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84<br />

Heinz von Loesch<br />

MUSICA POETICA –<br />

DIE GEBURTSSTUNDE DES KOMPONISTEN?<br />

HEINZ VON LOESCH<br />

Zu den prominentesten Begriffen einer Ideengeschichte der Komposition gehört<br />

der Begriff der „Musica poetica“. Er gilt, wie Wilibald Gurlitt es formulierte,<br />

als „Geburtsstunde des Komponisten im modernen Sinne des Wortes“ 1 .<br />

In dieser Deutung gelangte der Begriff, zumal in der deutschen Musikwissenschaft,<br />

zu ganz besonderen Ehren: von Hermann Zenck 2 und Wilibald Gurlitt<br />

3 über Hans Heinrich Eggebrecht 4 und Carl Dahlhaus 5 bis hin zu Klaus<br />

1 W. Gurlitt, Musik und Rhetorik. Hinweise auf ihre geschichtliche Grundlageneinheit<br />

(1944), in: ders., Musikgeschichte und Gegenwart. Eine Aufsatzfolge, Bd. I, Wiesbaden<br />

1966 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft I), S. 72.<br />

2 H. Zenck, Grundformen deutscher Musikanschauung, in: Jahrbuch der Akademie der<br />

Wissenschaften in Göttingen für 1941/42, Göttingen 1942, auch in: Numerus und affectus.<br />

Studien zur Musikgeschichte, Kassel usw. 1959.<br />

3 W. Gurlitt, Der Begriff der Sortisatio in der deutschen Kompositionslehre des<br />

16. Jahrhunderts (1942), in: ders., Musikgeschichte und Gegenwart. Eine Aufsatzfolge,<br />

Bd. I, a. a. O.; ders., Musik und Rhetorik, a. a. O.; ders., Die Kompositionslehre des deutschen<br />

16. und 17. Jahrhunderts (1953), in: ders., Musikgeschichte und Gegenwart. Eine<br />

Aufsatzfolge, Bd. I, a. a. O.<br />

4 H. H. Eggebrecht, Heinrich Schütz. Musicus poeticus, Göttingen 1959; ders., Opusmusik,<br />

in: ders., Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik, Wilhelmshaven<br />

1977; ders., Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis<br />

zur Gegenwart, München 1991.<br />

5 C. Dahlhaus, Musica poetica und musikalische Poesie, in: Archiv für Musikwissenschaft<br />

1966; ders., Musikästhetik, Köln 1967; ders., Plädoyer für eine romantische Kategorie<br />

– Der Begriff des Kunstwerks in der neuesten Musik, in: ders., Schönberg und andere.<br />

Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik, Mainz 1978; ders., Tonsystem und Werkbegriff als<br />

Paradigmen Systematischer Musikwissenschaft, in: ders. und H. de la Motte-Haber (Hrsg.),<br />

Systematische Musikwissenschaft, Wiesbaden 1982 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft,<br />

Bd. 10); ders., Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Erster Teil: Grundzüge<br />

einer Systematik, Darmstadt 1984 (= Geschichte der Musiktheorie, Bd. 10).


Musica Poetica – die Geburtsstunde des Komponisten?<br />

Wolfgang Niemöller 6 , Klaus-Jürgen Sachs 7 , Wilhelm Seidel 8 und Peter Cahn 9 .<br />

Doch so einhellig die Deutung des Begriffs „Musica poetica“ als „Komposition<br />

im modernen Wortsinn“ auch war – bei genauerer Betrachtung erweist sie<br />

sich als durch und durch verfehlt.<br />

In seiner frühesten Formulierung bei Nicolaus Listenius (1533 10 bzw.<br />

1537 11 ) bedeutet „Musica poetica“ überhaupt nicht „Komposition“. Der Begriff<br />

zielt vielmehr auf einen weiten Bereich des musikalischen Herstellens im<br />

Unterschied zum musikalischen Wissen und zum musikalischen Handeln. Die<br />

Komposition ist nur ein möglicher Teilbereich, nur ein mögliches Beispiel<br />

dafür. In der Musica von 1537 schreibt Listenius:<br />

Poetica, quae neque rei cognitione, neque<br />

solo exercitio contenta,<br />

sed aliquid post laborem relinquit operis,<br />

ueluti cum à quopiam Musica aut Musicum<br />

carmen conscribitur,<br />

cuius finis est opus consumatum & effectum. 12<br />

Die Musica poetica ist weder mit der Erkenntnis<br />

der Sache [also dem, was die<br />

Musica theorica tut] noch mit bloßer<br />

Übung [der Musica practica] zufrieden,<br />

sondern läßt ein Stück Werk nach der Arbeit<br />

zurück,<br />

wie beispielsweise wenn von jemandem<br />

eine Musiklehre oder ein musikalischer<br />

Gesang verfaßt wird;<br />

ihr [d. h. der Musica poetica] Ziel ist das<br />

vollbrachte und vollendete Werk. 13<br />

6 K. W. Niemöller, Zum Einfluß des Humanismus auf Position und Konzeption von<br />

Musik im deutschen Bildungssystem der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: W. Rüegg<br />

und A. Schmitt (Hrsg.), Musik in Humanismus und Renaissance, Weinheim 1983; ders.,<br />

Zum Paradigmenwechsel in der Musik der Renaissance. Vom numerus sonorus zur musica<br />

poetica, in: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht<br />

über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis<br />

1992, hrsg. von H. Boockmann u. a., Göttingen 1995; ders., Die musikalische Rhetorik und<br />

ihre Genese in Musik und Musikanschauung der Renaissance, in: H. F. Plett (Hrsg.), Renaissance-Rhetorik,<br />

Berlin und New York 1993.<br />

7 K.-J. Sachs, Musikanschauung, Musiklehre, Musikausbildung, in: L. Finscher<br />

(Hrsg.), Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts, Laaber 1989 (= Neues Handbuch der<br />

Musikwissenschaft, Bd. 3,1).<br />

8 W. Seidel, Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte, Darmstadt 1987.<br />

9 P. Cahn, Zur Vorgeschichte des „Opus perfectum et absolutum“ in der Musikauffassung<br />

um 1500, in: K. Hortschansky (Hrsg.), Zeichen und Struktur in der Musik der Renaissance.<br />

Ein Symposium aus Anlaß der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung<br />

Münster (Westfalen) 1987, Kassel usw. 1989.<br />

10 N. Listenius, Rudimenta musicae in gratiam studiosae iuventutis diligenter comportata,<br />

Wittenberg 1533.<br />

11 N. Listenius, Musica, Wittenberg 1537.<br />

12 N. Listenius, Musica, Wittenberg 1537; Nürnberg 1549; Nachdruck der Ausgabe<br />

1549, hrsg. mit einer Einführung von G. Schünemann, Berlin 1927, fol. a 3v.<br />

13 Deutsche Übersetzung in: H. von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen<br />

85


86<br />

Heinz von Loesch<br />

Dass diese Definition bis heute so gut wie ausnahmslos für eine Definition<br />

der musikalischen Komposition gehalten wurde, beruhte, wie es scheint, auf<br />

zwei Fehldeutungen: auf der falschen Übersetzung des unscheinbaren Wörtchens<br />

„Musica“ wie auf der Verkennung des gesamten Satzgefüges. Man deutete<br />

das Wörtchen „Musica“ schlicht als „Musik“ – als klingende Musik – und<br />

übersah, dass der Halbsatz, in dem es vorkommt, „ueluti cum à quopiam Musica<br />

aut Musicum carmen conscribitur“, nur ein Nebensatz ist, eingeleitet<br />

durch die Konjunktion „wie zum Beispiel, beispielsweise“. Und so ging man<br />

kurzerhand davon aus, dass das Ziel der Musica poetica darin bestehe, eine<br />

„Musik oder einen musikalischen Gesang zu verfassen“ – also zu komponieren.<br />

Über die seltsame Alternative von „Musik oder musikalischen Gesang“<br />

machte man sich keine Gedanken.<br />

Nun bedeutet, wie schon Werner Braun erkannte 14 , „Musica“ in diesem<br />

Zusammenhang aber nicht „Musik“, sondern „Musiklehre“, und zwar nicht im<br />

Sinne einer Disziplin, sondern im Sinne eines gegenständlichen Traktats: Listenius’<br />

Musica, aus der wir hier zitieren, ist eine Musiklehre. Und „Musica<br />

aut Musicum carmen“, das heißt „eine Musiklehre oder ein musikalischer Gesang“,<br />

sind auch nicht das Ziel der Musica poetica. Das Ziel der Musica poetica<br />

besteht im „vollbrachten und vollendeten Werk“, für das „eine Musiklehre<br />

oder ein musikalischer Gesang“ lediglich zwei Beispiele sind – Beispiele,<br />

deren relative Beliebigkeit in der Konjunktion „aut“ („oder“) zum Ausdruck<br />

kommt. Besteht das Ziel der Musica poetica aber im vollbrachten und vollendeten<br />

Werk, für das die Abfassung eines musikalischen Gesangs wie einer<br />

Musiklehre als Beispiele genannt werden, so kann es sich bei der Musica poetica<br />

selbstredend auch nicht um „Komposition“ handeln. Gemeint sein muss<br />

vielmehr ein weiterer Bereich der herstellenden, hervorbringenden Musik im<br />

Allgemeinen – eben einer „poietischen“ Musik im Unterschied zu einer praktischen<br />

und einer theoretischen Musik.<br />

Dass „Musica“ in diesem Zusammenhang aber tatsächlich „Musiklehre“<br />

bedeutet – eine Bedeutung, die aus dem Text des Listenius nicht mit letzter<br />

Gewissheit herauszulesen ist, eine Bedeutung, an der aber, gleich wie an einem<br />

seidenen Faden, mein Einspruch gegen das bisherige Verständnis des Begriffes<br />

„Musica poetica“ hängt –, erhellt zweifelsfrei aus einem anderen<br />

Musiktheorie des 16. und 17. Jahrhunderts: Ein Mißverständnis, Hildesheim <strong>2001</strong> (= Studien<br />

zur Geschichte der Musiktheorie 1), S. 122 (im Druck).<br />

14 W. Braun, Deutsche Musiktheorie des 15. bis 17. Jahrhunderts. Zweiter Teil: Von<br />

Calvisius bis Mattheson, Darmstadt 1994 (= Geschichte der Musiktheorie, Bd. 8/II), S. 40.<br />

Siehe dazu auch H. von Loesch, „Musica“ und „opus musicum“. Zur Frühgeschichte des<br />

musikalischen Werkbegriffs, in: Festschrift Helga de la Motte-Haber zum 60. Geburtstag,<br />

Würzburg 1998; ders., Nicolaus Listenius, Musica (1537), in: Musiktheorie 1999, S. 359;<br />

ders., Der Werkbegriff in der protestantischen Musiktheorie, a. a. O., S. 56 ff.


Musica Poetica – die Geburtsstunde des Komponisten?<br />

musiktheoretischen Traktat des 16. Jahrhunderts: aus der Musica practica von<br />

Johannes Oridryus (1557). In der Musica practica von Oridryus, die die Musica<br />

von Listenius über weite Strecken nur paraphrasiert, ist just der Terminus<br />

„Musica“ durch einen anderen Terminus ersetzt: durch „praecepta artis“,<br />

durch „Vorschriften der Kunst“. Laut Oridryus ist die Musica poetica die,<br />

quae … aliquid post laborem relinquit operis,<br />

nempe cum praecepta artis aut cantio aliqua<br />

a quopiam conscribitur,<br />

cuius finis est opus absolutum et perfectum. 15<br />

Was aber sollen „praecepta artis“ („Vorschriften der Kunst“), „conscribitur“<br />

(„abgefaßt“, zu Papier gebracht), anderes sein als eine Musiklehre, ein musikalischer<br />

Traktat?<br />

Analog zu einem Verständnis der Musica poetica als einem weiteren Bereich<br />

des Herstellens bzw. Hervorbringens ist die Musica practica bei Listenius<br />

und Oridryus auch nicht, wie allgemein angenommen, die musikalische<br />

Reproduktion. Die Musica practica zielt vielmehr gleichfalls auf einen weiteren<br />

Bereich: auf den Bereich des musikalischen Handelns. Zu diesem gehört<br />

neben der „Reproduktion“ – dem Singen – auch noch das praktische Unterrichten.<br />

Bei Oridryus lautet die Definition der „Musica practica“ wie folgt:<br />

Practica seu activa dicitur,<br />

quae circa sonorum ac consonantiarum praxin<br />

consistit et in opus ipsum prodit,<br />

nullo tamen post actum opere relicto,<br />

cuius finis est agere.<br />

Unde practicus musicus, qui praeter artis<br />

cognitionem alios docet in eaque se canendo<br />

exercet, quare et cantor dicitur vulgo ... 17<br />

die … ein Stück Werk nach der Arbeit zurücklässt,<br />

offenbar wenn von jemandem Vorschriften<br />

der Kunst oder ein Gesang abgefaßt<br />

werden,<br />

ihr Ziel ist das abgeschlossene und vollkommene<br />

Werk. 16<br />

Practica oder activa wird genannt,<br />

welche in der Praxis von Klängen und Konsonanzen<br />

besteht und zur Tat selbst schreitet<br />

[ans Werk selbst geht],<br />

wobei kein Werk nach der Handlung<br />

zurückbleibt [wie in der Musica poetica],<br />

ihr Ziel ist das Handeln.<br />

Daher [ist der] ein Practicus Musicus, der<br />

über die Kenntnis der Kunst hinaus [die<br />

Musica theorica also] andere lehrt und sich<br />

darin im Singen übt, weshalb er gemeinhin<br />

auch Cantor genannt wird ... 18<br />

15 J. Oridryus, Practicae Musicae praecepta, hrsg. von R. Federhofer-Königs, in: dies.,<br />

Johannes Oridryus und sein Musiktraktat, Diss. Köln 1957 (= Beiträge zur Rheinischen<br />

Musikgeschichte, Heft 24), S. 69.<br />

16 Deutsche Übersetzung in: H. von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen<br />

Musiktheorie, a. a. O., S. 127.<br />

17 J. Oridryus, Practicae Musicae praecepta, a. a. O., S. 69.<br />

18 Deutsche Übersetzung in: H. von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen<br />

Musiktheorie, a. a. O., S. 127.<br />

87


88<br />

Heinz von Loesch<br />

Ähnlich wie die Musica poetica auf einen weiteren Bereich des musikalischen<br />

Herstellens zielt, so zielt die Musica practica auf einen weiteren Bereich des<br />

musikalischen Handelns. Zu diesem gehört neben, ja vor dem Singen auch<br />

das praktische Unterrichten.<br />

Bedeutete der Begriff der „Musica poetica“ in seiner ersten Formulierung<br />

bei Nicolaus Listenius und Johannes Oridryus überhaupt nicht „Komposition“<br />

im Unterschied zur Reproduktion, sondern „herstellende, hervorbringende<br />

Musik“ im Unterschied zum musikalischen Handeln und zum musikalischen<br />

Wissen, so wurde der Begriff der „Musica poetica“ seit Heinrich Faber (um<br />

1548) dann tatsächlich nur noch auf die Komposition bezogen. Heinrich Faber<br />

definiert den Begriff der „Musica poetica“ als „ars fingendi musicum carmen“<br />

19 , als „Kunst von der Bildung eines musikalischen Gesangs“.<br />

Bestimmte Heinrich Faber die Musica poetica tatsächlich als Komposition<br />

im weiteren Sinne, so kann von einem Kompositionsbegriff „im modernen<br />

Sinne des Wortes“ allerdings auch hier nicht die Rede sein. Zum einen rechnete<br />

Faber vor der Komposition von neuen Gesängen auch das Beurteilen und<br />

zumal Verbessern von bereits bestehenden Gesängen zur Musica poetica. Im<br />

Anschluss an die Definition und Etymologie des Begriffs schreibt Faber:<br />

Huius artis vtilitas est … vt de cantus qualitate,<br />

an sit vrbanus an vulgaris, verus an falsus iudicare<br />

possimus, et falsum corrigere et nouum<br />

componere. /<br />

Non est igitur uel parua laus vel modica vtilitas,<br />

non vilipendendus labor Musicae scientia,<br />

Quae sui cognitorem cantus efficit iudicem,<br />

falsi Emendatorem, et noui inuentorem ... 20<br />

Der Nutzen dieser Kunst … besteht<br />

darin, daß wir von der Beschaffenheit<br />

eines Gesangs, ob er fein oder<br />

gewöhnlich, wahr oder falsch ist, urteilen,<br />

einen falschen verbessern und<br />

einen neuen komponieren können.<br />

Es ist also kein geringes Verdienst,<br />

kein bescheidener Nutzen, keine gering<br />

zu schätzende Arbeit die Wissenschaft<br />

der Musica, die ihren Kenner zu<br />

einem Richter des Gesanges macht,<br />

zum Verbesserer eines falschen und<br />

zum Erfinder eines neuen ... 21<br />

Rechnet Faber neben, ja vor der Komposition von neuen Gesängen auch das<br />

Beurteilen und Verbessern schon bestehender Gesänge zur Musica poetica, so<br />

kann die Musica poetica – es braucht kaum gesagt zu werden – keine Komposition<br />

im „modernen Sinne des Wortes“ sein: Das Beurteilen, vor allem aber<br />

das Verbessern bereits bestehender Gesänge ist nun wirklich nicht Teil eines<br />

„modernen“ Kompositionsbegriffs. Und der zitierte Passus über Beurteilen,<br />

19 H. Faber, Musica poetica (Ms. ca. 1548), hrsg. von C. Stroux, in: C. Stroux, Die<br />

Musica poetica des Magisters Heinrich Faber, Diss. (masch.) Freiburg 1966, Teil II, S. 5.<br />

20 Ebenda.<br />

21 Deutsche Übersetzung in: H. von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen<br />

Musiktheorie, a. a. O., S. 124.


Musica Poetica – die Geburtsstunde des Komponisten?<br />

Verbessern und Komponieren bei Faber war denn auch alles andere als neuzeitlichen<br />

Ursprungs; er entstammte nahezu wörtlich der Musica des Johannes<br />

Affligemensis/Cotto aus dem Jahre 1100. Bei Affligemensis/Cotto lautet der<br />

entsprechende Passus – ich habe die Übereinstimmungen mit Faber durch<br />

Kursiva deutlich gemacht:<br />

Quisquis namque incessanter ei operam<br />

adhibuerit, & sine intermissione indefessus<br />

institerit, talem inde consequi poterit fructum,<br />

ut de cantus qualitate an sit urbanus,<br />

an sit vulgaris, verus an falsus, iudicare<br />

sciat, & falsum corrigere, & novum componere.<br />

Non est vel igitur parva laus, non modica<br />

utilitas, non vilipendendus labor musicae<br />

scientiae, quae sui cognitorem compositi<br />

cantus efficit iudicem, falsi emendatorem,<br />

& novi inventorem. 22<br />

Wer sich unablässig der Musik widmet und<br />

bei dieser Arbeit nicht müde wird, der wird<br />

entlohnt mit der Fähigkeit zu beurteilen, ob<br />

ein Gesang fein oder gewöhnlich, richtig<br />

oder falsch sei; er wird imstande sein, einen<br />

fehlerhaften zu korrigieren und einen<br />

neuen zu komponieren.<br />

Es ist also kein geringes Verdienst, kein bescheidener<br />

Nutzen, keine gering zu schätzende<br />

Arbeit die Wissenschaft der Musica,<br />

die ihren Kenner zu einem Richter des Gesanges<br />

macht, zum Verbesserer eines falschen<br />

und zum Erfinder eines neuen. 23<br />

Kann es sich beim Faberschen Begriff der „Musica poetica“ einerseits um<br />

keinen Kompositionsbegriff im „modernen Sinne“ handeln, da auch das Beurteilen<br />

und zumal Verbessern bereits bestehender Gesänge dazuzählt, so<br />

andererseits, weil Faber auch die Sortisatio unter den Begriff der „Musica poetica“<br />

subsumiert: Praktiken improvisierter Mehrstimmigkeit – um mit Faber<br />

zu reden: die „subita ac improuisa cantus plani per diuersas melodias ordinatio“<br />

24 , die „plötzliche und unvorbereitete Anordnung eines Cantus planus<br />

durch mehrere Stimmen“. Praktiken improvisierter Mehrstimmigkeit aber<br />

entsprechen nun gleichfalls – es braucht wieder kaum gesagt zu werden –<br />

keinem modernen Kompositionsbegriff, der seine Identität bekanntlich ja vor<br />

allem in der Abgrenzung zur Improvisation fand.<br />

Zur Komposition im „modernen Wortsinne“ wurde die Musica poetica,<br />

wenn überhaupt, erst im Jahrhundert nach Faber, und zwar durch folgende<br />

Umstände:<br />

1. Durch die Aufwertung des Neukomponierens gegenüber dem Beurteilen<br />

und Verbessern seit Gallus Dreßler (1563). Nannte Faber – genau wie Affligemensis/Cotto<br />

um 1100 – die Neukomposition noch an dritter Stelle, so steht<br />

sie seit Dreßler stets an Stelle eins. Dreßler schreibt (die Abhängigkeit von<br />

Faber ist ganz unverkennbar):<br />

22 Johannes Affligemensis/Cotto, Ioannis Cottonis Musica, in: M. Gerbert, Scriptores<br />

ecclesiastici de musica sacra potissimum, Bd. 2, St. Blasien 1784, S. 233a.<br />

23 Deutsche Übersetzung in: H. von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen<br />

Musiktheorie, a. a. O., S. 33.<br />

24 H. Faber, Musica poetica, a. a. O., S. 6.<br />

89


Etsi de utilitate totius Musicae supra dictum<br />

est, tamen in specie hunc quatuor causas<br />

adjiciam, propter quas adolescentes poeticam<br />

prae reliquis amare et discere debeant<br />

1) haec ars docet rationem componendi novas<br />

harmonias<br />

2) addit judicium quae cantiones sint artificiosae<br />

quae vulgares, quae falsae<br />

3) Ostendit qua ratione errores sint corrigendi<br />

...<br />

4) haec ars facit canentes certiores, et si<br />

forte a scopo aberratur, monstrat viam redeundi<br />

ad metam ... 25<br />

90<br />

Heinz von Loesch<br />

Wenn von der Nützlichkeit der ganzen Musica<br />

auch oben gesprochen worden ist, so will<br />

ich dennoch insbesondere diese vier Gründe<br />

hinzufügen, weshalb die Heranwachsenden<br />

die poetische vor den übrigen lieben und lernen<br />

sollen<br />

1) diese Kunst lehrt das Verfahren, neue<br />

Harmonien zu komponieren,<br />

2) sie lehrt das Urteil, welche Gesänge<br />

kunstfertig, welche gewöhnlich, welche<br />

falsch sind,<br />

3) sie zeigt, nach welchem Verfahren Fehler<br />

zu korrigieren sind,<br />

4) diese Kunst macht die Singenden sicherer,<br />

und wenn zufällig vom Ziel abgewichen<br />

wird, zeigt sie den Weg der Rückkehr<br />

zum Ziel ... 26<br />

Seit Dreßler war die Musica poetica nun tatsächlich vor allem Neukomposition.<br />

2. Durch die Einschränkung des Verbesserns auf mögliche Fehler der Setzer<br />

oder Schreiber seit Johannes Nucius (1613). Im „Proemium continens aliquot<br />

Musices Poëticae utilitates“, im „Vorwort, das einige Vorteile der Musica poetica<br />

enthält“, heißt es bei Nucius über die Musica poetica:<br />

V. Non solùm ad rectè judicandum de<br />

quibuslibet Harmonijs facit plurimùm ...<br />

VI. Est & illa non contemnenda vtilitas,<br />

quod cantiones scribentium negligentia, aut<br />

Typographorum incuria corruptos facili negocio<br />

corrigit, emendat ac Pristinae integritati<br />

restituit Poëticus Musicus ... 27<br />

V. Nicht nur zur richtigen Beurteilung aller<br />

Harmonien trägt sie sehr viel bei ...<br />

VI. Es gibt auch jenen beachtlichen Vorteil,<br />

daß der Musicus poeticus durch Nachlässigkeit<br />

der Schreiber oder mangelnde Sorgfalt<br />

der Setzer verdorbene Gesänge mühelos<br />

korrigiert, verbessert und in ihren ehemaligen<br />

unverdorbenen Stand zurückversetzt ... 28<br />

Scheinen vor Nucius ebenso Fehler der Komponisten gemeint gewesen zu<br />

sein, so schränkt Nucius das Verbessern ausdrücklich auf mögliche Fehler der<br />

Setzer oder Schreiber ein.<br />

25 G. Dreßler, Praecepta Musicae Poëticae (Ms. 1563/64), hrsg. von B. Engelke, in:<br />

Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 49/50, 1914/15, S. 214–215.<br />

26 Deutsche Übersetzung in: H. von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen<br />

Musiktheorie, a. a. O., S. 128.<br />

27 J. Nucius, Musices poeticae sive de compositione cantus. Praeceptiones absolutissimae<br />

..., Neisse 1613, fol. A 3.<br />

28 Deutsche Übersetzung in: H. von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen<br />

Musiktheorie, a. a. O., S. 133.


Musica Poetica – die Geburtsstunde des Komponisten?<br />

3. Durch den Fortfall der Sortisatio nach Johann Andreas Herbst 29 in der<br />

zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Von Wolfgang Caspar Printz (1696) 30<br />

bis Meinrad Spiess (1745) 31 war die Musica poetica nun tatsächlich nur noch<br />

Komposition, nicht mehr auch Improvisation.<br />

Doch selbst jetzt wurde der Begriff der „Musica poetica“ nicht recht eigentlich<br />

zur Komposition im „modernen Sinne des Wortes“. Dass der Begriff<br />

der „Musica poetica“ von Wilibald Gurlitt bis Peter Cahn immer wieder für<br />

einen „modernen“ Kompositionsbegriff gehalten wurde, lag ja nicht an der<br />

Existenz des Begriffs als solchem, es lag vor allem daran, dass er in Verbindung<br />

mit einem anderen Begriff begegnete: dem Begriff des „opus perfectum<br />

et absolutum“, des „vollkommenen und abgeschlossenen Werkes“. Der Begriff<br />

der „Musica poetica“ erschien als moderner Kompositionsbegriff, weil er<br />

mit dem assoziiert war, womit der moderne Kompositionsbegriff tatsächlich<br />

assoziiert ist: mit dem Werkbegriff. Nun war, wie wir gesehen haben, das<br />

Werk bei Listenius und Faber gar kein Werk speziell der Komposition, es war<br />

auch ein Werk der Musiktheorie – eine „Musica“ – oder ein Werk der<br />

Improvisation: die Sortisatio. Als das Werk unter Ausschluss musiktheoretischer<br />

Werke seit Faber und mit dem Fortfall der Sortisatio nach Herbst nun<br />

aber wirklich ein Werk speziell der Komposition hätte werden können – sodass<br />

Kompositionsbegriff und Werkbegriff tatsächlich assoziiert gewesen wären<br />

–, da hatte die Komposition inzwischen aufgehört, ein Werk zu sein: in<br />

den Definitionen der Musica poetica ist vom Werk nicht mehr die Rede, bei<br />

Herbst erscheint der Opusbegriff im Zusammenhang mit der Musica poetica<br />

zum letzten Mal.<br />

Der Begriff der „Musica poetica“ unterlag in seiner gut zweihundertjährigen<br />

Geschichte einem entscheidenden Wandel: Die ersten hundert Jahre – von<br />

Listenius bis Herbst – zielte er auf „Werke“, doch nicht auf „Komposition“ im<br />

eigentlichen Sinne. Die zweiten hundert Jahre – von Printz bis Mattheson und<br />

Spiess – meinte er dann wirklich „Komposition“, doch zielte er nicht mehr<br />

auf „Werke“. Ein Kompositionsbegriff im „modernen“ Sinne des Wortes, der<br />

zugleich und ineins Kompositions- und Werkbegriff ist, ist der Begriff der<br />

„Musica poetica“ nie gewesen.<br />

29 J. A. Herbst, Musica Poëtica, Sive Compendium Melopoëticum, Das ist: Eine kurtze<br />

Anleitung ... wie man eine schöne Harmoniam ... nach gewiesen [!] Praeceptis und Regulis<br />

componiren, und machen soll ..., Nürnberg 1643.<br />

30 W. C. Printz, Phrynis Mitilenaeus, oder Satyrischer Componist ..., Erster [– dritter]<br />

Theil, 3 Bde., Dresden und Leipzig 1696.<br />

31 M. Spiess, Tractatus musicus compositorio-practicus ..., Augsburg 1745.<br />

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