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Boris Godunov in der ENO mit RCB98.pdf

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<strong>Boris</strong> <strong>Godunov</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>ENO</strong> <strong>mit</strong> RCB<br />

Opern wie Verdis »Don Carlo« o<strong>der</strong> Mussorgskys »<strong>Boris</strong> Godunow« nehmen e<strong>in</strong>en<br />

beson<strong>der</strong>en Platz <strong>in</strong> den Herzen <strong>der</strong> Opernbesucher e<strong>in</strong>, weil sie an diesen Werken<br />

beson<strong>der</strong>s den Schwung, die Kraft und die künstlerische Ambition schätzen. Es ist ke<strong>in</strong><br />

Geheimnis, dass die Komponisten <strong>in</strong>tensiv an diesen Opern gearbeitet und jahrelang<br />

neue Lösungen für werk<strong>in</strong>terne Probleme und Wi<strong>der</strong>sprüche gesucht haben. Mit den<br />

verschiedenen Fassungen von »Don Carlo« (französische Fassung, italienische<br />

Fassung, <strong>mit</strong> o<strong>der</strong> ohne Fonta<strong>in</strong>ebleau-Szene, <strong>mit</strong> o<strong>der</strong> ohne Ballett etc.) s<strong>in</strong>d die<br />

Bewun<strong>der</strong>er <strong>der</strong> Oper gut vertraut, und die Vorzüge <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Versionen sorgen für<br />

lebhafte Debatten. Irgendwie s<strong>in</strong>d sie al-le bühnentauglich und <strong>in</strong>teressant. Von »<strong>Boris</strong><br />

Godunow« gibt es m<strong>in</strong>destens zwei selbständige Fassungen. E<strong>in</strong>e davon besteht aus<br />

drei Teilen, wobei <strong>der</strong> erste und <strong>der</strong> dritte Teil <strong>in</strong> und um Moskau spielen und <strong>der</strong> zweite<br />

Teil <strong>in</strong> Polen angesiedelt ist. Dies ist die spätere Form des Werkes. In ihrer<br />

ursprünglichen Gestalt weist die Oper zwei Teile auf, die <strong>in</strong> <strong>in</strong>sgesamt sieben Szenen<br />

geglie<strong>der</strong>t s<strong>in</strong>d und den <strong>in</strong> Polen spielenden Teil <strong>der</strong> Handlung auslassen. In dieser<br />

zweiteiligen (dreistündigen) »<strong>Boris</strong>«-Version, die die English National Opera (<strong>ENO</strong>) für<br />

ihre Neuproduktion gewählt hat, jagen sich die Geschehnisse <strong>mit</strong> be<strong>in</strong>ahe unbarmherziger<br />

dramatischer Schubkraft.<br />

Francesca Zambello braucht <strong>in</strong> ihrer von starkem Theater<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt und <strong>in</strong>dividuellen Ideen<br />

geprägten Inszenierung e<strong>in</strong>ige Zeit, bis aus dem Stück e<strong>in</strong>e wirklich packende<br />

Tragödie wird. Das liegt e<strong>in</strong>erseits an <strong>der</strong> gewählten Fassung, denn durch die<br />

Auslassung des polnischen Handlungsteiles geht dem Werk e<strong>in</strong>iges an Schwung und<br />

Zauber verloren, und natürlich auch e<strong>in</strong>e weitere Stunde Spieldauer. Der Polen-Akt wird<br />

beherrscht von <strong>der</strong> polnischen Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong> Mar<strong>in</strong>a, die an <strong>der</strong> Intrige zum Sturz des<br />

Zaren <strong>Boris</strong> vom russischen Thron <strong>mit</strong>wirkt. Motiviert werden ihre Aktivitäten u.a. da<strong>mit</strong>,<br />

dass sie römisch-katholisch ist, während <strong>Boris</strong> dem russisch-orthodoxen Glauben<br />

anhängt. In Zambellos Inszenierung wird das Lynchen <strong>der</strong> Jesuiten <strong>in</strong> Moskau im letzten<br />

Akt beson<strong>der</strong>s hervorgehoben, was aber unmotiviert wirkt, weil die an<strong>der</strong>en<br />

katholischen Elemente <strong>der</strong> Oper fehlen. E<strong>in</strong>e weitere Folge <strong>der</strong> Streichung des Polen-<br />

Aktes ist das völlige Fehlen <strong>der</strong> Figur <strong>der</strong> Mar<strong>in</strong>a, so dass die Oper be<strong>in</strong>ahe ohne<br />

solistisch e<strong>in</strong>gesetzte weibliche Stimmen auskommen muss (es gibt nur die an e<strong>in</strong>er<br />

Szene beteiligte Schenkwirt<strong>in</strong> und die unbedeutende Rolle <strong>der</strong> Zaren-Tochter Xenia).<br />

Des weiteren kommt h<strong>in</strong>zu, dass die <strong>ENO</strong> »<strong>Boris</strong> Godunow«, wie alle Produktionen des<br />

Hauses, <strong>in</strong> englischer Sprache s<strong>in</strong>gen lässt. Vor- und Nachteile von Opernübersetzungen<br />

müssen hier nicht diskutiert werden, aber es soll doch angemerkt<br />

werden, dass <strong>der</strong> spezielle Klangcharakter verloren geht, wenn e<strong>in</strong>e russische Oper nicht<br />

<strong>in</strong> ihrer Orig<strong>in</strong>alsprache gesungen wird. E<strong>in</strong> aufschlussreiches Beispiel dafür f<strong>in</strong>det sich im<br />

Chor-Part zur Krönungsszene von Zar <strong>Boris</strong>: Der wie<strong>der</strong>holte Ausruf ,,Glory“ ist e<strong>in</strong>fach<br />

ke<strong>in</strong>e akzeptable Alternative zu den offenen Vokalen und <strong>der</strong> unmissverständlichen<br />

Wucht des russischen Wortes ,,Slava“. Mit diesem H<strong>in</strong>weis soll nicht die künstlerische<br />

Politik <strong>der</strong> <strong>ENO</strong> kritisiert, son<strong>der</strong>n lediglich festgestellt werden, dass durch den<br />

Versuch, bestimmte Opern e<strong>in</strong>em englischsprachigen Publikum auf solche Weise<br />

näherzubr<strong>in</strong>gen, etwas vom Reichtum <strong>der</strong> orig<strong>in</strong>alen Schöpfung auf <strong>der</strong> Strecke bleibt.


Für sich genommen ist die englische Übersetzung des Librettos von David Lloyd-Jones<br />

exzellent.<br />

Vielleicht, um <strong>der</strong> Oper e<strong>in</strong>e gewisse Un<strong>mit</strong>telbarkeit zu verleihen, haben die<br />

Regisseur<strong>in</strong> und ihr Ausstattungsteam (Bühne: Hildegard Bechtler, Kostüme: Nicky<br />

Gillibrand) zeitgenössische Elemente e<strong>in</strong>gefügt, ohne allerd<strong>in</strong>gs ganz auf Bezüge zur<br />

Regentschaft von Zar <strong>Boris</strong> vor vier Jahrhun<strong>der</strong>ten zu verzichten. E<strong>in</strong>ige<br />

Kostümentwürfe sche<strong>in</strong>en an <strong>der</strong> Kleidung orientiert zu se<strong>in</strong>, die heutzutage <strong>in</strong> Russland<br />

getragen wird. Im Programmheft wird po<strong>in</strong>tiert darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die Oper <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Zeit spielt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unruhen Russland erschüttern. Dadurch werden auf dezente<br />

Weise Parallelen zu heutigen Nachrichten über <strong>Boris</strong> Jelz<strong>in</strong>, <strong>der</strong> die brodelnde Nation<br />

<strong>mit</strong> schw<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Autorität führt, aufgezeigt.<br />

Die Regisseur<strong>in</strong> und <strong>der</strong> Dirigent Paul Daniel animierten alle künstlerischen Kräfte zu<br />

hervorragenden Leistungen. E<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigsten Akteure war <strong>der</strong> <strong>ENO</strong>-Chor, <strong>der</strong><br />

eigens für diese Produktion vergrössert worden ist. Er repräsentierte das russische<br />

Volk, und je<strong>der</strong> Chorist stellte e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Figur <strong>mit</strong> typischen Charakterzügen dar.<br />

Der Diktion hätte <strong>der</strong> Chor mehr Aufmerksamkeit wid men müssen, ansonsten aber war<br />

se<strong>in</strong>e Leistung musterhaft. Das <strong>ENO</strong>-Orchester wuchs durch die Herausfor<strong>der</strong>ung dieser<br />

gewaltigen Partitur über sich h<strong>in</strong>aus. John Toml<strong>in</strong>son, dessen Visitenkarte se<strong>in</strong> Wotan<br />

ist, gab e<strong>in</strong>en brillanten <strong>Boris</strong>. Mit se<strong>in</strong>er stimmlichen und darstellerischen Kraft hätte er<br />

sich leicht zur bühnenbeherrschenden Persönlichkeit aufspielen können, aber er fügte<br />

sich engagiert <strong>in</strong> das Ensemble und die Gesamtkonzeption e<strong>in</strong>. Nahezu je<strong>der</strong> Solist<br />

lieferte e<strong>in</strong> lebendiges und detailliertes Rollenporträt ab, wobei <strong>der</strong> Pimen von John<br />

Connell und <strong>der</strong> Schuiskij von Robert Tear beson<strong>der</strong>es Lob verdienen. E<strong>in</strong>zig Della<br />

Jones, die als Schenkwirt<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Bühne stand, fiel etwas aus dem Rahmen.<br />

Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, dass dieser »<strong>Boris</strong>« lange im Gedächtnis<br />

bleiben wird. Die meisten von ihnen s<strong>in</strong>d positiver Art, zwei davon absolut<br />

unvergesslich: Der erste ist die Entscheidung <strong>der</strong> Regie, <strong>Boris</strong>’ Sohn und<br />

rechtmässigen Erben Fjodor nach dem Tod des Zaren töten zu lassen. Während<br />

Fjodors Unfähigkeit, die Macht zu übernehmen, auch schon <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Produktionen<br />

<strong>in</strong>szeniert worden ist, werden durch den offenen Mord an dem Jungen (durch Brechen<br />

des Genicks) die Brutalität und das Chaos, dem Russland nach <strong>Boris</strong>’ Tod<br />

entgegengeht, zum Ausdruck gebracht. Dieses Detail <strong>der</strong> Aufführung war zwar<br />

abschreckend, machte aber durchaus S<strong>in</strong>n. Die zweite unvergessliche Er<strong>in</strong>nerung dieser<br />

Vorstellung ist <strong>der</strong> Gottesnarr, e<strong>in</strong>e Art heiliger Dummkopf, e<strong>in</strong>e typisch russische Figur. In<br />

vielen Aufführungen wird er <strong>mit</strong> k<strong>in</strong>dlicher, fast <strong>in</strong>s Falsett kippen<strong>der</strong> Stimme gesungen<br />

und als e<strong>in</strong>e Art verrückter Gelehrter dargestellt. Hier ist er, ganz wie die Titelfigur, e<strong>in</strong><br />

leidenschaftlicher, <strong>mit</strong>fühlen<strong>der</strong>, emotionaler Charakter. Diese Konstellation wirft<br />

<strong>in</strong>teressante Fragen auf über die Grenzen zwischen echtem menschlichen Gefühl und<br />

unkontrollierbarem Wahns<strong>in</strong>n. So wie Timothy Rob<strong>in</strong>son den Part <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>em vollen,<br />

prächtigen Tenor gesungen hat, wurde <strong>der</strong> Gottesnarr zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>samen Warnstimme,<br />

die e<strong>in</strong>er kopfüber <strong>in</strong> die Selbstzerstörung taumelnden Nation den Ruf nach gesundem<br />

Menschenverstand entgegenschleu<strong>der</strong>t. Wer kann da noch sagen, Oper sei nicht<br />

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