transitzeit länger. Wir kommen mit der Strömung<br />
vom Kurs ab – je eher <strong>Sie</strong> die Sache in Ordnung bringen,<br />
desto besser.«<br />
Bhatterji hatte durch nichts zu erkennen gegeben, dass er<br />
Verzögerungen für gut hielt, und es ärgerte ihn, auf Offensichtliches<br />
hingewiesen zu werden. Wenn es irgendetwas<br />
gab, das er nicht übers <strong>Schiff</strong> wusste, so war Corrigan gewiss<br />
nicht imstande, solche Wissenslücken zu füllen. »Ich<br />
bringe es in Ordnung«, knurrte er. Ihm gefiel auch nicht,<br />
dass der Zweite Offizier alte Magnetsegel-Begriffe verwen-<br />
21
dete. Heutzutage sagte niemand mehr »Strömung«, wenn<br />
er die Gravitation meinte. Die alten Magnetsegel-Leute<br />
schienen nicht begreifen zu wollen, dass die Geschichte<br />
sie längst überholt hatte.<br />
»Vielleicht handelt es sich um eine physische Fehlfunktion«,<br />
sagte Miko. »Was ist, wenn etwas die Projektoren<br />
draußen beschädigt hat? Wenn die Koordinierung der Projektoren<br />
nicht mehr stimmt … Dann gerät das Timing<br />
durcheinander, oder?«<br />
Bhatterji dachte darüber nach. »Ja, könnte sein. Es gibt<br />
mehrere Möglichkeiten. Software. Hardware.« Er schüttelte<br />
den Kopf. »Schwer zu sagen.«<br />
»<strong>Sie</strong> vergeuden Zeit«, knurrte Corrigan. »Es ist mir gleich,<br />
worin die Fehlfunktion besteht. Ich will, dass so schnell<br />
wie möglich eine Reparatur stattfindet.« Es störte ihn nicht,<br />
»genullt« – G-Null, ohne Schwerkraft – zu sein; ein Raumgeborener<br />
empfand die Schwerelosigkeit als normal. Es<br />
ging ihm vielmehr gegen den Strich, dass etwas nicht in<br />
Ordnung war.<br />
»Ich brauche mehr Daten«, beharrte Bhatterji.<br />
»Dann beschaffen <strong>Sie</strong> sie.« <strong>Das</strong> dauernde Zaudern des<br />
Ingenieurs ging Corrigan auf die Nerven.<br />
»Ich könnte nach draußen gehen«, wandte sich Miko an<br />
Bhatterji. »Ich überprüfe dort die Hardware, und <strong>Sie</strong> kontrollieren<br />
alles von hier aus …«<br />
Bhatterji antwortete nicht sofort, denn die Leere entsetzte<br />
ihn. Draußen gab es ionisierende Strahlung von Sonneneruptionen,<br />
außerdem endlose Kälte, endloses Vakuum und<br />
vor allem die Endlosigkeit selbst. Wenn man den Kontakt<br />
mit dem <strong>Schiff</strong> und die Orientierung verlor, fiel man bis<br />
in alle Ewigkeit. Wie Enver Koch, der in die Dunkelheit<br />
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE<br />
Michael Flynn<br />
Der Fluss der Sterne<br />
Roman<br />
DEUTSCHE ERSTAUSGABE<br />
Paperback, 800 Seiten, 13,5 x 20,6 cm<br />
ISBN: 978-3-453-52367-8<br />
Heyne<br />
Eine einzigartige Reise in die Tiefen des Alls<br />
Erscheinungstermin: März 2008<br />
Die „River of Stars“ war einstmals ein stolzes Passagierschiff. Majestätisch blähten sich<br />
ihre Magnetsegel im Sonnenwind. Dann aber wurde sie ausgemustert und nun pendelt sie<br />
als Frachter zwischen Mars und Jupiter. Bis sie durch einen Unfall aus dem Sonnensystem<br />
katapultiert wird und das größte aller Abenteuer beginnt … In der Tradition von Robert A.<br />
Heinlein, Isaac Asimov und Arthur C. Clarke schreibt Michael Flynn die großen Weltraum-Epen<br />
unserer Zeit – ein atemberaubendes Science-Fiction-Erlebnis.