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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

© 1993 by PCS/HK • heinrich_kantura@hotmail.com<br />

R<br />

1


© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

R<br />

von<br />

Heinrich Kantura<br />

vulgo<br />

Peter Christoph Schwartz<br />

(geb. am 20. Juni 1972)<br />

1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Jenen, mit welchen ich über den Kritischen Rationalismus, den<br />

Solipismus und die Utopien diskutierte, sowie jenen, die mich<br />

unterstützt, angespornt oder inspiriert haben, und auch diesen,<br />

mit welchen ich eine bestimmte, hier nicht zu nennende Zeitdauer<br />

zusammenlebte, im besonderen jedoch dem Andreas Manfred H., der<br />

Martina S., der Elfriede W. sowie meiner Schwester, Alexandra<br />

Maria S.,<br />

gewidmet.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Dies ist kein Text zu lesen. Er ist nicht zu riechen, nicht zu<br />

greifen noch zu schmecken. Er wird nicht nacherzählt werden oder<br />

rezitiert, wird endlich keiner Beschreibung standhalten, noch<br />

ediert werden müssen. Dies ist kein Text zu lesen. Allenfalls ist<br />

er...zu leben.<br />

Ich hatte F geträumt. Ich meine, es war nicht der sechste<br />

Buchstabe des Alphabets, über welchen jener Traum sich gezeichnet<br />

hat. Aber es war auch nicht eine Person, es war nicht der Name<br />

irgendeines Menschen, welcher meinen Traum bestimmt hatte! - -<br />

Eine Leidenschaft ist es gewesen, von welcher mir träumte. Aber es<br />

war nicht an erster Stelle das Ficken oder das Fühlen, das mir<br />

träumte, wie Sie vielleicht jetzt denken mögen, daß ich geträumt<br />

hatte, sintemal ich von einer Leidenschaft gesprochen und sintemal<br />

das Ficken oder das Fühlen allenthalben solche Appetenzen sind.<br />

Ja, es war noch nicht einmal das Flüchten, mit welchem dieser<br />

Traum mich konfrontiert hatte, obschon ich zuweilen doch sehr<br />

eskapistisch bin! Dennoch ist es eine Leidenschaft gewesen, die<br />

mir träumte. Es war sogar – das kann ich heute gewiß sagen - eine<br />

Leidenschaft, welche sich bisweilen zum ersten Mal manifestiert in<br />

einer Gegenwart, die so bedeutungslos ist, daß sie sich nur noch<br />

nach den vergangenen Jahren sehnt. Und jene Leidenschaft, von<br />

welcher ich träumte gestern nacht, ist tatsächlich eine schon zehn<br />

Jahre dauernde. Ich hatte sonach, als ich vielleicht zwölf Jahre<br />

zählte oder sechszehn, diese Leidenschaft zum erstenmal<br />

rekognosziert, und ich hatte sie auch über zehn Jahre getragen in<br />

mir selbst wahrscheinlich zu jeder Stunde, während welcher ich<br />

träumte. Oh, aber es war das keine Appetenz, über welche man<br />

schlecht denken wird müssen! Es war keine Leidenschaft, die der<br />

Moral oder des Falsifikationsmechanismus (welcher - doch das sei<br />

nur jetzt gesagt - gewiß die bessere Moral zu sein vermag)<br />

bedurfte, um also irgendeinen dräuenden Schaden bereits im Ansatze<br />

zu zerschlagen. Nämlich es war nicht so, daß ich etwa die Folter<br />

träumte, und also spätestens nach dem Erwachen hätte handeln<br />

müssen, um nicht doch dereinst den Beruf eines Folterknechtes zu<br />

erlernen oder wenigstens dessen Gier mir anzueignen für spätere<br />

Zeiten und Umstände! (Wie ja so oft eine solche Leidenschaft, die<br />

allein dem Tod dient, nur deshalb möglich geworden war, weil man<br />

nichts dagegen getan hatte über jene vielen Jahre, während welcher<br />

man zwar keine Gelegenheiten hatte, das auszuüben, aber umso mehr<br />

Zeit, sich mit jenen Phantasien auseinanderzusetzen.) Auch habe<br />

ich nicht das Fliegen geträumt, von welchem ich immer solcherart<br />

dachte, daß es nur eine andere Art des Eskapismus sei! ...<br />

Gewisse Ideen sind nicht mehr abzuschaffen, wie zum Beispiel die<br />

Religion oder der Nationalsozialismus. Diese beiden werden immer<br />

als Korrektiv genannt und vielleicht sogar notwendig sein.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Ich schreibe aus der Situation und ihrem Augenblick heraus; das<br />

ist nun auch der Grund dafür, daß meinen Texten keine Überlegungen<br />

zugrundeliegen!<br />

Manche Gespenster, die in meinen Texten auftauchen, habe ich mir<br />

nicht ausgedacht, noch habe ich sie falsch geschminkt. Ich wollte<br />

dort vielmehr nichts anderes, als die Argumentation irgendeines<br />

Protagonisten wiedergeben, dessen Worte und Überzeugungen mich so<br />

falsch bedünken, daß der Text mehr und mehr in eine Verwirrung<br />

gedrängt werden mußte von mir selbst!<br />

Den Schriftstellern begegnet man heute nicht anders als den<br />

Zigeunern. Aus jeder Stadt und von jeder Straße werden wir gejagt!<br />

Aber wir schließen uns den Zigeunern nicht an, weil wir endlich<br />

wissen, daß man uns Literaten und Zigeuner im nächsten Moment<br />

vielleicht schon verlästern oder verlachen würde dafür, daß wir<br />

uns zusammengetan.<br />

Und wenn du nach der Wahrheit frägst, dann sollst du auch wissen,<br />

daß die Wahrheit nicht immer schön ist oder so ganz unbeschwert zu<br />

ertragen!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

"Am elften Tag"<br />

Ein Leseheftchen<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Prolog<br />

Aber ich werde nicht weinen, ich werde nicht weinen noch beten,<br />

ich werde nicht weinen oder beten noch hoffen. Ich werde dort<br />

stehen, ich werde dort stehen und ich werde wissen, daß das alles<br />

nun vorbei ist. Dort werde ich stehen und das werde ich wissen,<br />

aber nichts werde ich fühlen. Ich werde nichts fühlen; weil der<br />

Schmerz zu groß sein wird, werde ich nichts fühlen, nichts fühlen<br />

als Resignation. Also werde ich nicht weinen noch beten noch<br />

hoffen. Denn nichts sonst wird sich ereignen als Resignation. –<br />

Ich werde dort stehen, ich werde dort stehen und ich werde wissen,<br />

daß das alles nun vorbei ist. Ich werde dort stehen, wie ich<br />

nämlich in meinen Träumen schon tausendmal dort gestanden war in<br />

einer Ahnung, welche die Gewißheit mir verraten hat. Denn ich<br />

werde dort stehen und kein Gott wird sich erbarmen. – Ich werde<br />

dort stehen wie ein kleiner Junge, wie ein Bübchen werde ich dort<br />

stehen, ein Bübchen, das nichts mehr versteht. Aber ich werde auch<br />

nicht weinen, ich werde also kein Bübchen sein, das nichts<br />

versteht und dennoch weint, ich werde bloß ein Bübchen sein, das<br />

nichts versteht und nicht mehr weint. – Denn da wird niemand sein,<br />

der an die Schulter mir faßt, der mich faßt, um mir zu sagen, daß<br />

ich wieder lachen könne. – Es wird geschehen sein. Dort werde ich<br />

stehen, und es wird geschehen sein, wie nämlich so vieles einfach<br />

nur geschieht ohne daß jemand darauf reagiert.<br />

Also wird es geschehen sein, und keiner wird sich erbarmen. – - Es<br />

wird einfach geschehen sein, und niemand wird nicht einmal darüber<br />

schreiben brauchen.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

In diesen Stunden, in diesen Stunden, habe ich gesagt, in diesen<br />

vielen Stunden habe ich tatsächlich gefühlt, daß die Angst so<br />

behende ist, daß einem nichts anderes bleibt, als sich ihr zu<br />

unterwerfen. Nein, haben sie gesagt, das war keine Art der<br />

Unterwerfung, weil es ein Kompromiß gewesen war! Aber ein<br />

Kompromiß, habe ich geantwortet, ein Kompromiß ist keineswegs so<br />

totalitaristisch, daß man ihn nicht unterscheiden könnte von einer<br />

Angst; also ist es allein diese Angst gewesen, welcher meine<br />

Unterwerfung gefolgt war. - - Der Schnee hatte gerochen wie am Tag<br />

zuvor, habe ich gesagt, und auch die Straßen und Gassen waren<br />

nicht irgendwie anders, nämlich mitleidend zum Beispiel oder<br />

tröstend. Es hat ja nichts, erklärte ich, davon gewußt, daß ich<br />

mich unterwerfen habe müssen, um diese Angst zumindest erträglich<br />

zu machen, obschon ich nicht zu sagen weiß, warum sie das<br />

überhaupt hätte sein sollen! Oh, hatten sie gelächelt, oh, eine<br />

Angst ist irgendwann einmal immer erträglich. Und wann also, frug<br />

ich, wann soll sie das sein? Niemand weiß das, haben sie<br />

geantwortet, und trotzdem, haben sie erklärt, trotzdem können wir<br />

alle das ertragen! Aber ich ertrage das nicht! habe ich gerufen,<br />

und sie haben solcherart gelächelt über mich, als ob sie über<br />

einen Idioten lächelten. Ja, habe ich gehöhnt, ja, lächeln Sie;<br />

aber Sie werden eines Tages gewiß eine ebensolche Angst erleben<br />

wie jene, der ich mich unterwerfen habe müssen, und Sie werden<br />

nicht anders handeln als ich selbst. Sie werden nämlich, fuhr ich<br />

fort zu erklären, auch Sie selbst werden nämlich dann erkennen,<br />

daß Sie kein Buch mehr lesen können in diesen Stunden und Tagen<br />

oder daß Sie Ihrem Neffen keine Geschichten mehr erzählen wollen –<br />

einfach nur deshalb, weil diese Angst jede Fähigkeit verbietet!<br />

Wir dürfen uns nicht unterjochen lassen von unseren Ängsten, war<br />

ihre süffisante Antwort, wir dürfen das nicht, weil wir sonst wie<br />

Tiere sind. Aber wir sind doch Tiere in der Angst, schrie ich,<br />

weil die Angst so etwas Tierhaftes ist!!! Oh, lieber Freund, nein,<br />

nein, begannen sie, da irren Sie! Ach ja, begann ich, ach ja...<br />

Nein, nein, lieber Freund, daß Sie uns nicht falsch verstehen,<br />

huben sie an; wir sind doch keine Tiere, obwohl manche Instinkte<br />

immer noch in uns allen zugegen sind und wirken-- Und ich bin kein<br />

Anhänger des Animalismus, unterbrach ich, daß Sie so mit mir reden<br />

müssen! Ja was wollen Sie dann überhaupt! wurde ich sofort laut<br />

angerufen. – - Was wollen Sie also überhaupt, wurde ich<br />

schließlich ein zweites Mal höflich gefragt. Ich weiß es nicht,<br />

antwortete ich; aber ich weiß, was ich in diesen Stunden will, daß<br />

wir uns nämlich von der Angst befreien. - - Verstehen Sie, begann<br />

ich nach einer Pause, die vielleicht zwölf Minuten dauerte,<br />

verstehen Sie, ich will, daß wir uns nicht mehr fürchten müssen.<br />

Oh, da müssen Sie aber schon, wurde mir erklärt, da müssen Sie<br />

aber schon sterben, wenn Sie das wirklich wollen! Das weiß ich,<br />

sagte ich, ich weiß, daß wir sterben müssen, um die Angst zu<br />

überwinden...Ja, wurde ich unterbrochen, gewiß ja, das müssen Sie<br />

dann wohl!...ich weiß das gut; aber es wird letztendlich nicht<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

mehr sein als eskapistisch. Und was ist der Eskapismus schon mehr,<br />

fuhr ich fort, nachdem man nur mit den Köpfen gewackelt hatte und<br />

ich also nicht zu sagen wußte, ob man mir damit zustimmte oder<br />

meine Aussagen ablehnte, was ist der endlich schon anderes als die<br />

Resignation vor einer Angst. Ja, haben sie gesagt in einem Timbre,<br />

über welches ich glaubte, daß es gleichermaßen resignativ wie<br />

stolz geklungen hat, ja, das ist der Eskapismus tatsächlich... - -<br />

Vielleicht müssen wir aber gerade deswegen sterben, begannen sie<br />

plötzlich, nachdem wir uns zehn Minuten oder zwölf bloß angestarrt<br />

hatten, vielleicht ist eben das die Ursache dafür. Oh, ich bitte<br />

Sie, sagte ich laut, ich bitte Sie! Konstruieren Sie doch nicht<br />

solche abstrusen Erklärungsmodelle nur deshalb, um sich nicht<br />

eingestehen zu müssen, daß wir schon im ersten Moment verloren<br />

haben! Aber wir sollen doch-- Nein, unterbrach ich, nein! Warum<br />

müssen Sie an einem Nus festhalten, der als eine bloße Theorie<br />

dekuvriert worden ist von uns allen; wir wissen doch gut, fuhr ich<br />

fort, daß wir verlieren, und wir brauchen dem keine Bedeutung mehr<br />

geben! - - Wir müssen an etwas glauben, sagten sie leise, wir<br />

müssen glauben oder lieben...oder zumindest hoffen... Nein, habe<br />

ich erklärt, nein, wir müssen das nicht und wir sollen es nicht<br />

(und vielleicht habe ich genauso stolz und eskapistisch geklungen<br />

wie sie zuvor).<br />

Schmerz, es ist immer nur Schmerz, habe ich geantwortet auf ihre<br />

Frage, warum ich nicht mehr lache oder tue. Ich bin kein Narr,<br />

habe ich ihnen gesagt, ich bin kein Narr, daß ich also hoffe, daß<br />

der Schmerz vielleicht behandelt werden könne! Es ist Schmerz, und<br />

es war immer Schmerz, erklärte ich mich, und wenn es einmal kein<br />

Schmerz gewesen war, dann war es statt dessen nicht das Lachen<br />

oder ein Lächeln, dann war es nämlich bloß Unbedachtheit oder<br />

Unaufmerksamkeit oder Lüge! Es ist also immer Schmerz, fuhr ich<br />

fort, weil schon der erste Schmerz oder ein einziger genügt dafür,<br />

daß sich nichts mehr herauswinden kann aus dem Schmerz! Wenn Sie<br />

also Ihre Diagnose ändern, um mir zu sagen, daß der Schmerz, von<br />

welchem Sie anfangs noch ge-dacht haben, daß er nicht zu behandeln<br />

sei, endlich als ein nicht so arg renitenter Schmerz sich bewiesen<br />

hat, habe ich gesagt, wenn Sie das also sagen, dann sagen Sie<br />

trotzdem nicht mehr, als daß es Schmerz ist! - - Es ist immer<br />

Schmerz, begann ich wieder, und wenn wir auch nicht sagen können,<br />

wie dieser Schmerz von jenem sich unterscheidet, so können wir<br />

doch immer sagen, daß es Schmerz ist. Und wir wissen endlich,<br />

sagte ich, wir wissen endlich alle, daß jeder Schmerz in einem Tod<br />

eine Akme findet, über welche wir schließlich genausowenig sonst<br />

sagen können wie über die verschiedenen Arten von Schmerz! - - Wir<br />

verlieren, habe ich geantwortet auf ihr Schweigen, wir verlieren.<br />

Dieser Schmerz, habe ich gesagt, ja, dieser eine Schmerz ist mir<br />

vielleicht genommen worden. Und weil sie nur lächelten, nämlich<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

lächelten, als ob sie wüßten, daß ich bloß begonnen hatte und also<br />

noch etwas sagen werde wollen, habe ich nicht geschwiegen: Aber<br />

wann, frug ich sie, werde ich zerrissen sein und betroffen, also<br />

noch einmal zwischen dem Schmerz und der Hoffnung umherirren<br />

müssen wie Ahasver daselbst? Das haben Sie geträumt! wurde mir<br />

geantwortet, und ich staunte so sehr ob dieser Aussage, daß ich<br />

zunächst nicht einmal irgendwelcher wütenden Reaktionen fähig war.<br />

Das haben Sie geträumt, wiederholten sie laut, ja, das haben Sie<br />

geträumt, wie man nämlich so vieles nur träumt und dabei meint,<br />

eine ganz bestimmte Tatsächlichkeit verifiziert zu haben! - - Das<br />

haben Sie geträumt, sagten sie zum drittenmal in einer Wut, welche<br />

schließlich die meine Lethargie zerhieb in einem Moment des<br />

Lidschlags, das haben Sie bloß geträumt! Ach, hub ich endlich an<br />

in einer durch und durch dünkelhaften Art, ach, ich wußte ja gar<br />

nicht, daß Sie den Popperschen Rationalismus verstanden haben...<br />

Oh, haben sie gelächelt, oh, da gehört doch wirklich nicht viel<br />

Besonderes dazu! Das ist jetzt aber eine Theorie, schrie ich, und<br />

wenn Sie tatsächlich den Kritischen Rationalismus verstanden haben<br />

oder gutheißen, dann müssen Sie auch wissen, daß Theorien bloße<br />

Hypothesen sind, und aber ich sehe in Ihren Fratzen, daß Sie das<br />

Wort Hypothese nicht einmal buchstabieren können! Popper ist nicht<br />

die ganze Welt, wurde ich selbst jetzt angeschrien, der ist nicht<br />

die ganze Welt! - - Aber der Schmerz, begann ich nach einer Pause<br />

von allenfalls zwölf Minuten, während welcher wir dagesessen waren<br />

wie die moribunden Patienten in einem schlecht durchlüfteten<br />

Wartezimmer, der Schmerz ist keine Theorie noch Hypothese. Oh,<br />

hörte ich jemand flüstern, oh, da haben Sie vielleicht sogar<br />

recht... Ich meine, begann ich, ich will nur sagen, daß ich mich<br />

weigere, den Schmerz als eine Theorie anzuerkennen. Sie sind ja<br />

nicht ausgesprochen konsequent, wurde ich zurechtgewiesen von<br />

einer dünnen Stimme. Natürlich, sagte ich, natürlich bin ich das<br />

dort nicht, wo es um den Schmerz zu forschen gilt... Wie können<br />

Sie also, frug diese Stimme, wie können Sie dann eine Theorie<br />

überprüfen, wenn Sie überhaupt keine operationalisiert haben. Oh,<br />

sagte ich, oh, ich brauche den Falsifikationsmechanismus<br />

nicht...Sie Narr, hörte ich jene Stimme, Sie Narr!...ich brauche<br />

den nicht, fuhr ich unbeirrbar fort, sintemal es Theorien gibt,<br />

die genausowenig formuliert wie falsifiziert werden können,<br />

nämlich mit den Postulaten des Kritischen Rationalismus weder<br />

formuliert werden können noch überhaupt geprüft! Daß Sie mich<br />

nicht falsch verstehen, erklärte ich mich, natürlich halte ich den<br />

Falsifikationsmechanismus Poppers für das wichtigste unsere<br />

Instrumente, das uns endlich ebenso in der Mathematik oder in den<br />

Geisteswissenschaften zu handeln erlaubt, wie wir schließlich auch<br />

unsere Vorurteile oder unseren Neid widerlegen können mit dem.<br />

Dennoch weiß ich, fuhr ich fort in meiner Erklärung, ich weiß sehr<br />

gut, daß es Fragen gibt oder Sehnsüchte, die nicht beantwortet<br />

werden können, indem man sie jenem Mechanismus überläßt. Nein,<br />

nein, unterbrach ich jene Stimme, die gewiß zu fragen oder zu<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

lästern sich bereitet hatte, nein, Sie können die Vorstellung von<br />

Immortalität nicht mehr aus der Welt schaffen, ich meine, Sie<br />

können die Unsterblichkeit als eine Theorie definieren; aber Sie<br />

werden das nicht widerlegen können. Mein lieber Freund, hub jene<br />

Stimme an, mein lieber-- Nein, unterbrach ich, nein, ich weiß, was<br />

Sie sagen wollen, und Sie müssen mir das nicht sagen! - - Ich will<br />

nur sagen, begann ich schließlich zögernd nach einer Pause von<br />

vielleicht sieben Minuten, ich meine, Sie können auch daraus eine<br />

Theorie machen...nämlich Sie können natürlich auch sagen, daß der<br />

Unsterblichkeit ein Bedürfnis zugrundeliegt...und daß dieses<br />

Bedürfnis wiederum nur eine Theorie ist... Verstehen Sie, suchte<br />

ich weiter zu erklären, nachdem man nicht einmal gegen mich zu<br />

argumentieren sich bemühte, verstehen Sie, Sie können das als eine<br />

Theorie betrachten; aber widerlegen werden Sie es nicht können.<br />

Ich habe noch nie ein Schwarz gesehen vor einem Weiß, habe ich<br />

geantwortet auf ihre Frage, warum ich Goethe, diesen Johann<br />

Wolfgang, keinen zu lesen aufgefordert habe in den vergangenen<br />

zehn Jahren. Aber Sie werden doch nicht die Insolenz haben, wurde<br />

ich sogleich gescholten, Sie können doch nicht tatsächlich so<br />

unverschämt sein, daß Sie die Schriften Goethes verlästern! Oh,<br />

habe ich gelächelt, oh, Sie wissen gut, daß dieser Johann Wolfgang<br />

vielleicht noch gelesen wird von Verrückten oder von Ärzten. - -<br />

Ob ich in meine Zelle zurückgehen könne, frug ich. Nein, nein,<br />

lieber Herr, hörte ich eine Stimme, Sie bleiben! Nun, begann ich<br />

schließlich, nachdem man mir eine Schachtel Zigaretten gereicht<br />

hatte und ein Päckchen Zündhölzer, nun, Sie wollen gewiß erfahren,<br />

weshalb ich so denke über Goethe. Ja, das wollen wir tatsächlich<br />

wissen, hörte ich zwei Stimmen, das wollen wir. Und wir wollen<br />

auch, hörte ich eine dritte Stimme, wir wollen auch wissen, warum<br />

Sie überhaupt so defätistisch sind. Oh, antwortete ich, oh, ich<br />

bin kein Defätist. Sie selbst aber, meine Herren, fuhr ich wütend<br />

fort, Sie selbst sind doch endlich für den Defätismus...Seien Sie<br />

still, wurde ich laut zurechtgewiesen, seien Sie still!...weil Sie<br />

weder Morus gelesen haben noch Campanella oder Orwell! - - Mein<br />

lieber Freund, begann schließlich der zweite dieser fünf, mein<br />

lieber guter Freund... Sie wissen ja, fuhr der vierte fort, daß<br />

wir hier alle nur Ihr Bestes wollen... Ihr Bestes, sagte der<br />

erste, daß Sie das nicht vergessen. Ich vergesse nichts so bald,<br />

lächelte ich und brannte eine Zigarette an. Auch das wissen wir,<br />

sagte der dritte, und wir werden darüber noch sprechen müssen. Ja,<br />

ja, sagte ich süffisant, wir werden hier ja über alles sprechen...<br />

Und das hat schon Sinn so, lächelte der fünfte, und sein Lächeln<br />

bedünkte mich das Lächeln eines Hohepriesters. Was die Welt im<br />

Innersten zusammenhält, skandierte ich dreimal auf eine durchaus<br />

pejorative Weise. O, mein lieber Freund, o, staunte der zweite...<br />

Sie kennen Goethe ja sehr gut, erklärte der erste, und-- Und jetzt<br />

bin ich Ihnen bereits so sympathisch, unterbrach ich ihn lachend,<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

daß Sie Ihr Urteil einstimmig revozieren werden. - - Wir hatten<br />

uns fünf Minuten angelächelt - wie nämlich auch zuweilen die<br />

Soldaten der Erschießungskommandos dem Lächeln des Delinquenten<br />

mit einem ebensolchen Lächeln begegnen -, als ich selbst endlich<br />

wieder zu sprechen mich mühte, sintemal man mich ohnedies nicht in<br />

meine Zelle zurückkehren lassen würde. Sie müssen wissen, meine<br />

Herren, daß ich während der vergangenen Jahre – Jahre übrigens,<br />

während welcher ich selbst noch ein freier Mensch sein habe<br />

dürfen, und Sie selbst gewiß Ärzte gewesen waren, welche allein<br />

dem Eid des Hippokrates sich verpflichtet hatten -, daß ich also<br />

in diesen Jahren vielleicht nur deshalb geschrieben habe, damit<br />

ich...Wir kennen Ihre Pamphlete, wurde ich unterbrochen vom<br />

zweiten, wir kennen die sehr gut!...damit ich-– Oh, Sie kennen<br />

meine Schriften!? frug ich erstaunt. Wir kennen die, lächelte der<br />

vierte, wir kennen die sehr genau! Und wir kennen Sie! sagte der<br />

erste. - - Vielleicht, begann ich schließlich in arroganter Weise,<br />

vielleicht, meine Herren, ist Ihnen nicht mehr bewußt, daß Goethe<br />

im Jahr 1832 gestorben ist...Wir wissen das, schrie der zweite<br />

nervös, wir wissen das!...und daß dieser Goethe außerdem geglaubt<br />

hat, zu jeder Nichtigkeit etwas schreiben zu müssen. Das ist eine<br />

Unverschämtheit, schrien der erste und der fünfte, das ist eine<br />

Unverschämtheit! Aber meine Herren, lächelte ich, Sie brauchen<br />

sich nicht exaltieren, zumal Sie doch wissen wollen, warum ich<br />

Goethe nicht mehr lese und auch zu lesen niemandem rate. - - Es<br />

ist schon gut so, sagte der dritte nach einer Pause, während<br />

welcher ich zwei Zigaretten geraucht hatte, es ist schon gut, daß<br />

Sie hier sind... Obgleich eigentlich Goethe behandelt gehört,<br />

reagierte ich sofort. Oh...na oh, staunten der erste und der<br />

fünfte, dieweil die anderen in ihren Aktenmappen blätterten oder<br />

irgendwelche Notizen machten und dabei so taten, als hätten sie<br />

mich nicht gehört. Sie müssen ja wissen, meine Herren, begann ich,<br />

daß ein Schriftsteller nicht mehr als zweitausend Seiten schreiben<br />

sollte, ich meine, insgesamt nicht mehr als zweitausend Seiten,<br />

weil er sonst nicht mehr ge-lesen wird. Und ich spreche jetzt,<br />

fuhr ich fort, ich spreche jetzt von Sätzen, die gleichermaßen<br />

rhythmisch sind wie lehrreich! Und Ihre Sätze sind das, rief der<br />

vierte laut lachend, Ihre Sätze sind das natürlich... Zumindest<br />

habe ich es immer versucht, antwortete ich, und ich fühlte indes,<br />

daß ich schon resigniert hatte, sintemal ich jene Antwort mit<br />

einer Indolenz formuliert hatte, die vielleicht nichts anderes<br />

sein hatte wollen als Resignation. - - Ja, lachen Sie, meine<br />

Herren, lachen Sie, rief ich endlich entrüstet; ich würde auch<br />

heute noch unverdrossen an diesen Sätzen arbeiten...aber Sie haben<br />

sie indiziert! Wir werden Ihre Bücher sogar verbrennen! rief der<br />

zweite. Oh, natürlich, sagte ich, ja, der Index war immer schon<br />

der Vorhof zur Brennkammer... Mein lieber Freund, begann der<br />

erste, noch verbrennen wir nur Ihre Bücher... Und bald schon, rief<br />

ich, werden Sie auch mich verbrennen. In Zeiten wie diesen...,<br />

sagte der fünfte. Ist das Autodafé, fuhr der dritte fort, eine<br />

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Notwendigkeit... Eine lebenswichtige, sagte der zweite, eine<br />

lebenswichtige und damit logisch-stringente Notwendigkeit der<br />

Staatsräson! Ein defätistischer Staat ist das, lächelte ich, ein<br />

Defätist...und ein Defraudant zudem. Seien Sie still, wurde ich<br />

zornig angewiesen, seien Sie still! - - Sie werden schon wissen,<br />

meine Herren, erklärte ich, warum Sie das tun; aber Sie werden es<br />

dereinst nicht zu legitimieren vermögen. Nämlich die Wahrheit,<br />

fuhr ich fort, denn die Wahrheit ist endlich gut. Ja, lachen Sie,<br />

meine Herren, sagte ich, lachen Sie, aber die Wahrheit ist endlich<br />

nicht die Lüge oder der Wille eines Souveräns. Denn die Wahrheit<br />

tötet nicht, versuchte ich mich zu erklären, sie tötet nicht, und<br />

sie ist auch nicht zu verbieten oder zu verhindern! Wir sagen<br />

Ihnen schon, was die Wahrheit ist, hörte ich fünf zynische<br />

Stimmen. Nein, lachte ich wie ein sorgloses Bübchen, nein, Sie<br />

können mir ja noch nicht einmal Ihre Wahrheit sagen.<br />

Darüber werde ich schweigen wollen, habe ich gesagt, darüber werde<br />

ich schweigen. Sie wissen aber, mein Herr, hörte ich sogleich jene<br />

Stimmen, Sie wissen schon, daß wir Mittel haben...Medikamente,<br />

unterbrach ich, Medikamente meinen Sie wohl!...daß wir Mittel<br />

haben und Medikamente, Ihr Schweigen in fünfzehn Minuten zu<br />

brechen. Oh, ich weiß das, hub ich an, ich weiß das gut. Und Sie<br />

weigern sich dennoch!? wurde ich von jenen erstaunten Stimmen<br />

gefragt. Nun, meine Herren, begann ich zögernd, nun, vielleicht<br />

habe ich es nur versuchen wollen...es zumindest versuchen... Ein<br />

Bluff ist das, wurde ich gefragt vom vierten. Keineswegs, sagte<br />

ich, nur ein letzter Rest der eigenen Hoffnung. Oh, staunte der<br />

dritte, oh...na dann... Ist ja alles in Ordnung, begann der erste,<br />

in bester Ordnung... Sozusagen, fuhr der zweite fort. - - Also die<br />

Ordnung meinen Sie, und die ist Ihnen so wichtig!? frug ich diese<br />

fünf in dem ehrlichen Bestreben, das zu verstehen. Die Ordnung,<br />

begann der vierte, ist das oberste Gesetz...Im Staate Dänemarks,<br />

fuhr ich dazwischen, im Staate Dänemarks!...das oberste Gesetz<br />

heißt Ordnung! - - Aber ich selbst, begann ich schließlich,<br />

nachdem mein letzter Zwischenruf keine Wirkung gezeitigt hatte,<br />

ich selbst mag Ihre Gesetz wenig leiden. Wenig, frug der fünfte,<br />

wenig oder... Oder überhaupt nicht? setzte der zweite fort. Ist<br />

das jetzt noch von Bedeutung, frug ich. Es ist aus-schlag-ge-bend!<br />

jubelten der dritte und der vierte. Das verstehe ich jetzt aber<br />

nicht, entgegnete ich, ich verstehe das nicht. Mein lieber Freund,<br />

sagte der erste, Sie müssen wissen... Daß die Ordnung, setzte der<br />

vierte fort, die Ordnung, die wir meinen... Daß also diese<br />

Ordnung, sagte der zweite, so etwas wie eine gottgewollte<br />

Richtungsentscheidung ist, die wir zu interpretieren aufgetragen<br />

sind-- Nach eigenem Gutdünken, schrie ich dazwischen, nach eigenem<br />

Gutdünken! - - Ich sehe, begann der fünfte nach einer Pause von<br />

zwölf Minuten, während welcher mir selbst nicht zu rauchen erlaubt<br />

war, ich sehe...Und wir bedauern das, unterbrachen ihn die<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

anderen, wir bedauern das ehrlich!...daß Sie so überhaupt nicht<br />

kooperativ sind! Oh, ich weiß meine Herren, sagte ich süffisant<br />

wie ein toter Clown, ich weiß, daß ich so ganz und gar ein<br />

schlechter Staatsbürger und Häftling bin. Und was werden Sie also<br />

tun, frug ich. - - Was werden Sie tun, meine Herren? frug ich ein<br />

zweites Mal ohne eine Antwort zu bekommen. - - Ohhh...natürlich,<br />

habe ich plötzlich gerufen; Sie werden mich wählen lassen, Sie<br />

werden mich wählen lassen zwischen diesem und jenem, obgleich Sie<br />

wissen, daß ich keine Entscheidung treffen werde können! - - Sie<br />

sind nicht ungeschickt, sagte endlich der zweite, Sie sind das ja<br />

wirklich nicht... Ja, Sie werden mich wählen lassen, begann ich<br />

laut, Sie werden mir wie Henkersknechte vorschlagen, ein<br />

Geständnis abzulegen...oder der Folter mich auszuliefern...und Sie<br />

wissen in diesem Moment bereits, fuhr ich fort zu schreien, daß<br />

ich nicht wählen werde können, weil ich leben will ohne eine<br />

Bedingung! - - Ich kenne das, sagte ich endlich, ich kenne das<br />

genau, ich kenne Ihre Methoden, weil es keine so anderen Methoden<br />

sind. Welche Methoden sind es denn, frug der erste gelangweilt.<br />

Erwachsene Methoden, es sind erwachsene Methoden, habe ich<br />

geschrien, ich meine, es sind das die Methoden, wie sie alle<br />

Erwachsenen immer schon gebraucht haben, um aus den Kindern eine<br />

servile fügsame Gefolgschaf-- Mann, wovon reden Sie überhaupt!<br />

wurde ich von fünf zornigen Stimmen unterbrochen. Aber meine<br />

Herren, lästerte ich (dermalen durchaus zufrieden), Sie müssen<br />

jetzt keine Verwirrung heucheln. Das ist doch wohl, hörte ich eine<br />

Stimme stottern, das ist doch-- Nein, aber nein, unterbrach ich<br />

jene Stimme; doch ich will Ihnen eine Geschichte erzählen-- Sie<br />

tun ohnehin nichts anderes, unterbrach mich der zweite, Sie tun<br />

seit Tagen nichts anderes... Als uns irgendwelche Geschichten zu<br />

erzählen, fuhr der vierte fort... Irgendwelche blöden oder<br />

langweiligen, jedenfalls erlogenen Geschichten, setzte der erste<br />

noch hinzu. Ein Dichter erfindet nichts, habe ich selbst jetzt<br />

fürwahr gelogen, ein Dichter erfindet keine Geschichten! - - Mein<br />

lieber Freund, begann endlich der zweite wieder, wir selbst sind<br />

ja keine Philologen... Daß wir jetzt, fuhr der fünfte fort, daß<br />

wir jetzt mit Ihnen, mein lieber Freund, über die Realität der<br />

Prosa diskutieren oder...Vergessen Sie aber die Lyrik nicht,<br />

unterbrach ich ihn, vergessen Sie die Lyrik nicht!...oder daß<br />

wir-– Ach, das ist doch einerlei... Das ist wirklich nicht von<br />

Bedeutung, rief der dritte, hier ist es nämlich überhaupt...<br />

Bedeutungslos! ergänzte der erste. Ich weiß das, lächelte ich, ich<br />

weiß das...und ich bedauere das. Aber statt zu bedauern, lachte<br />

der fünfte, statt das zu bereuen, sollten Sie endlich ein<br />

Geständnis ablegen.<br />

Sie sollen wissen, meine Herren, begann ich, Sie sollen wissen,<br />

daß vieles nur deshalb getan wird oder geplant, um den Tod zu<br />

retardieren. Ja, meine Herren, fuhr ich fort, das sollen Sie<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

wissen. Aber man kann den Tod nicht verzögern, hörte ich eine<br />

Stimme, und das wissen Sie! O, hörte ich mich sagen, o, ich selbst<br />

habe ja niemals etwas in dieser Hinsicht getan, im Gegenteil,<br />

meine Herren. Aber es wird ja, erklärte ich, es wird ja immer<br />

schlechter gestorben, und das wiederum wissen Sie, meine Herren!<br />

- - Wenn Sie sich erklären wollen, hörte ich schließlich eine<br />

helle Stimme. Natürlich, oh, natürlich, aber ich kann das nur<br />

versuchen, sagte ich, ich kann das versuchen... Mehr ist auch<br />

nicht verlangt worden von Ihnen! sagte der zweite in einer<br />

durchaus schulmeisterlichen Art. - - Nun fürchte ich dennoch,<br />

begann ich, nachdem ich zwei Zigaretten geraucht und indes meine<br />

Gedanken zu ordnen versucht hatte, fürchte ich dennoch, daß Sie<br />

meine Erklärungen, ich meine, jene versuchten Erklärungen – das<br />

Sie das alles endlich nur hören wollen, um eine Urteilsbegründung<br />

schreiben zu können; obschon ich selbst ja nicht-- Mein lieber<br />

Freund, wurde ich unterbrochen vom fünften, Sie wissen doch, daß<br />

wir keine Begründungen brauchen für unseren Spruch. Oh, entgegnete<br />

ich sardonisch, oh, natürlich weiß ich das, bitte verzeihen Sie<br />

meine...Unachtsamkeit. So erzählen Sie endlich, wurde ich herrisch<br />

aufgefordert vom vierten, erzählen Sie! Aber ich brauche nichts<br />

erzählen, reagierte ich sofort, ich brauche das nicht; sehen Sie<br />

sich, meine Herren, sehen Sie sich und Sie...Sie sind renitent,<br />

wurde ich zurechtgewiesen vom dritten, renitent!...und Sie, sehen<br />

Sie sich und-- Das hatten Sie aber schon einmal diagnostiziert!<br />

- - Man hatte mir schließlich eine Pause von dreißig Minuten<br />

gewährt. Die Ärzte waren aus dem Verhörzimmer gegangen und hatten<br />

eine rote dünne Mappe auf den Tisch gelegt. Zwei Blatt Papier<br />

waren darin, weißes glattes Papier in den Maßen 210 zu 297<br />

Millimeter, sowie ein stumpfer schäbiger kurzer Bleistift. Man<br />

hatte mir nämlich aufgetragen, alles das niederzuschreiben, was<br />

ich nicht artikulieren zu können glaube. Und natürlich hatte ich<br />

weder einen Satz oder ein Wort noch eine Interpunktion notiert<br />

gehabt, als jene fünf "Scharfrichter und Ärzte" schließlich wieder<br />

lächelnd eingetreten waren nach wahrscheinlich exakt dreißig<br />

Minuten. - - Nun, mein lieber Freund, begann der vierte mit einem<br />

süffisanten Timbre, dieweil der erste nach der Mappe griff, was<br />

haben Sie denn notiert? Lesen Sie selbst, meine Herren, antwortete<br />

ich lächelnd, lesen S-- Ohoo, ohoo, hörte ich den ersten lästern<br />

und den dritten, welcher neben ihm saß, ohoo... Unser Freund,<br />

sagte der erste, scheint ja tatsächlich zu glauben... Daß uns<br />

seine Scherze amüsieren, setzte der dritte fort in kurzen harten<br />

Betonungen, seine kindischen, naiven, dümmlichen, lästerlichen<br />

Possen. Ich beliebe nicht zu lachen, rief ich sofort, und ich tue<br />

das nicht...Aha, staunten diese fünf, aha!?...weil das Lachen hier<br />

wie eine Lüge riecht...<br />

Meine Herren, begann ich durchaus zuvorkommend, Sie brauchen mir<br />

keine Paraphrenie zu diagnostizieren, wiewohl Sie gewiß eine<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

katexochen ungebührliche Neigung zur Prognose jedweder Art von<br />

Schizophrenie leben m-ü-s-s-e-n...einfach schon deshalb, weil Sie<br />

selbst nichts wissen ob der Existenz eines Gottes. Das ist hier<br />

nicht die Sache, entgegnete der dritte, Gott ist hier nicht die<br />

Sache, über welche wir Ärzte...reden müss-- sollen, reden<br />

sollen... Nämlich mit Ihnen, setzte der fünfte noch hinzu. Aber<br />

ich wiederum muß diese Frage berücksichtigen, sagte ich; es gibt<br />

ja einen Punkt der Erkenntnis, erklärte ich, von welchem-- Ach,<br />

hören Sie auf damit, unterbrach mich der erste laut, lassen Sie<br />

das! Mein lieber Freund, fuhr der zweite höflich fort, mein lieber<br />

guter Freund, Sie sollen nur ein wenig mehr realistisch sein als<br />

Sie defätistisch sind. Aber ich habe schon einmal, hub ich an, ich<br />

habe schon-- Nein, nein, unterbrach mich der vierte; Sie sollen<br />

jetzt allein darüber nachdenken, daß es um Ihre Existenz nicht zum<br />

besten steht und daß Sie...Das haben Sie aber schön gesagt,<br />

lächelte ich, und das haben Sie schon einmal gesagt!...und daß<br />

Sie, erklärte der vierte beinahe unbeirrbar, daß Sie in der<br />

Situation, in der Sie sich jetzt befinden, auf keinen solchen<br />

Fragen insistieren brauchen. Verstehen Sie, lieber Freund, begann<br />

der dritte, und er schien ehrlich bestürzt, verstehen Sie –<br />

vielleicht werden Sie schon in drei Tagen gehängt...Oder<br />

erschossen, unterbrach ich ihn, oder erschossen!...oder auch<br />

erschossen, ja...Oder sogar geköpft, unterbrach ich ein zweites<br />

Mal, allenfalls sogar geköpft, oder überhaupt nur<br />

gevierteilt!...Vergessen Sie den Scheiterhaufen nicht, rief<br />

lächelnd der zweite dazwischen, vergessen Sie den nicht!...O ja,<br />

rief ich amüsiert, o ja, den Scheiterhaufen will ich auch ganz<br />

wohl erachten!...ja, oder verbrannt, lieber Freund, fuhr der<br />

dritte nervös fort, oder auch verbrannt; nichtsdestotrotz, mein<br />

lieber Freund, in Ihrer Lage – DA DÜRFEN SIE ÜBER SOLCHES NICHT<br />

MEHR IHRE ZEIT VERTUN! - - Was aber soll ich tun, meine Herren,<br />

was soll ich denn statt dessen tun, frug ich leise nach zehn<br />

Minuten, während welcher ich reumütig zu sein so gut geheuchelt<br />

habe, daß sogar diese fünf vielleicht gedacht haben über mich, daß<br />

ich kein Verbrecher sei.<br />

Warum ich also nicht weine, hatten sie mich gefragt, warum ich<br />

nicht weine. Warum solle ich das denn, hatte ich ihnen entgegnet.<br />

Sie schienen ein wenig verärgert darüber, daß ich ihrer Frage mit<br />

einer anderen Frage zu begegnen mich erdreistet habe. Warum ich<br />

das denn also solle, frug ich sie nochmals in einer<br />

Beharrlichkeit, über welche sie gewiß nicht geglaubt haben in<br />

diesem Moment, daß ich dazu fähig sein würde. Nun, hatten sie<br />

gezögert, nun, das Weinen sei so etwas wie eine Katharsis, welche<br />

hülfe, den Staub von der Seele zu schwemmen. Oh, hatte ich<br />

begonnen, oh, ich wußte ja nicht, daß Sie selbst an die Existenz<br />

von Seelen glauben... Sie können auch Zufriedenheit sagen, hatten<br />

sie geantwortet, Sie können das auch Zufriedenheit nennen! - - Zu-<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

frie-den-heit!? hatte ich mich erstaunt, Sie meinen tatsächlich<br />

Zu-frie-den-heit, bloße Zu-frie-den-heit!? Ja, ja, hatten sie<br />

gesagt, genau das! Aber ich solle endlich sagen, warum ich nicht<br />

weine. - - Ob Sie selbst also zufrieden seien, frug ich, und<br />

natürlich ärgerten sie sich ein zweites Mal (Aber sie waren jetzt,<br />

das habe ich rekognosziert, ehrlich bemüht, nicht etwa laut zu<br />

werden oder mir zu drohen, und vielleicht haben sie das nur<br />

deshalb getan, weil es alle Ärzte tun in den psychiatrischen<br />

Krankenhäusern und den Feldlazaretten oder weil es doch irgendwie<br />

verlangt wird ihnen.) Natürlich sind wir zufrieden, hatten sie<br />

geantwortet, und wir sähen es wirklich gerne, wenn auch Sie selbst<br />

endlich eine solche Zufriedenheit sich gestatteten. Ich müsse,<br />

hatte ich jetzt gefragt, ich müsse also nur das tun, wozu Sie mir<br />

raten, nämlich weinen, und dann würde sich diese Zufriedenheit<br />

schon ereignen wollen!? Gewiß, gewiß, hatten sie gelächelt, gewiß,<br />

ich müsse nur weinen; früher oder später, aber ziemlich bald auf<br />

jeden Fall, würde ich dann zufrieden sein können. Und was ist mit<br />

Gott, frug ich, was ist mit Gott. Wie bitte, wie? frugen sie in<br />

einer Verwirrung, die sogar auf ihren weißen Kitteln abzulesen<br />

war. Ich meine, hub ich an, was ist mit Gott? - - Mein lieber<br />

Herr, begannen sie schließlich, wir sprechen heute nicht über Gott<br />

mit Ihnen, wir-- Ja, ja, fiel ich den Ärzten ins Wort, ja, ja, Sie<br />

müssen nicht von Gott mit mir sprechen; aber Sie können etwas<br />

erzählen darüber! Sie scheinen die Situation falsch einzuschätzen,<br />

erklärten die Ärzte in ihrer gewohnten Routine, gänzlich falsch;<br />

Sie sind es doch, der erzählen soll... Aber ich weiß nichts von<br />

Gott! schrie ich laut und war sogar von meinem Sessel<br />

aufgesprungen. Bitte, lieber Freund, wenn Sie wieder Platz nehmen<br />

wollen! Natürlich, oh, natürlich, meine Herren; aber ich bin<br />

so...erregt...bei diesen Themen...und zwar so ganz...durcheinander<br />

und erregt. Das ist gut, das ist gut, erklärten sie, das ist<br />

wirklich gut! Nämlich die innere Erregung, wie ich aufgeklärt<br />

wurde, die Zerrüttung, die zuerst in ekstatischen Schüben<br />

passiert, um schließlich einem ausdauernden, wenngleich sich bald<br />

irgendwohin verlierenden Wohlgefühl zu weichen, kulminiert ja<br />

endlich in...Zufriedenheit. Also ist Gott zufrieden? frug ich.<br />

Sind Sie doch nicht naiv! wurde ich zurechtgewiesen, und es war<br />

sogar den Ärzten aufgefallen, daß sie in diesem Moment ihre<br />

Kontenance verloren hatten. Ich darf Sie jetzt aber bitten, meine<br />

Herren, nicht so arg persönlich zu werden, Sie verletzen mich, und<br />

ich bin ja hierher gebracht worden, daß man meine Wunden heilt und<br />

keine neuen schlägt. Sie sind bloß deshalb hier, weil Sie renitent<br />

sind, mein Herr! Aber nein, aber nein, entgegnete ich; Sie<br />

verwechseln mich mit jemand anderem; wenn Sie nur in Ihren Akten<br />

nachschla-- Seien Sie still! Wir wissen, weshalb Sie hier sind,<br />

mein Herr; Sie sind der Patient und wir sind Ihre behandelnden<br />

Ärzte! Aber man hat mir gesagt, ja, man hat mir glaubhaft<br />

versichert, daß ich-- Was, was, wurde ich unterbrochen, was hat<br />

man Ihnen versichert! Etwa daß Sie bloß zwecks Genesung in unsere<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Anstalt-- So ist es mir gesagt und versichert worden, rief ich<br />

dazwischen. So ist es Ihnen gesagt und versichert worden, lachten<br />

die Ärzte, so ist es ihm gesagt worden. - - Ja, sagte ich nach<br />

einer Pause, die mir selbst schließlich so lang und unangenehm<br />

schien, daß ich, nur um diese Pause zu unterbrechen, wieder zu<br />

sprechen begann, aber wenn sogar Sie mir nicht glauben... Oh,<br />

lieber Freund, wir glauben Ihnen; aber erzählen Sie jetzt, warum<br />

Sie nicht weinen wollen, erzählen Sie. Muß man das denn wollen,<br />

frug ich, kann man das nicht einfach können. Nun, mein Freund,<br />

begann der zweite dieser fünf Ärzte distanciert, und es schien,<br />

daß er Schwierigkeiten hatte, seine Gedanken zu formulieren, nun<br />

ja, Ihr...Fall ist...so...so ganz besonders, ja, ganz besonders.<br />

Nämlich Ihr Krankheitsbild, erklärte der vierte, ist so ganz<br />

spezifisch... Spezifisch, fuhr der dritte fort, für die ADT-<br />

Paranoia... Für eine Krankheit also, sagte der fünfte, die wir<br />

Ärzte überhaupt erst seit sieben Monaten kennen... Und Sie wissen<br />

ja, versuchte der erste mir zu erläutern, Sie wissen doch, daß für<br />

zuverlässige Aussagen reliable Beobachtungen notwendig sind! Aber<br />

ist Gott selber genügend zuverlässig gewesen? frug ich. Das ist<br />

hier und jetzt nicht von Interesse, lieber Freund, antworteten<br />

sie. Aber, hub ich an, aber-- Nein, nein, lieber Freund, wurde ich<br />

unterbrochen vom dritten; Sie leiden ja nicht an der ADS-Paranoia,<br />

daß wir jetzt also über Gott mit Ihnen sprechen müßten. Ihre<br />

Krankheit, erklärte der fünfte, heißt ADT-Paranoia. Und die ADTP,<br />

bemühte sich der erste, hat ihre Ursachen in jener inneren<br />

Zerrüttung...Ursachen der Ekphorie übrigens, erklärte der zweite,<br />

die wir ganz genau kennen!...in einer Zerrüttung, die Sie selbst<br />

uns schon geschildert haben. O ich bin gewiß nicht paranoid, meine<br />

Herren, entgegnete ich durchaus höflich. Natürlich sind Sie das,<br />

lieber Herr! sagten der erste und der vierte. Weil die Renitenten,<br />

antwortete der dritte wütend, dieweil die anderen vier sich ob<br />

seines Tonfalls erstaunten, weil die immer auch Paranoiker sind!<br />

- - Endlich bat ich um eine Zigarette, nachdem wir vielleicht<br />

schon zehn Minuten nichts gesagt hatten. Oh, wie unaufmerksam von<br />

uns, entschuldigte man sich bei mir, und der zweite reichte mir<br />

ein Päckchen Filterlose. Danke, erklärte ich mich kurz und brannte<br />

eine Zigarette an. Was unser Kollege eigentlich sagen will, begann<br />

schließlich der fünfte, und er schien ein wenig indigniert, ist ja<br />

nichts anders, als... Als daß wir alle hier nur Ihr Bestes wollen,<br />

sagte der vierte und schob mir einen Aschenbecher über den Tisch,<br />

nur Ihr Bestes... Lieber Freund, setzte der zweite noch hinzu. Oh,<br />

begann ich zu lächeln, oh, das haben sie im Zimmer Eins-Null-Eins<br />

auch gesagt... Im Zimmer Eins-Null-Eins? wurde ich erstaunt<br />

gefragt vom zweiten. Ja, Eins-Null-Eins – Sie kennen doch Orwells<br />

1984!? Während meiner Studienzeit habe ich es gelesen, glaube ich,<br />

sagte der erste ganz unbedacht, dieweil die anderen verärgert<br />

schienen. – - Mein lieber Freund, begann der fünfte, Sie müssen<br />

doch wissen, daß Bücher genausowenig real sind wie Träume und<br />

daß-- Es ist mir gleich, ob die real sind! schrie ich. Ich brauche<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

nicht darüber reden mit Ihnen, was warum und wie lange real ist,<br />

ich brauche das nicht, dafür bin ich nicht hier! - - Sie haben<br />

natürlich recht, mein lieber Freund, begann der vierte nach einer<br />

unangenehmen Stille, während welcher ich zumindest fünf Zigaretten<br />

geraucht hatte; es ist vollkommen gleichgültig, ob Bücher real<br />

sind oder bloße Illusionen, solange diese Bücher angelegentliche<br />

Scharteken sind und...Oder uns etwas zu lehren wissen, unterbrach<br />

ich ihn, irgend etwas zumindest!...Ja, vielleicht auch das... - -<br />

Ich lese keine Bücher mehr, hub ich an, sintemal ich ihrer<br />

nächsten Frage zuvorkommen wollte. Aber Sie haben sie in Ihren<br />

Erinnerungen behalten, begann der fünfte, und das ist ein<br />

gefährliches Spiel. Ein wir-kli-ch gefährliches Spiel! erklärte<br />

der zweite nachdrücklich. Oh, Sie kennen meine Erinnerungen nicht,<br />

lachte ich, oh, Sie kennen die nicht, daß Sie so etwas sagen<br />

können. Es tut mir leid Sie enttäuschen zu müssen, mein lieber<br />

Freund! sagte der erste. Doch wir Wissenschafter kennen die<br />

chemischen Reaktionen, sagte der dritte, welche... Welche auch so<br />

etwas wie Erinnerungen nachgerade erst auslösen, sagte der zweite.<br />

Ja, natürlich, ja, entgegnete ich jovial, ein Kuß ist ein<br />

histologisch-chemischer Prozeß! Ob Sie das glauben wollen oder<br />

nicht, antwortete der fünfte laut, aber das ist tatsächlich so,<br />

und es ist auch bereits bewiesen worden von uns! Warum soll ich<br />

dann denn weinen, frug ich und lächelte dabei ob der Verwirrtheit<br />

der Ärzte. Also soll ich mit einem chemischen Prozeß, fuhr ich<br />

fort zu fragen in jener gespielten konzilianten Art, einen zweiten<br />

chemischen Prozeß provozieren, um endlich einen dritten oder<br />

vierten zu verhindern!? Sie brauchen nur das tun, was wir Ihnen<br />

sagen! schrie der vierte, der jetzt aufgesprungen war von seinem<br />

Sitzplatz und dessen rechte Hand mich bedünkte, als würde er mich<br />

schlagen wollen. - - - Sie haben noch fünfzehn Minuten, wurde ich<br />

hingewiesen vom dritten. Danke, habe ich gesagt, und ich habe<br />

nicht geweint.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Es ist meine Aufgabe, den Leser in eine Verwirrung zu stürzen, aus<br />

der er nicht mehr herausfindet!<br />

hatt´ es nicht umsonst<br />

eine...unmenge<br />

taten schlechter tat<br />

beobachtet zu werden<br />

verlangt, aufdaß die<br />

dauernde, häßlichste<br />

trauer sich ganz verwandelt<br />

in die gestalt von göttern?<br />

Der Dialekt ist ein Wolf, dessen Belfern man mit rücksichtsloser<br />

Züchtigung begegnen muß!<br />

Im Sterben wird es die Hoffnung sein, die sich falsch benimmt!<br />

nur ich selbst war<br />

unter allen makellosen<br />

gegen das sterben gewesen.<br />

Wenn ich das in meine Tasche stecke - jenen braunen Strick, dessen<br />

Fasern ich mit einem Stückchen Seife geglättet haben werde wie das<br />

Haar einer Geliebten am frühen Morgen; wenn ich über die Stufen<br />

steige, in den achten Stock hinauf, wo ein Raum, ein trockener<br />

staubiger heißer, gebaut ist unter dem Ziegeldach; wenn ich die<br />

Tür versperre und den Schlüssel nicht abziehe; wenn ich den<br />

stärksten Balken von allen wähle, den Strick daran zu binden... O<br />

wie wird das sein dort oben? Wird dann die Seele aus mir platzen,<br />

so ganz wohlgefällig wie mein Samen ehedem? Wird es denn<br />

tatsächlich so sein, wie es mir träumte gestern abend, daß ich<br />

zernichtet werde und dabei lachen, und wird endlich gar die<br />

Hoffnung sich niederlegen, um der Gewißheit den Vortritt zu geben?<br />

O wie wird das sein dort oben?<br />

Es ist ein Erwachen, dem keine Erlösung folgt, ist ein Tun, das<br />

keine Taten legt, ist ein Denken, das kein Dauern hat.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

ich wollte ja emporsteigen - ins<br />

himmlische licht hinauf; daß ich<br />

mich durchwandern kann ohne alle<br />

irrungen.<br />

Ein Gedicht zu schreiben hat keine Überlegungen notwendig.<br />

Zwar scheint die Sonne, hub ich an, zwar scheint die Sonne an<br />

diesem Dienstag auch sechsundzwanzig Minuten vor 16 Uhr 10 noch;<br />

aber was will das heißen? Daß die Dämmerung beginnt, hat er<br />

gesagt. Ja, gewiß ja, habe ich ihm larmoyant entgegnet, das ist<br />

schon wahr... Was willst du eigentlich sagen? frug er ein wenig<br />

ungeduldig und sah zu dem Fenster, so als ob er sich vergewissern<br />

müsse, daß die Dämmerung tatsächlich eingesetzt hatte. Aber<br />

sie...sterben, habe ich gesagt, sie sterben! - - Ich weiß<br />

natürlich nicht, habe ich gesagt, ich selbst weiß nicht, wann sie<br />

sterben oder ob sie an Tumoren sterben oder an Hungerödemen, oder<br />

wie viele überhaupt sterben...Natürlich weißt du das nicht, hat er<br />

gesagt, das weißt auch du nicht!...aber ich weiß endlich sehr gut,<br />

fuhr ich fort, daß sie sterben. Wir alle werden das, hat er<br />

gelächelt, wir alle müssen sterben. - - Und wie kannst du das<br />

ertragen, frug ich ihn nach zehn Minuten, während welcher ich<br />

vielleicht dreimal mein Genital berührt hatte für einige Atemzüge<br />

oder länger, daß mich also zumindest diese Berührung endlich<br />

tröste, wie ich mich nämlich auch damals immer wieder, als ich ein<br />

kleiner Junge war und zum ersten Mal wirklich kapierte, was<br />

Sterblichkeit bedeutet, regelmäßig solcherart betastet habe, wie<br />

kannst du das ertragen? Wieso kannst du lachen, fuhr ich fort,<br />

wieso kannst du das, wenn irgendwo irgendwer stirbt!? Aber ich--<br />

Nein, unterbrach ich ihn, nein, ich verlange ja nicht, daß du<br />

nicht mehr lachen sollst! - - Und was verlangst du? frug er<br />

schließlich. Ich mag den Tod nicht leiden, begann ich, ich mag den<br />

nicht, und ich habe ihn noch nie mögen, weil er so ganz<br />

rücksichtslos ist! Und der Tod, habe ich gerufen, ist vielleicht<br />

nur deshalb so rücksichtslos, nachdem unsere Gefühle oder unsere<br />

Gedanken so wehrlos sind ihm gegenüber, wenigstens bis zu jenem<br />

Moment, wo man ihm nur noch mit Indolenz begegnen kann! Sich den<br />

Tatsachen zu stellen, hat er geantwortet, ist keine<br />

Gleichgültigkeit. - - Wir kennen keine Tatsachen, habe ich<br />

begonnen, wir kennen bloß Vorstellungen, und von diesen<br />

Vorstellungen, die wir haben, glauben wir endlich alle, daß diese<br />

oder jene Vorstellungen Tatsachen sein müssen. Nur w-e-i-l wir<br />

Tatsachen brauchen, fuhr ich fort mich zu erklären, glauben wir an<br />

Tatsachen! ...<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Es ist so kalt in einem Bett, das niemand zweiter nützt!<br />

Also, Alter, also,<br />

bald beginnt – bevor´s ein<br />

chamoisner Cherub charmant<br />

dir deuten darf als<br />

eine ehrlich endlos<br />

falsche falbe Fabel –<br />

gewiß ein gewaltsam Getöse!<br />

Horche, Alter – hörst helles<br />

idyllisch imposantes irrwitz´ges<br />

Jenseits, ja, Jenseits, du!?<br />

Komm´, Alter, kurz komm´ hierher und<br />

laß´ lüsternen Liedern, die so<br />

manchesmal mich mehr<br />

nötig, neidig nannten, als ein<br />

off´nes Ohr mir offen ist,<br />

pendente phobische Pakte folgen!<br />

Qualen, Alter! - Qualen quellen,<br />

ritzen in rabiaten raschen<br />

Schnitten, Stichen, Stößen<br />

triezende tiefe Tücke dir;<br />

und unheimlich, Alter - und<br />

vielleicht verwegen, verwegen zudem -:<br />

wollen wilde Wesen dir<br />

zuweilen zwei Zeichen<br />

in die Seele brennen.<br />

Ich kann schlafen in den Nächten, die den Hunger wie Heuschrecken<br />

über Äthiopien schicken. - Ich kann schlafen in den Nächten, die<br />

den Krieg wie von Alkohol trunkene Schauspieler rezitieren. - Ich<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

kann schlafen in den Nächten, die über das Lachen der<br />

Henkersknechte nicht einmal stumm werden. - Ich kann schlafen in<br />

den Nächten, die für die Ausbeutenden das Jus primae noctis<br />

bedeuten. - Ich kann schlafen in den Nächten, die über den Neid<br />

genauso staunen wie über die Morgensonne. - Ich kann schlafen in<br />

den Nächten, die nicht den Haß aus den Seelen der Schlafenden<br />

saugen. - Ich kann schlafen in den Nächten, die sogar vor den<br />

Diktatoren sich niederbeugen.<br />

wenn die kinder schreien<br />

weil die väter auf den schlachtfeldern krepieren<br />

während die mütter jener kinder nicht mehr wissen<br />

ob das mehl reichen wird...für einen dünnen brei<br />

wenn die kinder schreien<br />

und der general die huren an ihre front befiehlt<br />

dieweil er selbst mit seinem söhnchen spielt über<br />

der bunten großen befahnten generalstabskarte...<br />

Der zählte zwölf Jahre, als er starb. Er war ein Strichjunge<br />

gewesen. Auf den Bahnhoftoiletten - wie irgendwann ein Journalist<br />

vermuten wird - hat der seine Freier befriedigt mit der Hand oder<br />

vielleicht sogar oral; allenfalls hat er dafür bezahlt bekommen,<br />

sich einen runterholen zu lassen hinter einem Gebüsch im Stadtpark<br />

um 4 Uhr 10 morgens. - - Als er starb, hat er vielleicht geträumt;<br />

vielleicht hat er das tatsächlich, vielleicht hat er geträumt!<br />

Aber niemand weiß mehr zu sagen, was er geträumt haben wird, oder<br />

ob er überhaupt geträumt hatte in diesen Momenten, oder welche<br />

Träume das gewesen waren, ob es nämlich wohltuende heimatliche<br />

Träume waren oder bloß Alpträume. In der Zeitung jedenfalls wird<br />

darüber nicht zu lesen sein, daß er vielleicht geträumt haben k-ön-n-t-e,<br />

als er starb. - - Der da starb im morphinen Delirium,<br />

erstickt an einem Brei, der aus dem Magen gequollen war, hatte<br />

sozusagen eine Geschichte. Es war das nun eine Geschichte wie sie<br />

jeder Mensch schreibt mit jedem Tag, den er atmet, und wie sie<br />

doch so seltsam nur sein kann bei den Kindern! Aber diese<br />

Geschichte ist bereits verlorengegangen, als er starb, wie nämlich<br />

alle Geschichten irgendwann einmal nicht mehr dokumentiert werden,<br />

sintemal es so wenige sind, die sie ehrlich recherchieren oder die<br />

sie lesen ohne allen Vorbehalt. - - Und vielleicht gehen diese<br />

Geschichten nicht so sehr deshalb verloren, weil es fremde<br />

Geschichten sind; vielleicht gehen sie verloren, nachdem jeden<br />

bereits die eigene Geschichte so bedrohlich dünkt und unbekannt,<br />

daß er sie zu vergessen angehalten ist. - - Es ist das nun eine<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

kurze Geschichte, eine Geschichte von zwölf Jahren. Endlich aber<br />

ist es allein eine Geschichte über die Heimatlosigkeit! Denn<br />

manche Seelen sind ja schon sehr früh heimatlos geworden, sie sind<br />

Vagabunden...<br />

Die Entourage meiner Seele war die Sehnsucht gewesen!<br />

erst lachst du,<br />

dann fällst du,<br />

und schließlich<br />

weinst du<br />

erst kommt niemand,<br />

dann bleibt keiner,<br />

und du<br />

fällst ein<br />

zweitesmal<br />

Von Umständen ausgewalztes Fragezeichen: !<br />

hinab hinab<br />

hinab hin<br />

ab hina<br />

b hin<br />

ab!<br />

h<br />

Sie waren gekommen und hatten meine Erinnerungen zurückverlangt.<br />

Natürlich war ich erstaunt darüber, und ich bedeutete ihnen, daß<br />

sie gewiß nicht meine Erinnerungen haben könnten, sintemal das<br />

eben ganz und gar meine eigenen Erinnerungen seien, über welche<br />

sie selbst genausowenig bestimmen können wie über den Lauf der<br />

Monde des Jupiter. Außerdem sei das ja wirklich skurril, was sie<br />

hier verlangen von mir, und sie sollen sich überhaupt zum Teufel<br />

scheren! Ich würde ihnen meine Erinnerungen nicht überlassen, und<br />

schon gar nicht würde ich ihnen irgendwelche zurückgeben, weil das<br />

doch endlich hieße, die Rechtmäßigkeit ihrer Forderung<br />

anzuerkennen! Es wären das meine persönlichen Erinnerungen, und ob<br />

sie selbst nun ein Teil davon seien oder nicht – das bliebe für<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

mich ohne jede Bedeutung! ...<br />

Den Tod ge<br />

sto rbe n, den<br />

Tod ges to rbe n, den<br />

die See le mir sc hon<br />

hat gef lü ste rt !!!<br />

Das Kreuz hängt an der Wand, ein kleines hölzernes braunes<br />

Kreuz...vielleicht für die Kreuze, die auf jedem Rücken lasten und<br />

die so schwer sind wie die französische "Foch"?<br />

irgendwo ist immer ein<br />

krieg, der sein fieber durch die nächte schickt<br />

aber irgendwo ist auch immer einer<br />

dem dein kuß...gereichte<br />

Die Farben hatten sich geändert, sie waren nicht mehr bestimmt von<br />

den bislang universalen Gesetzen; sie waren statt dessen aus der<br />

Seele gemischt, wie vielleicht einmal auch Hieronymus Bosch die<br />

Farben vermengt hatte für den "Garten der Lüste" aus ebendieser<br />

Ungeheuerlichkeit. Dennoch war es großteils nur ein Schwarz, das<br />

man wahrzunehmen in der Lage war, ein tiefes, als solches<br />

furchterregendes übelgelauntes, das auch nur bisweilen in einem<br />

verspielten Grau oder in einem dünnen Gelb sich kleiden mochte. Es<br />

waren Farben, die irritierten! Allenfalls waren es auch nur die<br />

gewohnten Farben der Wände und Tapeten oder der Automobile und der<br />

Blumenbeete, die nämlich so plötzlich diesem Schwarz verfielen,<br />

daß es also nicht das Schwarz gewesen war, welches irritierte,<br />

sondern die Tatsache, daß hier ein Gegenstand seine Farbe<br />

gewechselt hatte in einem einzelnen Augenblick, der gewiß nicht<br />

bestimmt worden war für das Lachen. ...<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

doch die begierde -<br />

welche da gekommen in jenem<br />

moment der trauer -<br />

war allenthalten so<br />

wenig gegen die sonnenscheibe<br />

geneigt, daß ich selbst nur<br />

staunen hatte wollen...ohne<br />

alle inbrunst oder phantasie,<br />

ohne jede hoffnung habe ich´s<br />

bestaunen müssen.<br />

Worüber ich hier berichte...das hat sich nicht ereignet. Zumindest<br />

am ersten Tage nicht...und auch am elften nicht. Doch es m-u-ß<br />

sich irgendwann ereignet haben...weil ich anders nicht davon würde<br />

berichten können. Aber vielleicht wird sich das erst ereignen<br />

wollen...sintemal das, was sich bislang nicht ereignet hat und<br />

sich doch ereignen muß, sich schließlich ereignen wird wollen. - -<br />

Der Schneefall hatte begonnen, als ich schlief. Vielleicht hatte<br />

der aber auch begonnen, w-e-i-l ich schlief; niemand konnte das<br />

sagen. Und ich selbst war überhaupt so soporös aufgewacht, daß ich<br />

die Schneeflocken zuerst mit jenen Gespenstern verwechselte,<br />

welche seit acht Jahren des Nächtens über meinem Bette schweben<br />

für mehrere Stunden geradeso, als ob sie trauerten, als ob sie in<br />

ein geöffnetes Sargbehältnis blickten. Dann aber hatte ich die<br />

eigene Täuschung erkannt, und ich war erleichtert darüber, daß<br />

jene Gespenster nicht auch am Tage zu mir kamen, um mich zu<br />

bewachen wie einen Toten. ...<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Entwurf - Akroteleuton:<br />

Der tod, über den las ich in der bibliothek -<br />

Ehrlich sag ich dir, dort hatt ich nur eine<br />

Runde scharteke in den borden ganz nebenbei<br />

gefunden.<br />

Tausendmal, ja vor zeiten schon tausendmale,<br />

Oder gar öfter noch,<br />

Daß also ich selbst dort gewesen war, um´s uns<br />

In diesen büchern, in allen diesen büchern, oh,<br />

Schon zu suchen. daß ich da sagen kann: "adieu,<br />

Tod. irgendwann werde ich dich besiegen können."<br />

Ich würde dich lieben, habe ich gesagt und noch nicht einmal davon<br />

gewußt, daß ich die Liebe mit dem Begehren verwechselte, ich würde<br />

dich lieben. Aber du mußt mir nachsehen, fuhr ich fort, du darfst<br />

also darüber kein Urteil formulieren, wenn ich dereinst sagen<br />

werde, daß ich dich lieben will. Denn die Schönheit, habe ich<br />

expliziert, will ich, sintemal das Schöne immer auch das Dauernde<br />

zu sein mich bedünkt. Aber die Schönheit ist eine bloße Theorie,<br />

habe ich jene Stimmen gehört, sie ist nur eine Theorie! Und wenn<br />

sie das auch ist, habe ich gesagt, so ist sie doch die Schönheit.<br />

c<br />

e<br />

S<br />

A<br />

C<br />

H<br />

E<br />

!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

aus der herrlichkeit<br />

war<br />

ich<br />

hinabgestoßen worden<br />

in eine tiefe<br />

war<br />

ich<br />

gefallen, die<br />

so unendlich gewesen<br />

war<br />

daß<br />

ich nicht einmal des<br />

königs dort gedachte<br />

dem<br />

ich<br />

einst geschworen hab<br />

daß ich alles<br />

was<br />

ihm<br />

gehört, alles<br />

ihm zurückgeben will<br />

Ganz und gar war ich einer Erinnerung gefolgt, war ihr<br />

nachgelaufen, als ob ich davonlaufen hätte müssen, hab ihr<br />

zugesprochen geradeso, als ob sie mich anhören wollte, und hatte<br />

sie endlich gefaßt in einer Art, daß ich ihr verlorenging.<br />

Depressionen sind Satrapen!<br />

Ich war eingesperrt, ich meine, ich war nicht gefesselt, aber ich<br />

war dennoch arretiert. Draußen war ein Blizzard eben dabei, die<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Straße, auf welche ich vielleicht hätte blicken können, und<br />

endlich die ganze Stadt, zu erobern, als ich das erkannte, nämlich<br />

daß ich eingesperrt war. Es war wenige Minuten nach 16 Uhr, und<br />

ich glaubte ganz gewiß sagen zu können, daß ich selbst der einzige<br />

war, der davon bemerkte, daß wir uns, wie man sagt, schon mitten<br />

im Krieg befanden. - - Aber hinter den Fenstern auf der anderen<br />

Seite der Straße (und sicherlich in der ganzen Stadt) war der<br />

Schein des elektrischen Lichts noch genauso unbeteiligt an diesem<br />

Krieg wie die Männer der Schneekommandos, welche gewiß noch bei<br />

Tee und Tabak in ihren Unterkünften saßen. Doch der Krieg hatte<br />

ohne Zweifel bereits begonnen! Und es schien, daß nur ich selbst<br />

davon wußte. Denn die Fenster wurden nicht verdunkelt und keine<br />

Straßenlaternen abgeschaltet; noch nicht einmal über die<br />

Warnsirenen wurde Signal gegeben... - - Natürlich hatte es keine<br />

offizielle Kriegserklärung gegeben, zumindest war bislang nichts<br />

bekannt geworden. Das Fehlen einer solchen Benachrichtigung ist<br />

aber eine bloße Formsache, was also bedeutet, daß der Krieg zwar<br />

nicht erklärt wurde, aber doch bereits geführt wird. (Eine<br />

durchaus übliche Vorgehensweise, geschätzter Leser, die auch nicht<br />

so selten in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten gewesen<br />

war.) Trotzdem war ich selbst der einzige, der von diesem Krieg<br />

schon Kenntnis genommen hatte, und ich wußte sehr gut, daß wir ihn<br />

verlieren würden, daß wir der Übermacht des Feindes nicht<br />

standhalten würden können, nicht zuletzt einfach schon deshalb,<br />

weil wir den gegnerischen Truppen bestenfalls irgendwann<br />

gegenüberstehen werden in einer Ahnungslosigkeit, die endlich<br />

nicht mehr bedeuten wird als Wehrlosigkeit! - - Wie konnte das<br />

also passieren, daß unter all diesen Menschen ich allein von einem<br />

Krieg wußte, der nicht erklärt worden war und der aber doch<br />

bereits rekognosziert werden konnte? Man muß doch, habe ich<br />

gedacht, nicht erst mit Fesseln an den Händen und Füßen aufwachen,<br />

um zu erkennen, daß man erschossen werden wird oder gehängt! Es<br />

braucht doch bloß ein wenig Aufmerksamkeit mehr, um die Menetekel<br />

deuten zu lernen! - - Oh, aber ich weiß, wie diese Menschen<br />

reagieren werden, wenn sie nur endlich erkannt haben, daß sie sich<br />

im Krieg befinden: Begeisterung! - - Ja, die werden sich<br />

begeistern; sie werden ihre Söhne zu den Kasernen begleiten, als<br />

ob sie sonntags spazieren gingen, sie werden Kriegsanleihen<br />

zeichnen oder Metall sammeln, und sie werden die Scheiben jener<br />

zerschlagen, welche gegen diesen (oder überhaupt gegen jeden)<br />

Krieg argumentieren. Also wird der Krieg, welcher an den Grenzen<br />

begonnen hatte, fortgesetzt werden in den Städten und Dörfern und<br />

Siedlungen, bis hinein in die Wohnungen!<br />

Todesvariatonen:<br />

Man hatte ihn zwingen wollen, und es war ihnen gelungen. Die<br />

Folter ist ja ein Instrument, das selten einmal versagt! Also<br />

hatten sie zwei Stäbe genommen, zwei allenfalls ein Meter lange,<br />

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im Durchmesser drei Zentimeter zählende Stäbe von Holz. (Und das<br />

waren gewiß nicht dieselben Holzstücke, mit welchen sie ansonsten<br />

die Bastonade "zu exekutieren pflegen"!) Die haben sie dann unter<br />

seine beiden Kieferknochen geklemmt und ihn daran aufgehängt; in<br />

einer Höhe von exakt einhundertachtundsechzig Zentimeter haben sie<br />

ihn solcherart "fixiert". "In zehn Minuten wirst du größer sein<br />

als du jetzt noch bist!" "Und dann wirst du davon träumen, zu<br />

laufen!" "Aber du wirst nur länger werden, und immer länger!"<br />

"Wenn du nicht schon erstickt bist!" "Zuerst werden deine Zähne<br />

knirschen!" "Du wirst nicht mehr schlucken können!" "Vielleicht<br />

zerbrechen sie auch!" "Aber Ausspucken wird dir nicht gelingen!"<br />

"Stell dir das vor!" "Du wirst da hängen, und du glaubst ja nicht,<br />

wieviel Speichel das sein wird!" "In zehn Minuten kannst du schon<br />

erstickt sein!" "Oder ertrunken!" "Wie man´s nimmt!" "Und wenn du<br />

die ersten Minuten überlebst!?" "Nach zwanzig Minuten verkrampft<br />

sich deine Zunge!" "Und vielleicht sind deine Knochen auch schon<br />

zersplittert!" "Aber schreien wirst du nicht können!" "Du wirst<br />

nur wollen, daß es aufhört!" "Aber es wird nicht aufhören!" "Und<br />

du wirst dich auch nicht daran gewöhnen!" "Du wirst es nicht<br />

ertragen!" "Das hat noch keiner ertragen!" "Die ´Kiefernschaukel´<br />

fürchtet jeder!" "Die meisten gestehen, bevor wir überhaupt<br />

begonnen haben!" "Aber manche probieren´s auch!" "Die glauben<br />

nämlich, sie sind harte Typen!" "Und nach zwei Minuten siehst du´s<br />

in ihren Augen!" "Die können ja nicht schreien; aber man sieht´s<br />

in ihren Augen!" "Und weißt du, was wir mit denen machen?" "Wir<br />

lassen sie noch vier oder sieben Minuten hängen!" "Das kann eine<br />

verdammte Ewigkeit sein!" "Hier oben gibt es ja nur eine Zeit!",<br />

"WENN DU HIER HÄNGST, GIBT ES NUR DIE EWIGKEIT!" "Aber es gibt den<br />

Schmerz dazu!" "Und die ´Kiefernschaukel´ ist erst der Beginn!"<br />

"Denn wir lassen dich nicht sterben!" "Dich nicht!" "Du wirst so<br />

lange leben, so lange wir es wollen!" "Und nach drei Tagen wirst<br />

du glauben, drei Jahre hier zu sein!" "Vielleicht wirst du hier<br />

nicht mehr ´rauskommen!" "Also wirst du die Sonne nie wieder<br />

sehen!" "Jetzt gehörst du uns!" "Und sogar deine Erinnerungen<br />

gehören uns!" "Wir machen mit dir, was wir wollen!" "Wir haben<br />

alle Zeit der Welt!" "Und was hast du?" "Du hast bloß deine<br />

Erinnerungen!" "Deine Erinnerungen, und die werden wir dir<br />

stückchenweise herausziehen!" "Und für jede Erinnerung, die wir<br />

uns nehmen, werden wir dir ein Schmerzgefühl implantieren!" "Wir<br />

können das!" "Und wir werden es tun!" "Wir haben ja schon begonnen<br />

damit!" "Du spürst es doch!?" "Das ist nur der erste Schmerz!"<br />

"Aber das ist wie ein Virus!" "Wir müssen dich nicht vollpumpen!"<br />

"Vier, fünf Schmerzgefühle werden genügen; heute, oder morgen!"<br />

"Den Rest machst du selbst!" "Wir brauchen nur zusehen!" "Es wird<br />

dich von innen auffressen!" "Es arbeitet wie ein Virus!" "Und du<br />

kannst nichts dagegen tun!" "Aber jetzt kannst du noch etwas<br />

tun...!" "Denn wir können es aufhalten!" "Wir brauchen bloß nicht<br />

weitermachen!" "Du mußt es sagen – und wir hören auf!" "Aber was<br />

wirst du sein, wenn du dich weigerst?" "Du wirst nichts sein!" "Du<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

wirst deinen Namen nicht mehr wissen!" "Du wirst nicht einmal mehr<br />

schreien können!" "Du wirst nämlich alles verloren haben!" "Denn<br />

wir werden alles ausgetauscht haben in dir!" "Wir werden dich<br />

durcheinanderdividiert haben!" "Wir können das!" "Wir machen das<br />

jeden Tag!"<br />

Die Schönheit habe ich gesehen, ich habe sie gefühlt, und ich habe<br />

sie sogar zu schmecken vermocht. Denn es ist das eine Schönheit<br />

gewesen, die vielleicht allein deshalb zu tasten oder zu kosten<br />

mir selbst erlaubt worden war, weil mir niemals zuvor etwas<br />

Ähnliches gestattet war und weil außerdem zu den seltsamsten<br />

Eigenschaften der Schönheit eine Vergänglichkeit gehört, die<br />

bisweilen schon im selben Moment passiert wie ihre Schöpfung! - -<br />

Dieses Schöne hatte ich gesehen, ich hatte es mit meinen Händen<br />

berühren dürfen, ich hatte es schmecken können. Und o, es war<br />

gewiß das Schönste, das ich erfahren!<br />

Als ich das getan hatte, war ein Urteil nicht notwendig! Weder<br />

hatte ich die Hoffnungslosigkeit von Carmen gutgeheißen, noch die<br />

Chuzpe der Königin der Nacht, und ich war auch nicht verärgert ob<br />

der Mordgelüste des Pizzaro. Ich hatte das getan ohne alle<br />

Überlegung, und ich hatte keine Ranküne noch überhaupt irgendeine<br />

Art der Aversion, als ich es tat! Es war passiert, statt dessen<br />

war es passiert, wie nämlich zuweilen immer etwas geschehen mag<br />

ohne eigentliche Absicht.<br />

Träume sind wie Erinnerungen handzuhaben!<br />

Wer nicht verzeiht, wird nicht vertrauen!<br />

Das Lachen heutzutage kann nicht mehr so laut sein oder so<br />

ehrlich, daß wir nicht schon bald, nachdem wir gelacht haben,<br />

erinnert werden!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

aber ich will<br />

kämpfen, will<br />

mich wehren<br />

gegen diese<br />

ungeheuer<br />

die so behend<br />

nach unsern<br />

seelen fassen<br />

daß wir uns<br />

wie vögel<br />

wähnen, die<br />

in wolken<br />

tauchen und<br />

am horizont<br />

einen engel<br />

schlafend<br />

sehn, einen<br />

engel...!<br />

doch ich schreie<br />

weil wir<br />

sterben,<br />

weil wir<br />

wie verlorengegangne<br />

engel unsern flügeln<br />

nicht mehr vertrauen...<br />

Ich rekognosziere mehr und mehr ein Unglück, von welchem wir<br />

Menschen meinen, daß es über uns gekommen wäre wie eine Seuche.<br />

Und wirklich sind die Tatsachen der Sterblichkeit oder der<br />

Unfähigkeit zu handeln gegen den Schmerz vielleicht die ersten<br />

epidemischen Vorboten. Aber o, es ist ja heute nicht einmal der<br />

Kunst mehr möglich, ein Antidot zu mischen oder zumindest ein<br />

Palliativ!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

in der dunkelheit waren<br />

die gespenster gekommen -<br />

und die haben die sonne<br />

versteckt gehabt in ihren<br />

magengruben...aus welchen<br />

ein rumoren zu hören war,<br />

das geklungen hat wie ein<br />

explodieren von granaten.<br />

o ich habe mich nicht<br />

gefürchtet vor denen;<br />

ich habe nur gelacht,<br />

und auch ich habe die sonne<br />

vom firmamente gestoßen und<br />

in ein gewölbe geworfen, wo<br />

eine hundertschaft von<br />

gestalten wimmerte wie<br />

füchse, deren läufe<br />

in den fallen der jäger<br />

so ganz zermahlen sind,<br />

daß nicht einmal jener mond<br />

sich wehren hat wollen, der<br />

das doch alles gesehen hat.<br />

Die Werbung macht die Demoskopie notwendig! Nämlich anders würde<br />

sich gewiß nichts mehr verkaufen lassen...als über die Exploration<br />

dessen, wer eigentlich diese Dummen sind!<br />

Die Unmöglichkeit erkennt bereits in der eigenen<br />

Bedeutungslosigkeit etwas Sakrosanktes.<br />

Die christliche Religion zerstört uns; sie sagt uns, wer Gott ist,<br />

und sie lehrt uns zugleich, was es bedeuten mag, daran zu<br />

zweifeln, daran nicht zu glauben.<br />

Die Probleme der Menschen rühren meistenteils daher, daß sie sie<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

nicht artikulieren!<br />

Schon in einer Masse von zehn Menschen kann untergegangen werden!<br />

Im Tod zerbricht der Hamletsche Widerstand wie ein Bohrstift von<br />

Glas!<br />

Es war Winter gewesen, als wir spaziergegangen an den Ufern eines<br />

Sees. Eine vielleicht vierundzwanzig Zentimeter dicke Platte von<br />

Eis hatte sich dort gebildet während einiger Nächte, und es<br />

bedünkte mich, als würde das Wasser darunter stöhnen, als würde es<br />

nach mir rufen, daß ich das Eis zerschlage. Ich wollte es auch<br />

tun! Ich stand schon auf dem Eis und überlegte, an welcher Stelle<br />

die mitgebrachte Axt solcherart klug eindringen würde müssen, daß<br />

das Eis ganz zersplittern möchte, als ich die gegnerischen Späher<br />

rekognoszierte, wie sie sich von vier Seiten näherten. Die kamen<br />

über die Anhöhen gelaufen; über Berghänge, die wie Soldaten<br />

gekleidet waren, kamen sie. ...<br />

Die Zeit, die in der Gestalt eines Hundes neben mir gelegen hatte<br />

und meine rechte Hand zerbiß, habe ich mit der anderen karessiert.<br />

Auch sie schien mich zu mögen! Und ich selbst hatte das Gefühl,<br />

daß sie, obschon sie an meiner Hand kaute mit einer Inbrunst, die<br />

ihr vielleicht angeordnet worden war, ich selbst hatte tatsächlich<br />

das Gefühl, daß sie mich achtete, indem sie ihre Zähne in mein<br />

Fleisch bohrte. Es war das aber ein Schmerz gewesen, wie er<br />

vielleicht ansonsten nur den Soldaten passiert, die in den<br />

Schützengräben die Sekunden bis zur nächsten Detonation zählen. –<br />

- Allein, ich bin kein Kynologe, daß ich Ihnen sagen kann, welcher<br />

Rasse dieser Hund angehörte. Sein Fell war schwarz, vielleicht so<br />

schwarz wie verbranntes Menschenfleisch, und zerzaust. Er hatte<br />

einen Schädel, der so langgeformt und spitz war wie der Sprengkopf<br />

eines Marschflugkörpers, und seine Läufe schienen genauso muskulös<br />

wie jene eines Löwen im Sprunge. Aber das ist alles, was ich sagen<br />

kann über diesen Hund! Ich erinnere mich weder seiner Augen, noch<br />

weiß ich das Geschlecht. - - Schließlich war es eine zweite<br />

Gestalt, die meine Aufmerksamkeit verlangte, sodaß ich die Zeit,<br />

die als Hund zuvor erschienen war, nicht mehr zu antichambrieren<br />

suchte mit meiner Linken. Als sich das Skelett auf mich legte,<br />

habe ich nämlich diese Hand gebraucht, seine Rippen zu betasten! -<br />

- Ich weiß nicht, warum ich dessen Rippenknochen berührt hatte,<br />

vielleicht auf die gleiche Art berührt hatte wie man einmal als<br />

Kind über die zähe Haut einer Poularde seine Finger einfach nur<br />

deshalb dirigieren hat müssen, um deren Rippen zu zählen. Ich weiß<br />

das nicht! - - Doch war es ein schönes Skelett, ich meine, es war<br />

nicht eine abstoßende oder gar eine gespenstische Erscheinung!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Auch war es nicht begierig auf mein Fleisch wie die Zeit, die in<br />

der Gestalt eines Hundes immer noch meine rechte Hand zerbiß!<br />

Trotzdem schien es mir, als würde das Skelett etwas fordern<br />

wollen, sintemal es sich auf mich gelegt und damit begonnen hatte,<br />

mich zu liebkosen. ...<br />

als ich die gedanken<br />

als gespenster hörte<br />

und das denken so sehr fürchtete,<br />

daß ich davonzufliegen wagte... –<br />

oh, ich war nicht eingetaucht ins<br />

himmlische, ich war gestürzt; wie<br />

eos - die dem kephalos gebührt! - war<br />

ich aus dem morgen gefallen in dunkle<br />

nacht hinunter, und dort hab ich alle<br />

meine gespenster, die gedanken waren,<br />

wiedergefunden. und ich hab mich so<br />

gefürchtet ein zweites mal, daß ich<br />

emporsteigen wollte aus jenem sumpf<br />

selbstauferlegter verzweiflung, daß<br />

ich den phönix grüßen kann, daß der<br />

die gedanken - die gespenster sind! -<br />

verbrennen soll am nächsten morgen,<br />

daß er sie den flammen der eignen<br />

beschaffenheit denn überreiche,<br />

daß die nicht mehr aufersteh´n!<br />

Hier waren die Geräusche und Melodien andere, unbekannte,<br />

mühevolle. Als er sie auseinanderzureißen begann, sie aufs neue zu<br />

lernen, explodierte ein Schmerz in seinen Ohren mehr und mehr.<br />

Indes war auf den Rücken der Anhöhen eine Reiterschaft zu sehen.<br />

Was geschlafen hatte, war erwacht! - - Das wälzte sich, streckte<br />

seine Arme; und es gähnte so moribund wie ein Scheintoter am<br />

zwölften Tag seines rauschhaften Zustandes. Vielleicht war das ein<br />

Scheintoter, der seine Finger nur deshalb bewegte, um nach dem<br />

Totengräber zu fassen, den er versucht hatte in seinen<br />

Erinnerungen zu behalten, dessen rauhe somnambule Physiognomie er<br />

nicht zu vergessen angehalten war! - - Nun weiß der sehr gut, daß<br />

er ihn niemals berührt hatte, daß er während dieser zwölf Tage<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

nicht einmal wußte, wie dessen Schultern beschaffen waren. Aber es<br />

war passiert, daß ihn der angefaßt hatte, daß der irgendwann auf<br />

ihn zugekommen und so nahe über ihm geblieben war, daß er den<br />

warmen Atem riechen konnte, der zwischen diesen Lippen genauso<br />

vorsichtig hervorströmte wie vielleicht der Nebel am Morgen<br />

zwischen den Gräbern schleicht. Da fühlte er dessen rechtes Bein<br />

zwischen die seinen geklemmt, leicht nur aber doch, ein wenig warm<br />

nur aber eben warm! So stieß er den schreiend von sich, mit all<br />

der Kraft, die er aufzubringen fähig gewesen war, und erkannte,<br />

daß der lachte, daß der sich nicht einmal ekelte vor ihm, daß der<br />

statt dessen wie eine Mutter, die ihr Kind hält, lächelte und<br />

seufzte. - - Als seine Augen geschlossen wurden, streckte er<br />

seinen linken Arm aus und griff nach dem Sargdeckel, dessen<br />

tapezierter Stoff so kalt und glatt sich anfühlte wie eines<br />

Messers Klinge. Sein Atem aber wurde nicht flacher; der war nicht<br />

bereit, sich erneut dem Schlafe zu überlassen! - - Er selbst war<br />

wenige Meter entfernt von ihm, von diesem Totengräber, der im<br />

sandigen Erdboden ein Grab auszuschaufeln sich ereiferte. Doch in<br />

diesem Sarg war kein Spalt und keine Ritze, keine Öffnung, durch<br />

die er hätte blicken können! Die Luft jedenfalls war heiß,<br />

vielleicht so heiß wie nach der Zündung einer Atombombe, und<br />

allein das Firmament, auf dem träge Wolken sich wie Schauspieler<br />

verwandelten, schien davon zu wissen, daß hier etwas geschah, was<br />

zu beobachten man sich nicht weigern sollte. Aber der Totengräber<br />

erschrak nicht! Der roch nur das warme Gras und die kühle sandige<br />

Erde, in die er seinen Spaten stieß. - - So weiß auch heute noch<br />

niemand etwas von der Logik des Totengräbers, dessen Erinnerungen<br />

mit jedem Kubikmeter, den er schaufelt, bestimmt verlorengehen.<br />

Dieser Erdboden, in den der sich wühlt, ist das tatsächlich<br />

Beherrschende auf dem Friedhof! ...<br />

Als der wiederumgestoßene Wagen jedenfalls hart auf den Rädern<br />

landete und einige Male ebenso hart nachschaukelte, spürte er<br />

kühles wunderbares Blut auf seiner Hand, die in den spitzen<br />

Stückchen des zersplitterten Scheibenglases mit einer Wollust<br />

gewühlt hatte, die einfach passiert war, die also keineswegs<br />

beabsichtigt und geplant, sondern nur passiert war! Doch dann<br />

verzogen sich seine blutenden geschwollenen aufgeschlagenen<br />

Lippen, und man sah das Weiß seiner Zähne, die für dieses Lächeln<br />

vielleicht genauso unbeholfen wirken mochten wie ein Clown im<br />

Zeugenstand.<br />

Als ich schließlich den Knauf des Ganghebels mit dem zweiten und<br />

dem dritten Finger meiner Rechten umfasse, vielleicht so verliebt<br />

umfasse wie der Pilot der "Enola Gay" den Steuerknüppel gehalten<br />

hatte, als ich die Kupplung niederdrücke mit einer Beharrlichkeit,<br />

die schon sehr der Wut ähnelt, als ich den Schalthebel in den<br />

ersten Gang presse und endlich die Pedale schnalzen lasse, drehen<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

die Antriebsräder zuerst kreischend am Stand - und der Geruch des<br />

verbrannten Gummis erinnert mich an den...Duft von<br />

Schlachtfeldern. Aber plötzlich greifen sie! Der Wagen schnellt,<br />

springt vorwärts, und beschleunigt dabei in einer Gier, die so<br />

ungestüm ist, daß ich glaube, auf dem Cerberus zu sitzen, dem ich<br />

meine Finger in die Augen stoße, daß er laufe, laufe, laufe... Der<br />

Motor erschöpft sich auch nicht, als ich im zweiten und im<br />

dritten, im vierten, fünften Gang beschleunige! 228 km/h... Die<br />

Straße ist der Styx. Ich höre, wie die harten Schalen von Insekten<br />

an den Scheiben zerplatzen geradeso, als würde Charon mit seinen<br />

knöchernen Fingern dagegentrommeln.<br />

Todesvariationen:<br />

Ich war nie ein mutiger Mensch, also, ich war nie einer, der in<br />

einem Helikopter geflogen war oder vielleicht über die Eiger<br />

Nordwand hätte klettern wollen. In diesen Dingen war ich – das<br />

gebe ich offen zu! -, in diesen Dingen war ich tatsächlich ein<br />

Feigling. Aber was heißt schon Mut! In meiner Kompanie zum<br />

Beispiel war niemand mutig gewesen, niemand, kein einziger. Das<br />

ist auch keine Schande! Ich meine, Soldaten brauchen keinen<br />

solchen...Mut. – - Wenn sie jemanden erschießen, brauchen sie kein<br />

mutiger Kerl sein, ich meine, sie müssen sich beim ersten Mal<br />

gewiß überwinden, irgendwie innerlich überwinden... Aber dafür ist<br />

kein Mut vonnöten! Sie haben ihre Pflicht getan, mehr als Pflicht<br />

ist das nicht! - - Wenn sie einen gegnerischen Bunker knacken,<br />

braucht es keinen Mut, ich meine, es ist eine verdammt miese<br />

Situation, die sie bewältigen...ich meine, wenn sie das tun, wenn<br />

sie einen Bunker hochgehen lassen...da hilft kein Mut...ich meine,<br />

da brauchen sie Erfahrung, da muß jeder Handgriff sitzen... – - Es<br />

geht hier nicht um Mut, ich meine, im Krieg ist nicht der Mut<br />

entscheidend! Schnelligkeit entscheidet! Sie müssen besser, also<br />

ich meine, schneller zielen als ihr Gegenüber...sie müssen einfach<br />

schneller sein...ich meine, sie müssen schneller und besser sein<br />

als ihr Gegner...da dürfen sie nicht zögern...wenn sie einen<br />

Straßenzug mit fünf anderen Kameraden sichern sollen...weil<br />

irgendwo Partisanen verschanzt sind...in diesen Momenten können<br />

sie sich keine Fehler leisten...jeder Fehler, den sie machen, kann<br />

ihren Tod bedeuten...oder den Tod eines Kameraden...und das wollen<br />

sie nicht...sie wollen überleben...sie wollen ja nicht als<br />

Kriegskrüppel heimkehren oder auf dem Heldenfriedhof enden...sie<br />

wollen nicht mehr als überleben...und dafür müssen sie einfach<br />

schneller sein als der Feind...sie müssen schneller sein...wer zu<br />

langsam ist, stirbt...wer zögert, stirbt...verstehen Sie...da geht<br />

es ums nackte Überleben, da geht´s um "Du oder ich"...<br />

Diese Entwicklung hatte er nicht vorhersehen können noch<br />

beabsichtigt gehabt. Statt dessen war es einfach passiert! An<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

irgendeinem Abend war es nämlich geschehen! Nun war das gewiß kein<br />

besonderer Abend gewesen und auch keine irgendwie besondere<br />

Situation, über welche man vielleicht hätte sagen können in jener<br />

tributären Art, die so oft genannt und dabei so selten bewiesen<br />

wird von den Anklägern, die auch so wenig gern ihr Gesicht zeigen,<br />

daß es aber dennoch ebendieser Abend und ebendiese Situation<br />

gewesen waren, welche verantwortlich zeichneten für jene durchaus<br />

scham- und halt- jedenfalls charakterlose Entwicklung. Aber<br />

Gedanken oder Phantasien sind diesen Anklägern ohnehin seit ehedem<br />

verhaßt, und so ist denen die einzige Ursache unbedingt in den<br />

Zeiten und den Situationen zu erforschen! - - Was war es nun, das<br />

geschehen war ohne daß er selbst etwas dazugetan hatte? Es war ein<br />

Gedanke; aber vielleicht war es auch eine Ahnung gewesen, welche<br />

als Gedanke sich verkleidet hatte, um dann dereinst als Wollen<br />

(oder als Müssen) sich zu erkennen zu geben, wie vielleicht<br />

irgendwann der Herold eines Königs als Herold empfangen und<br />

endlich als Erpresser bewirtet worden war! Das geschieht ja oft;<br />

daß uns nämlich Gesichter begegnen, die uns anfangs ehrlich oder<br />

schön bedünken, deren ganze Häßlichkeit wir aber meist zu spät<br />

erkennen, sintemal uns das Schöne oder das Ehrliche verzaubert und<br />

wir in solchen Momenten nicht mehr zu glauben fähig sind, daß<br />

vielleicht doch die Lüge das Lächeln sich aufgeschminkt hatte oder<br />

daß uns die Schönheit wie ein Jüngling erschienen war! So sind<br />

also die Gesichter nicht anders als die Gedanken, über welche man<br />

selten einmal im Moment ihrer Schöpfung schon sein Urteil bilden<br />

mag und bilden kann! - - Die Begierde war also geschehen an diesem<br />

Abend! Aber die Begierde erstaunt uns; sie erstaunt uns nicht so<br />

sehr in ihrem Wesen als in ihrer zuweilen plötzlichen Entität. Und<br />

diese Begierde, die geschehen war an jenem Abend, war der Herold,<br />

der ein Erpresser ist, welcher sich noch nicht einmal zu<br />

verkleiden braucht! - - Also, er war begierig, war erstaunt. An<br />

diesem Abend aber war er mehr begierig als erstaunt, sodaß er eine<br />

präzise Beobachtung ebendieser Erscheinung (die ihm eine<br />

vielleicht ebenso detaillierte Erkenntnis über jene Ahnung, die<br />

hier tatsächlich geschehen war, erlaubt hätte) nicht für notwendig<br />

hielt und sich statt dessen jener plötzlich aufgetretenen Lust<br />

nachgerade hingeben hatte müssen wie eine Magd ihrem Herren zu<br />

Zeiten des Jus primae noctis. - - Die einstmals geforderten und<br />

dann gesetzten Grenzen des eigenen Wollens – das hatte er mit<br />

vorsichtigem Bedauern rekognosziert – waren schließlich soweit<br />

korrigiert worden von ihm selbst, daß er nicht mehr umhin hatte<br />

können sich einzugestehen, keine solchen Grenzen mehr zu zeichnen<br />

noch zu respektieren. Damit war sein Wollen, das oftmals überhaupt<br />

nur das Wünschen irgendeiner Begierde ist, endlich eben das<br />

geworden, was die Ankläger in ihrer Rücksichtslosigkeit richtig<br />

diagnostiziert hatten ohne es ehrlich beobachtet zu haben: Er war<br />

scham-, halt- und charakterlos an diesem Abend. ...<br />

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Das Inferno ist hier. Man muß nur seine Augen öffnen. Man braucht<br />

dabei nur sich selbst beobachten. – Tu das! Sieh dich an!<br />

Es war also nicht möglich, eine exakte Zeit zu bestimmen, und<br />

vielleicht hätte ich selbst nicht einmal den Gedanken gehabt, nach<br />

der Zeit zu fragen oder eine Zeit abzulesen, wäre ebendiese Zeit<br />

nicht mit einemmal verlautet worden: In sechsunddreißig Sekunden,<br />

hörte ich jemand rufen, ist es 16 Uhr 10. Aber vielleicht habe ich<br />

das auch nur gesehen, daß es nämlich 16 Uhr 10 wird, vielleicht<br />

hatte ich das rekognosziert, ich weiß es nicht zu sagen. - -<br />

Jedenfalls war es 16 Uhr 10 geworden, und ich mußte mich sputen,<br />

wie ich ja überhaupt, seitdem ich die Zeit nicht mehr nennen<br />

konnte oder irgendwo abzulesen vermochte, ausgesprochen rastlos<br />

(und vielleicht auf der steten Suche nach der exakten Zeit)<br />

gewesen war! Ich durfte nicht zu spät beginnen - das wußte ich;<br />

obschon ich anderenteils keine Kenntnis darüber hatte, womit ich<br />

eigentlich beginnen würde müssen. Aber beginnen würde ich<br />

müssen! ...<br />

Es wird mir gelingen, habe ich gedacht und an das Verlieren<br />

geglaubt. Jetzt war ich selbst über mich erstaunt; daß ich nämlich<br />

den Tod negiert hatte und dennoch ebendiesem Tod versprochen war<br />

seit ehedem! - - Stimmen hatte ich gehört, vielleicht sardonische<br />

Stimmen, die vom Morgen sprachen in jenem Timbre, das ich schon<br />

genannt, vom Morgen! Aber o, jetzt mußte ich mich eilen, diesen<br />

einen Morgen nicht zu verpassen, von welchem die Stimmen<br />

gesprochen hatten zuvor noch, als ich den Tod mit der Hoffnung<br />

verwechselte! - - Um 4 Uhr 10 war ich denn aufgewacht und hatte<br />

keinen solchen Morgen agnoszieren können, von welchem jene Stimmen<br />

gesprochen. Ich frühstückte, mit schwarzem Tee und mit drei Tage<br />

altem Gebäck, und drückte endlich wie ein neugieriger Junge die<br />

Tablette aus ihrer knisternden glänzenden Umhüllung und ging in<br />

das Badezimmer, wo ich sie, dieweil ich das Wasser aus dem<br />

Brausekopf über meinen Körper spritzen fühlte geradeso, als wäre<br />

es das Sputum der Literaturkritiker, fast schon begierg schluckte.<br />

Es wird dir gelingen, hörte ich jene Stimmen in meinem Kopf, das<br />

wird dir wohl gelingen. Aber ach, was wußten diese Stimmen von der<br />

Angst! Was wußten die schon, daß man sich vor Dante fürchtete und<br />

statt dessen Orwell las? - - Vielleicht waren diese Stimmen<br />

zeitlos, ich meine, vielleicht akzeptierten sie keine Zeit. Denn<br />

die Zeit, habe ich gedacht, ist es ja, die uns eine Angst erst<br />

fühlen läßt auf diese Weise, daß wir zu verzweifeln oder zu<br />

sterben glauben, obschon wir vielleicht lachen sollten. Aber es<br />

ist die Zeit, welche sich stets so sehr zwischen unsere<br />

Erinnerungen zwängt, daß wir sie einfach schon deshalb beachten,<br />

um nicht unsere Erinnerungen zu verwechseln mit unseren Vorhaben!<br />

- - Nun kann ich gewiß sagen, daß ich die Zeit zu bekämpfen mich<br />

befleißige, sintemal die Angst die Stunden, die Jahre oder die<br />

Jahrzehnte überdauert in einer Unbekümmertheit, die mich<br />

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ausgesprochen charakterlos bedünkt! ...<br />

In der Nacht war ich einsam, und am Tag war es so dunkel. Es war<br />

so dunkel, daß ich glaubte, in die eigene Seele gefallen zu sein,<br />

in ein Loch hinunter, zu welchem kein Lichtstrahl mehr drang und<br />

in welchem ich verirrt war und verwirrt. Es war so dunkel in dem<br />

Hospital, und es war so dunkel zwischen den Menschen, welche ich<br />

dort traf, daß ich also nach der Uhrzeit frug. Man sagte mir, daß<br />

es 16 Uhr 10 sei, nämlich früher Nachmittag an diesem Tag, diesem<br />

Montag. Aber warum ist es hier so dunkel, frug ich erstaunt, und<br />

gewiß war auch eine Angst in mir vor dem Dunkel, daß ich<br />

schließlich frug nach dem Dunkel. Sie müssen Ihre Augen öffnen,<br />

war die Antwort, Ihre Augen öffnen, dann werden Sie erkennen, daß<br />

es wenige Minuten nach 16 Uhr ist und daß-- Aber diese Dunkelheit,<br />

unterbrach ich, diese Dunkelheit ist doch nicht zu leugnen! Mein<br />

lieber Herr, hörte ich eine Stimme mich rügen, wenn Sie hier um<br />

diese Zeit tatsächlich ein Dunkel agnoszieren, dann müssen Sie<br />

einen Stock höher, nämlich in die Augenambulanz müssen Sie dann!<br />

Oh, die Augen sind es nicht, hub ich an, die Augen sind es<br />

wirklich nicht, die mir dieses Dunkel vermitteln. So gehen Sie<br />

halt einen Stock tiefer, hörte ich diese wütende Stimme, einen<br />

Stock tiefer, in die Psychiatrie hinunter! Und was wird dort sein,<br />

frug ich diese Stimme, was wird dort anderes sein...als ein<br />

Dunkel, es ist doch immer nur ein Dunkel. Mein lieber Herr, hörte<br />

ich diese Stimme süffisant erklären, es ist heute Montag, und es<br />

ist 4 Uhr Nachmittag vorbei; aber wenn Sie das nicht erkennen<br />

können – oder erkennen wollen -, dann gehören Sie wirklich nicht<br />

hierher! Ich weiß das, schrie ich, ich weiß das gut, daß nämlich<br />

Montag ist und welche Uhrzeit wir haben! - - Aber es ist dunkel,<br />

fuhr ich endlich fort, und Sie sagen mir nicht warum... Die Sonne,<br />

explizierte diese Stimme, die Sonne ist um exakt 16 Uhr 10<br />

untergegangen, und der Mond ist zwei Minuten davor aufgegangen;<br />

vielleicht könne das Ihnen jenes seltsame Dunkel erklären... - -<br />

Es war gewiß kein seltsames Dunkel, begann ich schließlich, es war<br />

das nicht, weil...das Dunkel...Ja, hörte ich diese Stimme mich<br />

auffordern, ja!?...weil das Dunkel...auch niemals so besonders<br />

ist...nämlich das Dunkel der Nächte zum Beispiel...daß es<br />

solcherart seltsam sein wird können... Also ist es denn doch ein<br />

Dunkel, das sich ereignet allein in Ihrer Seele, frug jene Stimme<br />

in einer Bedächtigkeit, über welche ich mich erstaunte, sintemal<br />

es nun endlich geschehen war, daß jemand von der Seele nicht<br />

anders gesprochen als von der Dunkelheit, von der Dunkelheit der<br />

Nächte zum Beispiel. Oh, Sie kennen dieses Dunkel, reagierte ich<br />

sofort; Sie kennen diese Stunden, während welcher man ein Dunkel<br />

agnosziert, wiewohl die Sonne den Zenit bereits überschritten!?<br />

Die Sonne hat mit der Dunkelheit nichts zu schaffen, hörte ich ihn<br />

sagen; die Sonne bekümmert das genausowenig wie die Monde des<br />

Jupiter! - - Aber Sie selbst wollen ja, hub er an zu erklären, Sie<br />

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wollen bestimmt eine solche Dunkelheit verstehen, über welche man<br />

endlich nicht mehr sagen wird können als man vielleicht über den<br />

Haß wird sagen wollen... Und was sagst du über den, frug ich. Über<br />

den sage ich nichts, war seine Antwort, über den schweige ich<br />

still... - - Jedenfalls ist der Haß keine einfache Sache, hörte<br />

ich ihn schließlich sagen (und es bedünkte mich, daß er sich<br />

erinnerte an den Haß, daß ihm übel wurde dabei und daß er trotzdem<br />

noch nicht einmal sich entscheiden hat müssen über den Haß); der<br />

ist das wirklich nicht, und sogar die Dunkelheit, fuhr er fort,<br />

sogar die ist niemals etwa unschwer zu verstehen gewesen<br />

oder...Oder zu akzeptieren, unterbrach ich ihn, wenigstens zu<br />

akzeptieren!...ja, oder zumindest anzunehmen als das, was sie ist!<br />

- - Natürlich, begann ich endlich, werden wir diese Dunkelheit,<br />

eine solche Dunkelheit, meine ich, natürlich werden wir die auch<br />

nicht zu akzeptieren uns befleißigen eben schon deshalb, weil wir<br />

das Schöne wollen...nämlich das Schöne... Das Schöne ist ja, fuhr<br />

ich fort zu erklären (oder vielleicht hab ich´s auch nur gedacht),<br />

das ist ja das eigentlich Verlangende in uns selbst... Und weil´s<br />

das ist, begann ich wieder, wollen wir nicht resignieren vor einer<br />

Dunkelheit, die uns das Schöne nicht erlaubt! - - Verstehst du,<br />

begann ich schließlich, nachdem wir uns zwölf Minuten<br />

gegenübergesessen waren wie müde Totengräber am Nachmittag,<br />

verstehst du, daß wir nicht wählen wollen, weil wir nicht wählen<br />

können, daß wir nicht für das Licht uns entscheiden, weil das<br />

einzige Licht, das wir kennen, bloß das der Wasserstoffbomben ist?<br />

- - Ob ich´s versteh oder nicht, hat er geantwortet, brauch ich<br />

dir nicht zu sagen. Aber ich will endlich kein Licht, fuhr er<br />

fort, das aus der Dunkelheit kommt, das aus ihr hervorkriecht wie<br />

eine plötzliche Übelkeit, um dann wieder abzutauchen wie ein<br />

Gespenst zum Stundenschlag, ich will kein solches Licht! - - "Mehr<br />

Licht...", hat er dann skandiert, "Mehr Licht...", und vielleicht<br />

habe ich ihn gehaßt in diesem Moment als er es sagte nicht so<br />

sehr, weil er Goethe, diesen Johann Wolfgang, zitierte; allenfalls<br />

habe ich ihn hassen m-ü-s-s-e-n einfach schon deshalb, um nicht<br />

selbst vor jenem Dunkel mich niederzuwerfen, von welchem ich<br />

bislang überzeugt war, daß es das Licht – nämlich jenes<br />

sagenumwobene Licht - festhalten würde, wie vielleicht auch die<br />

Hoffnung in der Büchse der Pandora festgehalten worden war, aufdaß<br />

wir nicht die Erlösung hoffen, aufdaß eben wir nicht glauben, die<br />

Erlösung müsse entweder der Tod sein...welcher die Dunkelheit<br />

zerbricht oder das Licht, jedenfalls ir-ge-nd et-wa-s zersplittern<br />

läßt...oder die Unsterblichkeit, nämlich eine Unsterblichkeit, die<br />

nicht anders sei als der Tod und die also nichts anderes tun würde<br />

mögen als ohnehin dieser Tod denn täte, indem er das Licht aus der<br />

Dunkelheit schneidete allenfalls wie ein Soldat, welcher den Bauch<br />

einer Gebärenden durchwühlt mit seinem Bajonett. - - Also weinen<br />

wir, begann er, weinen wir über das verlorengegangene Licht, weil<br />

wir die Dunkelheit bestaunen!? Ich weiß das nicht, habe ich<br />

ehrlich geantwortet, ich weiß das nicht und niemand weiß es;<br />

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vielleicht wollen wir auch nicht...lachen...in jenem Moment, in<br />

welchem wir erkennen, daß wir einsam sind... Und was hülfe das<br />

Lachen, frug er, was hülfe das. Niemand weiß das, wiederholte ich<br />

mich; und trotzdem m-ü-s-s-e-n wir uns entscheiden... - - Wir<br />

waren jetzt dagesessen nicht wie zwei Totengräber am Nachmittag um<br />

16 Uhr 10, sondern wie zwei Kinder im Stadtpark vielleicht,<br />

welche, als sie die Abendsonne staunten, nach den Müttern riefen,<br />

weil dieses Licht an das Blut erinnerte, das aus ihren Nasen troff<br />

als sie sich geschlagen hatten bloß deshalb, weil die Gespenster,<br />

von welchen sie träumten am Vortag, mit dem Dutzend Engel, von<br />

welchen ihnen erzählt worden war, zu kokettieren schienen<br />

geradeso, als wären diese Teufelchen ebendieser Engel Geschwister.<br />

- - Vielleicht sollten wir uns nur erinnern, begann er<br />

schließlich, nur erinnern...Wir tun doch nichts anderes,<br />

unterbrach ich ihn, wir erinnern uns zu jedem Augenblick, weshalb<br />

es auch so schmerzt!...nur erinnern, meine ich... - - Ob ich das<br />

denn tatsächlich glaube, frug er mich sodann erstaunt, daß wir uns<br />

nämlich bloß erinnern an den Schmerz oder an die Dunkelheit...an<br />

die Dunkelheit der Nächte zum Beispiel... Ja, habe ich gesagt, ja,<br />

wir tun selten etwas anderes als die Vergangenheit<br />

heraufzubeschwören wie ein Zauberer... Aber wir staunen ja nicht<br />

über den Zauberer, erklärte er sich; wir staunen über die eigene<br />

Unfähigkeit, uns selbst dessen Täuschungen zu erklären! Darüber<br />

staunen wir, habe ich gesagt und meinen Kopf bewegt in einer<br />

durchaus affirmativen Weise, über welche er vielleicht glauben hat<br />

müssen, daß ich das getan hatte allein darum, ihm nicht zu<br />

widersprechen. - - Ich werde das Dunkel niemals leiden mögen, hat<br />

er endlich gesagt, nachdem wir abermals geschwiegen hatten wie<br />

zwei Kinder, welche vielleicht über die Totengräber nicht anders<br />

denken als wir selbst über Hamlet gedacht haben, daß der wohl ein<br />

Spaßmacher gewesen war, als er Yoricks Schädel, des ermordeten<br />

Königs toten Spaßmachers Schädel, genommen; niemals werd ich das!<br />

Und ich, habe ich gerufen, ich selbst werde das Licht nicht mögen,<br />

das aus der Dunkelheit sich schafft, das wie eines Messers Klinge<br />

den blauen Samt durchstößt und noch nicht einmal stöhnt dabei oder<br />

danach! - - Also hast du die Dunkelheit gewählt, frug er mich,<br />

hast dich für die Dunkelheit entschieden. Nein, habe ich gerufen,<br />

Nein! Denn ich will das Licht wählen, ich w-e-r-d es wählen - wenn<br />

es sich mir nur ehrlich anbietet, sodaß ich mich entscheiden kann<br />

als freier Mensch. - - - Wir hatten eine Burg gebaut im Sand, mit<br />

Zinnen und Fenstern - und mit einem Turm, in welchen obersten<br />

Punkt wir ein Ästchen bohrten mit einer Flagge; wir hatten auch<br />

einen Graben geschaufelt und zwei Eimerchen Wasser<br />

herbeigeschafft, und des Nachts hatten wir davon geträumt.<br />

Ich werde das tun, habe ich gesagt, ich werde das tun, weil ich es<br />

tun muß und weil ich´s beobachten möchte. Also werde ich es tun,<br />

wie man nämlich überhaupt so vieles getan hatte ohne die Verstecke<br />

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zu kennen, aus welchen das vielleicht wie eine Erinnerung<br />

hervorgekrochen war, was man zu tun sich schließlich getraute,<br />

sintemal bereits die Vorstellung, eben das nicht zu tun,<br />

genausowenig hilfreich gewesen war wie ein Gebet des Nächtens, das<br />

die Dunkelheit hätte auflösen sollen oder zumindest verscheuchen<br />

und das dann endlich nur die nächste Angst heraufbeschwört hatte<br />

aus jenen Tiefen, in welche wir uns so selten wagen. Diese Tiefen<br />

sind die Archive Gottes! Es sind Seine Archive, für welche wir den<br />

Schlüssel aus der Hand gegeben in der allenfalls imbezilen<br />

Vorstellung, mit jenem weggelegten Schlüssel Ihn selbst<br />

provozieren zu können; wie man vielleicht auch als Kind den Vater<br />

nicht gegrüßt hatte und nicht zu ihm gelaufen war, als man ihn die<br />

Wohnungstür aufsperren hörte, nur deshalb, daß der Vater grüße und<br />

daß er selbst zum Spiel einen auffordere. Der Vater hatte das<br />

getan! Aber Gott würde das allenfalls nicht einmal tun brauchen,<br />

sintemal das Spiel, das Er ersann, bloß ein Spiel ist, das auch<br />

niemals verlorengeht...<br />

Die Angst war wie ein Geschwisterchen zu ihr gekommen, oder wie<br />

eine Mutter. Sie hatte gelächelt und sie war schön; sie war so<br />

schön, daß sie anfangs geglaubt hatte, sie müsse sie grüßen, wie<br />

sie selbst vielleicht einmal ihre Mutter gegrüßt hatte an jenem<br />

bestimmten Morgen, welcher eine stinkende erstickende Nacht<br />

davongescheucht hatte wie ein plötzlicher Windstoß einen üblen<br />

Geruch! - - Aber diese Angst war kein Geschwisterchen und keine<br />

Mutter gewesen. Die war noch nicht einmal schön! - - So war es<br />

geschehen, daß die Angst, welche zu Beginn willkommen geheißen<br />

war, endlich nicht sobald hinabgestoßen werden k-o-n-n-t-e,<br />

sintemal sie sich festgefressen hatte wie eine schlechte<br />

Erinnerung. - - Ich selbst hatte von dieser Angst erfahren am<br />

elften Tag, wiewohl ich in jener Nacht vielleicht davon geträumt<br />

hatte, um mich dann doch ihrer nicht zu erinnern am Morgen, als<br />

ich erwachte! - - Du, habe ich gesagt, du hast diese Angst<br />

mißverstanden; du hast vielleicht geglaubt, deine Mutter wäre<br />

es... Und du hast sie, fuhr ich fort, hast ihr endlich deine Hand<br />

gereicht, daß sie deine eigene kalte schwitzende Haut denn fühle<br />

und dich also tröste... - - So geh, habe ich gesagt, geh, lauf!<br />

Lauf!!! Nämlich du mußt laufen und darfst dabei nicht mehr nach<br />

der Angst dich drehen in dem falschen Glauben, du liefest der<br />

Mutter davon oder dem Geschwisterchen! Das ist nicht die Mutter,<br />

die gelacht hat, das ist nicht das Geschwisterchen. - - Du hast<br />

die Angst mißverstanden, hub ich wieder an; du hast sie nicht<br />

erkannt als das, was sie ist, nachdem ja die Angst klug genug<br />

gewesen war, ihr Antlitz zu verstecken und die Stimme zu<br />

verstellen, um dir die Mutter zu heucheln oder das<br />

Geschwisterchen. - - Ich verabscheue die Angst, habe ich endlich<br />

wütend gerufen, ich abhorresziere sie, und gleichgültig, in<br />

welcher Gestalt die auch erscheint – ich werd ihr das Gesicht<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

zerschlagen!!! Stünde die nur einen Moment still, daß ich<br />

zuschlagen kann, einfach zuschlagen – ich will ihr dann das<br />

Gesicht zerschlagen!!! - - Ich will sie zumindest, habe ich<br />

geflüstert wie ein Sterbender, ich will sie denn doch davonjagen<br />

können...für einige Atemzüge oder länger... Verstehst du? - - Doch<br />

du hast die Angst, begann ich schließlich, willkommen<br />

geheißen...du hast sie eintreten lassen...hast ihr den Platz neben<br />

deinem Bett geboten...und ich selbst hatte mich verspätet gehabt<br />

an jenem Tag und Morgen... - - Ich war zu spät gekommen, oder<br />

vielleicht bin ich auch bloß unaufmerksam gewesen, nämlich<br />

vielleicht hatte ich mich verspäten w-o-l-l-e-n, um mir nicht<br />

eingestehen zu müssen, daß wir die Angst an keinem Morgen einholen<br />

können, weil die schon wach ist und angekleidet, wenn wir selbst<br />

noch schlafen... - - Ich weiß jetzt nicht, habe ich gesagt, ich<br />

selbst weiß jetzt nicht einmal mehr, was wir über die Angst denken<br />

sollen...was wir überhaupt denken k-ö-n-n-e-n von ihr...jetzt weiß<br />

ich das nicht mehr... Vielleicht sollten wir sterben, ich meine,<br />

vielleicht brauchen wir bloß neununddreißig Tabletten<br />

schlucken...oder einen Schritt wagen...um uns selbst zu erlösen,<br />

sintemal eine andere Art der Erlösung nicht mehr möglich ist...und<br />

vielleicht auch niemals geplant gewesen war... - - Es ist ja nicht<br />

der Tod, den wir fürchten, habe ich mich erklärt, der ist es<br />

nicht. Den Morgen fürchten wir! Wir fürchten den Morgen; weil<br />

schon das Heute nicht mehr zu ertragen ist, fürchten wir den<br />

Morgen umso mehr. Aber es wird niemals passieren, daß wir vor der<br />

Angst erwachen, ich meine, daß wir selbst bereits aufgestanden<br />

sind, dieweil sie noch schläft, das wird nicht passieren! - - Wir<br />

können uns lieben, habe ich gesagt, gewiß, wir können das und uns<br />

an den Händen halten dabei... Wir können das tun, und dann werden<br />

wir dennoch genauso unaufmerksam sein wie ehedem...und uns von der<br />

Mißgestalt des Herzogs von Gloster w-i-e-d-e-r-u-m nicht bekümmern<br />

lassen... Und was werden wir tun, wenn Gloster sich entschließt?<br />

Wir werden ihn fürchten! Wir werden u-n-s fürchten, und wir werden<br />

ihm dienen, obschon wir ihn hassen werden!!! Also werden wir ihm<br />

nicht anders begegnen als wir der Angst an jedem Morgen begegnen,<br />

indem wir die Mutter zu grüßen glauben oder das Geschwisterchen...<br />

Die Straße, auf welcher wir gegangen, war von Asphalt; die hatte<br />

Kurven und Geraden und war nicht weniger breit als Straßen breit<br />

sind, auf welchen die Toten marschieren hinein in den Schlund der<br />

Vergangenheit! Auf den Anhöhen, zwischen welchen jene Straße<br />

gebaut (oder zumindest erdacht) worden war, wuchs eine gut<br />

getarnte Hundertschaft von Eichen und Birkenbäumen, welche, so<br />

bedünkte es, das Firmamente trugen geradeso, als wären das nicht<br />

Bäume sondern Karyatiden. Aber die stöhnten nicht; die jammerten<br />

nicht, und die flüsterten nicht einmal! Also war es still,<br />

vielleicht so still wie in den Nächten des August, während welcher<br />

man die Monde des Jupiter zerschlagen möchte mit einem einzigen,<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

gut angesetzten Hieb, aufdaß endlich auch die Sonne einmal jenen<br />

Schmerz erleide, welcher sich seit ehedem ereignet in den<br />

Duldsamen, die den Unbedachtsamen nicht anders zu begegnen wissen<br />

als in Demut! - - Aber im Wald war es still, und auch der Asphalt<br />

war kalt geworden, als ich eine Gestalt agnoszierte wenig hinter<br />

mir, die eine Melodie summte geradeso, als würde sie dem<br />

neugeborenen Herkules ein Wiegenlied singen. Es war aber ein<br />

Mozartsches Lied, das hier gesungen wurde von jener Gestalt, die<br />

mich von Anfang keineswegs irritierte, und von einer Stimme, über<br />

welche ich jetzt nicht mehr sagen kann, als daß es ein helles<br />

geschultes sicheres Timbre war! (Vielleicht waren es auch drei<br />

Stimmen, die ich hörte. Aber wenn es auch drei Stimmen gewesen<br />

waren, so war es doch nur diese eine Gestalt, die sie sang.) Also<br />

verlangsamte ich meinen Schritt, in der vielleicht falschen<br />

Annahme, daß ich den Abstand zwischen uns zusehends vergrößern<br />

würde während jener Momente der Unaufmerksamkeit, welche sich so<br />

oft ereignen, und dann erkennen würde müssen, jene Distanz nicht<br />

mehr korrigieren zu können. Aber ich wollte nicht davonlaufen, und<br />

ich wollte genausowenig irgendwann mir selbst eingestehen müssen,<br />

davongelaufen zu sein, weshalb ich also meinen Schritt<br />

verlangsamte! - - Während dieser Momente war ich, das kann ich<br />

durchaus sagen, vielleicht so frei wie niemals noch zuvor, denn<br />

ich fühlte keine Angst noch irgendwelche dräuenden Übel. Und auch<br />

von dieser Gestalt, die unablässig das Mozartsche Liedchen summte,<br />

war ich überzeugt, daß es ein freies Wesen war, wenngleich kein<br />

Engel. - - Als ich dann den Abgrund agnoszierte zu meiner Rechten,<br />

neben welchem wir gingen, habe ich noch nicht einmal daran<br />

gedacht, jenen festen unbeirrbaren Schritt zu tun! Aber plötzlich<br />

verstummte der Gesang; ich sah zu der Gestalt, die mir gefolgt.<br />

Sie war verschwunden! - - Es war still, als ich jene wenigen Meter<br />

zurücklief in ehrlicher Sorge und Sehnsucht. Aber ich konnte<br />

nichts mehr tun! Es war weg. Nur ein zertrümmertes Käferchen lag<br />

dort im Laub am Straßenrand, mit gebrochenem Genick und<br />

deformierten Gliedmaßen, über das etliche Ameisen krochen wie<br />

Soldaten, denen eine Anhöhe einzunehmen befohlen ist.<br />

ich höre die engel nach mir rufen, die engel, die<br />

auf den schlachtfeldern die schädel der toten numerieren, aufdaß<br />

die schlangen ihre wohnhöhlen kennen und die generäle ihre verluste<br />

Sie brauchen einen Arzt, hat man mir gesagt, als ich selbst davon<br />

gesprochen, daß wir Wunden geschlagen bekommen, über welche man<br />

endlich nicht mehr sagen kann, als daß die nicht bluten, Sie<br />

brauchen einen Arzt, einen Neurologen vielleicht. O den brauch ich<br />

keinesfalls, habe ich sogleich reagiert, den brauch ich nicht!<br />

Statt dessen brauche ich Gewißheit, hub ich an, Gewißheit, nämlich<br />

eine Gewißheit, ir-gend-ei-ne zumindest... Warum ich die denn<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

brauche, wurde ich gefragt, und ich habe das Staunen agnosziert,<br />

das zu sehen war und zu hören, sintemal es vielleicht das Staunen<br />

von Kindern gewesen. - - Das Leben ist nicht mehr zu ertragen,<br />

habe ich gerufen, und vielleicht war es das niemals gewesen, weil<br />

jene Wunden, welche wir geschlagen bekommen, dieweil wir schlafen<br />

oder die Wahrheit zu erkennen suchen, weil ebendiese Wunden,<br />

welche noch nicht einmal bluten, auch nicht vernarben! Es sind das<br />

Wunden, fuhr ich fort, die wie Löcher in uns aufgerissen werden<br />

von Händen, oder von Hoffnungen, die allesamt ausgerüstet sind mit<br />

Schaufeln und Krumpen von Stahl, welche das Fleisch ebenso<br />

unbeschwert zu zerteilen vermögen wie unsere Seelen! Solche Wunden<br />

sind´s, habe ich geflüstert, solche... L-ö-c-h-e-r.<br />

wissen, welche<br />

wunder, welche<br />

wege!!!<br />

Vielleicht hatte er gelacht, ich weiß das nicht zu sagen; wohl<br />

aber weiß ich mein eigenes Staunen noch, das sich ereignet hatte,<br />

als er selbst lachte, oder eben ich selbst nur glaubte, daß er<br />

lache. Es war schön gewesen, ihn lachen zu sehen, und ich habe<br />

also geglaubt, daß es die Schönen seien, welche lachen, dieweil<br />

jemand anderer staunt über die Schönen. Was anderes hätte ich auch<br />

tun können in jenem Moment, als es sich ereignete, daß er selbst<br />

lachte, dieweil ich staunte? Die Schönheit, habe ich gedacht, oder<br />

vielleicht hab ich´s auch gewußt, die mußt du bestaunen ganz ohne<br />

Vorbehalt, weil du die Schönheit nicht verstehen noch erbitten<br />

sollst!<br />

Gott ist meine Zaubermacht, und Er hat mich geliebt in diesem<br />

Moment nur deshalb, weil ich Seiner bedurfte, hat mich geküßt nur<br />

deshalb, daß ich´s wissen kann, und hat mich endlich befreit von<br />

den Fesseln jener strengen unbeirrbaren Vergangenheit nur deshalb,<br />

daß ich wieder lachen kann und dienen.<br />

Ich schreibe nur deshalb über den Tod, weil sich der zu keinem<br />

Augenblick von mir absentiert!<br />

Ich schlafe nicht mehr, habe ich gesagt, ich schlafe nicht mehr,<br />

um die Träume, welche Herolde sind einer übermächtigen<br />

Vergangenheit, besiegen zu lernen, um mich zu rüsten wie Hamlet,<br />

der vielleicht ebendiese Träume verwechselt hatte mit jenen Übeln,<br />

die er nicht hat zählen können noch verwandeln...mit jenen Übeln,<br />

die allein zu fühlen sind wie das Brennen im Bauch des Soldaten,<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

für welches die Granaten verantwortlich zeichnen und dereinst<br />

vielleicht ebenso die Generäle...die Granaten also, welche<br />

irgendeiner verratenen Liebe wegen zerrissen waren in tausend<br />

Stücke und mehr, als zwischen den Frontlinien das Wasser faulig<br />

wurde. Also ich selbst, fuhr ich fort, ich selbst schlafe nicht<br />

mehr, sintemal ich nicht träumen will von den Soldaten und von den<br />

Übeln oder von den Schmerzen... Es sind doch Lügen, habe ich<br />

wütend gerufen, es sind doch Lügen, die wir träumen! - - Es sind<br />

Lügen, die wir träumen, und es sind Lügen, daß wir träumen, habe<br />

ich schließlich geflüstert und an den zwölfjährigen Mozart<br />

gedacht. Welche Träume Mozart denn gehabt habe, wurde ich gefragt<br />

(oder vielleicht habe ich das auch nur gedacht), was ich also<br />

glaube, daß er geträumt habe. Oh, habe ich gerufen, oh, der hat<br />

gewiß kein einziges Mal geträumt! - - Warum ich mich überhaupt<br />

erdreiste, das zu sagen, hörte ich jemand mich anrufen, warum. Ich<br />

weiß das nicht, habe ich geantwortet; weiß nicht, warum ich darauf<br />

habe insistieren wollen... - - Mozart hat es gewußt..., hub ich<br />

endlich wieder an. Was hat er gewußt, hörte ich einen mich fragen.<br />

Irgend etwas, rief ich sogleich, irgend etwas, zumindest irgend<br />

etwas...<br />

Für die Gerechtigkeit muß man selbst gereichen!<br />

in der nacht<br />

hatte mir<br />

geträumt,<br />

daß ich<br />

erlöst würde<br />

von ihm, daß<br />

ich ihn<br />

begreifen<br />

würde für<br />

diese nacht.<br />

Ich hatte mich ihnen gezeigt, in meiner ganzen Häßlichkeit hatte<br />

ich das, und die haben nicht gelacht noch gelästert; die haben<br />

gelächelt geradeso, als hätten sie das, was ich ihnen gezeigt,<br />

schon gewußt gehabt zu jener Zeit, zu welcher es mich selbst noch<br />

nicht einmal danach verlangt hatte. Also hatte ich mich ihnen<br />

gezeigt gehabt in einer so seltsamen Ahnungslosigkeit, daß ich ihr<br />

Lächeln endlich ebenso zu abhorreszieren mich befleißigte wie ich<br />

ihr Lachen mißverstanden hätte! - - Aber sie waren schön, und ich<br />

war häßlich! So habe ich denn ihr Lächeln gedeutet als einen "Akt<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

der Diplomatie", und war ihnen endlich nicht weniger wohlgesonnen<br />

als sie mir vielleicht häßlich waren. Trotzdem waren sie schön,<br />

und ich selbst mir so sehr der eigenen Häßlichkeit gewärtig, daß<br />

ich mich ihnen zeigte in der vielleicht unbegründbaren Hoffnung,<br />

mit dieser einmal offenbarten Häßlichkeit jene Schönheit mir<br />

anzueignen, von welcher mir seit ehedem träumt, wie man nämlich<br />

allenfalls als Junge schon geglaubt hatte, die Mutter sein zu<br />

können oder der Vater, indem man sich evozieren hat lassen von dem<br />

Geruch, den die Mutter hatte, oder von der Eigenheit, mit welcher<br />

der Vater des abends eine Geschichte vorgelesen. Natürlich war<br />

nicht dieses noch jenes jemals gelungen, sintemal der Körper, in<br />

welchen man nachgerade gestopft worden war wie ein Korken in die<br />

Öffnung einer Champagnerflasche, schließlich immer das Seine getan<br />

hatte, jeder Andersartigkeit einfach davonzuwachsen! - -<br />

Jedenfalls hatte ich agnosziert, daß sie schön waren; dieweil ich<br />

selbst zwar nicht davon- oder überhaupt auf irgendeine, zumindest<br />

ähnliche Weise gewachsen, aber doch verwachsen war. So war also<br />

meine Häßlichkeit – das kann ich heute sagen – jenes<br />

Antipodenhafte, das sich immer wieder dort schafft, wo<br />

Ähnlichkeiten nicht erlaubt sind! - - Diese Schönen aber bedünkten<br />

mich genauso ehrlich wie eine Übelkeit am Nachmittag um 16 Uhr 10<br />

vielleicht, von welcher gewiß keiner behaupten wird, daß es sich<br />

um eine erfundene illusionäre Übelkeit handelt, sintemal wir ja<br />

das Häßliche immer als eine ganz bestimmte Wirklichkeit zu<br />

erkennen uns getrauen, dieweil wir das Schöne allein nur allzu<br />

gerne leugnen zugunsten ebendieser Häßlichkeit! - - Nicht anders<br />

habe ich selbst gehandelt, als ich die eigene Häßlichkeit als jene<br />

Wahrheit akzeptierte, von welcher ich in globo dachte, daß sie<br />

universell sein müsse, nachdem sich mir das Häßliche gezeigt hatte<br />

und nicht das Schöne. ...<br />

Zu schreiben heißt auszuatmen. Vielleicht ist denn das Leben jene<br />

Art der Respiration, die so wenig leidlich passiert, daß ein<br />

zweites Mal ausgeatmet werden muß!<br />

Irgend etwas, habe ich mich erinnert, irgend etwas hatte ich<br />

gerufen, vielleicht sogar um Hilfe! Vielleicht hatte ich das,<br />

vielleicht hatte ich um Hilfe gerufen in einem Moment, über<br />

welchen ich dachte, daß ich zerdrückt würde von den Rädern<br />

irgendeines zwölf Tonnen schweren Lastkraftwagens, dessen<br />

Geschwindigkeit ich falsch bemessen hatte; und vielleicht hatte<br />

ich statt dessen genauso gefühlt wie ich dereinst fühlen werde,<br />

wenn ich jenen festen unbeirrbaren Schritt denn wage! - - Aber ich<br />

weiß jetzt nicht, was geschehen war und was ich gerufen hatte,<br />

oder ob ich selbst überhaupt irgend etwas gerufen hatte, nämlich<br />

allenfalls um Hilfe gerufen. Trotzdem war etwas geschehen, auf das<br />

ich zu reagieren hatte! Es bedünkt mich sogar, daß etwas geschehen<br />

war nicht in einem bloßen Augenblick an diesem ganz bestimmten<br />

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Tag, von welchem ich geschrieben, sondern daß es geschehen war<br />

bereits vor neun Jahren! Also hatte ich das, was irgendwann einmal<br />

geschehen war, nicht in jenem Moment agnosziert, zu welchem ich´s<br />

vielleicht hätte erkennen müssen! Es ist vielmehr das, was<br />

geschehen war, auf eine so seltsame Weise geschehen wie vielleicht<br />

jene Ahnung, welche eine Gewißheit ist, irgendwann einmal<br />

passierte als man sieben Jahre zählte oder acht, als man nämlich<br />

die eigene Sterblichkeit zu wissen nicht mehr umhin hatte können!<br />

- - So ist es passiert, oder so ähnlich doch passiert, was endlich<br />

nicht von Bedeutung ist! Denn wie oder zu welchem Zeitpunkt es<br />

passiert war, ist für das, was passierte mit einem selbst, als es<br />

passierte, geradeso unbedeutend wie die Phantasien desjenigen<br />

Lenkers, welcher vielleicht die Knochen bersten hörte oder die<br />

Gedärme platzen! - - Es war passiert, und nur weil es passiert<br />

war, habe ich schließlich irgend etwas gerufen, vielleicht sogar<br />

um Hilfe.<br />

Eine Liebe, die ich verstünde, sei zur Freiheit, welche mich<br />

verlangt, ein Gutteil mehr!<br />

Vierzig, hatten sie gesagt, während jener vierzig...Einheiten von<br />

Zeit werde ich endlich nichts mehr wissen! Ich werde denn, hatten<br />

sie gerufen, ich werde denn nicht wissen was...und warum...und<br />

wer... Schon jetzt, habe ich lachend geantwortet, sogar schon in<br />

diesem Moment weiß ich eigentlich nichts mehr... - - Warum ich<br />

also, habe ich gefragt, warum ich mich bekümmern lassen solle von<br />

jener so sonderbaren Konjektur, daß nämlich ich vielleicht<br />

dereinst nichts mehr wissen werde. Oh, huben sie an, oh... Ich<br />

dürfe ja, hörte ich einen fortsetzen, nicht verwechseln, daß jene<br />

Ahnung, von welcher ich gesprochen, nicht kommensurabel sein würde<br />

mit der Tatsächlichkeit-- Aber ich selbst, habe ich wütend<br />

dazwischengerufen, ich selbst möchte nun so indezent sein, daß ich<br />

´s zu behaupten wage! - - Dieser Unterschied, begann ich<br />

schließlich, nachdem ich mich nicht zu entscheiden wußte zwischen<br />

der Resignation und einem Tod, der nur nach innen wirkt, o ja,<br />

dieser Unterschied wird ohne jede Bedeutung sein für mich. Und ich<br />

werde jene Furcht, fuhr ich fort, welche sich gewiß ereignen würde<br />

wollen, nicht sich ereignen lassen nur deshalb, weil sie sich<br />

ereignen wird! - - Ich bin müde, begann ich schließlich wieder,<br />

ich bin so müde, daß ich sogar in der Liebe nur eine Last<br />

erkenne... Dann müsse ich eben, hörte ich eine Stimme, müsse ich<br />

eben-- Nichts werde ich müssen, habe ich laut dazwischengerufen<br />

und noch nicht einmal gewußt warum, nichts! Für Sie selbst mag die<br />

Liebe eine Sinekure sein, hörte ich mich sagen, und vielleicht ist<br />

sie das auch... Aha, reagierte jemand, aha!? Aber die ist trotzdem<br />

nichts, fuhr ich fort, diese Liebe ist trotzdem nichts, für<br />

welches ich mich entscheiden kann nur deshalb, w-e-i-l ich müde<br />

bin...oder w-e-i-l ich gegen jede Art der Simonie zu leben<br />

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versucht habe! Also ist die Liebe ein Artefakt..., frug man mich.<br />

Nein, reagierte ich sofort, nein; aber die Indolenz ist es,<br />

nämlich Ihre Gleichgültigkeit ist es. Wir stellen uns nur den<br />

Tatsachen, hörte ich jemand antworten. Und weil Tatsachen, fuhr<br />

ein zweiter fort, von größerer Evidenz sind für unsere Theorien<br />

als Sehnsüchte... Brauchen wir selbst nicht mehr über die Liebe zu<br />

diskutieren, ergänzte jemand anderer. - - Zuweilen habe auch ich<br />

geliebt, habe ich gesagt, und es war das immer eine Erfahrung,<br />

die, bevor ich sie überhaupt noch hatte evaluieren können oder<br />

gutheißen, zerstückelt worden war von der Unendlichkeit der...ja,<br />

von der Unendlichkeit der Ängste... Daß Sie das jetzt verstehen,<br />

fuhr ich fort, ich meine damit die Beständigkeit, über welche wir<br />

immer glauben, daß sie der Schönheit allein gehöre! Oh, hörte ich<br />

jemand sich erstaunen, oh, die Schönheit ist ja genausowenig<br />

beständig wie die Schockwelle einer explodierenden<br />

Wasserstoffbombe!<br />

Zuerst, habe ich begonnen, zuerst hatte ich gedacht, es sei das<br />

Geld, nämlich jenes Geld, über welches ich nicht disponieren kann,<br />

verantwortlich für den Schmerz und die Unzufriedenheit.<br />

Irgendwann, fuhr ich fort, irgendwann später aber hatte ich<br />

geglaubt, es sei vielmehr die Angst der Prätendent jenes<br />

Zustandes, den ich Ihnen zu beschreiben mich mühe, nämlich eines<br />

Zustandes von Schmerz. Dann wiederum, habe ich gesagt, hatte ich<br />

unsere eigene Sterblichkeit für jene einzige Ursache<br />

diagnostiziert gehabt; und endlich hatte ich geglaubt, in der<br />

Mühsal und in der Müdigkeit eine plausible Antwort formuliert zu<br />

haben. Beim fünften Mal jedoch war es die Lust, habe ich gesagt,<br />

in welcher ich sine ira et studio eine Erklärung geschaffen zu<br />

haben...mich selbst düpierte. - - Ob es nun das Geld sei, wurde<br />

ich gefragt, das Geld, oder die Wollust, die Angst, die Müdigkeit,<br />

oder eben die Sterblichkeit? Vielleicht, hub ich an, vielleicht<br />

ist es mehr die Lust denn die Angst, weshalb ich resigniere und<br />

endlich sterben werde, und allenfalls ist es das Mühen und eben<br />

nicht so sehr die Münze, warum ich sterbe! - - Bloß in meinen<br />

Träumen, fuhr ich fort nur deshalb, um es endlich aussprechen zu<br />

k-ö-n-n-e-n, begegne ich Gott. Allein wenn ich träume, erklärte<br />

ich mich, dirigiere ich meine zitternden Finger über dessen Seiten<br />

ganz ohne Vorbehalt... Und um Ihn zu küssen, begann ich wieder,<br />

muß ich träumen, muß ich schlafen, mich hinabstoßen lassen in die<br />

Gewölbe jener Seele, von welcher man sagt, es sei die meine... - -<br />

Bloß um den zu küssen, habe ich gerufen, nur zu küssen, wie<br />

vielleicht einmal desgleichen der verkleidete Bastien den als<br />

Bastienne geschminkten Freunde geküßt hatte in der<br />

Theatergarderobe an einem Sonntagnachmittag um 16 Uhr 10... Nur<br />

für einen Kuß, habe ich wiederholt, muß ich der Nacht mich<br />

unterwerfen... - - Aber daß dieser Bastien jener Bastienne<br />

vielleicht am nächsten Sonntag, hub ich an, daß der dann gegen des<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

kostümierten Freundes Erinnerungen anging, dieweil der Freund zu<br />

flüstern begann von der Unendlichkeit – o, schon das wage ich<br />

nicht mehr zu träumen, habe ich gerufen, schon das nicht, um nicht<br />

zerrissen zu werden von der Übermächtigkeit der eigenen Gefühle,<br />

um nicht zu sterben in jenem einzigen Moment der Trauer! - - Diese<br />

Seele, habe ich geflüstert, in deren Gewölbe ich steigen muß wie<br />

der Renegat Pizzaro...um endlich das Gewölle dort<br />

hinunterzuschlingen wie ein hungriger Wolf in den letzten Tagen<br />

des Winters...diese Seele ist bestimmt nicht meine... - - Die<br />

Juristen, begann ich schließlich wieder, nachdem man nicht einmal<br />

indigniert gelächelt hatte, die sind es, welche vielleicht mehr zu<br />

erzählen wissen denn die Schriftsteller! Und vielleicht,<br />

korrigierte ich mich sogleich, vielleicht wissen die de facto<br />

nicht mehr zu erzählen als die Schriftsteller - um´s jedenfalls in<br />

einem Timbre zu erzählen, über welches man glauben wird wollen,<br />

daß es die zweifelsfreie Stimme sei von Gott...oder doch von etwas<br />

Ähnlichem! - - Sie müssen das wissen, fuhr ich endlich fort, sie<br />

müssen das wissen, daß nämlich die Juristen so ganz genau wissen,<br />

wovon sie sprechen, daß es mich immer wieder bedünkt, daß ich<br />

selbst nichts erzählen kann, sintemal ich die Seele...deren<br />

Paragraphen, Ränge und Absätze die Themen der Schriftsteller sind<br />

geradeso wie die Juristen sich vielleicht für das Junktim<br />

interessieren oder für die Interpretationen von supranationalen<br />

Rechtsvorschriften...daß ich ebendiese Seele bloß zu versuchen<br />

verstehen kann...daß nämlich ich immer ein Studiosus bleiben<br />

werde...und daß ich selbst endlich niemals jene Logik der Seele<br />

zumindest umzeichnet haben werde, um davon zu erzählen in der Art<br />

der Jurisprudenz, Sie müssen das wissen! - - Wir dürfen uns nicht<br />

täuschen lassen von den Juristen, habe ich gesagt, wir müssen<br />

jetzt aufmerksam sein und skeptisch! - - Das müssen wir sein, habe<br />

ich gerufen, andernfalls wir einem Phantasma anheimfallen wie die<br />

Juristen oder deren Zuhörer...und vielleicht tatsächlich behaupten<br />

werden, daß w i r a l l e s v e r s t e h e n k ö n n e n!!!<br />

- - Aber die Seele ist kein Gesetzesbuch, hub ich wieder an, das<br />

wir auswendiglernen können und interpretieren! Und wäre sie das,<br />

fuhr ich fort, wäre sie ein solches Buch – o, ich weiß gewiß, daß<br />

dann die Juristen noch vor den Schriftstellern resignieren<br />

möchten! - - Das, habe ich gesagt nach einer Pause von zweimal<br />

zehn Minuten, während welcher ich selbst keine Erinnerungen hatte<br />

noch jenen Schmerz agnoszierte, von welchem ich bislang immer<br />

glaubte, daß der allein den Juristen unbekannt geblieben, welche<br />

die Ataraxie genausowenig kümmert wie einen toten Clown allenfalls<br />

leichenfleddernde Kinder, das bin ich nun Ihnen allen zu sagen in<br />

der Lage...und vielleicht werde ich dereinst mehr darüber erzählen<br />

können als diese Juristen im allgemeinen zu erzählen sich<br />

befleißigen... - - Der Haß, habe ich denn dann zu erklären<br />

versucht, ist keinesfalls die Reaktion auf eine Unmöglichkeit,<br />

nämlich auf die Unmöglichkeit zu lachen, zum Beispiel... Vielmehr<br />

ist der Haß eine Reaktion, w-e-i-l wir nicht mehr lachen...Dann<br />

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lachen Sie doch, hörte ich einen sagen, lachen Sie!...und-- Oh,<br />

habe ich dazwischengerufen genauso süffisant wie der zwölfjährige<br />

Mozart in jener Nacht um 4 Uhr 10, als er erwachte, sintemal ihm<br />

ein Engel erschienen war im Traum, oh, ich selbst lache nur noch<br />

aus Verlegenheit; nämlich in diesen Momenten lache ich, fuhr ich<br />

fort, während welcher ich mit einem Male mir wieder bewußt werde,<br />

daß wir sterben werden... - - Also ist der Haß, frug man mich,<br />

nachdem ich dagesessen war wie ein Soldat zum Ende der Schlacht,<br />

die einzige Möglichkeit, für die wir uns entscheiden können!? Wir<br />

entscheiden uns nicht für den Haß noch wählen wir ihn, habe ich<br />

geflüstert; aber wir haben ihn erkannt als das, was er ist. Was<br />

ist denn der, frug man mich sogleich (und vielleicht habe ich´s<br />

auch nur gedacht), was ist der Haß? Er ist ein Tröster, habe ich<br />

gelächelt; er ist endlich das, was uns selbst zumindest zu trösten<br />

versucht, weil Gott nicht mehr reagiert! - - Wir w-ü-r-d-e-n<br />

weinen, habe ich schließlich gesagt, aber weil der Schmerz zu groß<br />

ist für jene Art der Erlösung, welche dem Weinen inhärent zu sein<br />

dünkt, weinen wir nicht mehr, um statt dessen zu hassen... Denn<br />

für den Tod, fuhr ich fort zu erklären, sind wir nämlich nicht zu<br />

feig, wir sind nicht ausgerüstet worden für das Sterben, weshalb<br />

wir endlich hin und her geworfen werden wie ein Spielball in den<br />

Händen eines Kindes, welches sich nicht zu entscheiden weiß<br />

zwischen der Appetenz und jener Angst! Verstehen Sie? - - Aber auf<br />

den Friedhöfen, habe ich schließlich begonnen, auf den Friedhöfen<br />

zwischen den Gassen sammeln wir unsere Toten...und fühlen uns<br />

endlich...fühlen uns zu Hause... Auf den Friedhöfen, fuhr ich<br />

fort, zwischen den Gassen riechen wir den Tod; dort f-ü-h-l-e-n<br />

wir ihn, und wir fürchten ihn, obschon wir nur noch für jene<br />

skurrile Art von Hoffnung leben, die uns zu träumen täuscht...<br />

Aber auf den Friedhöfen zwischen den Gassen wissen wir endlich,<br />

habe ich gerufen, wissen wir ganz genau, daß wir nicht träumen!<br />

hörst du das,<br />

daß nämlich i c h...<br />

nun nicht mal weiß -<br />

warum das geschehen,<br />

nämlich d a s geschehen war?<br />

weißt du was,<br />

daß nämlich d u...<br />

nun gewiß nur du –<br />

mich befreitest,<br />

nämlich u n s!?!<br />

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Wir können uns lieben, habe ich gesagt, oder wir können uns<br />

negieren, sintemal wir fähig sind zur Liebe genauso wie zur<br />

Indolenz; aber immer werden wir das falsche getan haben damit!<br />

Also verlieren wir, habe ich geflüstert, nur deshalb, weil wir<br />

tatsächlich zu siegen unfähig sind...weil wir den Tod...jenen<br />

beständigen plötzlichen determinierten, meine ich...weil wir den<br />

anzunehmen nicht bereit sind in den Nächten, die der Angst<br />

gehören... In den Nächten, fuhr ich fort, nämlich in diesen<br />

Nächten sind wir wie die Kinder, welche mit einemmal davon wissen,<br />

daß die Mutter sterben wird oder das Geschwisterchen und daß sie<br />

selbst nichts dagegen werden tun können. Aber dann beten wir! Wie<br />

jene Kinder beten wir, dieweil wir daliegen wie zitternde, halb<br />

zerrissene Soldaten, die in die Schützengräben zurückgefallen<br />

sind, über welchen die Panzerkolonnen sich zu drehen beginnen<br />

geradeso, als würden die mit dem Senfgas, welches über die Felder<br />

stiebt, tanzen wollen! - - In den Nächten, habe ich begonnen, in<br />

diesen Nächten sind wir die Kreatur eines gnadenlosen Weltenraums,<br />

sind wir Bastarde, aus deren wunden eitrigen offenen Bauchhöhlen<br />

jener Moder steigt, von welchem wir erzählt bekommen haben, daß es<br />

der Gestank sei von Prosekturen! - - Das sind wir in den Nächten,<br />

habe ich gesagt, nicht so sehr, weil die Nächte sich maskieren wie<br />

Mörder; weil die Nächte so...exakt zu riechen sind, spüren wir<br />

unsere Abdomina zerplatzen und den Moder sich ergießen! Und wir<br />

können nichts tun dagegen, habe ich gerufen, wir können nicht<br />

einmal etwas tun!!! - - Die Sonne, habe ich schließlich begonnen,<br />

allenfalls die Sonne ist eine Schauspielerin! Zwar hat die, fuhr<br />

ich fort, ihren Text gut gelernt, und trotzdem ist sie eine<br />

heuchelnde unbarmherzige ekelhafte Darstellerin! Wir dürfen ihr<br />

nichts glauben, habe ich gerufen, nichts!!! In der Wüste tötet sie<br />

uns, auf den Schneefeldern der Gletscher läßt sie uns erblinden,<br />

und in den Städten und den Nächten schweigt sie wie eine Hure, die<br />

sich zum erstenmal entkleidet! Wir dürfen ihr nichts glauben, habe<br />

ich mich wiederholt, nichts!!! Wem wir also glauben sollen, frug<br />

man mich. Keinem, habe ich sofort reagiert, keinem sollen wir<br />

glauben, und noch nicht einmal uns selbst! Aber etwas müssen wir<br />

glauben, wurde ich laut angerufen, etwas müssen wir immer glauben!<br />

Ja, den Schmerz, habe ich gesagt, den Schmerz und die Resignation<br />

können wir glauben ganz ohne Vorbehalt. - - Der Schmerz, habe ich<br />

sodann wieder begonnen, ist nicht wie die Sonne oder wie unsere<br />

Vorstellungen und Hoffnungen...denn der Schmerz ist immer nur der<br />

Schmerz; er wird sich nicht verkleiden und sich keine Maske<br />

aufschminken, wie das die Sonne tut, indem sie uns das Wasser aus<br />

dem Körper zieht oder unsere Iris verbrennt. Und der Schmerz ist<br />

auch nicht wie die Hoffnung, habe ich zu erklären mich<br />

weiterbemüht, über welche wir nicht zu erkennen wagen, daß sie uns<br />

nicht anders desavouiert als das vielleicht der Schularzt<br />

irgendwann einmal getan hatte, sintemal er argwöhnisch gelächelt<br />

hatte in jenem Moment, während welchem man als Junge sich<br />

entblößen hat müssen vor ebendiesem Doktor, damit der das<br />

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Präputium des Buben kontrolliere auf irgendwelche drohenden<br />

Verwachsungen. ...<br />

Gott, habe ich zu sagen versucht, Gott ist nur deshalb nicht zu<br />

beschreiben, weil so etwas wie Gott über die bloße Imagination<br />

nicht hinauskommt... - - Was wir endlich tun können, ist nicht<br />

mehr, als uns über eine Art der Vorstellung ebendieser anderen<br />

Vorstellung zu approximieren, indem wir die Metaphysik<br />

diskutieren, vielleicht wie das die Kinder tun, welche noch nicht<br />

einmal die Nomenklatur definieren oder einen Unterschied! - - ABER<br />

ICH HASSE DAS, habe ich gerufen, ICH HASSE DAS...DAß WIR NÄMLICH<br />

GOTT DISKUTIEREN WOLLEN UND NICHTS WISSEN...nichts wissen<br />

von...von dem, das wir zu diskutieren uns erdreisten... ICH HASSE<br />

DAS!!! - - So ist Gott vielleicht die größte Lüge, von der wir<br />

wissen, habe ich geflüstert, die einzige wirkliche Lüge... Aber<br />

wollen wir denn, habe ich gefragt, wollen wir das Verlieren<br />

anerkennen nur deshalb, um zu sterben als einer, der behaupten<br />

kann, davon gewußt zu haben!? Oh, habe ich gelächelt, oh, wir<br />

brauchen das nicht tun! Nicht einmal der Zirkusclown wird sich<br />

seiner Verkleidung erinnern müssen, sintemal er sehr gut weiß,<br />

geschminkt zu sein und maskiert! - - Das ist kein Gott, habe ich<br />

begonnen, das ist keiner, der e-r-k-a-n-n-t w-e-r-d-e-n m-u-ß!!!<br />

- - Ich hasse das, habe ich abermals geflüstert (und vielleicht<br />

habe ich auch geweint dabei). Und vielleicht, habe ich endlich<br />

gesagt, vielleicht hasse ich nicht so sehr diesen metaphysischen<br />

Gott als ich uns selbst dafür hasse, daß wir schwach sind und<br />

unbeholfen wie ein Rudel sieben Tage alter Wolfsjungen... Daß<br />

nämlich wir selbst irgendeinen Gott geschaffen haben nur deshalb,<br />

um die Nacht nicht zu fürchten...die Nacht...in welcher die Mutter<br />

zerrissen wird vom Rudel und der Vater vielleicht über die Anhöhen<br />

hetzt mit zwölf anderen... "Sieh, Hektor, wie die Sonne sinkt<br />

herab, und schwarze Nacht auf ihren Spuren keucht", habe ich<br />

Shakespeare zitiert geradeso, als würde ich beten müssen, "und<br />

wenn die Sonn´ im Dunkel niederschwebt, erlischt der Tag, und<br />

Hektor hat gelebt." - - Ich selbst, habe ich schließlich zu<br />

flüstern begonnen, ich selbst fürchte diese Sonne... Weil ich<br />

nichts kenne, das ich nicht fürchte, habe ich geflüstert, fürchte<br />

ich auch die Sonne!!! - - Das, habe ich gerufen, nämlich das ist<br />

kein Leben, weil es endlich nicht einmal kommensurabel ist mit<br />

dem, was wir Leben heißen! Denn die Kreatur, fuhr ich fort, die<br />

Kreatur lebt nicht, sie kennt nicht die Liebe und nicht die<br />

Wahrheit, kennt nicht einmal die eigene Furcht so genau, daß sie<br />

zumindest behaupten kann, daß es ein Schmerz ist, über welchen<br />

keine andere Macht, die Erlösung anbietet, sich offenbart! - - Die<br />

Kreatur, habe ich vielleicht sogar geweint aber bestimmt zu<br />

formulieren versucht, ist endlich bloß das Resultat jener<br />

unbestimmbaren Sehnsucht nach Freiheit, die sich zu jedem Moment<br />

ereignet in allen diesen Wesen, die irgendeinen Schmerz zu<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

agnoszieren fähig sind... Und ich selbst, habe ich gelächelt, wie<br />

vielleicht ein Soldat nur mehr zu lächeln sich befleißigt in jenem<br />

Augenblick, als er die Gewehrkugel den Nebel durchbrechen fühlt,<br />

die ganz gewiß in seinen Körper dringen wird, ich selbst also<br />

kenne keinen, der frei ist von Sehnsucht, frei ist von Furcht. - -<br />

Aber auf den Schlachtfeldern ist jener Gott genausowenig zu<br />

bezwingen wie in den Nächten, die der Angst gehören! habe ich<br />

gerufen und ein zweites Mal gelächelt geradeso, als würde ich mich<br />

nicht bekümmern lassen von den Seelen der Toten, die vielleicht<br />

nur länger brauchen, um zu verfaulen, als ihre Körper.<br />

Warum ich lebe, frug man mich. Warum ich lebe, habe ich<br />

wiederholt, warum ich lebe – das weiß ich nicht zu sagen. Aber daß<br />

Sie leben, wissen Sie? Oh, habe ich gelächelt, oh, das weiß ich so<br />

ganz genau wie Descartes. Das ist schon etwas, haben sie<br />

gelächelt, das ist immerhin schon etwas... Wenn es nicht<br />

überhaupt, fuhr ein anderer fort, alles ist, was Sie wissen<br />

müssen. Es ist alles, habe ich wütend gerufen, es ist alles, was<br />

ich weiß! - - Es ist alles, was ich weiß, habe ich nochmals<br />

geflüstert und dabei zu weinen mich befleißigt. Warum weinen Sie,<br />

wurde ich sofort gefragt, warum weinen Sie? Nun will ich es wagen,<br />

habe ich gesagt (und vielleicht habe ich´s auch nur gedacht),<br />

jetzt will ich zu weinen probieren, einfach so... Aber warum,<br />

wurde ich laut angerufen, warum? - - Es war Sonntag gewesen,<br />

nämlich Sonntag um 16 Uhr 10, als ich zu weinen mich bemühte,<br />

sintemal es das einzige war, was ich bislang nicht gewagt hatte.<br />

Irgendein Sonntag ist es gewesen im August; aus dem Firmamente<br />

sinterten Wolken, die ich von Anfang als den Moder eines dräuenden<br />

Unwetters erkannte, sintemal sie rochen wie der üble heiße<br />

prodromale Duft der Friedhöfe und gekleidet waren wie Schauspieler<br />

zur Generalprobe. Das habe ich agnosziert, daß es nämlich Wolken<br />

gewesen waren, über welche man vielleicht nichts anderes wissen<br />

braucht, als daß es vermodernde stinkende übelgelaunte Zuträger<br />

sind! - - Aber ich weine nicht, habe ich schließlich gesagt, ich<br />

weine auch jetzt nicht... Denn der Hoffnung, fuhr ich fort, habe<br />

ich abjuriert; und weil ich von ebendieser Lüge mich nicht<br />

versuchen lasse, darf ich gewiß keiner anderen Lüge anheimfallen,<br />

indem ich vielleicht statt zu hoffen weine, statt zu hassen liebe<br />

oder statt zu lachen mich erinnere!<br />

Dort war ich hilflos, ich war ihnen ausgeliefert. Also tat ich<br />

endlich, weshalb ich gekommen war, nämlich ich stöhnte! Ich<br />

stöhnte wie vielleicht einmal Richard III. gekeucht hatte, als er<br />

träumte in der Art einer Theophanie, seine Neffen töten zu werden.<br />

- - Aber das Feuer, dessen Glut genauso amikal schien wie jener<br />

Orgasmus, der sich ereignete in einer Nacht, die fürderhin der<br />

Angst gehört hatte, oh, durch dieses Feuer meinen Körper zu<br />

befehlen, habe ich nicht gewagt... Ich mußte mich dennoch beeilen,<br />

sintemal man mich zu töten plante, wie vielleicht einmal ebenso<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Gott gedacht hatte, daß er die Menschen würde töten müssen,<br />

nämlich genauso langsam würde töten müssen wie ein Henkersknecht<br />

zu Zeiten ebendieses Richard, also foltern! - - Dieses Feuer war<br />

der Nebel am Morgen über den Schützengräben, von welchem die<br />

Soldaten endlich ebensowenig wissen wie deren Mütter, die<br />

vielleicht irgendwann nicht mehr beten können einfach nur deshalb,<br />

weil sie müde sind, also genauso müde wie die Kinder, welche<br />

zwischen den Ruinen umhergelaufen waren geradeso, als wären das<br />

die Paläste, die man ihnen versprochen. - - Aber das Feuer hatte<br />

die Schatten dieses Escorials verschlungen in einer Gier, die<br />

vielleicht an den Hunger von Zwölfjährigen erinnert, die hungrig<br />

sind, weil sie sich verirrt hatten auf den Friedhöfen zwischen den<br />

Gassen.<br />

in den nächten,<br />

als die gespenster<br />

sich entkleidet<br />

hatten,<br />

als ihre masken<br />

zersplitterten,<br />

war ich<br />

schon gestürzt;<br />

in den nächten.<br />

Wo es tief ist, werden wir tauchen, wo es weit ist, werden wir<br />

hinausschwimmen. Wo es aber tief ist und weit, werden wir uns wohl<br />

nicht für eine Richtung entscheiden!<br />

Um 4 Uhr 10 war ich aufgewacht. Ich hatte bestenfalls zwei Stunden<br />

geschlafen, als ich erwachte, nämlich um 4 Uhr 10 vielleicht<br />

erwachen hatte müssen einfach schon deshalb, um mein Wasser<br />

abschlagen zu können. Nun ist es aber nicht so, daß ich an jener<br />

Nykturie leide, welche die Träume der Kranken vielleicht genauso<br />

rücksichtslos unterbricht wie das ansonsten nur die einschlagenden<br />

Granaten tun in den Nächten. Meine Harnblase funktioniert seit<br />

ehedem! Auch war ich als Junge niemals irgendeiner Art von Enurese<br />

wegen gescholten oder gar behandelt worden, als ich denn jetzt<br />

vermuten würde können, beschaffen zu sein für ebendiese<br />

Inkommodität. Ich bin also in solchen Dingen, wie man sagt,<br />

durchaus normal entwickelt. Trotzdem war ich aufgewacht, nämlich<br />

um 4 Uhr 10, und ich habe dabei gefühlt geradeso, als würde der<br />

Urin plötzlich herausdrängen! Denn mein Schwanz war eregiert; der<br />

war so steif wie in jenen seltenen Augenblicken höchster Wollust,<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

während welcher man gewiß nicht glauben würde können der eigenen<br />

Erinnerung oder einem Geschichtenerzähler, welche dennoch beide<br />

flüstern, daß dieser Moment nicht währen wird, daß nämlich das<br />

Blut wieder zurückfließen und daß das Geschlechtsteil erneut<br />

erschlaffen werde! Also das habe ich gespürt in jener Nacht um 4<br />

Uhr 10, obgleich ich nicht geträumt hatte von irgendwelchem<br />

Sexuellen. - - So war ich endlich gegangen mich zu erleichtern und<br />

dachte an jene Gespenster, welche mir begegnet waren auf den<br />

Friedhöfen zwischen den Gassen und welche vielleicht ihrerseits<br />

agnosziert hatten, daß ich von ihnen träumen würde wollen in<br />

dieser Nacht oder der nächsten. Doch ich hatte in keiner der<br />

folgenden Nächten geträumt von ihnen, und gewiß hatte ich das auch<br />

nicht geträumt gehabt in jener Nacht, als ich erwachte um 4 Uhr<br />

10! – - Schließlich war ich wieder zu Bette gewesen, als ich mit<br />

einemmal jene Stimme hörte – eine flüsternde unbeholfene,<br />

allenfalls gutturale Stimme. Und oh, ich habe mich von Anfang<br />

gefürchtet, sintemal es nicht meine Stimme gewesen, die ich hörte!<br />

Auch war es nicht die Stimme eines obstinaten Engels, der gekommen<br />

war eben deshalb, weil ich nicht weinen kann noch rufen in den<br />

Nächten, die der Angst gehören, um meine Hand zu halten oder mich<br />

gar zu küssen. Es war gewiß kein Engel!<br />

Ja, habe ich gelächelt, ja, ich könne Ihnen Wilde zitieren oder<br />

Winkler, allenfalls sogar Goethe, nämlich diesen Johann Wolfgang;<br />

und vielleicht, fuhr ich fort, vielleicht würde es mir sogar<br />

gelingen, Shakespeare zu zitieren. Sie sprechen von Shakespeare ja<br />

im Konjunktiv, hörte ich einen sich erstaunen. Und ich tue das,<br />

habe ich sofort reagiert, weil ich nicht lügen habe wollen! - -<br />

Was ich also denke über Shakespeare, wurde ich schließlich<br />

gefragt, nachdem ich ihn weder zitiert hatte noch zu weinen mich<br />

befleißigte, was ich denke über den. Oh, habe ich begonnen, oh,<br />

mit dem ist es wie mit der Weisheit, die endlich genausowenig eine<br />

Sache des Alters ist wie die Traurigkeit... Statt dessen ist das<br />

eine Sache der Überlegung, fuhr ich fort, der Überlegung, also des<br />

willentlichen Tuns... Was ich denn hätte tun müssen, um<br />

Shakespeare zitieren zu können, wurde ich gefragt. Ich hätte frei<br />

sein müssen, habe ich geantwortet. - - Sie müssen nämlich wissen,<br />

habe ich schließlich gesagt, Sie müssen wissen, daß in den<br />

Shakespeareschen Werken eine Weisheit zu finden ist, die es uns<br />

vielleicht erlauben möchte, glücklich zu sein ganz ohne Vorbehalt.<br />

Natürlich kann ich das jetzt, fuhr ich fort, nur vermuten,<br />

sintemal es mir nicht gestattet war, frei zu sein für jene Dauer,<br />

die notwendig ist, alle seine Schriften gelesen zu haben,<br />

zumindest ein einziges Mal gelesen zu haben. Aber das, habe ich<br />

gerufen, was ich selbst gelesen habe von Shakespeare, hat jene<br />

Theorie bestätigt! Was wollen sie dann überhaupt, wurde ich<br />

lächelnd gefragt. Ihre Theorie, hörte ich einen anderen<br />

fortsetzen, ist damit verifiziert... Da brauchen Sie Ihre Zeit<br />

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nicht mehr mit bloßen Messungen verschwenden, fuhr ein nächster<br />

fort. Ich soll ja nicht bestätigen, habe ich wütend gerufen, ich<br />

soll das nicht, weil Theorien widerlegt werden müssen!!! - - Meine<br />

Herren, begann ich nach einer Pause von zwölf Minuten, während<br />

welcher ich zu erklären versucht habe, warum Theorien widerlegt<br />

werden müssen, ich selbst aber von Verifikationen gesprochen<br />

hatte, meine Herren, jene Theorie, welche ich über die Dramen, die<br />

Shakespeare geschrieben, formuliert habe, ist in drei mal drei<br />

Jahren nicht zu prüfen noch in zwölf Jahren! Verstehen sie, fuhr<br />

ich zögernd fort, ich hatte erst begonnen damit...ich war<br />

frei...und hatte erst begonnen damit... Aber jetzt, habe ich<br />

gelächelt wie vielleicht Hamlet gelächelt hatte, als ihn des<br />

Laertes vergiftetes Rapier gestreift, jetzt bin ich hier... Jetzt<br />

sind Sie hier, hörte ich einen höhnen, ja, jetzt sind Sie hier!<br />

Wie soll ich denn dann, habe ich lächelnd gerufen, Shakespeare<br />

lesen und klug werden dabei!? Wir verbieten Ihnen das nicht! hörte<br />

ich eine Stimme. Nämlich wir, fuhr ein anderer fort, verbieten<br />

überhaupt nichts! Oh, habe ich konstatiert, oh, Sie verbieten die<br />

Freiheit, und weil Sie die versagen, verbieten Sie endlich schon<br />

genug! - - Drei mal zwölf Stunden, habe ich schließlich gesagt,<br />

nämlich drei mal zwölf Stunden plus vier Stunden bin ich Ihre<br />

Fragen zu beantworten gezwungen an fünf Tagen in der Woche...und<br />

Sie sprechen von Freiheit!? Ich habe ja noch nicht einmal die<br />

Zeit, fuhr ich erregt fort, an meine Liebste zu denken, oder mich<br />

dafür zu bedanken, daß ich frei sein habe dürfen... - - Doch Sie<br />

haben die Freiheit zerstört in einer einzigen Nacht... Als Sie mir<br />

telegraphiert hatten... Sie erinnern sich gewiß... - - Sie wollen<br />

Shakespeare nur lesen, wurde ich mit einemmal entrüstet angerufen<br />

vom ersten, weil Sie endlich zu feige sind, sich von jenen Engeln,<br />

die des Nächtens über Ihre Träume wachen und die in Wirklichkeit<br />

Gespenster sind, auch fellieren zu lassen! Und Sie wollen sich<br />

auch bloß deshalb, fuhr der vierte fort, bedanken für jene<br />

Freiheit...Bei wem auch immer, rief der zweite dazwischen, bei wem<br />

auch immer!...weil Sie selbst nicht glauben können an eine solche<br />

Freiheit, die nur ein Fordern ist... An eine Freiheit, die nur ein<br />

Ficken ist! ergänzte der erste. Die nur ein Fordern und ein Ficken<br />

ist, schrie der dritte, ein Fordern und ein Ficken, ein Fordern<br />

und ein Ficken!!! - - Sie haben wohl recht, meine Herren,<br />

flüsterte ich endlich, Sie haben wohl recht, daß ich ein Feigling<br />

bin... Aber ist nicht jeder Häftling, frug ich, auch ein Feigling;<br />

und ist es nicht der Tod und die Wollust, die uns gefangennehmen<br />

schon im ersten Augenblick? - - Man hat mir nicht mehr<br />

geantwortet, und ich hatte auch keine Erklärung erwartet, sintemal<br />

diese fünf "Ärzte und Scharfrichter" aus dem Zimmer gegangen waren<br />

geradeso, als wäre ich selbst nicht dort gesessen. Die waren ohne<br />

Gruß gegangen und ohne mir zu drohen (was vielleicht wiederum eine<br />

Drohung ist, oder doch ein Menetekel); sie hatten auch kein Papier<br />

zurückgelassen noch irgendwelche Zigaretten. Schließlich wurden<br />

mir die Hände gebunden und die Füße von zwei Wächtern, die<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

maskiert waren wie Henkersknechte am Morgen. Dann wurde die Tür<br />

versperrt und die elektrische Beleuchtung abgeschaltet. – - Es war<br />

dunkel, und es war still. Doch ich fürchte keine Dunkelheit und<br />

nicht die Stille, weil ich weiß, daß jene Gespenster in der Nacht<br />

nur besser zu sehen sind, nur besser zu hören sind als vielleicht<br />

im Stadtpark um 16 Uhr 10, wo man die Spaziergänger verwechselt<br />

mit den Gespenstern oder sie stöhnen zu hören glaubt, obschon es<br />

ein kleiner Junge ist, der hinter dem Gebüsch flüstert mit einem<br />

Mädchen, das ihm gefällt und deren Vulva er zumindest gesehen<br />

haben möchte, um sich nicht mehr masturbieren zu müssen vor den<br />

Seiten jenes Versandhauskatalogs, der auf der Toilette liegt<br />

zwischen den Tageszeitungen, auf welchen noch nicht einmal ein<br />

entblößter Busen ediert werden darf! – - Aber ich fürchte die<br />

Dunkelheit nicht und nicht die Stille. Weil ich einen Tod fürchte,<br />

den ich nicht retardieren kann und nicht verbieten, und weil ich<br />

außer dem Tod die Hoffnung fürchte, die sein Geschwisterchen<br />

bedünkt, fürchte ich die Dunkelheit nicht und nicht die Stille!<br />

- - Aber in dieser Nacht waren Gespenster erschienen geradeso, als<br />

hätten die erzählt bekommen von mir selbst, als hätten die meine<br />

Sehnsüchte erzählt bekommen von irgendwelchen Zuträgern. Es waren<br />

jedennoch schöne Gespenster! - - Es waren schöne Gespenster, und<br />

ich habe für sie gebetet in jener Art, die den Kindern zu eigen<br />

ist, welche nichts wissen von den Friedhöfen zwischen den Gassen.<br />

Und ich selbst hatte nicht einmal gewußt, warum ich mich<br />

erinnerte...an die Gebete...und an die Gefühle... - - Die<br />

Gespenster jedenfalls waren schön gewesen, und sie waren stumm<br />

geblieben, oder wenigstens zu sprechen nicht beflissen. Die hatten<br />

mir ihre Arme gezeigt und ihre Bäuche; und sie hatten mich endlich<br />

geküßt geradeso, als wäre ich zurückgefallen in den<br />

Schützengraben, aus welchem ich hatte springen wollen in jenem<br />

Moment, als die Artillerie versagte. Und o, die hatten mich<br />

vielleicht geküßt, w-e-i-l ich zurückgefallen war...<br />

DieL uft, überw elche ichb islangg edachth atte, daßs ieg<br />

enausowenigb elfernw ürdek önnenw iee inK ind, warn unt<br />

atsächlichd urchd ieG asseng eschlichenw iee inü blerG erucha mN<br />

achmittagu m 16 Uhr 10, ward anna ufd enD ächernl iegengebliebeng<br />

eradeso, alsg eltee s, jenenf estenu nbeirrbarenS chrittz ut un,<br />

undh attes iche ndlichn iedergeworfenv ord enM auernd erF<br />

riedhöfe. Dorts tandend ieE rinnerungend erT otenw ieS tyliten!<br />

Der hatte mir jene Freiheit gestattet, von welcher ich bisweilen<br />

geglaubt habe, daß nur Er sie würde erlauben können. Also der<br />

hatte die Schmerzen aus meiner Seele geschöpft geradeso, als wäre<br />

es ein Eimerchen mit Wasser gewesen; dieweil Er immer nur davon<br />

gesprochen hatte, daß ich klüger würde und endlich auch gesunden!<br />

Der hatte mich geheilt, und er hatte noch nicht einmal reagiert<br />

auf mein Seufzen! Aber der war nicht Gott gewesen, und ich weiß<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

nicht zu sagen, wer oder was der gewesen war, aber Gott war der<br />

nicht gewesen!<br />

Auf den Photographien waren die Seelen der Toten abgelichtet. Aber<br />

vielleicht waren es auch die eigenen Erinnerungen, die in jenem<br />

Moment abgebildet worden waren, als jene Übelkeit hervorgekrochen<br />

war wie ein verspätetes Gespenst am Morgen um 4 Uhr 10! Allenfalls<br />

waren das Sehnsüchte gewesen oder Appetenzen! Ich weiß das nun<br />

nicht zu sagen!!!<br />

Ich will eigentlich nicht, daß die Leser zu Sprachwissenschaftern<br />

werden. Die sollen lesen, das erste Mal, vielleicht auch ein<br />

zweites oder ein drittes Mal, und dann nicht mehr sagen, als daß<br />

es sie erinnert, vielleicht an ein Traumgefühl, das ihnen<br />

irgendwann einmal über einen ganzen Tag nachgefolgt war.<br />

Todesvariationen:<br />

Das war damals, im Sommer ´44, im KZ. Ich war vierundzwanzig Jahre<br />

alt, als ich nach M. kam. Aber ich hatte mich freiwillig gemeldet!<br />

Und es war eine tolle Zeit! Wenn Sie auf der richtigen Seite<br />

stehen, ist jeder Krieg eine un-ver-gleich-ba-re Erfahrung! Weil<br />

es dann nämlich keine Regeln gibt, die Sie einhalten müssen, ich<br />

meine, fast keine Regeln! Und ein KZ ist ja überhaupt<br />

ein...Mechanismus, der... Ich meine, im KZ hat es keine Regeln<br />

gegeben, die wir hätten beachten müssen... Verstehen Sie, im KZ<br />

stellen Sie selbst die Regeln auf! Wenn Sie jemanden prügeln<br />

wollen, dann prügeln Sie ihn, oder Sie erschießen in<br />

sechsunddreißig Sekunden ein Dutzend Gefangene nur deshalb, weil<br />

Sie es tun wollen... Ich meine, Sie können alles tun, a-l-l-e-s!<br />

Wenn Sie auf der richtigen Seite stehen, ist das KZ das Land Ihrer<br />

Träume, ich meine, dort können Sie tun, was Sie wollen, und Sie we-r-d-e-n<br />

es tun!!! Ich selbst war ja lange genug im KZ<br />

stationiert, und ich habe während dieser Zeit keinen gesehen, der<br />

das nicht irgendwann erkannt hat, daß er nämlich alles tun kann,<br />

was er will! Sie wollen jemandem die Zähne ausbrechen? Dort können<br />

Sie es tun! Sie wollen den Fötus einer Schwangeren zertreten? Dort<br />

tun Sie es! Verstehen Sie... Sie können tun, was Sie wollen... Sie<br />

selbst bestimmen die Regeln! Im KZ gibt es so etwas wie Moral<br />

nicht; die wird von Ihnen nicht verlangt noch brauchen Sie sie!<br />

Dort sind Sie frei, ich meine, im KZ können Sie die Moral als das<br />

erkennen, was sie ist: ein Knebel; eine Fessel, die Sie selbst<br />

gewiß immer schon zerschneiden haben wollen. Und dort werden Sie<br />

es tun! Im KZ werden Sie Ihre Moral ablegen wie einen zerrissenen<br />

Mantel! Das habe ich schon am ersten Tag erkannt. Als ich die<br />

Gefangenen aus den Waggons habe fallen sehen, habe ich das<br />

erkannt! Verstehen Sie... Ich meine, Sie sollten Ihre Arbeit nicht<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

vernachlässigen oder zu spät zum Dienst kommen... Aber sonst<br />

können Sie alles tun...<br />

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"Zum Ende der Schlacht"<br />

Ein Leseheftchen<br />

(Seite 869 – 876)<br />

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Ich war auf der Suche, in der ganzen Stadt, an jedem Tag. Wie<br />

Ahasver daselbst lief ich umher, lief über Plätze und durch Höfe,<br />

querte eine Hundertschaft von Straßenkreuzungen, nahm die Stufen<br />

der Bahnstationen im Sprunge, stolperte über Fußsteige und<br />

Schlaglöcher, stieß gegen Laternen- und andere Masten, trat in<br />

Pfützen und Rinnsteine, stob über Brücken und Stege, und stürzte<br />

dann an der Kreuzung Mohngasse/Passerellestraße vor dem Hotel<br />

Rotunde. - - Der Asphalt dort roch nach Sonnencreme und Chlor, und<br />

er war heiß. Meine Weste war denn zerrissen, und ich blutete an<br />

der Stirnseite. Brauchen Sie einen Arzt? hörte ich jemand mich<br />

fragen. Ich brauche ein Zimmer, habe ich gelächelt; denn es war<br />

der Pförtner, der zu mir geeilt und mich gefragt hatte. Das können<br />

Sie bekommen, sagte er, und auch einen Arzt werden wir rufen<br />

lassen. Nein, keinen Arzt, habe ich sofort reagiert, keinen Arzt!<br />

Sie dürfen das nicht unterschätzen, mein Herr, fuhr er unbeirrbar<br />

fort, dieweil er mir aufhalf; Sie bluten ja. Oh, habe ich<br />

gelächelt und nach meinem Taschentuch gegriffen, oh, es ist nur<br />

Blut... Es sind keine Tränen, erklärte ich mich sogleich, sintemal<br />

der Pförtner vielleicht eine Art von Bewußtseinstrübung agnosziert<br />

hatte einfach nur deshalb, weil wir in ähnlichen Situation immer<br />

ähnlich outriert reagieren, es ist nur Blut. - - Meine<br />

Zimmernummer war die Zwölf; es war ein großes paneeliertes Zimmer,<br />

in welchem neben dem Bett und einer Chiffonniere zwei gepolstere<br />

Sessel, ein barockes Taburett sowie ein mit farbigen Intarsien<br />

geschmückter Schreibtisch standen, mit zwei Fensterbänken und<br />

verstaubten Draperien. - - Das Bett war weich, und es war groß,<br />

vielleicht zu groß für einen wie mich. Jedenfalls hatte ich die<br />

Fenster schließen und die Vorhänge zuziehen lassen, um die Sonne<br />

nicht zu riechen, nämlich jene mimenhafte despektierliche Gestalt<br />

flüssigen Magmas, die an dieser Stadt genausowenig interessiert<br />

ist wie an den Monden des Jupiter, welcher wiederum an den Kindern<br />

keinen Gefallen findet, die erzählt bekommen haben von eben ihm<br />

oder allenfalls gelesen haben über ebendiesen fünften Planeten in<br />

jenen Büchern, die sie versteckt hatten unter ihren Kopfkissen<br />

oder anderswo nur deshalb, weil sie sonst nicht mehr hätten<br />

träumen wollen! - - Ich hatte eine Karaffe eisgekühltes Wasser<br />

bestellt, das jetzt wie der stinkende Sud eines extramuralen<br />

Rinnsals wirkte in der Düsternheit des Zimmers (Aber ich fürchte<br />

nicht die Dunkelheit und nicht die Stille!) und von welchem ich<br />

keinen Schluck getan, obschon ich wußte, daß ich in der Nacht<br />

träumen würde von jenem Wasser, das ich dann mir selbst verwehrt<br />

haben werde. Also brannte ich eine Zigarette an und dachte an den<br />

zwölfjährigen Mozart, der vielleicht gewußt hatte, daß er sterben<br />

würde, und der endlich nur deshalb komponierte, w-e-i-l er starb.<br />

- - In der Nacht jedenfalls hatte ich nicht geschlafen; ich war<br />

auf dem Alkoven gelegen wie ein moribundes Käferchen im August und<br />

hatte mich der Mozartschen Musik zu erinnern befleißigt, wiewohl<br />

ich ihr abjuriert. Um 4 Uhr 10 klopfte es; der Chef de rang, der<br />

mich ein ängstlicher Mann mit nervösen zitternden kranken Lippen<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

bedünkte, frug mich, ob ich an der Table d´hôte speisen wolle oder<br />

in meinem Zimmer, sintemal ein Arzt schon reserviert hätte seit<br />

elf Tagen. Ich bot ihm eine Zigarette, die er wie ein schüchternes<br />

Kind nahm und sogleich in seine Seitentasche steckte vielleicht<br />

wie ein Priester das Stilett, welches er überreicht bekommt von<br />

einem, der den Mord, welchen er begangen, schließlich nicht anders<br />

hatte formulieren können als mit der Vorlage ebendieser Mordwaffe.<br />

Ob der denn Patienten empfange, dieweil er zu Tische sitzt, frug<br />

ich ihn also. Das gewiß nicht, hörte ich ihn antworten; aber die<br />

Handlungen von Ärzten seien endlich genausowenig vorhersagbar wie<br />

allenfalls-- Der Chef de rang stockte. Ja, frug ich ihn und dachte<br />

wieder an den zwölfjährigen Mozart, ja!? Nun, begann er zögernd, o<br />

ja, dieser Arzt ist keinesfalls irgendein Allopath, sondern-- Der<br />

Chef de rang unterbrach sich ein zweites Mal. Vielleicht wollen<br />

Sie endlich sagen, weshalb Sie gekommen sind, hub ich an, sintemal<br />

mich die häsitierende Art des Chef de rang zu erzürnen begann. Der<br />

wird ja kein Ophthalmologe sein, fuhr ich fort, der ausgerechnet<br />

meine Augen behandeln will, weil das-- Ich darf Sie jedenfalls<br />

davon in Kenntnis setzen, begann der Chef de rang plötzlich laut,<br />

daß wir Ihre Reservierung seit elf Tagen erwartet haben! Er hatte<br />

das gesagt wie ein Soldat der Ehrenwache, der zum Rapport befohlen<br />

ist, und war dann aus dem Zimmer gelaufen ohne Gruß. - - Jetzt war<br />

ich aber doch erstaunt, sintemal ich selbst jene Vormerkung, von<br />

welcher der Chef de rang gesprochen, tatsächlich niemals gefordert<br />

hatte! Ich war bloß durch die Stadt gelaufen wie an jedem Tag; und<br />

daß ich dann gestürzt war, hatte gewiß keine andere Bedeutung als<br />

die, daß es passiert war, vielleicht nur deshalb passiert war,<br />

weil das, was passieren kann, auch irgendwann einmal geschehen<br />

wird! Trotzdem war ich verwirrt, und zum dritten Male dachte ich<br />

an Mozart, an jenen Mozart, der vielleicht eine ebensolche<br />

Bestürzung agnoszieren hatte müssen in jenem Moment, als er nicht<br />

träumte. - - Ich brannte eine Zigarette an und nahm dann doch<br />

einen Schluck von jenem übelriechenden Wasser, nachdem nämlich ich<br />

nicht mehr wußte, ob es der Durst ist, der mir den Schlaf<br />

verbietet, oder die Einsamkeit. Aber ich wollte schlafen, ich<br />

meine, ich hatte ja die Fähigkeit zu schlafen noch vor Jahren und<br />

Zeiten wie jeder andere auch gehabt, als ich nicht auf der Suche<br />

war, in der ganzen Stadt, an jedem Tag; damals hatte ich schlafen<br />

können. Und ich hatte geträumt dabei! O, ich hatte nur die Augen<br />

schließen brauchen zur rechten Zeit, um dann aufzuwachen nach acht<br />

oder neun und bisweilen nach zehn Stunden ohne irgendeine Art der<br />

Somnolenz oder Traurigkeit, dieweil ich mich erinnerte an jene<br />

Träume, die mir vielleicht erlaubt worden waren! - - Nun ist es<br />

aber nicht so, daß ich durch die Stadt zu laufen begonnen habe nur<br />

deshalb, weil ich einen Geschichtenerzähler suchte oder um vor der<br />

Traurigkeit zu flüchten. Ich wußte ja sehr gut, daß die einmal<br />

verlorengegangenen Träume genausowenig zurückbefohlen werden<br />

konnten wie ein Kind, das die Straßenkreuzung quert ganz ohne<br />

Vorbehalt am Nachmittag um 16 Uhr 10, dieweil die Mutter, die<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

vielleicht unaufmerksam gewesen war in jenem Augenblick, als sie<br />

die Sonne staunte, mit einemmal laut zu rufen beginnt und zu<br />

zetern, und das dann überfahren ist. Das Kind ist tot, und niemand<br />

wird also die gedrückten zerrissenen Gliedmaßen neu zusammensetzen<br />

und es aufzustehen heißen; keiner wird das zu tun den Mut haben!<br />

- - Die Nacht war jedenfalls ihren Zenit zu verlassen bemüht, um<br />

vor der renitenten häßlichen Sonne zurückzuweichen, die ja alles,<br />

was sich nicht beugt in Demut, zuerst bewußtlos schlägt und es<br />

endlich aussaugt wie ein Spinnentier. Ich vermochte diese Sonne zu<br />

riechen, ja, sie zu schmecken war ich imstande, wie man vielleicht<br />

schon als Kind geahnt hatte an jenem bestimmten Abend, während<br />

welchem der Geruch der Mutter ein anderer war als sonst, daß man<br />

selbst Soldat werde und daß man jeden Weg, den man laufen würde<br />

aus bloßem Pflichtgefühl noch nicht einmal für sich selbst würde<br />

nachzeichnen müssen! - - Vielleicht hatte ich das getan!<br />

Vielleicht war ich ein Soldat gewesen einfach nur deshalb, um<br />

jenen festen unbeirrbaren Schritt nicht selbst wagen zu müssen<br />

sondern passieren zu lassen, weil sogar die Tretmine, auf welche<br />

man denn steigen wird, einen braucht, der das tut. – - Es klopfte<br />

abermals, und das war ein hämmerndes ruheloses wenngleich<br />

herrisches Klopfen. Herein! rief ich, vielleicht wie ein<br />

schüchterner Junge, der sich beim Onanieren ertappt weiß. Es war<br />

der Hoteldirektor, ein Mann mit gierigen unangenehmen Augen, der<br />

das Befehlen ganz gewiß gewohnt war und der denn die<br />

Selbstverständlichkeit, mit welcher seinen Wünschen Genüge getan<br />

wird, vermissen würde wie ein Alkoholiker das Äthanol. Der Krieg<br />

lehrt uns zu dienen, hub er sogleich an, wiewohl schon der Krieg<br />

per se ein Diener ist! Aber Herr Direktor, reagierte ich soporös;<br />

der-- Nein, nein, mein Herr, unterbrach mich der Direktor, der<br />

Krieg i-s-t ein Diener. Und das Dienen, fuhr er fort, ist ein Tun,<br />

das dem Menschen zu eigen ist, weshalb der es auch nicht verlieren<br />

darf oder verlernen! - - Ich selbst, begann der Direktor<br />

schließlich nachdem ich ihm eine Zigarette und auch von jenem<br />

Wasser geboten hatte, bin Major. Ich verstehe, habe ich<br />

geflüstert, weil ich nicht wußte, was ich hätte antworten sollen,<br />

und mit meinem Kopf genickt auch deshalb, weil ich dem Direktor,<br />

der wie eine Raubkatze umherlief, bedeuten wollte, sich zu setzen.<br />

Und welchen Rang, begann der Direktor unbeirrbar, bekleiden Sie<br />

selbst? Oh, habe ich gelächelt, oh, ich selbst habe...nicht<br />

gedient... Der Direktor versuchte zu lächeln und war jetzt<br />

offensichtlich bemüht um die Reputation seines Hauses, die es ihm<br />

nicht gestattete, einen Gast zu desavouieren. Nun, hörte ich ihn<br />

keuchen nach einer Pause von einigen Atemzügen, nun, dann sind Sie<br />

gewiß...indisponiert! O ja, lächelte ich sofort, ja, ich bin nicht<br />

eben der-- Das erklärt natürlich alles, unterbrach mich der<br />

Direktor und schlug die Hacken zusammen. - - Doch darf ich mich<br />

jetzt absentieren, begann der Direktor schließlich nachdem wir<br />

beide geschwiegen hatte während einiger Minuten. Ich danke<br />

vielmals, sagte ich und reichte dem Direktor meine Hand, obschon<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

mich davor ekelte, nach einer Hand zu greifen, die vielleicht noch<br />

vor elf Tagen in den Abdomina irgendwelcher Menschen gewühlt<br />

hatte. - - Ich hatte also nach der Hand des Direktors gegriffen,<br />

und das war festes zähes brutales Fleisch, das gewiß um ebensolche<br />

Knochen gewachsen war. Die Hand war wenig warm gewesen, vielleicht<br />

sogar zu wenig, und es schien, als hätte der Direktor als er zwölf<br />

Jahre zählte oder dreizehn auch niemals mit ebendieser Hand sein<br />

Geschlecht berührt in der Ahnung, daß das die Hand eines Majors<br />

würde. Aber vielleicht war er auch bloß Linkshänder, ich weiß das<br />

nicht zu sagen! - - Dann war mir Mozart erschienen in der Art<br />

einer Epiphanie! Ich war eben vor dem Fenster gestanden, weil ich<br />

den süffisanten Geruch der Sonne atmen wollte mit einer Inbrunst,<br />

die vielleicht allen jenen zu eigen ist, welche die Demut<br />

verabscheuen, als ich die Gegenwart des zwölfjährigen Mozarts<br />

rekognoszierte wenig neben mir. Der summte eine Melodie, die er<br />

gewiß nicht geschrieben hatte und die ich selbst wiederum nicht zu<br />

kategorisieren klug war in jenem Moment, als er erschienen. Ob<br />

also er selbst jemals gehandelt hätte gegen die Generäle und<br />

Majore, nämlich gegen den Krieg, gegen den Siebenjährigen Krieg<br />

zum Beispiel, frug ich ihn, zumindest irgendwie. Ich habe<br />

komponiert, hat er geantwortet. Und ich hatte gedichtet! habe ich<br />

ihm wütend entgegnet. Aber heute weiß ich, fuhr ich schließlich<br />

fort, daß wir über den Krieg nur auf die gleiche sinnlose ridiküle<br />

Weise dichten können wie über die Sonne. - - Nur Hamlet, hub ich<br />

an nachdem Mozart nicht einmal mehr summte, nur dieser Hamlet hat<br />

den Mut besessen, die Wahrheit wissen zu wollen! Die Wahrheit,<br />

lächelte Mozart, dieweil ich mich an Popper erinnert fühlte, ist<br />

die einzige Befangenheit, der sich das Menschengeschlecht<br />

tatsächlich unter-- Nein, habe ich gerufen, nein, die Wahrheit ist<br />

nicht die Lüge, weil sonst die Lüge das Menschliche ist! Aber das<br />

Menschliche, fuhr ich sogleich flüsternd fort, ist-- Ja, hörte ich<br />

ihn mich auffordern in einem süffisanten Timbre, über welches man<br />

vielleicht nichts anderes behaupten wird können, als daß es die<br />

Stimme eines Zwölfjährigen sei, ja!? Oh, habe ich geflüstert,<br />

jetzt weiß ich plötzlich nicht mehr, was ich habe sagen wollen...<br />

Die Wahrheit, hörte ich ihn aber stöhnen geradeso, als würde er<br />

sie nun erklären müssen, die Wahrheit sind wir nicht einmal zu<br />

fühlen in der Lage! Nicht einmal zu fühlen, wiederholte er sich,<br />

nicht einmal zu fühlen sind wir jene Wahrheit imstande! O, habe<br />

ich gelacht, o, dafür weiß ich selbst jetzt sehr gut, warum ich<br />

die Musik nicht habe leiden mögen...weil sich ja auch die Musik<br />

mit der Wahrheit nicht anders auseinanderzusetzen vermag als in<br />

der Art eines Schauspiels... Und wir sollten lachen über<br />

ebendieses Schauspiel, reagierte der zwölfjährige Mozart,<br />

zumindest lachen! - - In jenem Moment, habe ich schließlich<br />

begonnen, da ich sterbe - und ich sterbe zu jedem Moment -, will<br />

ich nicht dem Lachen gehören... Wem ich also gehören wolle, frug<br />

mich Mozart. Mir selbst will ich gehören, habe ich gerufen, einmal<br />

wenigstens nur mir selbst gehören! - - Mozart war gegangen, und er<br />

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hatte dabei ein Liedchen gesungen geradeso, als wäre das die<br />

einzige Art, den Pförtner zu düpieren und aus dem Irrenhaus zu<br />

retirieren. Aber ich mochte diesen Mozart genausowenig wie den<br />

Direktor oder den Chef de rang, der vielleicht dessen Adjutant<br />

gewesen war! Überhaupt wußte ich nicht zu sagen, warum alle diese<br />

Gestalten gekommen waren oder weshalb ich selbst, als ich<br />

gestürzt, nach einem Zimmer verlangt hatte. Nichtsdestotrotz<br />

erinnerte ich mich, daß ich auf der Suche war, in der ganzen<br />

Stadt, an jedem Tag, als ich mich endlich zum zweiten Male lang<br />

ausstreckte auf jenem Bett, das, wie ich zuvor schon agnosziert<br />

hatte, groß war und weich gepolstert. Es wäre gewiß gut zu<br />

schlafen darin! Aber o, ich selbst konnte nicht einschlafen, nicht<br />

einmal für einige Atemzüge oder länger! Nämlich ich war dagelegen<br />

wie ein aufgebahrter Toter in der Prosektur, für dessen Sarg schon<br />

das Maß bestimmt worden war. - - So ist der Sarg, habe ich denn<br />

gedacht (und vielleicht habe ich das auch gewußt), das Spielzeug<br />

des Küsters, der den Deckel öffnet mit einer Appetenz, die schon<br />

sehr den Leichenfledderern ähnelt, welche wiederum die Toten<br />

verwechseln mit den Körpern von liegengelassenen Puppen, die<br />

vielleicht elf Tage davor durch die Luft geschleudert worden<br />

waren, als die Schockwelle irgendeiner Explosion den Äther<br />

erleuchtete! - - An jedem Vorplatz habe ich den Tod riechen<br />

können; an jedem Platz, auf jeder Straße habe ich den Tod<br />

schmecken können, in jedem Hinterhof, in den Gassen und den<br />

Unterführungen, in den Vestibülen oder den Parkanlagen, nämlich<br />

überall dort hatte ich seine Markierung aufgespürt, wo nur<br />

zumindest eine unbebaute Fläche zu rekognoszieren war, vielleicht<br />

drei oder dreiundeinhalb Quadratmeter Erdboden, Asphalt, Beton,<br />

Parkett... - - Dieser Tod hatte ganz gewiß einen feinen Duft, ich<br />

meine, der war nicht unschwer zu erschnüffeln oder eben bloß<br />

nebenbei mitzunehmen, wie man vielleicht als Kind an irgendeinem<br />

Tag den Geruch des toten Geschwisterchens wiedererkannt hatte<br />

bereits an der ersten Straßenkreuzung auf dem Weg zur Schule! Man<br />

brauchte indes schon einen präzisen Olfaktorius, um die Witterung<br />

aufnehmen zu können von ebendiesem Tod, der so scham- und<br />

charakterlos aber gewiß nicht planlos durch die Stadt spaziert<br />

war. Ich selbst hatte diesen Tod gerochen; es war ein<br />

unappetitlicher schartiger wenngleich unauffälliger Duft,<br />

vergleichbar dem Ruch, der sich über die Schützengräben verteilt<br />

zum Ende der Schlacht um 4 Uhr 10 vielleicht. - - An diesen<br />

Gestank hatte ich mich zu erinnern versucht, als das Türschloß<br />

knackte. Es war das Zimmermädchen, das einen Servierwagen<br />

hereinschob, auf welchem ein Dutzend bunte Flaschen und Tuben<br />

nebst mehreren Aufnehmern und dreien Handfegern geordnet waren,<br />

und mich grüßte in einer ebensolchen Unbefangenheit, als würde sie<br />

in ein leeres Zimmer gekommen sein und einiges flüstern dabei. - -<br />

Kennen Sie diese Stadt, hub ich schließlich an, sintemal ich nicht<br />

habe schweigen wollen, ich meine, kennen Sie ihren Geruch!? Also<br />

kennen Sie diesen Geruch, fuhr ich wütend fort nachdem das<br />

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Zimmermädchen nicht einmal reagiert hatte, der in den Gassen und<br />

über den Plätzen hängt geradeso wie der Duft von verfaulendem<br />

Fleisch!? Ich kenne einen Geruch, hat sie gelächelt, dieweil sie<br />

sich mir näherte. Den kannst Du zwischen meinen Schenkeln<br />

schnuppern! hat sie gestöhnt in der Art eines Klageweibs. Nein,<br />

habe ich gerufen, nein, ich kenne diesen Geruch und-- Dir ekelt!?<br />

hat sie mich unterbrochen, und ich habe gewußt in diesem Moment,<br />

daß sie selbst jenen Gestank, von welchem ich gesprochen, ganz<br />

gewiß zwischen ihren Beinen trug. Ja, habe ich geflüstert, ja, ich<br />

will diese faulenden anstößigen homonymen Ausdünstungen nicht mehr<br />

schmecken müssen, weil mir übel wird davon und-- Du selbst riechst<br />

nicht anders! hat sie mich wütend unterbrochen zum zweitenmal und<br />

mich zu fellieren begonnen. Nein, habe ich nochmals gerufen, nein,<br />

ich will das nicht, daß nämlich Du meine Glans leckst und denn<br />

dann den Samen, der gewiß heiß sein wird und blutig, ausspeien<br />

wirst-- Sogar der Gepäcksjunge, hat sie mich zornig unterbrochen,<br />

sogar der spuckt zumindest zwölf Mal nachdem er ein Zimmer wieder<br />

verlassen! Und über den wisse jeder in diesem Etablissement, fuhr<br />

sie fort, daß der den Ratten, welche er fängt, die Köpfe abbeiße!<br />

Warum er das tue? frug ich sie sogleich und brannte zwei<br />

Zigaretten an, deren eine ich ihr reichte in dem Bestreben, sie<br />

von ihrem Vorhaben abzulenken. Vielleicht sei der krank, aber so<br />

genau wisse sie selbst das nicht, hat sie geantwortet und, dieweil<br />

sie rauchte, mein Präputium bewegt geradeso, als täte sie das<br />

überhaupt zum ersten Male. So muß man dem eben nachgehen! habe ich<br />

gerufen und war von jenem Bette aufgesprungen. - - Ich werde dem<br />

Herrn Direktor berichten, habe ich schließlich begonnen und war<br />

nervös herumgegangen, dieweil das Zimmermädchen sich entkleidete<br />

und indes mit ihren Augen jede meiner Bewegungen verfolgte in<br />

einer Gier, die allein Ophelia gehörte, als sie Hamlet zum<br />

erstenmal erblickt. Irgend etwas müssen wir doch tun! habe ich<br />

schließlich gerufen und dem Zimmermädchen, das jetzt einzuschlafen<br />

schien, sich sofort anzukleiden bedeutet. - - In diesem Hotel,<br />

hörte ich das Zimmermädchen noch flüstern, dieweil es die Tür<br />

öffnete, lernen wir zu dienen. Aber was ist das für ein Dienst,<br />

habe ich ihr nachgerufen, was ist das für ein Dienst!? - - Ich<br />

hatte dann jenen Arzt, von welchem mir der Chef de rang erzählt,<br />

getroffen um 16 Uhr 10 im Rauchsalon nachdem der Direktor, dem ich<br />

habe berichten wollen, mir in einem Schreiben ebendiesen<br />

Oberstabsarzt zu Rate zu ziehen empfohlen hatte, sintemal er<br />

selbst für fünfzehn Tage oder länger verreisen müsse. - - Der Herr<br />

Direktor ist ganz gewiß ein hochmögender Mann, hub ich sogleich<br />

an, als jener Arzt, der sich mir als Doktor Krath, Oberstabsarzt<br />

der Dritten Panzerdivison "Berlichingen", vorgestellt, Platz<br />

genommen hatte. Nun, das ist er wohl, lächelte der Arzt, ein<br />

exzellenter Stratege und treuer Kamerad. Vergessen Sie den<br />

Hoteldirektor nicht, habe ich gehöhnt, vergessen Sie den nicht! An<br />

der Front zählt das nicht, was einer ist oder warum, hat er<br />

gelächelt. Da haben Sie natürlich recht, habe ich geflüstert, weil<br />

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dort nur von Bedeutung ist, daß-- Mich bedünkt, mein Herr,<br />

unterbrach mich der Oberstabsarzt, Sie verkennen den Ernst der<br />

Lage! Oh, habe ich servil geantwortet, oh, ich selbst bin doch nur<br />

ein Dichter, und auf der Suche, in der ganzen Stadt, an jedem<br />

Tag... Ich habe das gehört, sagte der Arzt, ja, der Herr Major hat<br />

mir erzählt davon. Und was, fuhr er schließlich fort und bot mir<br />

eine Zigarette, was suchen Sie? Erinnerungen, habe ich gerufen,<br />

ich suche Erinnerungen! Erinnerungen!? frug der Oberstabsarzt<br />

erstaunt. Ja, Erinnerungen, habe ich sogleich reagiert, nämlich<br />

Erinnerungen an die Schönheit suche ich, verstehen Sie,<br />

verlorengegangene Erinnerungen, also Erinnerungen, die irgendwann<br />

irgendeiner sich bemüht hat zu vergessen... - - Kennen Sie selbst,<br />

begann ich schließlich nachdem wir nur geraucht hatten und von<br />

unserem Tee genommen, die Geschichte dieses Gepäcksjungen!? Ich<br />

kenne seinen Akt, lächelte der Arzt. Und welche Diagnose hatten<br />

Sie formuliert, habe ich gefragt, welche Behandlung haben Sie<br />

vorgeschlagen? Da braucht es keine Diagnose, habe ich ihn<br />

antworten gehört, da braucht es keine Behandlung! Ja wollen Sie<br />

selbst nicht einmal wissen, habe ich erregt gerufen, warum dieser<br />

Junge die Köpfe von Ratten frißt? Ich darf Sie jetzt korrigieren,<br />

insistierte der Arzt; der Junge frißt nicht die Köpfe von Ratten,<br />

er beißt sie ihnen bloß ab! Aber das tut doch kein Kind, habe ich<br />

ihm wütend entgegnet, daß-- Mein lieber Herr, unterbrach mich der<br />

Oberstabsarzt süffisant, Sie erstaunen mich, nicht dieser<br />

Junge...der übrigens das Dienen bereits beherrscht in einer<br />

Vollendung, die-- Ja, habe ich ihn wütend unterbrochen, ja, der<br />

ist gewiß ein stupender Diener geworden, hilfsbereit,<br />

verschwiegen, zufrieden, anspruchslos, ja, vor allem<br />

anspruchslos!!! Am Tag ein Diener, erklärte ich mich ohne jede<br />

Rücksicht, und in seiner Kammer-- Mein lieber Freund, lächelte der<br />

Arzt und bewegte dabei seine Hände wie ein Dirigent, welcher dem<br />

Konzertmeister zulächelt in einer Art der Verliebtheit, um<br />

vielleicht dessen Aufmerksamkeit zu provozieren, Sie sind doch ein<br />

kluger Mann, der die Antwort kennt... Ich kenne keine Antworten,<br />

habe ich ihm sarkastisch entgegnet, die nicht irgendwann die<br />

Mißhandlung von Menschen begründet haben. Wir sind keine<br />

Leutschinder! hat der Oberstabsarzt erregt gerufen. Ja, habe ich<br />

gesagt, Sie sind Pädagogen, über welche man bestenfalls dereinst<br />

wird lesen können in den Geschichtsbüchern, daß Sie die<br />

Indoktrination verwechselt hatten mit der...mit der... Ja,<br />

lächelte der Arzt, ja!? O, es gibt kein Wort, das zu beschreiben,<br />

habe ich geflüstert (und vielleicht hatte ich sogar geweint). - -<br />

Der Mensch, hatte der Oberstabsarzt schließlich begonnen, will<br />

erzogen werden, und weil niemand-- Ich darf mich nun verfügen,<br />

habe ich plötzlich gerufen und war von meinem Sitzplatz<br />

aufgesprungen geradeso, als wäre ich galvanisiert worden, sintemal<br />

ich müde bin und meine Augen schmerzen! - - Das wird nicht<br />

irgendein Tod sein, habe ich gedacht, als ich meine Augen<br />

geschlossen hatte und wieder den Geruch jener Sonne schmeckte,<br />

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nicht irgendeiner, weil das nämlich noch kein einziges Mal<br />

irgendein Tod gewesen war. O, es wird ganz gewiß einer sein, der<br />

nicht anzuklopfen braucht und mir nicht zu dienen! Der wird nicht<br />

einmal eintreten, ja mich noch nicht einmal suchen; statt dessen<br />

werde ich selbst ihn aufgespürt haben. Nämlich ich werde auf der<br />

Suche gewesen sein, in der ganzen Stadt, an jedem Tag; und<br />

irgendwann werde ich erschöpft sein und mich selbst nicht mehr<br />

dulden mögen... Also werde ich stürzen! Ich werde stürzen,<br />

vielleicht werde ich sogar fallen. Stürzen jedenfalls werde ich<br />

oder fallen, und vielleicht wird es auch bloß ein Brennen sein<br />

oder ein Spritzen von Blut. Aber stürzen werde ich oder fallen!<br />

Und dort, wo ich aufschlagen werde, wird ebendieser Tod, der nicht<br />

irgendeiner ist, mich morden!!! - - Vielleicht hatte ich<br />

geschlafen, ich weiß es nicht zu sagen. Dann hörte ich jemand<br />

unter meinem Bett kriechen! Das waren Geräusche geradeso, als<br />

würde dort ein Mineur nach irgendwelchen Ungeheuern jagen. Wer ist<br />

das unter meinem Bette, habe ich geflüstert, was ist das? - - Und<br />

dann wußte ich mit einem Male, wer es ist, nämlich der<br />

Gepäcksjunge! Nun weiß ich nicht, hub ich endlich an, ob es die<br />

Ratten sind, weshalb ich nicht schlafe... Die Ratten, fuhr ich<br />

fort, die Du fängst, sind gewiß Soldaten, ich meine, die sind<br />

wirklich gut gerüstet, eben wie Soldaten es sind: sie haben spitze<br />

Zähne, sie formieren sich-- Und ernähren sich von den Toten! hörte<br />

ich ihn flüstern. O, ja, entgegnete ich, bereits auf den toten,<br />

warmen Körpern, die ihre Farbe noch wechseln werden, habe ich die<br />

Ratten tanzen sehen-- Weil die fressen zuerst die Bulben, hörte<br />

ich ihn stöhnen, immer zuerst die Augen... Und wenn es genügend<br />

Tote sind, ergänzte ich, die auf den Schlachtfeldern liegen,<br />

werden die Ratten nichts anderes fressen als die Augen der<br />

Toten... - - Aber die Toten kümmert das nicht, habe ich<br />

schließlich begonnen; die haben ja keinen Spiegel, das zu sehen,<br />

und-- Ich bin dieser Spiegel, hörte ich ihn leise sagen, in der<br />

Nacht, wenn ich über die Schlachtfelder laufe und sich die<br />

Augenhöhlen, die ich gesehen und die ich nicht habe zählen können,<br />

widerspiegeln auf meinen Händen oder auf dem Mauerwerk... Dann<br />

wird mir übel, fuhr er fort, und ich erbreche mich... Und dann<br />

kommen die Ratten hervorgekrochen, flüsterte ich selbst, und<br />

stoßen ihre schwarzen unruhigen feuchten Nasenspitzen in diesen<br />

stinkenden Brei... - - Warum tun wir nichts gegen den Tod? hörte<br />

ich ihn dann fragen. Vielleicht weil wir müde sind, habe ich<br />

gesagt, weil wir so müde sind... Nein, hat er wütend gerufen,<br />

nein!!! Wir tun nichts dagegen nur deshalb, fuhr er fort, weil wir<br />

alles für diesen Tod tun! Ja, habe ich gesagt, gewiß ja, wir<br />

dienen diesem Tod, indem wir auf den Schlachtfeldern unsere<br />

Erinnerungen verbrämen und sie anderenteils auf den Friedhöfen<br />

nicht mehr exhumieren... Aber was können wir dagegen tun, hat er<br />

geflüstert geradeso, als würde ein Dichter, der mit einem<br />

Gepäcksjungen spricht, welcher unter jenem Bette nach Ratten<br />

sucht, um denen die Köpfe abzubeißen, eine Antwort wissen. Wir<br />

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sollten sterben, habe ich gesagt, wir alle sollten das, ich<br />

meine-- Und ich will das nicht, hat er gerufen, weil mir übel wird<br />

vor jedem Tod, vor jedem, verstehst Du! - - So mußt Du einen<br />

wählen, der nur nach innen wirkt, habe ich endlich gesagt, ich<br />

meine, einen Tod, der nur nach innen wirkt; also wirst Du Dich für<br />

das Lachen entscheiden müssen, sintemal die Schmerzen, welche in<br />

Dir selbst zugegen sind an jedem Tag seit jenem Tag, anders nicht<br />

behandelt werden können als mit dem Lachen der Verzweiflung. Auch<br />

das wird keine Wunden schließen, hat er entgegnet, da wird der<br />

Eiterfluß nicht versiegen! Mehr weiß ich selbst doch nicht!!! habe<br />

ich erbost gerufen und mich erinnert an die Friedhöfe zwischen den<br />

Gassen. - - Man kann die Menschen lieben, hat er dann begonnen,<br />

man kann das. Und dennoch wird man sie sterben sehen, fuhr er<br />

sogleich fort; und in diesen Momenten, da du sie sterben siehst,<br />

weißt du ganz genau, daß du alles verloren hast! Ich selbst, habe<br />

ich geflüstert, habe in diesen Augenblicken stets an Gott gedacht<br />

gehabt... An Gott!? hat er gefragt geradeso, als würde er zum<br />

ersten Mal davon hören. Ja, an Gott, habe ich geantwortet, oder<br />

zumindest an das hatte ich zu denken versucht, von welchem wir<br />

glauben, daß es Gott sein müsse, weil-- Ich habe ihn nicht<br />

gesehen, Deinen Gott, hat er wütend gerufen, ich habe ihn nicht<br />

gesehen!!! Die zerrissenen leeren Augenhöhlen habe ich gesehen,<br />

hat er sich erklärt, die Ratten habe ich gesehen und die<br />

Schlachtfelder. O, ich weiß das, habe ich geantwortet, daß nämlich<br />

Gott nicht zu sehen ist, nicht zum Ende der Schlacht, nicht auf<br />

den Friedhöfen zwischen den Gassen, nicht in den Kinderzimmern,<br />

nicht in den Nächten, die der Angst gehören... - - Du sollst jetzt<br />

in deine Kammer gehen! habe ich unvermutet begonnen nach einer<br />

Pause von vielleicht elf Minuten, während welcher ich selbst zu<br />

denken nicht umhin hatte können, daß ich sterben werde in<br />

ebendieser Art, die den Soldaten zu eigen ist, welche nämlich über<br />

den Tod geradeso erstaunen wie spielende Kinder, die über das<br />

Firmament die Artilleriefeuer stieben sehen. Du sollst jetzt<br />

gehen! habe ich ein zweites Mal gerufen. Aber wenn Du wissen<br />

wirst, fuhr ich sogleich fort, warum jener, welcher dient, diesen,<br />

welchem er dient, verachten wird müssen und denn dann töten...Weil<br />

die Pejoration, unterbrach ich mich, ist nur eine andere Art zu<br />

morden!...wenn Du das wissen wirst, sollst Du also wiederkommen<br />

und die Ratten, die heute noch meine Diener sind, unter jenem<br />

Bette töten! Wie kann ich das wissen, frug er mich und kam sogar<br />

hervorgekrochen aus seinem Versteck, daß ich diese hier töten<br />

solle oder warum. Du wirst es wissen, antwortete ich ihm, zu jenem<br />

Augenblick wirst Du das wissen! Zu welchem Augenblick, hat er<br />

gerufen, zu welchem? Ich bin müde, habe ich gesagt, ich rieche den<br />

Ruch der aufsteigenden Sonne... - - Wann werde ich das wissen, hat<br />

er nochmals gefragt, zu welchem Augenblick? Er war nun neben jenem<br />

Bette gestanden geradeso wie vielleicht jeder Vater stünde an<br />

seines Sohnes Seite zum Ende der Schlacht und hatte meine Hand<br />

umfaßt mit der seinen, die wenig warm gewesen, vielleicht sogar zu<br />

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wenig! Hörst Du, habe ich geflüstert wie im Delirium, daß ich<br />

sterbe... Ich sterbe, habe ich wiederholt, ich sterbe, und die<br />

Ratten, die meine Diener sind, werden endlich über mich herfallen<br />

ganz ohne Vorbehalt... Die will ich töten, hat er erregt gerufen,<br />

die will ich töten, die das wagen! O, habe ich gelächelt, Du wirst<br />

gewiß einige töten, vielleicht elf oder sogar zwölf... Das werde<br />

ich wohl, hat er sich begeistert, ja, wenigstens ein Dutzend werde<br />

ich töten zu jeder Stunde! Vielleicht während zehnen Stunden, fuhr<br />

ich fort, die Du ehrlich wachen kannst... Sind denn zwölf zu<br />

wenig, hat er gefragt (und vielleicht schon resigniert gehabt).<br />

Wir werden immer zu wenig tun können! habe ich zornig geantwortet<br />

und ihm zu gehen bedeutet. - - Auch in dieser Nacht hatte ich<br />

nicht schlafen können; aber vielleicht hatte ich auch nur jegliche<br />

Erinnerung verloren gehabt am Morgen, als erneut die Sonne meinen<br />

Olfaktorius irritierte auf eine Weise, die dem über die<br />

Feldlazarette wallenden Dunst ähnelt, welchen ich agnosziert. Denn<br />

mich bedünkte tatsächlich, daß ich geschlafen hatte, wiewohl ich<br />

keine Erinnerung zu nennen wußte! Daß dennoch die Sonne zu<br />

bemerken gewesen war vielleicht um 4 Uhr 10, war geradeso<br />

geschehen, als hätte ebendieser Stern mich aufzuwecken geplant<br />

gehabt zu jener Stunde, während welcher es mich bedünkte, daß ich<br />

geschlafen hätte. Nun vermag ich selbst nicht zu behaupten noch zu<br />

beweisen, ob ich geschlafen hatte oder nur getäuscht war ein<br />

weiteres Mal, sintemal ich über den Schlaf längst nicht mehr sagen<br />

kann, als daß es mich verlangt danach! - - Diesen Vormittag war<br />

ich in meinem Zimmer geblieben; ich hatte einige Zigaretten<br />

geraucht, hatte hinwieder einen Schluck von jenem Wasser genommen,<br />

und wartete, daß etwas geschehen würde, daß vielleicht die Ratten<br />

plötzlich hervorsprängen oder es an der Türe klopfte. Aber nichts<br />

von alledem war geschehen, und ich dachte an den Tod, der<br />

vielleicht genauso plötzlich passieren wird in ebendiesem<br />

Augenblick, zu welchem man vergessen würde aus bloßer Müdigkeit,<br />

daß man sterben wird! - - Am Nachmittag um 16 Uhr 10 vielleicht<br />

saß ich im Foyer. Ich war denn aus meinem Zimmer gelaufen wenige<br />

Minuten zuvor, weil ich es nicht mehr hätte ertragen können,<br />

diesem Tod zu begegnen in einem Hotelzimmer. - - Ich brannte eine<br />

Zigarette an und beobachtete das Personal, das in der Art von<br />

hungrigen wenngleich domestizierten Wölfen beschäftigt schien, ja<br />

bekümmert um jeden An- oder Abreisenden, als ich eine Gestalt<br />

perzipierte, die ich endlich nur deshalb auch hatte wahrnehmen<br />

können, weil mir sogleich übel wurde geradeso, als wäre die<br />

Erinnerung an den Ruch der Sonne mit einem Male wiedergekommen in<br />

der Art einer plötzlichen Furcht; anderenteils war ich jene<br />

Gestalt von jetzt auf gleich zu erkennen in der Lage vielleicht<br />

schon insofern, als es hatte passieren müssen! - - Mein lieber<br />

Kamerad, begann jene Gestalt und winkte den Gepäcksjungen heran,<br />

ich darf Dir zuvörderst-- Kameradschaften sind Knechtschaften,<br />

habe ich ihn ärgerlich unterbrochen und ihm einen Sitzplatz<br />

angeboten. Oh, das sind sie wohl, hat er entgegnet und dem<br />

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Gepäcksjungen, der wie ein Stylit neben ihm gestanden war, ein<br />

Zettelchen und einige Münzen in die Rocktasche gesteckt. Dort<br />

bekommt man noch Schokolade zu kaufen, hat er geflüstert, echte<br />

Schokolade, verstehst Du... Der Junge nickte; aber mich selbst<br />

bedünkte es, daß der seinen Kopf bewegte nur deshalb, weil im<br />

Foyer jede andere Art der Reaktion, ein Wort vielleicht oder ein<br />

Lächeln, gewiß die Aufmerksamkeit des übrigen Personals provoziert<br />

hätte, das endlich, wie ich selbst konjekturierte, jede<br />

Auffälligkeit dem Direktor zu melden verpflichtet war. Du magst<br />

doch Schokolade!? hat er dann gefragt geradeso, als würde er in<br />

diesem Moment nicht mehr wissen, ob es die Kinder gewesen waren,<br />

für welche jede Art von Schokoladen gerührt wird, oder ob die bloß<br />

zubereitet werden für die Soldaten. Magst Du Schokolade, hat er<br />

nochmals gefragt, magst Du die? Ich mag das Blut von Ratten, hat<br />

der Junge geflüstert. Dann sollst Du auch die Schokolade<br />

probieren! habe ich dazwischengerufen. Ja, die solltest Du<br />

probieren, hörte ich ihn zustimmen, die solltest Du wenigstens<br />

gekostet haben. Ich werde sie kosten, hat der Gepäcksjunge<br />

geantwortet und dabei mich selbst angesehen wie einen Konjuranten.<br />

Dann geh und kauf Dir Schokolade, hörte ich mit einemmal die<br />

Stimme des Oberstabsarztes, lauf! Aber der Herr Direktor,<br />

stotterte der Junge, ich-- Papperlapapp, reagierte der Arzt<br />

sofort, der Herr Direktor wird davon nicht erfahren. Sie wollen<br />

also ehrlich schweigen, habe ich den Oberstabsarzt gefragt. Ich<br />

werde nicht schweigen, hat der süffisant geantwortet, weil ich das<br />

bloß nicht zur Kenntnis nehmen werde, daß der Junge Schokolade<br />

ißt! Und gewiß wird auch der Herr Oberleutnant, setzte er fort und<br />

suchte dessen Augen, keine Meldung machen. Oh, ganz gewiß nicht,<br />

hat der sofort reagiert, ganz gewiß nicht, Herr Oberstabsarzt!<br />

Nun, dann bleibt uns noch zu erfahren, begann der Arzt, dieweil er<br />

seine Hand auf die Schulter des Jungen legte geradeso, als würde<br />

er den über einen Friedhof geleiten, ob desgleichen Sie selbst das<br />

nicht zur Kenntnis nehmen werden... Ja, hörte ich den Oberleutnant<br />

erregt nachfassen, ja, wirst Du, sag, wirst Du-- Natürlich, habe<br />

ich ihn wütend unterbrochen, natürlich werde ich schweigen<br />

darüber! Sie sollen ja nicht schweigen, hub der Arzt jetzt an,<br />

sondern keine Kenntnis nehmen, was-- Oh, ich werde schweigen, habe<br />

ich ein zweites Mal unterbrochen, ich werde das rekognoszieren und<br />

dann werde ich darüber schweigen! Denn das Schweigen, fuhr ich<br />

fort, erlaubt es wenigstens, daß wir uns erinnern... Sie wollen<br />

sich also ad infinitum erinnern, frug der Oberstabsarzt durchaus<br />

schulmeisterlich. Ich muß mich erinnern, habe ich gerufen, weil<br />

ich sonst zum Ende der Schlacht noch nicht einmal mehr weinte!<br />

Aber das Weinen ist eine Schimäre, hörte ich den Oberleutnant<br />

stöhnen, ganz gewiß ist das Weinen nur eine Lüge... Und das ist es<br />

nur deshalb, erklärte der Oberstabsarzt geradeso, als würde er nun<br />

einer Hundertschaft von Studenten beiwohnen, weil wir nicht<br />

dienen, sobald wir weinen! - - Ob er also wisse, frug ich<br />

schließlich den Oberstabsarzt, daß wir den Krieg nur deshalb<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

wollen - vielleicht sogar den totalen Krieg -, weil wir den<br />

eigenen Tod nicht begreifen, weil der endlich so etwas sei wie der<br />

Versuch einer Apologie für alles das, was wir nicht getan haben...<br />

Wie nun darf ich Sie verstehen, frug mich der Arzt und bewegte<br />

seine Finger dabei geradeso, als würde er die Seiten aus einem<br />

Lexikon herausreißen. O, habe ich gelächelt, ich meine denn, daß<br />

wir uns fürchten vor dem Tod und daß wir, w-e-i-l wir uns<br />

fürchten, nichts anderes können als hassen, weil doch der Haß uns<br />

selbst unbeirrbar macht und wagemutig. Mein lieber Freund,<br />

reagierte der Oberstabsarzt sofort, wir müssen den Tod als das<br />

akzeptieren, was er ist! Und was ist der, hörte ich den<br />

Gepäcksjungen fragen, was ist also der Tod. - - Das wird gewiß<br />

nicht irgendein Tod sein, habe ich gedacht und den Stoff der<br />

Vorhänge kontrolliert, weil mich bedünkte, daß der an ebendiesem<br />

Morgen das Licht der Sonne geradeso durchgelassen hatte, als hätte<br />

sich irgendwo im Gewebe eine Öffnung aufgetan. Aber ich konnte<br />

keine Beschädigung im Stoff agnoszieren noch einen Fehler im<br />

Webmuster! Also war wiederum allein die Beharrlichkeit des<br />

Sonnenlichts dafür verantwortlich zu machen, daß ich geradeso<br />

reagierte...nämlich allenfalls wie der wahnsinnige Ahab, der<br />

seinen Männern die Netze zu prüfen befiehlt, wiewohl jenen Moby-<br />

Dick zu fangen keines Fischernetzes Knoten genügend stark geknüpft<br />

sind. - - Das wird gewiß nicht irgendein Tod sein, habe ich mich<br />

wiederholt, weil endlich zum Ende der Schlacht der Tod derjenige<br />

ist, welcher eine Begründung schafft. - - In den Büchern der<br />

Generäle, habe ich gedacht, werden die Summen der Toten notiert.<br />

Und diese Zahlen wird vielleicht der Tod selbst irgendwann einmal<br />

erklären. - - Ich verabscheue den Tod, habe ich geflüstert, als<br />

ich den Gepäcksjungen unter jenem Bette hervorkriechen sah, hörst<br />

Du, daß ich den abhorresziere? Und das, hat er gesagt, tust Du<br />

gewiß, weil-- Weil ich mich erinnere, habe ich ihn unterbrochen,<br />

ja, weil ich mich zu diesem Augenblick erinnere an den Tod, der so<br />

regelmäßig passiert wie das Glockenspiel einer Uhr zum<br />

Stundenschlag. Nämlich in dieser Welt, fuhr ich fort, dieweil der<br />

Gepäcksjunge eine tote Ratte in seine Hosentasche steckte, sind<br />

bloß der Tod oder die Wollust von Bedeutung für uns selbst! Nichts<br />

anderes können wir beobachten als eben das, habe ich mich erklärt<br />

und auf jene Ratte gedeutet. Der Tod, hörte ich den Gepäcksjungen<br />

mir zustimmen, ist nur eine andere Art von Schmerz, wie nämlich<br />

auch die Wollust...ob du sie nun verlangst oder ihr dienen sollst,<br />

nämlich im Zimmer eines Hotelgastes oder im Kontor des<br />

Direktors...sogar die Wollust ist dem immer kommensurabel... Und<br />

was können wir tun dagegen, habe ich ihn gefragt geradeso, als<br />

würde er die Antwort kennen, sintemal ich selbst zu diesem Moment<br />

gefühlt hatte wie ein Kind, das überzeugt ist, daß der Vater oder<br />

die Mutter zu jeder Zeit dessen Fragen wird beantworten. - - Die<br />

Ratten, die ich fange, hat er dann begonnen, fürchten sich nicht;<br />

die sind genauso tollkühn wie Soldaten, die im Fieber der Nächte<br />

keinen Unterschied mehr machen... Die quietschen wie kleine Kinder<br />

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am Spielplatz, hat er sich erklärt; ganz vergnügt sind die, wenn<br />

ich ihnen die Köpfe abbeiße... Aber irgendwo wird wer weinen,<br />

dieweil Du das tust, habe ich gesagt und an den zwölfjährigen<br />

Mozart gedacht, weil endlich immer irgendwo wer weint oder einer<br />

stirbt... - - Wir glauben ja, habe ich schließlich begonnen, daß<br />

der Tod etwas Einzigartiges ist, nämlich etwas für uns selbst<br />

Einzigartiges... Aber der Tod, fuhr ich sogleich fort, passiert<br />

millionenmal an jedem Tag! Ich weiß das, hat der Gepäcksjunge<br />

wütend gerufen, ich weiß das; daß nämlich bloß die Orte andere<br />

sind, ich weiß, daß das zu jedem Augenblick passiert und daß wir<br />

diese Orte-- Ja, habe ich ihm zugeraten, sintemal er sich<br />

unterbrochen, ja!? "Laßt jede Hoffnung, die ihr mich<br />

durchschreitet", hat er Dante zitiert geradeso, als würde er eine<br />

Wahrheit kennen, welche jede Zeit überdauert. - - Wir hatten dann<br />

geschwiegen vielleicht wie zwei Totengräber zum Ende der Schlacht.<br />

Hast Du Dir Schokolade gekauft, frug ich endlich, sintemal ich<br />

nicht mehr wußte, was ich über den Tod noch hätte fragen können<br />

oder behaupten. (Denn daß wir wissen von unserem Tod, ist zu<br />

manchen Momenten überhaupt die einzige Vorstellung, die uns<br />

bleibt.) Ich habe mich konskribiert, hat er geantwortet und dabei<br />

die Vorhänge zurückgezogen; der Herr Oberstabsarzt hat mir<br />

gratuliert-- Laß das, habe ich wütend gerufen, dieweil ich nach<br />

seiner Hand faßte, laß die Vorhänge geschlossen! - - Und die<br />

Toten, habe ich schließlich begonnen, was ist mit den Toten, deren<br />

Augen zerfressen sind von den Ratten... Die sind nicht anders tot<br />

als wir, hat er geantwortet in einem Timbre, das mich an den<br />

zwölfjährigen Mozart erinnerte, die sind nicht anders tot als wir!<br />

Ach so, habe ich agitiert, Du hast aufgegeben, wie ein Nichtsnutz<br />

hast Du einfach aufgegeben, einfach aufgeben und Dich gemeldet!<br />

Und Du selbst hast keine besseren Gründe als ich, hat er<br />

gelächelt; Du bist doch jenen Tod, der nur nach innen wirkt, schon<br />

längst gestorben. Aber ich habe nicht meinen Glauben verloren<br />

dabei, habe ich gerufen, und ich-- Du hast den Glauben ganz gewiß<br />

nie gehabt! hat er mich mahnend unterbrochen (und mich bedünkte<br />

plötzlich, daß es denn der Frieden sein müsse, über welchen ich<br />

falsch gedacht hatte). - - Der Oberstabsarzt, fuhr ich endlich<br />

fort, der Oberstabsarzt hat Dir also gratuliert... Der Herr<br />

Direktor hat sogar telegraphiert, hat er sich begeistert und war<br />

dann umhergesprungen wie ein Gassenjunge am Sonntagnachmittag<br />

vielleicht um 16 Uhr 10. Oh, habe ich gelächelt, oh, der Herr<br />

Direktor ist ein kultivierter kluger Mann... Das ist er wohl, hat<br />

der Gepäcksjunge geantwortet, das ist er bestimmt! Und ich selbst,<br />

habe ich gesagt, hatte vergessen, daß ich ihn liebe! Daß Du ihn<br />

liebst, fuhr er fort, und daß Du ihm dienst! - - So ist denn<br />

jener, welcher dient, habe ich konstatiert (und ich habe es ganz<br />

gewiß gewußt zu jenem Moment), der Edelste unter uns, sintemal<br />

der, welcher dient, zu sterben nicht mehr angehalten ist und-- Und<br />

auch zu sterben nicht mehr nötig hat! ergänzte der Gepäcksjunge.<br />

- - Zum Ende der Schlacht, hat er schließlich skandiert, nachdem<br />

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wir die Vorhänge zerrissen und die Fenster geöffnet hatten, zum<br />

Ende der Schlacht werden wir nicht vergessen sein! Und wir werden<br />

daliegen, fuhr ich fort, mit zerfressenen blutenden Augen... Und<br />

die Ratten werden über unsere Abdomina tanzen, hat er gelächelt,<br />

und fröhlich quieken dabei... - - In dieser Nacht hatte ich<br />

geschlafen und nicht geträumt währenddes, ich meine, ich hatte zum<br />

ersten Mal keine Erinnerungen wiederbeschaffen noch irgendwelche<br />

Schlußfolgerungen formulieren oder überhaupt irgend etwas<br />

verifizieren müssen. Ich hatte also geschlafen, vielleicht nicht<br />

anders unbeirrbar geschlafen als Kinder unbeirrbar schlafen in<br />

jenen Nächten, die dem Krieg vorausgehen. So war ich denn<br />

aufgewacht und agnoszierte abermals den zwölfjährigen Mozart neben<br />

jenem Bette stehen geradeso, als würde er die Totenwache halten.<br />

Was er wolle, schalt ich ihn sogleich, was er endlich wolle von<br />

mir? Daß ich nicht geträumt hätte, flüsterte er, nicht geträumt<br />

hätte von ihm und nicht von irgendeinem... Dafür daß ich schlafen<br />

kann, habe ich gesagt, habe ich nun mich selbst verkaufen müssen,<br />

und es reut mich nicht! Welchen Teil ich also hätte hergeben<br />

müssen für diese Stunden Schlaf, frug er und schien ehrlich<br />

betrübt. Den ganzen Teil, habe ich geantwortet, ja, den ganzen<br />

Teil habe ich eingetauscht! - - Ich stand jetzt vor dem Fenster<br />

und brannte eine Zigarette an, dieweil ich die Sonne staunte, als<br />

ich mit einemmal Mozarts Hand meine rechte Schulter karessieren<br />

fühlte in jener Art, die vielleicht den Müttern ähnelt. Zum Ende<br />

der Schlacht, hat er in mein Ohr geflüstert, wirst Du Dich<br />

erinnern an diesen Morgen...und Du wirst Dich an diese Stadt<br />

erinnern...und an ihre Straßen und Hinterhöfe... Vielleicht werde<br />

ich das, habe ich gelächelt; aber vielleicht werde ich auch nur<br />

wie ein zertrümmertes Käferchen im Bombentrichter liegen und<br />

schreien... Und dort unten wirst Du Dich nicht erinnern, frug er<br />

mich erstaunt. Am Grund dieses Trichters werde ich schreien, habe<br />

ich gesagt, und die verlorengegangenen Erinnerungen werden sich<br />

erfüllen in meinen duktilen lästernden schwingenden Hilferufen<br />

vielleicht nur insofern, als sie nicht anders zerbröckeln werden<br />

wie mein Körper! - - Im Foyer dann um 16 Uhr 10 vielleicht, wo die<br />

kleinen Geschwister der Soldaten an deren Uniformen schnupperten,<br />

traf ich den Herrn Direktor wieder, der eben dabei war, den<br />

Tornister dem Gepäcksjungen umzuschnallen. Ah, der Herr Hauptmann,<br />

rief er begeistert und winkte mich heran. Sie haben sich<br />

entschieden, hub er an und legte seine Hand auf die Schulter des<br />

Gepäcksjungen geradeso, als würde er ihn palpieren, sintemal ja<br />

der Krieg selbst schon ein Diener ist. Ich habe mich entschieden,<br />

hub ich an, ja, ich habe mich entschieden vielleicht nur deshalb,<br />

weil wir uns endlich immer für etwas entscheiden sollen... Es ist<br />

nicht mein Interesse, wann Sie sich entschieden haben oder wofür,<br />

Herr Hauptmann, begann der Direktor in durchaus amikaler Weise,<br />

sondern daß Sie sich entschieden haben! Ich nickte mit dem Kopf<br />

und bedeutete indes dem Gepäcksjungen, an meiner Statt zu<br />

antworten, sintemal ich selbst jetzt nicht mehr wußte, ob ich den<br />

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Direktor lieben müßte oder vielleicht nur davonlaufen hätte<br />

sollen. Aber der Gepäcksjunge schwieg, und mich bedünkte, daß er<br />

zu jenem Moment an die Ratten dachte, die er fangen hatte wollen<br />

und töten. - - - Diese Schlacht hatte begonnen. Die Soldaten<br />

beider Seiten sprangen aus ihren Gräben. Sie trafen sich irgendwo<br />

zwischen den Trichtern und den zerrissenen Feuerstellungen<br />

vergangener Frontlinien. - - Und dort, irgendwo in diesem<br />

Niemandsland von Blut und Lärm, war es geschehen, daß ich stürzte.<br />

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Sobald man vielleicht sagen wird über alles das, was ich<br />

geschrieben habe, daß es nicht zu verstehen sei, sollen Sie<br />

lächeln! Denn ich selbst werde auf den Grund der Seele getaucht<br />

sein, oder es zumindest versucht haben. Aber das sind ja Tiefen<br />

dort, wo ein Atmen nicht mehr möglich ist!<br />

Und der hatte es getan! Der war nach Hause gekommen an jenem<br />

Abend, war gewiß gelaufen den ganzen Weg zurück wie ein<br />

flüchtender General, und hatte dann noch nicht einmal...dann noch<br />

nicht einmal...noch nicht einmal...nicht einmal...einmal sie<br />

geküßt.<br />

Entwurf: HUNDERT HEKTOMETRISCHE TEXTE<br />

Was Liebe ist? Ich weiß es nicht! Was Verliebtheit ist? Es ist<br />

meine Art zu lieben!<br />

Ich hatte überlegt, den Tod in eine Plastiktasche zu räumen und<br />

endlich ebendiese Tasche irgendwohin zu tragen, um sie liegen zu<br />

lassen in einem Hinterhof vielleicht, oder überhaupt zu<br />

verstecken, und ich hatte es auch getan: ich hatte den Tod, oder<br />

vielmehr das, was zurückgeblieben war, in jene falbe Tragetasche<br />

von Plastik gesteckt, die – und ich weiß nicht warum – mich dafür<br />

unauffällig genug dünkte, nämlich diesen übriggebliebenen Teil<br />

darin irgendwohin zu tragen, wie man vielleicht einmal einige<br />

Kapseln Antidepressiva hastig aus der Rocktasche gezogen hatte im<br />

Supermarkt und endlich in eine ebensolche Tragetasche zwischen das<br />

Gemüse und das Fleisch hat fallen lassen geradeso, als wären´s<br />

drei, vier Münzen Restgeld, welches man in sein Portemonnaie zu<br />

stecken nicht in der Lage gewesen! - - Dieser Tod, oder vielmehr<br />

das, was tot war, war denn elf Tage oder länger – ich weiß auch<br />

das Ihnen nicht zu sagen – in meinem Zimmer gewesen, nämlich in<br />

meinem Alkoven war dieses Bündel Tod gelegen vielleicht wie ein<br />

Reisekoffer, der dorthin gebracht und in den dann doch nur zwei<br />

Oberhemden und ein Schlafanzug gepackt worden waren. Jedenfalls<br />

hatte ich selbst keine Reise geplant gehabt noch irgendwelche<br />

Gäste einquartiert; auch war ich während dieser elf oder mehr Tage<br />

nicht erstaunt darüber, daß jene Valise auf dem Bette lag und also<br />

einen zumindest leidlichen Schlaf bisweilen doch konterkarierte<br />

vielleicht wie eine Katze, die auf dem Kopfpolster zu liegen<br />

pflegt und die man davonzujagen sich nicht befleißigt, wiewohl man<br />

selbst an jedem Morgen aufwacht mit schmerzendem Rücken! Warum ich<br />

selbst also während dieser elf oder mehr Tage nicht agnosziert<br />

hatte, daß ein Tod, oder wenigstens etwas einem Tod Ähnliches,<br />

neben mir auf dem Bette zugegen gewesen war vielleicht auf die<br />

gleiche Weise, wie irgendwann einmal der Vater in einer Nacht, die<br />

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der Angst gehört hatte, in des zitternden schwitzenden febrilen<br />

Sohnes Bett gestiegen war, um dem die Hand zu fassen oder die<br />

schwingende Brust, vermag ich selbst Ihnen nicht zu erklären.<br />

Vielleicht hatte ich nur nicht gedacht gehabt, daß der Tod, oder<br />

eben das, was er zurückgelassen hatte, jemals mir selbst<br />

solcherart nahe sein würde können; sintemal es doch immer wieder<br />

über das Abhorreszierende passiert, von welchem wir nicht glauben,<br />

daß es sich tatsächlich neben uns legen würde mögen oder überhaupt<br />

ein Teil ist von uns, daß es neben uns gelegen hat oder ein Teil<br />

von uns gewesen war! - - Am elften Tag hatte ich das<br />

rekognosziert, oder vielleicht sogar später; aber rekognosziert<br />

hatte ich! Nämlich um 4 Uhr 10 war ich aufgewacht geradeso, als<br />

hätte ich plötzlich aufwachen m-ü-s-s-e-n, und war dann doch nur<br />

aufgewacht, weil mir schlecht geträumt hatte. Also war ich<br />

aufgewacht und hatte mit einem Male davon gewußt, daß ich den Tod,<br />

oder vielmehr das, was ebendieser Tod vor elf oder mehr Tagen auf<br />

mein Bett gelegt hatte, daß ich endlich irgend etwas werde tun<br />

müssen. Und ich hatte das getan: Ich hatte den Tod, oder eben das,<br />

was übriggeblieben war, in jene Tragetasche gesteckt und war dann<br />

davongelaufen, wiewohl ich noch nicht einmal wußte, wohin ich<br />

laufen würde sollen! - - Ich war durch die Straßen gelaufen, stob<br />

über Plätze und durch Hinterhöfe, und erinnerte mich indes an<br />

jenen Hieronymus Bosch. Was ich da mit mir trug, war aber tot,<br />

vielleicht genauso tot wie das Licht der Straßenlaternen, das auf<br />

dem Asphalt zersplitterte, als ich davon- und darüberrannte.<br />

Im Moment der Freiheit ist nichts anderes von Bedeutung als man<br />

selbst!<br />

Um uns selbst abzubilden sind die Dichter nötig, die in die Seele<br />

dringen und sich dabei trotzdem geradeso lächerlich aufführen wie<br />

ein Clown, der sich als Arzt verkleidet.<br />

Lieben kann man schnell einmal, heftig und kurz, ungestüm und ganz<br />

ohne Kraft.<br />

Ich bin die neue Kunst. Weil ich mich jeden Tag entscheiden muß am<br />

Morgen gegen den Tod, bin ich die neue Kunst; weil ich nicht<br />

schaffe sondern schreibe, weil ich nicht schreibe sondern<br />

hervorwürge, bin ich die neue Kunst.<br />

Vielleicht war es 1871 geschehen, vielleicht war es in diesem Jahr<br />

geschehen, in London, an irgendeiner Straßenkreuzung. Ich hatte<br />

eine Münze aus meiner Rocktasche gezogen und dem Schuhputzer, der<br />

dort gesessen war wie ein junger Artist in der Garderobe des<br />

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Vaters zum Beginn der Vorstellung, hingeworfen in jener Art, die<br />

ganz unmißverständlich klarmachte, wer ich sei. Während ich denn<br />

das geübte und höfliche wenngleich müde Kopfnicken des<br />

Schuhputzers goutierte vielleicht wie Oscar Wilde, stampfte ich<br />

meinen rechten Fuß auf den Schemel, vor welchem der Knabe saß,<br />

geradeso, als würde ich dort irgendwelches Ungeziefer zertreten<br />

wollen, und erklärte wütend, daß er gute Arbeit tun solle. Aber<br />

der Junge dünkte nicht wirklich erschrocken! Statt dessen begann<br />

er sein Werk, indem er zuerst den Staub von meinem Trotteur<br />

wischte und endlich das Leder bürstete; auch das richtige Fett<br />

schien er indes schon gewählt zu haben, sintemal er, als er die<br />

Bürste weggelegt, mit sicherem Griff aus einem Holzkistchen, in<br />

welchem allerlei verbeulte Dosen geordnet waren, eine Büchse<br />

herauslangte und öffnete. Dieses Fett ist verdorben, hub ich<br />

sogleich an, ich rieche das! Aber mein Herr, begann der Knabe,<br />

ich-- Sei still, habe ich ihn erbost unterbrochen; das ist ein<br />

schlechtes Fett und ich trage gutes Schuhwerk, Du Defraudant! Der<br />

Schuhputzjunge ließ die Dose fallen und begann zu schluchzen,<br />

sintemal er, wie ich dachte, mir ein zweites Mal zu widersprechen<br />

den Mut nicht hatte. Aber das Geld..., stotterte er und suchte in<br />

den Taschen seiner Weste nach jener Münze, die ich ihm gegeben,<br />

das Geld... Nun, es ist nur eine einzelne Münze, habe ich<br />

gelächelt und mich neben den Knaben gehockt. Die darfst Du<br />

behalten, habe ich erklärt und ihm eine zweite Münze in die<br />

zerrissene Rocktasche gesteckt, wofern Du mir erzählst von den<br />

Ratten und von Deiner Mutter, welche sich des Nächtens bestimmt<br />

fürchtet vor diesen Biestern nicht anders als Du oder ich. ...<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

a lles<br />

k ann ich<br />

r ichtig<br />

o rdnen - ja<br />

s taunt, daß ich das gewiß in den nächten<br />

t un kann, weils<br />

i mmer irgendein<br />

c harybdis<br />

h att befohlen -<br />

o bgleich<br />

n iemand,<br />

a lso<br />

k einer<br />

r ichtigstellen hat wollen, daß<br />

o hne die liebe<br />

s selten auch der<br />

t apf´re, nämlich<br />

i<br />

c<br />

h<br />

o bsiegen und noch nicht einmal ein<br />

n estchen wird bauen können.<br />

Der Hure, die mich fellierte, als denn jede Moral von mir selbst<br />

abgefallen war wie das vom Harmatan davongescheuchte Miasma der<br />

Leprosorien, hatte ich mich erinnert zu jenem Moment, als es<br />

geschah, daß ich einen festen unbeirrbaren Schritt zu tun mich<br />

mühte, sintemal die eigenen Träume geradeso unerträglich geworden<br />

waren wie verlorengegangene Erinnerungen.<br />

Wir müssen etwas tun, hatten sie wütend gerufen, etwas tun,<br />

nämlich irgend etwas! Und was müssen sie tun, habe ich entgegnet,<br />

also was? Irgend etwas, haben sie geantwortet, nämlich ganz gewiß<br />

irgend etwas! Aber warum, habe ich mich erstaunt nach einer Pause<br />

von vielleicht zwei Atemzügen, warum... Weil wir etwas geschaffen<br />

haben müssen, haben sie gesagt, nämlich zumindest etwas<br />

geschaffen! - - Was sie denn geschaffen hatten, frug ich, was sie<br />

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geschaffen hatten. Was ich selbst geschaffen hatte, wurde ich<br />

sogleich gefragt, was ich selbst getan hatte, daß ich so süffisant<br />

reden könne! Sag schon, haben sie gerufen, sag, was Du geschaffen<br />

hast! Nun antworte! - - Ich selbst war beflissen, habe ich<br />

schließlich begonnen, war bemüht zu verstehen...warum ich laufen<br />

muß, um den Tod nicht zu fürchten...ich meine, warum sogar ich<br />

etwas habe tun müssen nur deshalb, daß ich mich IHM nicht stellen<br />

muß, nämlich diesem Tod, der überall auf meinem Körper seine<br />

eiternden stinkenden Wunden hinterlassen hat...<br />

die auf den panzermaschinen<br />

ihren erinnerungen davonge-<br />

fahren waren, sind soldaten<br />

gewesen, nämlich mörder und<br />

totschläger waren das ge-<br />

wesen; und die haben noch<br />

nicht einmal vor den drei<br />

engeln ihre motoren ge-<br />

stoppt, die dort hinter<br />

dem schützengraben<br />

gelegen waren zur wache<br />

und die kein gebet noch<br />

irgendein wort gesprochen<br />

hatten nur deshalb, weils<br />

keine engel waren sondern<br />

geschwisterchen, allenfalls<br />

sogar das eigne brüderchen,<br />

das vorausgeeilt war, weils<br />

so schnell war wie der tod.<br />

Es hatte sich bewegt, ganz gewiß hatte es das! Bloß für zwei<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Atemzüge oder länger war ich unaufmerksam gewesen, hatte<br />

weggeschaut gehabt, als ich rekognoszierte, daß es sich bewegt<br />

hatte, nämlich bewegt haben mußte! ... Ich selbst habe ja das, was<br />

sich nun bewegt hatte, eigentlich für tot gehalten, als ich denn<br />

doch endlich, wie bereits notiert, erkennen mußte, daß es sich<br />

bewegt hatte. Es hatte sich bewegt! ... Aber was hätte ich tun,<br />

was hätte ich tun können? Es war doch eigentlich tot – und hatte<br />

sich dann doch bewegt. Das fürchtete ich! Denn es war das, was<br />

hätte tot sein müssen und was sich dennoch bewegt hatte. ... Und<br />

was erwartete es? Daß ich etwas tun würde müssen? Die Nacht war<br />

wie jede andere davor gewesen, nämlich diese Nacht, in der es<br />

geschehen war, daß ich das, was meine Augen für tot gehalten, sich<br />

habe bewegen sehen; es war eine Nacht wie davor: der Regen hatte<br />

um 4 Uhr 10 aufgehört, und ich habe schließlich wieder das kalte<br />

Blut gerochen, das von ebendiesem Regen davongeschwemmt worden war<br />

geradeso, als würde damit irgend etwas vergessen werden können.<br />

Und dann hatte es sich bewegt, und ich fürchtete es, ich fürchtete<br />

mich. Denn diese Nacht war wie jede Nacht davor gewesen; es hätte<br />

also in dieser Nacht nicht passieren dürfen, daß sich dort etwas<br />

würde zu bewegen beginnen. ... Das waren gewiß Gespenster! Nämlich<br />

die Gespenster von Soldaten waren das, vielleicht waren das die<br />

umherirrenden Seelen der getöteten Soldaten, die sich dort<br />

bewegten wie erschöpfte Tänzer am Parkettboden! ...<br />

wenn du ich wärest<br />

und könntest über<br />

monde laufen,<br />

sag,<br />

wenn du ich wärest<br />

und könntest das!?<br />

Ich kann das nicht vidieren, wovon ich hier berichte, weil nämlich<br />

das, was sich ereignet hatte vielleicht zwei Meter vor jenem<br />

Steilabfall, in welchen man zu stürzen geplant, keine Bedeutung<br />

hat dafür, daß man denn doch nicht hinabgefallen war, um endlich<br />

irgendeinem zu erzählen von diesem Abenteuer, das keines ist.<br />

Das waren elf gewesen, nämlich elf Kreaturen. Und ich selbst war<br />

die zwölfte und übelste dieser Kreaturen! ... Zu diesem Moment war<br />

ich der eine Punkt im Universum, war ich der Beweis einer<br />

Newtonschen Konjektur. Und es hat mich nicht bekümmert, daß ich<br />

von diesem Punkt als den falschen Satz einer widerlegten<br />

Newtonschen Theorie gewußt hatte. Denn ich selbst war zu diesem<br />

Moment von jeder Theorie befreit! Und o, ich war der Punkt im<br />

Universum!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Wir hatten auf der Straßenkreuzung gehalten, vielleicht in dem<br />

Glauben, daß wir überfahren würden von einem Automobil oder daß<br />

uns die Kugel eines Soldaten tötete, dem zwei Plünderer zu<br />

erschießen aufgetragen war. Allenfalls würde uns dort der<br />

einstürzende Glockenturm einer Kirche erschlagen, oder wir würden<br />

überhaupt bloß deshalb sterben, weil wir uns der Rasierklingen<br />

erinnerten, die wir irgendwann einmal in unsere Rocktaschen<br />

gesteckt hatten.<br />

Max kaxx schreibex oder sterbex. Schreibex kaxx max oder sterbex.<br />

In der Wehmut wird das Schweigen Gottes hörbar!<br />

sehe n<br />

höre n<br />

fühle n<br />

rieche n<br />

schmecke n<br />

im aufwachen, am morgen, ist es der tod. auf dem weg ins büro,<br />

durch den park, ist es der tod. vormittags, in der küche, bei<br />

einem glas limonade und einer zigarette, ist es der tod. im zimmer<br />

der vorgesetzten, oder im zimmer der arbeitskollegen, oder am<br />

telephon, oder auf der toilette, ist es der tod. zu mittag, in der<br />

werksküche, oder auf der straße, oder in den büchern, ist es der<br />

tod. am nachmittag, vor dem computer, oder in der küche, oder im<br />

dritten stock, ist es der tod. am abend, im park oder in der<br />

straßenbahn, auf dem weg zurück, ist es der tod. im kühlschrank,<br />

oder im backofen, ist es der tod. über den manuskripten, oder vor<br />

dem radiogerät, oder in den büchern, oder in den erinnerungen, ist<br />

es der tod. im einschlafen, am abend, ist es der tod.<br />

Tod und Wollust sind Brüderchen und Schwesterchen. Die halten sich<br />

an den Händchen, weil sie den Vater suchen und die Mutter. Den<br />

Vater und die Mutter! ... Mich selbst suchen sie, und ich fürchte<br />

mich vor ihnen, wiewohl sie Kinder sind, die den Vater suchen und<br />

die Mutter. Den Vater und die Mutter!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

als ob ich<br />

als ob ich tot wär,<br />

als ob ich verrückt wär<br />

oder zerschunden...<br />

als ob ich<br />

das wär...<br />

Als ich geträumt hatte, war ich gewiß irgendeiner gewesen. ...<br />

Aber was sich ereignet hatte, war vielleicht nicht eben deshalb<br />

geschehen, w-e-i-l es geschah. Denn was passiert war, war<br />

geschehen an irgendeines Statt. ... Ich selbst war gewiß<br />

irgendeiner gewesen, als es passierte, daß denn einer vom Tod<br />

gesprochen. Vielleicht war ich selbst dieser eine; aber vielleicht<br />

war jener bloß ich... Wer weiß das schon zu sagen, was einer<br />

ist! ... Daß irgendeiner er und ich gewesen war, hatten wir<br />

jedenfalls nicht zu erklären vermocht, nicht als es geschah, nicht<br />

als wir uns erinnerten; der nämlich war ich und der war er. Und<br />

vielleicht war der sogar es oder du oder überhaupt wir! Allenfalls<br />

war der auch keiner.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

s ieh<br />

t od,<br />

e inmal, nur dies eine mal sollst du<br />

r ichtig<br />

b ekennen...und dich vielleicht<br />

e rinnern an die<br />

n ächte,<br />

i n welchen die<br />

s onne dir<br />

t rotzte! -<br />

w eil<br />

i ch<br />

d arf´s jetzt<br />

e hrlich<br />

r ichtigstellen:<br />

s iehst du, daß die<br />

p laneten ihre<br />

r unden um jene sonne<br />

u nverdrossen schreiben, weil´s kein<br />

c anossagang ist, dem zu dienen, der<br />

h ellerleuchtet ist und unbeschwert?<br />

An jenem Morgen hatte ich mich entschlossen! Ich war aufgewacht<br />

geradeso, als hätte ich aufwachen müssen, um rechtzeitig im Büro<br />

zu sein. Aber es war ein Sonntag, als ich an jenem Morgen so ganz<br />

entkräftet erwachte nach vielleicht sechs Stunden Schlaf. - - In<br />

dieser Nacht hatte ich geträumt, und vielleicht hatte ich schon<br />

den Entschluß formuliert gehabt, von welchem ich gesprochen. Denn<br />

ich hatte von ihnen geträumt, ich meine, ich hatte von diesen<br />

Engeln geträumt. Und o, das waren schöne Kerlchen, über welche<br />

jener Traum sich zeichnete... Die waren gewiß so schön wie...<br />

Genauso schön waren die wie Ihr Liebster, nicht anders schön wie<br />

Ihre Schönste waren die... - - Ich hatte mich also entschlossen an<br />

jenem Morgen, und vielleicht hatte ich sogar seit ehedem jenen<br />

Entschluß gefaßt gehabt und das bloß nicht gewußt oder eben nur<br />

nicht wahrhaben wollen... - - Ich frühstückte, ich wusch den<br />

Körper, ich kleidete ihn. Aber das war an jenem Morgen gewiß nicht<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

mit größerer Aufmerksamkeit als ansonst, nicht anders als<br />

vielleicht an irgendeinem Tag getan! - - Der Körper betrat die<br />

Straße, ging ruhigen festen Schritts, ohne daß ich selbst wußte<br />

wohin. Vor dem Schaufenster eines Ladens blieb der Körper stehen<br />

und brannte eine Zigarette an. Aber in Wirklichkeit prüfte der<br />

Körper die Luft! Und der Körper nahm das Aroma, nach welchem er<br />

schnüffelte, tatsächlich wahr, nämlich fünf oder sieben Partikeln<br />

in gewiß tausend Kubikmetern Luft. Der Körper lachte, ich meine,<br />

der tat zumindest so, als würde er lachen, um endlich nichts<br />

anderes als diesen Duft einzusaugen; und für einen Augenblick<br />

bedünkte es sogar, als würde der Körper wieder zurücklaufen<br />

wollen, nämlich davonlaufen. Doch der lief nicht zurück noch fort!<br />

Statt dessen ging der Körper weiter, in unbeirrbarem gleichwohl<br />

unbeholfenem Takt. - - Mit jedem Meter, den der Körper<br />

zurücklegte, habe ich selbst mich einverstanden erklärt und nichts<br />

getan, ihn aufzuhalten. Jetzt wußte ich denn auch, daß der Körper<br />

zu den großen Plätzen und Chausseen strebte, nämlich zu jenen<br />

Orten ging der Körper, wo die Galerien und Kirchen oder die<br />

Kaffeehäuser gebaut worden waren, sintemal sich dort an jenem<br />

Morgen ein intensiver essenzenhafter Duft von Engeln gesammelt<br />

hatte. - - Der Körper zitterte, als er die Seitenstraße verließ<br />

und den Platz vor dem Dom betrat, über welchen der Körper dann<br />

spazierte wie ein Spion. Und der Körper war ein Spion! Der war<br />

gewiß nicht auf diesen Platz gelangt, um auf den Turm des Doms zu<br />

steigen oder um in einem der Kaffeehäuser zu verweilen für zwei<br />

Stunden oder länger. Statt dessen brannte der Körper abermals eine<br />

Zigarette an und inhalierte jenen pulpösen eindeutigen engelhaften<br />

Duft mit einer Gier, die endlich auch mich selbst betäubte. Jetzt<br />

sei es getan! - - Der Körper hatte es agnosziert, dieweil ich<br />

selbst einer Verzückung anheimfiel, die keinen Widerspruch mehr<br />

gestattete, sintemal das Engelchen, welches wir beobachteten,<br />

tatsächlich zufrieden lächelte. Sogleich stellte der Körper dem<br />

Engel nach, und in einem Moment der Unaufmerksamkeit raubte der<br />

Körper den Engel; wie ein Zauberer warf er sich über den und war<br />

entschwunden mit ihm, dieweil ich selbst noch dachte, daß wir<br />

geträumt hatten von ebensolchen Engeln und auch geschworen, denen<br />

kein Leid zu tun! - - Nun war der Engel des Körpers festgesetzter<br />

Gefangener. Und ich selbst wiederum dünkte gefangengenommen von<br />

diesen beiden! Denn was der Körper getan hatte, konvenierte mir,<br />

wie mir ja auch die Tatsache, einen Engel zu besitzen, gefiel. Und<br />

o, ich gehörte beiden! - - Der Körper kniete sich neben den Engel<br />

und berührte zuerst dessen Seiten geradeso, als würde Gott selbst<br />

das geschaffene Werk betasten, und als der Körper noch die Hand<br />

auf die Stirnseite des Engels legte, schien alles Geschaffene aus<br />

diesem Geschöpf hervorgegangen. - - Und o, als der Körper vor<br />

jenem Engel sich niederwarf, habe ich selbst nicht einmal gedacht<br />

gehabt, daß wir vielleicht das falsche tun! Denn der Engel – das<br />

wußte ich nun wohl – schmeckt unserer Seele so ungeläufig und zart<br />

wie der erste Schneekristall auf der Zunge eines Kindes.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

wir hatten ein liedchen gesungen, und damit eine lüge erlaubt. wir<br />

hatten nicht nein gesagt und nicht um verzeihung gebeten. wir<br />

hatten bloß gesungen. - und wir hatten denn auch nur gesungen, und<br />

damit eine lüge erlaubt.<br />

Daß ich dich ficke, deshalb lieb ich dich...!<br />

hier war euch das kranke begegnet. das kranke war euch begegnet,<br />

als ich vor dem richter stand; es hat den kopf geneigt gehabt und<br />

war angesehen worden ohne jedes mitleid. das ist das kranke! hat<br />

der richter begonnen. - - es soll sprechen, hat der staatsanwalt<br />

gerufen, das kranke soll sprechen, daß es nicht sagen kann, wir<br />

hätten es nicht angehört; es soll sprechen. das kranke soll<br />

sprechen! hat der richter wiederholt. - - das kranke, habe ich<br />

schließlich gesagt, weint nicht anders als ihr und träumt nicht<br />

anders als ihr. vielleicht, fuhr ich fort, ist es anders einsam<br />

als ihr, aber es weint gewiß nicht anders. das kranke soll nicht<br />

deklamieren, hat der richter gerufen; das kranke soll sprechen!<br />

das kranke hält uns zum narren..., hat der staatsanwalt empört<br />

geflüstert. das kranke weint wie ihr, habe ich wiederholt; das<br />

kranke hat eine geschichte-- das kranke soll sprechen, hat der<br />

richter dazwischengerufen, allenfalls das kranke mit einem<br />

ordnungsruf zu raisonieren sei! - - das kranke, hat der<br />

staatsanwalt aus den akten zitiert, ist seit zwölf jahren<br />

amtsbekannt: das kranke ist klug wenngleich obstinat; es liest<br />

bücher und schreibt selbst ideologische pamphlete genauso wie<br />

pornographische schriften; das kranke gibt als beruf<br />

schriftsteller an, obschon es sich als sachbearbeiter verdingt; es<br />

besucht theater und oper; das kranke gehört zu keiner anerkannten<br />

religionsgemeinschaft und ist überhaupt weder als partei- noch als<br />

vereinsmitglied registriert. das kranke soll diese angaben<br />

bestätigen! hat der richter gesagt. das kranke bestätigt, habe ich<br />

gerufen; aber-- das kranke soll schweigen! hat der richter<br />

gerufen. - - das kranke, hat der richter begonnen, ist der<br />

oneirologischen unzucht sowie der verherrlichung der phantasie<br />

angeklagt. das kranke, fuhr der staatsanwalt fort, ist im besitz<br />

einschlägigen photographischen traummaterials; das kranke hat die<br />

vorsätzliche beschaffung ebendieses materials bereits gestanden.<br />

das kranke soll sprechen! hat der richter gesagt. das kranke ist<br />

einsam, habe ich geantwortet, und es benötigt jede art von<br />

schönheit, diese einsamkeit zu verwinden. das kranke lügt! hat der<br />

staatsanwalt wütend gerufen. das kranke, hub er sogleich an, ist<br />

bei eindeutigen traumhandlungen beobachtet worden! das kranke soll<br />

sprechen! hat der richter gesagt. weiß es nicht, hat der<br />

staatsanwalt gefragt, daß es krank ist!? das kranke soll sprechen!<br />

hat mich der richter aufgefordert. was empfindet es beim<br />

phantasieren, frug er. das kranke ist verliebt, habe ich<br />

geantwortet, und es lächelt. das kranke, hat der staatsanwalt<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

entrüstet gerufen, spricht von der liebe geradeso wie ein krankes!<br />

- - das kranke, hat der staatsanwalt schließlich begonnen,<br />

verwechselt die liebe mit dem begehren. das kranke, habe ich<br />

sofort reagiert, kennt keine liebe, die ohne das begehren<br />

auskommt. das kranke will allein die erlösung, hat der<br />

staatsanwalt erklärt, und keinesfalls nur phantasieren! - - ob es<br />

weiß, was es tut, hat der staatsanwalt gefragt, ob es das weiß.<br />

jedenfalls weiß das kranke sehr gut, habe ich geantwortet, was es<br />

irgendwann wird tun müssen. was es endlich sagen will, hat der<br />

richter gefragt. das kranke wird wissen müssen, wie das ist, habe<br />

ich geflüstert. das kranke will die erlösung! hat der staatsanwalt<br />

insistiert. - - das kranke, habe ich schließlich begonnen, will<br />

von dem schönen kosten, um sich des schönen zu erinnern. das<br />

kranke wird sich gewiß ein einziges mal erinnern, hat der<br />

staatsanwalt entgegnet, und dann immer wieder kosten von dem<br />

schönen; das kranke ist unersättlich! das kranke soll sprechen!<br />

hat der richter gesagt. vielleicht ist es wahr..., habe ich<br />

geflüstert. und warum tut es das, hat der richter gefragt. weil<br />

sich das schöne verwandelt, hat der staatsanwalt an meiner statt<br />

geantwortet, weil das schöne älter wird und seine farbe wechselt!<br />

ja, habe ich wütend gerufen, ja, weil das schöne an irgendeinem<br />

tag alles schöne abgestoßen haben wird, werde ich selbst auch das<br />

nächste schöne verlangen! - - das kranke, hat der staatsanwalt<br />

begonnen, hat uns seine pleonexie offenbart. das kranke soll<br />

sprechen! hat der richter gesagt. das kranke soll sterben! hat der<br />

staatsanwalt dazwischengerufen. das kranke stirbt an jedem tag,<br />

habe ich sofort reagiert. - - das kranke, hat der staatsanwalt<br />

gesagt, versucht uns zu täuschen; denn das kranke weiß, daß es<br />

nicht unseres mitleids noch unserer freundschaft würdig ist! das<br />

ist vielleicht sogar richtig..., habe ich geflüstert. - - das<br />

kranke will uns also beweisen, frug der staatsanwalt, daß es<br />

lieben kann ohne zu begehren!? das kranke tut nichts anderes, habe<br />

ich gerufen, das kranke tut ja nichts anderes, als eine liebe<br />

auszuprobieren, die ohne jedes begehren passiert-- nun will uns<br />

das kranke responsabel machen, hat der staatsanwalt unterbrochen,<br />

will es das? das kranke soll sprechen! hat der richter gesagt. das<br />

kranke, habe ich geantwortet, ist ein gefangener in einer welt des<br />

kordsamtes, des leinens, des garns, des saffians, des<br />

verlours...es ist eine welt der stoffe, eine welt der<br />

schauspieler. das kranke soll sprechen! hat der richter gesagt.<br />

das kranke, hat der staatsanwalt gerufen, düpiert uns! - - das<br />

kranke soll sprechen! hat der richter gesagt. das kranke wird<br />

gehört, habe ich gesagt, aber das kranke wird nicht geheilt. das<br />

kranke leugnet das kranke! hat der staatsanwalt gejauchzt. das<br />

kranke soll sprechen, hat der richter wütend gerufen, andernfalls<br />

es uns es zu diagnostizieren zwingt! - - wie soll das kranke, habe<br />

ich schließlich begonnen, wie soll es das schöne beschreiben, wenn<br />

es kein dichter ist und kein bildhauer... das kranke, fuhr ich<br />

fort, kennt nur die sehnsucht, die wie der hunger ist oder<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

wie...wie die wahrheit-- die wahrheit! lästerte der staatsanwalt.<br />

ja, habe ich sogleich gerufen, ja, ebenso wie die wahrheit, weil<br />

die nämlich nicht anders in unserem körper schmerzt als jene<br />

sehnsucht! das kranke soll sprechen! hat der richter gesagt. daß<br />

wir sterben, habe ich gesagt, da können wir sagen, daß wir´s<br />

wissen... wer aber wollte nicht dem tod davonlaufen, fuhr ich<br />

fort, indem er sich verliebt!? - - ich nun kenne keine andere<br />

liebe als jene, für welche ich angeklagt, habe ich gesagt, die den<br />

tod bezwingt zumindest für einige atemzüge oder länger. doch warum<br />

das so ist, habe ich gesagt, vermag ich vielleicht genausowenig<br />

anzunehmen wie, daß es so ist! denn eine liebe, fuhr ich fort, die<br />

nicht weiß, wem sie gehört, noch wessen ganzes sie ist, wählt<br />

nichts sonst als ein weiteres mal! - - sie hatten mir indes an<br />

beiden händen jene fältchen haut zerschnitten, welche zwischen den<br />

fingern wachsen, und ich habe gedacht, daß sie das getan hatten<br />

vielleicht nur deshalb, daß ich die nicht mehr über die seiten der<br />

engel, von welchen mir träumt, zumal sie zuhörer und nutznießer<br />

gottes sind, bewege. aber der staatsanwalt, welcher selbst das<br />

messer achtmal zwischen meine finger gelegt hatte, hat noch nicht<br />

einmal gelächelt dabei. - - so saß ich denn da mit zerschnittenen<br />

blutenden händen und habe von meinen nächtlichen träumen erzählt,<br />

dieweil das blut von den fäusten tropfte und mich an hamlets<br />

blutende tödliche wunde erinnerte.<br />

die erste nacht<br />

war<br />

der nächste tag<br />

war<br />

gestern gewesen<br />

war<br />

also irgendwann<br />

war<br />

nämlich nicht<br />

gewesen<br />

wenn wir sterben, habe ich gefragt, warum sollen wir uns erinnern.<br />

daß ich sterbe, habe ich gesagt, da weiß ich ganz genau, was für<br />

träume das sein werden, was für träume und was für schreie,<br />

nämlich keine träume und bloß noch schreie.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

und die stunden,<br />

wer wollte die nicht<br />

kürzen, sie zu überdauern?<br />

das<br />

war<br />

ich<br />

war<br />

wer<br />

war überhaupt nicht<br />

ich<br />

Die Liebe überdauert den Tod nur insofern, als sie vielleicht<br />

größer wird aber gewiß nicht klüger!<br />

Entwurf:<br />

n ich t die epheben gleiche n kinder dort haben das<br />

endende me in er be gier de zurückverlangt wie ab und ante<br />

poten tat en zum gewor den en augen blick der inthronisation!<br />

nächstes jahr, habe ich gesagt, im nächsten jahr. aber ich habe<br />

nicht einmal gewußt zu jenem moment, als ich davon sprach, ob das<br />

tatsächlich passieren würde, weil nämlich währenddes so vieles<br />

andere passieren kann, daß es unstatthaft ist, von einem anderen<br />

augenblick als diesem, zu welchem man gelacht hatte oder<br />

verzweifelt war, zu sprechen.<br />

die zimmerwände sind schmutzig, vielleicht ist es aber auch nur<br />

der sud von verlorengegangenen trepanierten und sodann verklebten<br />

erinnerungen, der an ihnen haftengeblieben war. im gardinenstoff<br />

hängen leblose insekten, die, auf der suche nach einem weg ins<br />

freie, bestimmt unermüdlich mit ihren saugrüsseln dagegen<br />

angegangen waren, vielleicht wie panzer, die man schon als<br />

ahnungsloses bübchen erfolglos gegen bunkerwände geschickt hatte.<br />

und die dämmerung, die man abermals beobachten könnte, wenn man<br />

nicht ohnehin bereits von ihr wüßte, scheint eine krankmachende<br />

sonne anzukündigen. die schatten auf den wänden, die indes<br />

passieren, sind vielleicht die schatten dieser erinnerungen,<br />

welche sich wie moribunde tänzer vor einem leeren zuschauerraum<br />

bewegen.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

neun. wir schweigen, weil wir ich sind. weil ich du nicht mehr<br />

bin, schweigen wir. und ich beginne das zu vergessen, was vor dem<br />

schweigen war. neun.<br />

neun..., neun...<br />

neun?<br />

neun, neun...<br />

neun? neun???<br />

neun! neun...<br />

neun!<br />

nein.<br />

Es wirkt wie ein Zauber, wie eine Verzauberung! Auf den Plätzen,<br />

die ganz gewiß keine Magier sind, oder in den Hinterhöfen, wohin<br />

sich vielleicht nicht einmal die Eskamoteure verirren, passiert<br />

es, daß ich verzaubert werde. Aber welche Art von Zauber das ist,<br />

weiß ich Ihnen nicht zu sagen, weiß nicht zu sagen, ob´s ein<br />

Bannzauber ist oder ein Schauspiel! Das weiß ich nicht zu sagen,<br />

weiß nicht, welche Zeilen geschrieben stehen in dem Zauberspruch,<br />

weiß nicht zu sagen, ob ich davonlaufen soll oder lachen! - - Das<br />

weiß ich nicht, weiß nicht, ob da der Mephistopheles befohlen hat<br />

oder eine Art von Cherub! Nur das weiß ich zu berichten, daß es<br />

mich erstaunt und mir zumeist gefällt. Und wie unsere Kinder<br />

vielleicht staunen über einen Zauberer geradeso, als würde der<br />

eine Art von Wahrheit kennen, die allein seinen Zuschauern<br />

verborgen bleibt, weiß ich selbst nun nicht zu sagen, warum mir<br />

diese Gespenster gefallen, weiß nicht zu sagen, warum es mich<br />

verlangt nach ihnen, die doch mit den Zauberern nichts anderes zu<br />

schaffen haben als jemand zu schaffen hat, der einen Magier<br />

staunt. - - Das ist ein Zauber, das ist eine Verzauberung! Aber<br />

ich weiß Ihnen nicht zu sagen, warum es passiert, weiß nicht zu<br />

sagen, wie es passiert oder wann, wiewohl es jedesmal passiert.<br />

Und o, das weiß ich zu sagen, daß es nämlich zu jedem Tag<br />

passiert!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

ja wie geschmiedeter<br />

verschlossen<br />

darauf<br />

und nebenher<br />

wie geschmiedeter<br />

heißgekochter<br />

geschockt<br />

und starr<br />

gekochter<br />

wie geschmiedeter<br />

Ich hatte so getan, als würde ich spazierengehen, so getan, als<br />

würde ich von irgendwo nach dort wollen ganz ohne Vorbehalt. Denn<br />

ich mußte ja zu jedem Moment so tun, als würde ich bloß das tun,<br />

was die anderen tun, nämlich spazierengehen an einem<br />

Sonntagnachmittag vielleicht um 16 Uhr 10. Vor dem Dom zum<br />

Beispiel, wo die Kinder der Touristen photographiert wurden, mußte<br />

ich so tun, als würde ich pflichtschuldigst stehenbleiben für jene<br />

fünf oder sieben Sekunden des Photographierens, obschon ich nur<br />

deshalb stehengeblieben war, weil auch diese gespensterhafte<br />

Gestalt, die ich agnosziere zu jedem Augenblick und überall,<br />

abgelichtet werden sollte! Auf den Plätzen um den Dom wiederum<br />

mußte ich so tun, als würden mir die Betrügereien der<br />

Zauberkünstler gefallen, wiewohl ich nichts anderes getan, als<br />

jene Gestalt zu beobachten, die dort unbemerkt zwischen den<br />

Zuschauern stand. O dieses Schauspiel!<br />

Das Geld ist der Hebel des Archimedes. Daß die Moral<br />

davongeschleudert würde und nur ich selbst übrigbliebe, ich selbst<br />

und Gott, dessen Locken mich zuweilen genauso erebisch bedünkt wie<br />

Sein Lachen! ... Ich hatte also diesen Hebel gebaut und endlich<br />

befestigen können an jenem einen Punkte, der vielleicht nicht<br />

weniger unbezwingbar ist als meine Gier dauernd. Und ich hatte<br />

diesen Hebel angesetzt und also die Moral zertrümmert wie eine<br />

falsche Vorstellung. ... Die Moral war denn hinfort, und ich<br />

selbst bin zu jenem Moment vielleicht so frei gewesen wie Ikarus,<br />

als er seine Schwingen erprobte zum ersten Mal. Aber dieser<br />

Ikarus, der stürzte, war aufgefangen worden von mir selbst<br />

geradeso, als gelte es, jene Kilogramm an Sünde davonzutragen,<br />

welche aus dem Orkus geschöpft worden waren von einem, der das<br />

Himmlische prophezeit und dem Mephistopheles dient.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Todesvariationen:<br />

Hitler war tot. Aber sein Sohn, der zwölfjährige Siegmund, war von<br />

alliierten russischen Soldaten aufgespürt worden in einem<br />

Kellerabteil der Göringschen Villa. Der Knabe wurde verhaftet und<br />

Marschall Schukow vorgeführt. Wir schicken Dich in den Gulag,<br />

Fritzenjunge, oder wir liefern Dich an die Amerikaner aus, sagte<br />

der und bedeutete dem Jungen, sich zu entscheiden. Aber Du willst<br />

ganz gewiß zu den amerikanischen Soldaten..., fuhr der Marschall<br />

unbeirrbar fort, und der Junge, der ein schüchternes Kind war,<br />

nickte vorsichtig mit dem Kopf. - - Drei Wochen später, im Juni<br />

1945, wurde ebendieser Knabe einem Trupp amerikanischer<br />

Panzergrenadiere übergeben. Es war ein formloser inoffizieller<br />

Akt. Der Kommandant der amerikanischen Panzerstaffel, Sergeant<br />

Pattons, salutierte vor seinem russischen Visavis, versuchte sich<br />

in belangloser militärischer Konversation, grüßte ein zweites Mal<br />

und schleifte den Jungen zu seinem Jeep. - - Dieser Sergeant<br />

Pattons war mein vorgesetzter Offizier. Er war neununddreißig<br />

Jahre alt und Soldat geworden, weil man auf dem Schlachtfeld keine<br />

Servietten braucht und kein Scheißpapier! Aber so genau wußte ich<br />

das damals auch nicht. Ich wußte nur das, daß nämlich der Junge,<br />

den der Sergeant an jenem Sonntagnachmittag um 16 Uhr 10 in meine<br />

Stube führte, ein höfliches senibles Kerlchen war! - - Motts, hat<br />

der Sergeant gesagt, nachdem er den Knaben auf meine Pritsche<br />

geworfen hatte wie einen Tornister, Motts, das da ist der Bastard<br />

eines verdammten Hurensohns, Sie verstehen. Ich lächelte<br />

indigniert, zumal es ein liebes, zuvorkommendes Bübchen war, von<br />

welchem der Sergeant solcherart despektierlich sprach. Motts, Sie<br />

verfluchtes Schwein, flüsterte der Sergeant, ich will, daß Sie<br />

diesen deutschen Scheißkerl fordern, verstehen Sie, ich will, daß<br />

Sie ihn f-o-r-d-e-r-n... Natürlich wußte ich schon im Augenblick,<br />

was der Sergeant eigentlich wollte von mir selbst. Ist das ein<br />

Befehl, frug ich ihn deshalb durchaus selbstgefällig, dieweil ich<br />

das Gesicht des Jungen betrachtete geradeso, wie das vielleicht<br />

nur Zuträger, Henkersknechte oder die Briganten der Nachhut tun.<br />

Sie haben drei Tage! hörte ich den Sergeant antworten, als er aus<br />

dem Zimmer ging. Länger hat sowieso noch keiner durchhalten...,<br />

habe ich ihm nachgerufen und vorsichtig nach meinem Seitenmesser<br />

gegriffen. - - Im Krieg, habe ich irgendwann gedacht, ist es das<br />

Schweigen, durch das wir unsere Phantasien verwirklichen; ich<br />

meine, wir kaufen die Realität unserer Phantasien, indem wir über<br />

die der Kameraden schweigen. Auch der Sergeant hatte seine<br />

Phantasien, und ich selbst werde schweigen darüber, weil das der<br />

Preis ist, den ich zahle.<br />

Da existiert eine Art von Liebe, hub sie an, die vielleicht nichts<br />

anderes erlaubt als Schmerz... Verstehst Du, erklärte sie, gerade<br />

in diesem Moment beweist es sich: nämlich ich sehe Deine Glans,<br />

über welche diese köstliche Flüssigkeit sich breitet und die dabei<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

wie ein Eiskristall glitzert... Ich meine, ich sehe es, ich rieche<br />

es, fuhr sie fort, und ich weiß, daß das alles irgendwann vorbei<br />

sein wird, und dieweil sie das sagte, hat sie meine Seiten berührt<br />

geradeso wie ein Bildhauer das geschaffene Werk, obgleich sie es<br />

hätte zerschlagen können. Aber ich will mich nicht, fuhr sie fort,<br />

bekümmern lassen von irgendwelchen geschlechtslosen Dämonen, die<br />

nichts wissen von der Schönheit in einem Moment wie diesem, denn<br />

ich möchte jetzt nur neben dir liegen, und ich weiß dabei, daß ich<br />

heute noch nicht einmal in jenen Zustand seltsamster Dämmerung<br />

werde flüchten müssen, den ich ansonsten aufzusuchen angehalten<br />

bin, sintemal von Engeln zu träumen in diesen Stunden keine<br />

Notwendigkeit ist, wo ein solcher Engel ruht neben einem selbst.<br />

sag<br />

warum<br />

mich<br />

wundert<br />

daß<br />

einer<br />

bloß<br />

jener<br />

tot war<br />

Der Tod war ganz nah. Plötzlich war der so nah gewesen, als hätte<br />

er seine Hände auf meine Brust gelegt, so nah war der gewesen, daß<br />

ich ihn atmen hörte, so nahe bei mir, daß ich seine Wimpern zu<br />

zählen vermochte. Der Tag wird kommen, an dem das passiert, an dem<br />

der mich aufsuchen wird wie eine Geliebte! Und wenn dieser Tag<br />

passiert, wird endlich irgendeiner er, nämlich irgendeiner, und<br />

irgendeiner ich selbst, also irgendeiner, gewesen sein, vielleicht<br />

wie der Duft von irgendwelchen Erinnerungen, den dann irgendein<br />

Körper inhaliert haben wird.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

widerstand eigentlich<br />

wir lassen es geschehen, und bisweilen<br />

dünkt sogar, als gefiel das uns, weils<br />

ein tun ist und nicht der wagemut, daß<br />

unser schweigen die schuld nicht kümmert.<br />

also betrachten wirs ganz ohne vorbehalt,<br />

obschon wir schlecht schlafen darüber und<br />

es geschehen lassen ein zweites mal, sich<br />

vervollkommnen, entschließen an unser statt.<br />

nicht bricht und bricht dies schweigen; und die<br />

schuld wird gleichkommen dem hohelied gewes´ner<br />

veranlassung.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

"Über Monde"<br />

Ein Leseheftchen<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Prolog<br />

Unheimliche Geräusche, überall da, ein Surren, ein Zittern, ein<br />

Quietschen und Knarren, überall um ihn herum, ein Klopfen und<br />

Schlagen, ein Rascheln, ein Ziehen, ein Knacken, unheimlich in<br />

dieser Nacht, überall in dieser Nacht, ein Wehen und Bewegen, ein<br />

Bohren, ein Graben und Knirschen, überall in dieser Nacht, vor und<br />

hinter und unter ihm, ein Hecheln, ein Stöhnen, ein Keuchen, ein<br />

Speicheln und Trenzen, ein Lecken und Schmatzen, ein Fletschen,<br />

ein Knurren, unheimlich, überall.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

In der Nacht war ich über Monde gelaufen. Und ich habe gefühlt in<br />

diesen Stunden, daß die Sonne mich an irgendeinem Morgen<br />

verleugnen wird und verleumden. Aber ich war nur über Monde<br />

gelaufen; und bereits das hatte genügt, die Sonne zu verärgern.<br />

Denn ich war auch in der zweiten Nacht über Monde gelaufen, und<br />

ich hörte die Sonne dann sogar sich empören, obgleich ich nichts<br />

anderes getan hatte, als über Monde zu laufen. - - In der dritten<br />

Nacht endlich war ich nochmals über Monde gelaufen. Am Morgen<br />

dann, an jenem dritten Morgen hatte man mich erkannt als "Den-derüber-Monde-läuft".<br />

Also am dritten Morgen zum Beginn der fünften<br />

Stunde haben sie mich festgenommen; sie haben mich aufgehalten,<br />

nach meinen Papieren gefragt und schon mit ihren Handschellen und<br />

Fußfesseln geklimpert, dieweil sie meine Rocktaschen<br />

perlustrierten. Natürlich hatte ich weder irgendwelche<br />

Ausweispapiere bei mir, noch war ein zweiter mit mir gelaufen, der<br />

meine Identität hätte bezeugen können. Außerdem hatte ich seit der<br />

zweiten Nacht eine Gewißheit darüber, daß man mich zwar irgendwann<br />

nach meinem Namen und nach meinem Propusk würde fragen, aber<br />

keinesfalls ehrlich interessiert wäre an diversen Personalien. Sie<br />

wollten mich arretiert wissen, und die Frage nach meinen Papieren<br />

war also eine Formsache! - - Keinesfalls aber hatte ich mit einer<br />

so baldigen Festnahme gerechnet. Ich hatte vielmehr gedacht, daß<br />

ich elf Tage oder länger ungestört über Monde würde laufen können,<br />

und wurde dann doch, wie ich es bereits notiert, am dritten Morgen<br />

in Hand- und Fußfesseln abgeführt. - - Meine Zelle maß<br />

zweiundsiebzig Quadratmeter, Wohnraum und Alkoven, Bad, Toilette<br />

und Flur sowie ein Arbeitszimmer, hatte zudem vier große,<br />

natürlich von Gitterstäben umbaute Fenster und war in globo sehr<br />

geschmackvoll möbliert. Man hatte mir sogar eine Bibliothek<br />

eingerichtet! - - Ich dürfe hier wohnen bleiben, hatte mich der<br />

Gefängnisdirektor schließlich aufgeklärt, dessen Karte ich, wenige<br />

Minuten nachdem ich meine neue Wohnstätte betreten hatte an der<br />

Seite von zwei Wachmännern, überreicht bekommen habe von einem<br />

dritten, der mir endlich genauso distinguiert begegnete wie ein<br />

englischer Diener aus dem neunzehnten Jahrhundert seinem<br />

Dienstherren ("Der Herr Direktor läßt fragen, ob Sie den Herrn<br />

Direktor empfangen"). Ich lasse also bitten, habe ich geantwortet<br />

in dem Versuch, nicht weniger förmlich zu sein. - - Und da stand<br />

er nun - der Herr Direktor. Ein kleiner, vielleicht<br />

achtundvierzigjähriger Mann von gepflegtem Air, mit einem<br />

schmalen, gut gestutzten Oberlippenbart und mit großen jedennoch<br />

glanzlosen Augen, die mich an die Bulben von weidwundem Tier<br />

erinnerten. - - Wir hatten Platz genommen, und ein vierter<br />

Wachmann brachte uns Tee und Gebäck, dieweil wir schon rauchten<br />

und der Herr Direktor sichtlich bemüht war, ein Thema zu finden,<br />

über welches wir beide uns unterhalten können. - - Sie müssen<br />

wissen, hub er schließlich an, daß Sie hier...auf Lebenszeit<br />

bleiben...ich meine, wohnen bleiben... Ich nickte wohlgefällig und<br />

bedeutete ihm, ob er Milch haben wolle in seinen Tee. Ein wenig<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

doch, nur ein Tröpfelchen, lächelte er; und keinen Zucker, bitte!<br />

- - Jaaa, begann er wieder und goß dabei in umständlichen<br />

Bewegungen nochmals einige Tropfen Milch in seinen Tee, natürlich<br />

können Sie hier wohnen bleiben... Aber es zählt zu meinen<br />

Pflichten, fuhr er fort, Sie zumindest darüber aufzuklären, was<br />

der Paragraph zwanzig des VMPRG von Ihnen verlangt während der<br />

Dauer Ihrer...Unterbringung. Des VMPRG frug ich. Ja, das<br />

Verwesermondprüf- und -richtgesetz, flüsterte er. Oh, ich glaube,<br />

entgegnete ich, nachdem ich zuvor ein Stück von dem Gebäck<br />

probiert hatte, ich glaube, ich kenne dessen Bestimmungen. Dann<br />

wissen Sie also, frug er erstaunt, daß Sie fürderhin weder über<br />

Monde laufen dürfen noch-- Noch überhaupt in den<br />

Sternennavigationsplänen lesen, unterbrach ich ihn, ich weiß das.<br />

Sie dürfen auch nicht danach fragen, erklärte der Direktor<br />

schüchtern; Sie dürfen dahingehend nichts fragen. Aber über Monde<br />

zu laufen, hub ich an, über Monde-- Nein, nein, rief der Direktor<br />

ängstlich dazwischen und schaute nach den Wachmännern (die aber<br />

nicht mehr anwesend waren); Sie müssen jetzt stillschweigen! - -<br />

Also hatte ich geschwiegen und dabei den Direktor, der mich<br />

vielleicht von Anfang ein Schauspieler wider Willen bedünkte,<br />

beobachtet. Aber auch ich selbst, begann der Direktor ebenso leise<br />

wie zögernd, war einmal...über...Monde gelaufen...als ich zwölf<br />

Jahre zählte... Und heute sind Sie der Direktor dieses...nun,<br />

dieses Etablissements, lächelte ich. Der Direktor nickte. Und<br />

vielleicht, fuhr ich fort in einer Ahnung, die nicht so sehr einer<br />

plötzlichen Eingebung als jener ohnedies manifesten Gewißheit<br />

zugeschrieben werden kann, welche in solchen oder ähnlichen<br />

Situationen ganz bestimmt das Gute vom Bösen zu unterscheiden uns<br />

erlaubt, sind Sie der nur deshalb, weil man Sie dekuvriert hatte,<br />

um dann doch keine andere Gegenleistung zu verlangen von Ihnen<br />

selbst als Ihre Treue. Oh, na oh, staunte der Direktor und schien<br />

indes für einen Augenblick geradeso zufrieden wie ein Gassenjunge<br />

an einem Sonntagnachmittag vielleicht. Wie können Sie das wissen,<br />

frug er sogleich, daß ich habe bezahlen müssen dafür, wie können<br />

Sie das. Ich bin ein Mondläufer, Herr Direktor, habe ich<br />

gelächelt, und was ich also weiß, das weiß ich dieserhalb, weil<br />

das zu wissen nicht vieles nötig ist. O ja, Sie sind ein<br />

Mondläufer! begeisterte sich der Direktor, um dann doch in jene<br />

einstmals eingeforderte wenngleich atavistische Achtsamkeit<br />

zurückzufallen, aus welcher er gerade eben für die Dauer eines<br />

Atemzugs gekrochen war und aus welcher er ganz gewiß immer wieder<br />

für den Moment eines Lidschlags kriechen würde. - - Mein Vater,<br />

erklärte der Direktor, und es schien, als wollte er weinen, mein<br />

Vater hatte nämlich ausgezeichnete Verbindungen zu den<br />

Sternenrichtern... Oh, die Sternenrichter, sagte ich, die<br />

Sternenrichter werden uns alle nicht mehr lange am Leben lassen...<br />

Glauben Sie das tatsächlich, frug der Direktor aufgeregt, glauben<br />

Sie das. Es ist wahrscheinlich nur noch eine Frage von Wochen,<br />

antwortete ich. Aber warum sollten die das tun? überschlug sich<br />

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die Stimme des Direktors, der jetzt wieder nach den Wachmännern<br />

schaute. Ja, begann ich durchaus sarkastisch, ja, warum sollen sie<br />

das denn tun. - - Wir waren jetzt dagesessen wie zwei Soldaten zum<br />

Ende der Schlacht, die auf der Walstatt vielleicht nur deshalb<br />

ausharren, daß sie sich erinnern, und die dann doch über den dort<br />

gesammelten Erinnerungen zerbrechen, sintemal das, was geschehen<br />

war, weder unbeschadet noch insgesamt zu überdauern ist. (Daß aber<br />

irgendeiner zum Ende der Schlacht würde heimkehren können und sich<br />

erinnerte an die Zeit davor, bedünkte uns beide ganz unwichtig,<br />

weil es nicht geschehen würde, daß ebendiese Erinnerungen die<br />

eigene Niederlage wettmachten.) - - Kennen Sie die Methoden der<br />

Sternenrichter, Herr Direktor, frug ich, ich meine, die Methoden,<br />

von welchen-- Oh, mein lieber Freund, unterbrach mich der Direktor<br />

nervös; wir sollten aber davon nicht sprechen. Sie dürfen Ihre<br />

Ohren nicht verschließen, Herr Direktor, rief ich, Sie dürfen<br />

nicht einfach weghören in dem falschen Glauben, der<br />

Sterneninquisition mit ihrem Schweigen antichambrieren zu werden,<br />

Sie dürfen das nicht, ich meine, wir müssen jetzt dagegen<br />

ankämpfen! Sie wollen gegen einen Feind angehen, entgegnete der<br />

Direktor müde, der so unsichtbar ist wie die Luft, die wir atmen,<br />

und so übermächtig wie die Gefühle, die wir haben... Das ist ein<br />

Schuß nach hinten, fuhr er fort, ein Schuß ins Leere ist das. Ich<br />

bin nicht dieser Hamlet, begann ich, ich bin der nicht, daß ich<br />

nur deshalb resigniere vor einem Übel, weil ich vielleicht ebenso<br />

resignieren muß vor dem nächsten. Ja, lächelte der Direktor, ja,<br />

Sie sind der nicht, und darum sind Sie ein Mondläufer gewesen...<br />

Ich bin es noch, rief ich emphatisch, ich bin es noch! - - Die<br />

Sterneninquisition, begann der Direktor, wird Sie als einen<br />

Häretiker verurteilen...Die Sterneninquisition, unterbrach ich,<br />

spricht in ihren Urteilen jedesmal von der Ketzerei!...sie wird<br />

Sie brandmarken...und dann werden in jedem Witzblatt Ihre Träume<br />

veröffentlicht und Ihre Erinnerungen... Das ist der Lauf der Zeit,<br />

lächelte ich sardonisch, eine Zeit, die wir nicht verhindert<br />

haben, als wir noch hätten reagieren können. Aber ich bereue das<br />

nicht, hub ich an, und ich werde bis zum letzten Atemzug ein<br />

Mondläufer bleiben, bis zum Schluß will ich fühlen wollen wie ein<br />

Mondläu-- Ich unterbrach mich, weil ich den zweiten Wachmann, der<br />

eingetreten war ohne Zeichen zu geben, habe lächeln sehen in jener<br />

umtriebenen mokanten Art, die endlich einen Zuträger von einem<br />

Clown nicht zu unterscheiden erlaubt. - - Sie wollen zum nächsten<br />

Mal nicht unangemeldet eintreten! maßregelte der Direktor den<br />

Wachmann, dieweil er jene Papiere goutierte, die derselbe ihm<br />

übergeben hatte, in einer Art, die vielleicht den Sternenrichtern<br />

zu eigen ist. Und um das hier, erklärte er und deutete auf die<br />

Papiere, werde ich mich rechtzeitig kümmern; danke, Sie können<br />

gehen! Der Wachmann schlug die Hacken zusammen in exakter<br />

vorbildlicher Weise und eilte davon. - - Der Direktor keuchte, und<br />

der Glanz in seinen Augen, der eben noch jener eines Löwen im<br />

Sprunge gewesen war, verwirkte genauso plötzlich wie das Licht<br />

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einer heruntergebrannten Kerze, sintemal die Angst, welche der<br />

Direktor wenige Momente zuvor noch bezwungen, nun wieder<br />

freigelassen war. Glauben Sie an den Sieg der "gerechten Sache",<br />

frug mich der Direktor geradeso, wie vielleicht die Kinder fragen<br />

über den Krieg in jenen Nächten, die dem Krieg vorausgehen,<br />

glauben Sie, daß diesen Zeiten endlich andere, bessere Zeiten<br />

nachfolgen werden. Ich weiß es nicht, begann ich; ich weiß nicht,<br />

welche Zeiten jetzt noch möglich sind... Aber Sie wollen doch,<br />

rief der Direktor verwirrt, Sie haben doch gesagt, dagegen<br />

ankämpfen zu werden. Gewiß will ich kämpfen, habe ich geantwortet,<br />

gewiß will ich das; aber...Ja, insistierte der Direktor,<br />

ja!?...aber ich allein werde eine neue Zeit nicht schaffen. So<br />

sagen Sie mir, begann der Direktor aufgeregt, sagen Sie mir<br />

zumindest, was ich tun soll, oder was ich tun kann, sagen Sie´s.<br />

Ich versuchte zu lächeln und brannte statt dessen eine Zigarette<br />

an nachdem ich mit einemmal nicht mehr wußte, was ich anderes<br />

hätte tun können oder erklären in diesem Augenblick, der so<br />

wundersam war wie alle solche Augenblicke seltsam sind, zu welchen<br />

vielleicht eine Wahrheit sich offenbart, die man zu formulieren<br />

weniger unfähig als erschrocken ist, weil das endlich bedeutete,<br />

die eigene Resignation anzuerkennen ganz ohne Vorbehalt und sich<br />

ihre Male aufbrennen zu lassen. (Wie es ja so oft passiert in den<br />

Nächten, daß wir ein Dutzend Ratten über den Bretterboden unseres<br />

Zimmers kriechen hören und dabei noch nicht einmal denken mögen,<br />

daß es Ratten sind! Aber es wird den Augenblick geben, während<br />

welchem die Ahnung unsere Entscheidung vorwegnimmt und sich selbst<br />

gewissermaßen erfüllt, indem sie unsere Hilflosigkeit bejaht.) - -<br />

Der Direktor war plötzlich aufgesprungen und aus dem Zimmer<br />

gelaufen wie ein wahnsinnig gewordener Soldat zum Ende der<br />

Schlacht um 4 Uhr 10 vielleicht. Indes bedünkte mich selbst, daß<br />

ich nicht anders davongelaufen war, als ich über Monde zu laufen<br />

suchte. - - Sie sind ein schwieriger Mensch, hörte ich die luzide<br />

Stimme des dritten Wachmanns; nämlich alle Mondläufer sind das!<br />

Oh, habe ich gelächelt, oh, wir bedünken vielleicht schwieriger<br />

als die Sternenrichter gefährlich sind. Gefährlich sind nicht die<br />

Zeiten sondern deren Illusionen! entgegnete der Wachmann, dieweil<br />

er gelangweilt die Gitterstäbe zweier Fenster prüfte. Und welche<br />

Zeiten sind das, die Sie geschaffen haben, habe ich ihm<br />

nachgerufen und an die Sonne gedacht, die mich verraten hatte,<br />

welche Zeiten? Aber der Wachmann, der vielleicht lächelte,<br />

ignorierte meine Frage, und war schließlich aus dem Zimmer<br />

gegangen ohne Gruß. - - In der Nacht habe ich nicht geträumt<br />

gehabt, wiewohl ich es versucht hatte. Denn daß ich hier nicht<br />

träumen würde, fürchtete ich, zumal mit jedem Traum, der nicht<br />

zugelassen werden kann, ein Stückchen mehr verdirbt in uns selbst.<br />

- - Ich hatte also nicht geträumt, und vielleicht war das bereits<br />

die wirksamste Methode der Sternenrichter: nämlich die behüten<br />

"die Zeiten" und betäuben dabei den Widerstand geradeso wie ein<br />

KZ-Kommandant, der den Häftlingen über den Appellplatz zu<br />

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paradieren befiehlt, dieweil er dort ein Dutzend anderer morden<br />

läßt. (Und dort, wo "die Zeiten" an Schlachthöfe erinnern,<br />

verdirbt das Reine, verdirbt das Unverdorbene und kehrt wieder als<br />

Diener und Gespenst.) - - Wir müssen etwas tun, hörte ich am<br />

nächsten Morgen die aufgeregte Stimme des Direktors, wir müssen<br />

etwas tun, irgend etwas, verstehen Sie. Sie stören mein Dejeuner!<br />

habe ich ihn sogleich wütend angerufen und dabei unbeirrbar ein<br />

Stück von jenem Semmelwecken gebrochen. Aber mein lieber Freund,<br />

hörte ich den Direktor nachfassen, mein lieber guter-- Ich bin<br />

niemandes Freund, habe ich ihn unterbrochen und ein halbes<br />

Löffelchen Marmelade auf das Brötchen getan, ich bin niemandes<br />

Freund! Der Direktor stand jetzt vor mir wie ein schüchterner<br />

ängstlicher zitternder Schuhputzjunge, der sich um seinen Lohn<br />

betrogen wähnt. Nun, Herr Direktor, spottete ich und brannte,<br />

dieweil ich ihm sich hinzusetzen bedeutete, eine Zigarette an, Sie<br />

haben vielleicht über die Freundschaft sich täuschen lassen! Wie<br />

darf ich das verstehen, hörte ich ihn fragen. Es ist wohl nicht<br />

nötig zu erklären, hub ich an, daß wir verlieren, daß wir nämlich<br />

mit jedem Tag ein Stückchen mehr verlieren, und daß wir nichts tun<br />

können dagegen. Natürlich, fuhr ich fort, wir können das<br />

beobachten wie ein Soldat, der den Wundbrand auf seinen wieder<br />

zusammengeflickten Beinen sieht-- Haben Sie solche Beine schon<br />

einmal gesehen, Herr Direktor, unterbrach ich mich, haben Sie sie<br />

gerochen? - - Daß wir sterben, begann der Direktor nach einer<br />

Pause von vielleicht sieben Minuten, fühlen wir bereits mit dem<br />

ersten Atemzug, den wir schreiend tun. Überhaupt bedünkt das<br />

Schreien, entgegnete ich durchaus sarkastisch, eine sonderbare Art<br />

der Artikulation zu sein, zumal wir es nicht lernen müssen noch--<br />

Der Schrei ist mithin die eigentliche Inspiration unserer Sprache!<br />

unterbrach mich der Direktor. Denn die Kreatur, fuhr er sogleich<br />

fort, die wir sind am Beginn des Morgens und am Ende unserer<br />

Erinnerungen, schreit! Ja, immerzu schreit die, habe ich<br />

geflüstert und mich dabei ein wenig über den Tisch gebeugt, die<br />

schreit, die kreischt, brüllt, seufzt, stöhnt... - - Wir waren<br />

jetzt dagesessen wie zwei alte Schauspieler in einer<br />

Untergrundschule des Warschauer Ghettos, die den Hamlet und den<br />

Herzog von Gloster gewiß schon hundertmal aufgeführt hatten ganz<br />

ohne Vorbehalt. Aber erst hier, erst auf den Straßen und in den<br />

Hinterhöfen des Ghettos würde es geschehen, daß ebendieser<br />

Vorbehalt zurückweicht, vielleicht sogar zersplittert vor den<br />

Schreien der Verhungernden. Und in der Nacht, die das Stöhnen der<br />

Gemarterten wie ein Summen von Chören über die Bezirke des Ghettos<br />

hinausträgt, würden die beiden Schauspieler vielleicht nicht mehr<br />

zu unterscheiden vermögen zwischen Spielern und Gespielten! - -<br />

Zum Ende der Schlacht werden die Mondläufer obsiegen, begann der<br />

Direktor unvermutet, das glaube ich ganz fest, am Ende werden sie<br />

gewonnen haben! Doch das wird ein Pyrrhussieg sein, Herr Direktor,<br />

lächelte ich und brannte ein Zigarette an. Sagen Sie, lieber<br />

Freund, frug er unbeirrbar, soll ich mit der Untergrundbewegung<br />

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Kontakt aufnehmen, oder muß ich...muß ich vielmehr-- Es gibt keine<br />

Bewegung, unterbrach ich ihn wütend, es gibt sie nicht mehr,<br />

verstehen Sie, die Bewegung ist t-o-t! Aber was sagen Sie da, mein<br />

lieber Freund, rief der Direktor irritiert, was sagen Sie da...das<br />

ist doch nicht wahr...sagen Sie, daß das nicht wahr ist... Aber es<br />

ist wahr, Herr Direktor, es ist seit vierzehn Monaten wahr. - -<br />

Der Untergrund heute, begann ich schließlich, ist nur mehr in den<br />

einzelnen Köpfen möglich... Und auch die Erlösung, fuhr ich fort,<br />

die Erlösung, Herr Direktor, ist keine Sache mehr, die auf den<br />

Straßen erzwungen wird oder in den Gerichtssälen entschieden,<br />

diese Zeiten sind vorbei! - - Also haben wir denn doch<br />

verloren..., sinnierte der Direktor. Nein, sagte ich, nein, wir<br />

haben noch nicht verloren; aber wir verlieren, ich meine, Herr<br />

Direktor, wir sind eben dabei zu verlieren. Denn die<br />

Sternenrichter, Herr Direktor, erklärte ich, die Sternenrichter<br />

sind zwar nicht die Orwellsche Gedankenpolizei...Obschon sie das<br />

natürlich sein möchten, unterbrach ich mich, und endlich auch<br />

alles dafür tun!...aber ihre Methoden sind nicht weniger wirksam<br />

als jene...verstehen Sie, die Methoden der Sternenrichter machen<br />

uns alle glauben, daß wir nichts tun können dagegen - die<br />

Methoden, Herr Direktor! Die Methoden, frug der Direktor ein wenig<br />

sinister; Sie meinen vielleicht die Propaganda!? Die Propaganda,<br />

Herr Direktor, erklärte ich, und die Medien...die Gesetze, die<br />

Vorschriften, überhaupt der ganze Apparat. Dieser ganze sogenannte<br />

Staat, fuhr ich fort, dieser Staat, der doch im Wesen nicht anders<br />

ist als die Funktionäre der Sterneninquisition, das alles, Herr<br />

Direktor, das alles hat den einzelnen Menschen entmündigt<br />

zugunsten irgendwelcher Vorstellungen, die irgendwelche...irgendwelche,<br />

fast möchte ich sagen: Verschwörer, ja, Verschwörer, Herr<br />

Direktor, die irgendwelche Verschwörer irgendwann einmal hatten...<br />

Herr Direktor, rief ich, dieser Staat ist ein Artefakt, er ist ein<br />

Werkzeug; ein Werkzeug, das wir uns nicht mehr getrauen aus der<br />

Hand zu geben. - - Sie müssen wissen, Herr Direktor, hub ich<br />

schließlich an, daß sich zweitausendvierhundert Jahre Geschichte<br />

nicht einfach so revozieren lassen! Was wir heute erleben, fuhr<br />

ich fort, oder was wir jetzt erleben, das ist nur das aktuellste<br />

Ergebnis ebendieser Geschichte, einer Geschichte, Herr Direktor,<br />

die sich selbst mit jedem Tag, den wir gegen sie nicht ankämpfen,<br />

neu berechnet! Denn es h-a-t sich entwickelt, Herr Direktor, und<br />

wurde nicht bloß geschaffen, es hat sich berechnet mit jedem Tag,<br />

mit jedem Jahrzehnt, und es wird sich weiterentwickeln, solange<br />

wir es zulassen. Solange wir nicht Nein sagen, fuhr ich fort,<br />

solange wir nicht Nein sagen, solange wird es immer weiter<br />

wachsen, solange wird es sich immer unkorrigiert neu berechnen und<br />

also ungestört weiterentwickeln können. Es ist wie die<br />

Kettenreaktion einer Atombombenexplosion, Herr Direktor! - - Die<br />

Geschichte, nämlich diese Geschichte, Herr Direktor, unsere<br />

Geschichte ist das Trojanische Pferd eines Epeios, dem wir in<br />

unseren Herzen Platz geboten haben! Und wer, frug der Direktor<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

leise, welcher wird der Laokoon sein, der uns zu retten<br />

sucht...oder werden auch wir uns düpieren lassen...uns täuschen<br />

lassen von diesem...von diesem Artefakt. Wir sind die Täuscher,<br />

sagte ich, und wir sind die Getäuschten...Aber nein, rief der<br />

Direktor dazwischen, aber nein!!!...und doch sind wir zuerst<br />

einmal... Ja, frug der Direktor ungeduldig, ja!? Oh, ich weiß es<br />

nicht mehr, Herr Direktor, jetzt weiß ich plötzlich nicht mehr,<br />

wer wir sind in diesem Spiel. Aber ist das denn ein Spiel! hörte<br />

ich den Direktor sich exaltieren. Ich brannte eine Zigarette an<br />

und versuchte zu lächeln. Aber ich fühlte mich verraten, und mein<br />

Lächeln war nicht anders ungeübt als das eines Kindes, welches<br />

vielleicht in den Straßen des Warschauer Ghettos neben den toten<br />

Eltern sitzen geblieben war. (Und was tun wir an solchen Orten und<br />

während ihrer Momente? Wir weinen, wir verstummen, verhärten -<br />

oder wir lächeln, lächeln geradeso blödsinnig, als würden es<br />

unsere verunstalteten verzogenen spröden Lippen vermögen, eine Art<br />

von Tröstung zu provozieren, die auch davor stets nur in den<br />

Köpfen der Menschen passiert war!) - - Daß es ein Spiel ist, hub<br />

ich schließlich an, ist die einzige Wahl, die uns bleibt. Denn<br />

wofern es ein Spiel ist, versuchte ich zu erklären, hat es<br />

Regeln-- Und Sie meinen, frug der Direktor dazwischen, daß wir<br />

seine Regeln neu definieren können!? Nein, habe ich sofort<br />

reagiert, diese Regeln zu gestalten ist uns nicht erlaubt noch<br />

vermöchten wir´s! Wie darf ich Sie dann verstehen, frug der<br />

Direktor und schaute nach den Fenstern. Nur d-a-ß wir denken, es<br />

sei ein Spiel, habe ich gesagt, nur d-a-ß wir es denken, macht es<br />

uns möglich, das alles zu ertragen, über welches wir ansonsten<br />

vielleicht resignieren möchten. - - Es ist ein Spiel, Herr<br />

Direktor, erklärte ich mich, es ist wie Hamlet, den wir auf der<br />

Bühne sehen und den zu verstehen uns nicht kümmert, weil das<br />

endlich bedeutete, nicht anders verzagt zu haben wie der Prinz von<br />

Dänemark. Verstehen Sie, Herr Direktor, fuhr ich zu erklären fort,<br />

indem wir das Spiel anerkennen, verleugnen wir unsere eigene<br />

tatsächliche Verzweiflung! - - In der Nacht hatte ich geträumt von<br />

Hamlet, daß er Waffen und Widerstand zu wählen nur deshalb sich<br />

entschied, um jenen totzuschlagen, der Yoricks Schädel, des toten<br />

Königs Spaßmachers Schädel, bestaunt hatte und befühlt geradeso,<br />

als würde das Betasten von blankem Knochenzeug den Tod bezwingen.<br />

(Also hat er den einen totgeschlagen; und der eine war er selbst,<br />

war Hamlet.) - - Ich werde etwas tun, hörte ich eine Stimme<br />

flüstern, ich werde Sie hier herausholen, und dann werden Sie--<br />

Was werde ich dann, habe ich den Direktor torpide angerufen und<br />

meine Augen geschlossen gehalten vielleicht nur deshalb, um des<br />

Hamlets Staunen, von dem mir träumte, in meine Erinnerungen<br />

einzubrennen geradeso wie das ansonsten nur geschieht in den<br />

Nächten, die dem Krieg vorausgehen, bei den Kindern, welche nichts<br />

zu vergessen angehalten sind, weil das, was vergessen ist, auch<br />

nicht mehr wirken kann in der Art eines Antidots, was werde ich.<br />

(Der Direktor respirierte heftig, vielleicht sogar zu heftig, und<br />

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plötzlich bedünkte mich, daß er mich verraten wird einfach schon<br />

deshalb, weil an diesem Ort der Unterschied zwischen Spielern und<br />

Gespielten vollzogen wird an irgendeines Sternenrichters Statt,<br />

der die Menschen verwechselt und die Methoden.) Also was werde<br />

ich, habe ich mich wiederholt. Aber der Direktor antwortete nicht<br />

und war sichtlich bemüht um seine Atmung. Nun, Herr Direktor, hub<br />

ich an, wenn Sie meine Flucht begünstigen, wird man mich nach acht<br />

Tagen wieder aufgegriffen haben, nach acht oder nach elf Tagen,<br />

und die Sonne, die sich empört, wenn ich über Monde laufe, wird<br />

auch dieses Mal meine Spur verfolgen. Das wissen Sie sehr gut,<br />

Herr Direktor, erklärte ich, daß nämlich die Sonne-- Die Sonne<br />

will ich schon bezwingen, rief der Direktor erregt dazwischen und<br />

faßte nach meiner Hand geradeso wie man vielleicht nach einem<br />

Sterbenden faßt in jenem Moment, wo er den letzten Seufzer tut.<br />

Ach nun, hörte ich mich sagen, Sie wollen die Sonne niederringen<br />

wie irgendeinen Eskamoteur... Aber das wird Ihnen nicht gelingen,<br />

fuhr ich sogleich fort und löste mich aus seinem Griff, weil noch<br />

nicht einmal die Sonne verantwortlich ist für jene Geschichte,<br />

gegen welche wir ankämpfen! Verstehen Sie, Herr Direktor, erklärte<br />

ich mich, dieweil ich meine Augen öffnete und seinen Blick suchte,<br />

die Sonne ist nur ein Teil des Schauspiels, vielleicht sogar ein<br />

bedeutender Teil; doch ich weiß es nicht und niemand weiß es,<br />

nicht einmal die Sonne weiß es! - - Wenn wir sie also dereinst zu<br />

bezwingen vermöchten, hub ich an nach einer Pause von vielleicht<br />

sieben Minuten, während welcher der Direktor gewiß an seinen<br />

Treueschwur dachte, würden wir erkennen, was sie tatsächlich ist<br />

und warum wir verraten werden von den Sternenrichtern und ihren<br />

Vasallen. Aber wenn das passiert, fuhr ich fort, werden die<br />

Sternenrichter eine neue Sonne schaffen, und jene Geschichte,<br />

gegen die wir angekämpft haben, wird zum weiteren Mal ihren<br />

Fortlauf finden in den häßlichen morbiden rücksichtslosen<br />

Vorstellungen ebendieser Sternenrichter. Der Direktor versuchte zu<br />

lächeln, versuchte das Lächeln der Zuträger, welche zum Ende der<br />

Schlacht die Toten zählen und dabei eine Regung in sich spüren,<br />

eine Ahnung von Mitleid vielleicht oder eine Art von Trauer, die<br />

nach Vergebung drängt, und die dann doch nur lächeln, damit sie<br />

den eigenen Glauben nicht verlieren noch resignieren brauchen. Ja,<br />

lächeln Sie, spottete ich, lächeln Sie; aber vergessen Sie über<br />

Ihrem Lächeln die Wahrheit, die Sie behüten, nicht! Oh, die will<br />

ich wohl erachten, rief der Direktor amüsiert, und auch meine<br />

Treue halten. - - Der Direktor war gegangen, und ich stand jetzt<br />

vor dem vergitterten Fenster und suchte die Sonne zu sehen, die<br />

mich verraten hatte. Doch über das Firmament zogen Gewitterwolken<br />

wie Schauspieler zur Generalprobe, und hinter dem Reigen, den sie<br />

veranstalteten und den gewiß die Sonne ihnen anbefohlen hatte,<br />

konnte ich ebendiese Sonne erkennen für jene kurze Dauer, welche<br />

die Erinnerung braucht, um wieder abzutauchen in das Pandämonium<br />

längst vergessener Glückseligkeit. Die Sonne lächelte, geradeso<br />

wie vielleicht Claudius gelächelt hatte, als er das Gift in seines<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Bruders Ohr träufelte. Jetzt lachst du noch..., flüsterte ich.<br />

(Mir war nicht wohl, zumal sich ja oft eine Übelkeit zur<br />

Resignation beigesellt und einen den Entschluß, den man<br />

auszusprechen nicht wagt, ohne Vorbehalt anzunehmen heißt.) Ein<br />

Knecht bist du, fuhr ich leise fort, der zerschunden ist vom Joch<br />

der falschen Vorstellungen; dein Rücken ist gebeugt und in deinem<br />

immer neuen Antlitz spiegelt sich eine alte Verheißung wider...<br />

- - Ich dachte zum dritten Mal an das Warschauer Ghetto und an die<br />

Kinder dort, welche die Sonne zwischen den Gassen oder über den<br />

Mauern haben aufsteigen sehen, dieweil der Gestank der Toten den<br />

eigenen Moder verbergen half, und die vielleicht gedacht hatten,<br />

daß es den Moment geben wird, zu welchem der Hunger eine bloße<br />

Erinnerung sein würde. - - Ich selbst, begann ich sofort als ich<br />

den Direktor eintreten sah, war ein Mondläufer gewesen-- Sie sind<br />

ein Mondläufer, unterbrach mich der Direktor, Sie sind das noch<br />

immer! Aber nein, Herr Direktor, rief ich erregt, ich war ein<br />

Mondläufer, verstehen Sie? Nun, ich weiß das, flüsterte der<br />

Direktor, ich weiß es. Und dennoch haben mich die Sternenrichter<br />

gefaßt! Sie dürfen jetzt nicht aufgeben, lieber Freund, sagte der<br />

Direktor, jetzt nur nicht aufgeben! Aber oh, lächelte ich,<br />

vielleicht hat man uns bereits vor zweitausendvierhundert Jahren<br />

aufgegeben... So sollen Sie aber nicht reden, mein lieber Freund,<br />

sagte der Direktor ängstlich, ich meine, Sie sollen nicht<br />

resignieren, nicht auch die Mondläufer sollen jetzt resignieren!<br />

Der Untergrund ist zerschlagen worden, Herr Direktor, hub ich an,<br />

und die Sternenrichter machen keine halben Sachen! Aber, begann<br />

der Direktor, aber es ist doch-- Nein, rief ich wütend dazwischen,<br />

nein; die Organisation ist zerschlagen, sie existiert nicht<br />

mehr!!! - - Der Direktor schwieg, und sein Schweigen war wie das<br />

plötzlich beginnende Sperrfeuer der feindlichen Artillerie, das<br />

die eigenen Empfindungen im Dröhnen der niederstürzenden Granaten<br />

unhörbar macht, sodaß nur mehr eine Ahnung übrigbleibt von dem,<br />

was man zu tun geplant hatte. Doch diese Ahnung, der man<br />

vielleicht unter anderen Umständen oder an anderen Orten nachgeben<br />

würde, verliert zum Ende der Schlacht ihre ganze Bedeutung, und<br />

der Mut, den man verloren hatte über dieser Ahnung, wird zum<br />

Wahnbild der Resignation, der das Spiel gefällt. - - Warum tun Sie<br />

das, frug ich endlich den Direktor, dieweil wir rauchten und Tee<br />

tranken, zu welchem uns der dritte Wachmann einiges Gebäck<br />

servierte, warum kommen Sie hierher und schmeicheln mir, obgleich<br />

Sie das Urteil, das die Sterneninquisition fällen wird, kennen und<br />

gebunden sind an deren Spruch und Ihren Schwur. Der Direktor<br />

schaute nach dem Wachmann, und mich bedünkte mit einemmal, daß<br />

jene Verlegenheit, die ihm anzumerken war, genauso im VMPRG<br />

festgeschrieben ist wie das Verbot, in die Sternennavigationspläne<br />

Einsicht zu nehmen, oder die vorschriftsmäßige Vergitterung der<br />

Fenster. Also, warum tun Sie das, rief ich nochmals und merkte zu<br />

spät, daß meine Stimme exaltierte. Wir wollen, daß Sie Gefallen<br />

finden an dem Spiel, antwortete der Direktor ohne Zögern. Aber wie<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

kann ich das, rief ich sofort und war sogar von meinem Platz<br />

aufgesprungen, wie soll ich Gefallen finden an einem solchen<br />

Spiel! Sie können das, lächelte der Direktor und nahm ein Stück<br />

von jenem Gebäck, da gehört nicht viel dazu. Ja, für dieses Spiel,<br />

versuchte ich mich zu erklären, braucht es nur die Resignation,<br />

und dann gefällt es mit einemmal. Aber ich will das nicht,<br />

flüsterte ich in das Ohr des Direktors und legte meine Hand auf<br />

dessen Schulter, ich will das nicht, verstehen Sie!? Bitte setzen<br />

Sie sich, entgegnete der Direktor ein wenig irritiert. - - Sie<br />

sind ein Mondläufer, hub der Direktor schließlich an, und Sie<br />

wissen, was die Menschen wollen... Aber auch wir wissen das, fuhr<br />

er fort nach einer Pause von vielleicht drei Atemzügen, ich meine,<br />

was die Menschen wollen, das ist eine Art von Schönheit, nämlich<br />

eine Schönheit, welche keiner Erklärung bedarf noch eine<br />

Beschreibung notwendig hat; doch Sie wissen sehr gut, mein lieber<br />

Freund, daß uns diese Schönheit immer vorenthalten worden war, daß<br />

immer irgendwer, ein König, oder eine Regierung, von ebendieser<br />

Schönheit gesprochen hatte geradeso wie man die Utopien<br />

diskutiert. Verstehen Sie, lächelte der Direktor, die Schönheit,<br />

welche die Sterneninquistion ihren Mitspielern gestattet, ist eine<br />

tatsächliche Schönheit, ist eine Schönheit, die nicht wie die<br />

Menschenrechte bloß niedergeschrieben steht. Ich versuchte zu<br />

lächeln, dieweil der Direktor unbeirrbar weitersprach, geradeso<br />

als ob er eine Frist einhalten müsse. Nämlich diese Schönheit,<br />

erklärte er mit Grandezza, von welcher niemand-- Ich glaube nicht<br />

an Ihre Schönheit, rief ich dazwischen, ich glaube das nicht, ich<br />

glaube Ihnen nicht. Das müssen Sie auch nicht! begeisterte sich<br />

der Direktor und schaute zufrieden nach dem Wachmann, der begonnen<br />

hatte, die Gitterstäbe an den Fenstern zu prüfen. Mein lieber<br />

Freund, begann der Direktor sogleich, wir sind keine<br />

Religionsgemeinschaft und wir verlangen-- Ich weiß nicht, wer Sie<br />

sind oder was, unterbrach ich ihn zum zweiten Mal, und ich weiß<br />

auch nicht, warum Sie das tun... Nur das weiß ich, rief ich<br />

zornig, daß die Schönheit, zu welcher Sie raten, eine Art von<br />

Demut verlangt, die ich selbst nicht leiden mag, zumal diese Demut<br />

der Betise ungleich näher liegt als die Resignation! Bitte gehen<br />

Sie, rief ich erregt, lassen Sie mich allein. - - In der Nacht<br />

hatte ich an den Mond gedacht, über welchen ich gelaufen war und<br />

der vielleicht nichts anderes war als die Reflexion einer<br />

allenfalls konstruierten Erinnerung, die man zu erfahren den Mut<br />

nicht hat, weil das endlich bedeutete, eine Sonne, die von den<br />

Sternenrichtern geschaffen wurde, anzuerkennen ganz ohne<br />

Vorbehalt. Aber wie ist zu wählen in den Zeiten, die behütet<br />

werden? Ich wußte keine Antwort mehr. - - In der Nacht kamen die<br />

Wachmänner; sie standen neben dem Alkoven und warteten schweigend,<br />

bis ich erwachte. Haben Sie gut geschlafen, frug mich der dritte<br />

Wachmann auf jene zynische Art, die allein den Henkersknechten zu<br />

eigen ist, und stieß mit seinem Finger wieder und wieder gegen<br />

meine Brust, haben Sie gut geschlafen, haben Sie, sagen Sie´s! Bis<br />

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mich der Gestank von Verrätern geweckt hat..., habe ich soporös<br />

geantwortet und mich auf die Bettkante gesetzt. Nun, dann sollten<br />

wir entsprechend vorsorgen, sagte der erste Wachmann und schlug<br />

gegen meine Nase. Damit wir Sie nicht inkommodieren, ergänzte der<br />

dritte, dieweil er mein Nasenbein zersplittere mit einem einzigen,<br />

gut angesetzten Fausthieb. Es ist zwar besser, stotterte ich, aber<br />

es schmerzt. Das soll es auch, lächelte der zweite Wachmann und<br />

half mir aufzustehen. Was werden Sie mit mir tun, frug ich ihn,<br />

was wird passieren. Fürchtest Du Dich, hörte ich ihn flüstern,<br />

während wir aus dem Zimmer gingen. Ja, sagte ich, denn ich mag den<br />

Tod nicht. Du bist eben ein Mondläufer, sagte der erste Wachmann.<br />

Und die mögen den Tod alle nicht leiden, fuhr der dritte fort.<br />

Aber sie wollen genausowenig unser Spiel, ergänzte der zweite. Ja,<br />

da haben Sie wohl recht, lächelte ich und tastete mit den ersten<br />

beiden Fingern meiner rechten Hand vorsichtig über meine blutige<br />

Nase, denn ich will tatsächlich nichts mehr, ich will über keine<br />

Monde mehr laufen, ich will nicht an Ihrem seltsamen Spiel<br />

teilnehmen, und ich will das alles nicht mehr begründen müssen,<br />

verstehen Sie, meine Herren. Tun Sie, was Sie wollen, antworteten<br />

der erste und der dritte Wachmann, denn uns bekümmerst Du ohnehin<br />

nicht. - - In dieser Nacht geschah es dann, daß ich nicht<br />

aufgewacht war, als ich aufwachte, denn ich war ja nicht<br />

eingeschlafen, als ich schlief; auch war ich nicht gefallen, als<br />

ich stürzte, wiewohl ich fiel, als ich gestürzt war. So war ich<br />

nicht ganz geworden, als ich einen Teil gewann, denn ich war schon<br />

nichts, als ich ganz gewesen bin.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

Also habe ich es getan! Ich habe sie geküßt ohne jede Demut, habe<br />

sie berührt wie mit Schwertern! Ich habe sie gefickt ohne jede<br />

Dankbarkeit, habe sie gekostet wie zum Richterspruch!<br />

zauderts<br />

über den totengesang hinaus,<br />

der mirs erschließen will:<br />

das geschändete, das spiel<br />

zauderts<br />

daß ichs hören kann, wissen,<br />

wer dies element hat spalten<br />

sollen<br />

o steiget auf<br />

ihr geschändeten, steiget<br />

ohne zaudern ins himmlische<br />

o steiget auf<br />

so ichs enden will, steiget<br />

Es schmerzt, sogar in jenen Momenten, zu welchen ich lache, tut es<br />

das, irgendwo in der Brust, von der man sagt, daß man die Seele<br />

spüren könne in ihr, irgendwo dort, an irgendeiner Stelle tut es<br />

weh, wenn ich glücklich bin, wenn ich im Hamlet lese, wenn ich<br />

spreche über allenfalls große und großartige Themen, oder wenn ich<br />

schweige. Vielleicht hat es dort schon immer weh getan, ich<br />

erinnere mich nicht; aber vielleicht muß es dort auch einfach nur<br />

weh tun, damit ich nicht vergesse, daß ich lebe, damit ich zu<br />

atmen nicht vergesse, zu schlafen, zu essen oder zu trinken, damit<br />

ich mich nicht hinabstürze oder erdrossele nur deshalb, weil ich<br />

vergessen habe, daß ich lebe. Ist es das, warum es schmerzt? Ich<br />

weiß es nicht, ich weiß nur, daß es weh tut und daß ich lebe,<br />

solange es weh tut, geradeso wie ein Soldat, der verwundet<br />

zwischen den Frontlinien liegt, vielleicht bis zum Morgen, an dem<br />

er dann verblutet ist, oder bis in den Vormittag hinein, an dem<br />

die feindliche Artillerie ihr Trommelfeuer ein zweites Mal<br />

eröffnet, um ihn zu zerreißen, aufdaß er ganz gewiß nicht mehr<br />

spüre in der Brust, daß er lebt.<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

der kuß der<br />

wenn immer mir gesehen dein, wenn nicht vergessen dir berührten dich, oder<br />

dein mit lächelten dir; wenn erinnern uns liebgekosten uns – dann<br />

will dich schmecken mir, mich neu schaffenen dich, dann will mir<br />

für immer küssen dir<br />

von zweien und anderen<br />

was ich weiß, ist,<br />

daß du: bist,<br />

und daß wir niemals<br />

aufhören sollten zu<br />

sein, bloß deshalb<br />

weil ich mich<br />

verloren hab.<br />

Was bleibt, sind nur Momente, wo man lacht oder tanzt, Momente, zu<br />

denen man ganz vergessen hat, daß die Menschen sterben - und daß<br />

man selbst ein Mensch ist. Aber anders als durch den Tod kann ich<br />

dem Tod nicht begegnen, denn indem ich sterbe, besiege ich mich<br />

selbst, besiege ich alles, was ich fühle oder denke über den Tod,<br />

und indem ich mich besiege, triumphiere ich letztendlich über<br />

einen Tod, der unbezwingbar ist. - - Wie könnt Ihr das tun, wie<br />

könnt Ihr lachen, obgleich Ihr von den Friedhöfen zwischen den<br />

Gassen wißt oder den Siechen beim Sterben zuseht und vielleicht<br />

sogar deren Hand haltet, wie könnt Ihr das!? - - Der Tod ist die<br />

einzige Tatsache, die wir kennen, er ist die einzige Erkenntnis,<br />

die wir besitzen. Und Gott schweigt, er schweigt, weil er niemals<br />

existiert hat, denn der Tod zeigt uns, daß Gott nicht existiert.<br />

- - Sterbt! Stirb! Indem ich sterbe, löse ich ein Rätsel, das<br />

keines ist, ich zerschlage den Gordischen Knoten, der keiner ist,<br />

ein zweites Mal; indem ich sterbe, besiege ich den Tod, ich<br />

triumphiere über ihn, ohne ihn aufgehalten zu haben. Aber o, das<br />

ist ein Sieg, den man nicht schmecken kann, weil es nämlich bloß<br />

die Antwort ist auf eine Frage, die niemand stellt. - - In einer<br />

unerträglich gewordenen Welt ist jedenfalls nur mehr die<br />

Häßlichkeit des Sterbens selbst noch zu erdulden. Was sich anders<br />

nicht besiegen läßt, wird auf diese Weise dennoch zernichtet, und<br />

im Glanz deiner Augen, die erlöschen, leuchtet dann das Licht der<br />

Erlösung für den Moment des letzten Atemzugs!<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

doch mir sehnt dich, mich träumenden uns, mir<br />

auflösenden, erloschenen mich<br />

Kondolenzschreiben:<br />

Als ich jung war, dachte ich, daß ich mit jedem Jahr, das ich<br />

älter werden würde, den Tod besser werde verstehen lernen. Aber<br />

als ich dann älter wurde mit jedem Jahr, habe ich erkannt, daß es<br />

kein Alter gibt, wo man dem Tod vielleicht mit Gleichgültigkeit<br />

begegnen kann. Am Ende haben wir nur unsere Erinnerungen, die<br />

guten genauso wie die schlechten, und indem wir uns erinnern,<br />

lernen wir, wenn schon nicht den Tod zu verstehen, so wenigstens<br />

neben ihm zu leben.<br />

Jetzt besaßen wir also nur noch unsere Erinnerungen. Aber manchmal<br />

weiß man dann nicht einmal mehr, was man damit tun soll, ob man<br />

diese Erinnerungen nämlich für sich behalten oder sie zur Gänze<br />

zerstören müßte, um zumindest irgendwie weiterleben zu können.<br />

Denn darum geht es ja, es geht zu jedem Augenblick, den man atmet,<br />

um das Weiterleben, es geht immer um das Überleben!<br />

Und bisweilen passiert es dann, daß jene Erinnerungen, die man<br />

behalten hatte einer falschen Hoffnung wegen, oder vielleicht auch<br />

nur aus Gewohnheit, obgleich man sie eigentlich auszulöschen<br />

bemüht war, den Schmerz, welchen man empfindet, nicht zu lindern<br />

vermögen, im Gegenteil, es ist während dieser Momente, wo man sich<br />

erinnert, tatsächlich vielmehr so, als würde der Schmerz losgelöst<br />

von den gemachten Erinnerungen zu betrachten sein, es ist<br />

geradeso, als würde er existieren ohne daß davor etwas<br />

Schmerzhaftes geschehen wäre. Letztendlich bedeutet das natürlich<br />

nichts anderes, als Ursache und Wirkung umgekehrt oder überhaupt<br />

außer Kraft gesetzt zu haben...<br />

Nun hatte es sich aber auf ebendiese Weise ereignet bei mir, und<br />

ich weiß Ihnen nicht zu sagen, ob ich nicht besser daran getan<br />

hätte, den Schmerz, welchen ich empfand, zu behandeln, indem ich<br />

mich einfach erinnerte; schließlich hört man ja doch immer wieder<br />

sagen, daß es hilfreich wäre, sich zu erinnern, und daß man sich<br />

nicht wehren solle dagegen, weil es sonst nur umso mehr schmerze<br />

und vielleicht sogar die Wunde, die man trägt, niemals abheilen<br />

werde. Doch manchmal sind es wirklich nur die Erinnerungen, welche<br />

einen zu zerstören beginnen, und da weiß man dann sehr gut, daß<br />

man sich zu erinnern aufhören muß, um weiterleben und irgendwie<br />

überleben zu können.<br />

Und an jenem Morgen, der dann irgendwann einmal passiert und dich<br />

zum Ende der Erinnerungen ruft, widersteht man auch nicht mehr,<br />

sondern hört auf, sich zu erinnern an den erlittenen Verlust oder<br />

an das Schöne, das man geschaffen und geteilt hatte mit jemand<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

anderem, um schließlich nur noch den eigenen Schmerz wahrzunehmen,<br />

zumal wenn es sich um einen handelt wie mich. Verstehen Sie? Es<br />

scheint, als wäre ich einer, der von allem, was passiert, immer<br />

das Verkehrte zurückbehält...<br />

Wir hielten uns nah umschlungen und atmeten den Odem des jeweils<br />

anderen. Es war ein Moment, wie er ansonsten nur passieren mag im<br />

Augenblick des Todes, wo man vielleicht die Fingerspitzen Gottes<br />

nach den eigenen Schultern tasten fühlt und sogleich Gewißheit<br />

darüber gewinnt, daß man selbst errettet ist.<br />

Sie begann ein wenig zu zittern, geradeso wie ich selbst, als ich<br />

ihren Kopf zwischen meine Hände nahm und sie zu küssen anhub. Und<br />

o, sie hatte eine weiche, makellose Haut um ihre Wangen gespannt,<br />

die so unvergleichlich schmeckte, daß ich schließlich nicht mehr<br />

anders konnte, als meinen Mund auf den ihren zu drücken, zumal<br />

auch ich selbst bereits das Blut in meinem Geschlechte pulsieren<br />

fühlte. Ihre Zunge war warm und wunderbar feucht, sie glitt wie<br />

geschmeidiges straffes Band von Gummi zwischen unseren<br />

Mundöffnungen hin und her, verbarg sich einmal, um gleich darauf<br />

erneut hervorzustoßen, versteckte sich ein weiteres Mal, um ebenso<br />

plötzlich wieder aufzutauchen mit kreisenden oder schnalzenden<br />

Bewegungen; auch ich tat es zu diesen Momenten nicht anders als<br />

sie und forschte mit meiner Zunge in ihrer köstlichen Mundhöhle<br />

wie ein Somnambule nach irgendwelchen Gegenständen, hielt dort<br />

inne für den Moment ihres Lidschlags, um gleich darauf wieder<br />

zurückzuweichen vor ihrer eigenen Zunge, die abermals in mich<br />

einzudringen sich ereiferte. Dann aber ließen wir die Spitzen<br />

unserer Zungen wie Balletteleven zur ersten Unterrichtsstunde um<br />

die jeweils andere drehen, wurden Ringkämpfer, die sich zu<br />

umschlingen versuchten, genauso wie Baggermaschinen, welche sich<br />

von der Straße zu schieben mühen, und während wir all dies taten,<br />

legte ich schließlich meine rechte Hand zwischen ihre Beine und<br />

begann ihre weiche Scham zu streicheln, dieweil sie selbst nun<br />

ihrerseits beide Hände um meinen Kopf legte, aufdaß sie uns stütze<br />

und, wie es nämlich zuweilen passiert im verzückenden Spiel der<br />

Liebenden, solcherart vor dem Umfallen bewahre. Nun aber öffnete<br />

ich, dringend und drängend gewiß in beiden Seelen, den Bund ihres<br />

Beinkleides und legte meine hohle Hand auf ihr weiches, schon<br />

feuchtes Geschlechtsteil, welches ich sanft zu drücken begann,<br />

zumal ich merkte, wie auch das ihre Blut bereits dergestalt<br />

wallte, daß Erlösung rechtzeitig nur mehr geschehen könne durch<br />

ebendiese Hand. Sogleich öffnete ich ihre Schamlippen, schob den<br />

Mittelfinger in ihr Löchlein, welches mich so eng und wundervoll<br />

bedünkte, daß ich darob beinahe meinen Samen verlor, und begann<br />

unser gemeinsames Werk, indem ich meinen Finger dort in vielerlei<br />

Weise dirigierte, dieweil sie selbst ihren Unterleib in<br />

arrhythmischen Zuckungen gegen meine Hand und den sie<br />

karessierenden Finger drückte. Die Bewegungen ihrer Zunge jedoch<br />

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wurden rasch langsamer, hörten von jetzt auf gleich überhaupt auf<br />

und geboten mir solcherart, ihren ganzen Mund mit ruheloser<br />

wenngleich ideenreicher Zunge zu schmecken, aufdaß sie selbst sich<br />

überantworten könne jenem wunderbaren Rauschgefühle, welches zu<br />

einem solchen Moment wirken mag wie das Herz Gottes, das sich in<br />

sich selber weiß. So tat sie denn, als ich den Zeigefinger meiner<br />

Rechten in ihr heftig saugendes, zitterndes Löchlein zu führen<br />

begann, einen leisen schluckenden Aufschrei, an welchem ich,<br />

genauso wie an ihren Händen, die mich nicht mehr loszulassen<br />

schienen, erkannte, daß die Erlösung nunmehr geschehen war. Und o,<br />

wie schön sie anzublicken und zu fühlen war in jenem Augenblick!<br />

Da spürte ich mit einemmal, wie meine Finger aus ihrem noch immer<br />

aufgeregt pochenden Löchlein glitten, weil sie selbst sich<br />

niederkniete vor mir; denn auch mich verlangte es von Anfang<br />

nahezu unbändig nach jener Art von Trunkenheit, die allen<br />

Liebenden am ersten Tag zu eigen ist und die sich auch für uns<br />

beide bereits im Moment erfüllen mußte, um erst danach in wonniger<br />

endloser Zusammengehörigkeit immer wieder neu zu wachsen. Mit<br />

raschen Griffen faßte sie also nach meinem erigierten<br />

Geschlechtsteil, aus welchem klare Tropfen reinigender Flüssigkeit<br />

getreten waren, preßte ihre Lippen um meine Glans und begann mit<br />

den ersten drei Fingern ihrer Linken mein Häutchen zu bewegen,<br />

dieweil ihr Mund allerlei saugende, pressende oder lutschende<br />

Kunststücke solcherart geschickt vollführte, daß nun auch ich dem<br />

eigenen Rausche verfiel immer mehr. Sie stieß mit ihren Zähnen<br />

immer wieder vorsichtig gegen die Öffnung meiner Eichel, tat dann<br />

wiederum so, als würde sie sich in deren Spitze festbeißen wollen,<br />

wiewohl ihre Zähne nicht anders zugriffen als die einer Löwin,<br />

welche ihr Junges davonträgt, oder schmiegte ihre Zunge in<br />

drückenden begierigen leckenden Bewegungen darum, während die<br />

Bewegungen jener Hand, mit welcher sie mein Präputium schob,<br />

zunehmend fester wurden, sodaß ich mich plötzlich nicht mehr hatte<br />

einhalten können und meinen nunmehr heißen Samen in zwei starken<br />

feisten Strahlen entließ, dieweil sie selbst mein Geschlechtsteil<br />

mit ihrem Mund zu liebkosen nicht aufhörte. Für den Moment eines<br />

Atemzugs ließ ich das noch geschehen mit mir, um mich gleich<br />

darauf zu lösen aus ihr; ich kniete nun meinerseits nieder vor<br />

ihr, half ihr beim Ausspeien jener Flüssigkeit, indem ich ihr mein<br />

Taschentuch reichte und sie stützte, drückte meinen zitternden<br />

Körper an den ihren und begann sie sogleich zu küssen, aufdaß sie<br />

den gewiß haften gebliebenen, üblen, allenfalls salzigen Geschmack<br />

zu tauschen vermöchte gegen jenes süßliche Aroma, das stets sich<br />

aufs neue mischt und erfindet, sobald sich zwei Liebende dem Kuße<br />

hingeben. ...<br />

ich liebe den menschen, ich respektiere ihn, ich habe das immer<br />

getan, auch wenn ich weiß, daß das jenen, die mich gekannt haben,<br />

wie ich vor zehn jahren war, schwer fällt. aber ich habe den<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

menschen immer geliebt, ich habe immer an ihn geglaubt – bloß<br />

damals hatte ich keine mittel, um das auszudrücken; heute habe ich<br />

wenigstens meine sprache, um das zu tun.<br />

Frühmorgens gegen Halbzwölf wachte ich auf in einem fremden<br />

Zimmer. Dort, in einem nicht unbequemen aber jedennoch fremden<br />

Bette, wachte ich also auf, mit einer Erektion wie einst, als ich<br />

ein sechszehnjähriger Jüngling gewesen war, welche bekannterweise<br />

nimmermüde Liebhaber sind (wofern sie denn nicht besoffen oder<br />

Kastraten am Hofe des äthiopischen Kaisers oder überhaupt vom<br />

hemmungslosen Onanieren kraftlos gewordene Memmen sind).<br />

Jedenfalls hatte ich, sogleich als ich erwachte, dieses sagenhafte<br />

große feste Ding aus meiner Körpermitte ragen gespürt geradeso wie<br />

den Obelisken auf dem Place de la Concorde, vor dem ich gestern<br />

zum ersten Mal leibhaftig gestanden war. Voilà! Ich war also –<br />

jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen - in Paris. Nun ist<br />

die Tatsache, daß ich in Paris in einem fremdem Bett aufwachte, an<br />

sich noch keine erwähnenswerte Besonderheit, denn ich reise<br />

insgesamt sehr viel und leide des öfteren am Morgen an einer<br />

gewissen Art der - kurzzeitigen - Amnesie, sodaß ich bisweilen in<br />

den ersten Momenten nach dem Erwachen nicht zu sagen weiß, wo ich<br />

mich eigentlich befinde. Ganz selten dauern diese Zustände auch<br />

ein wenig länger an, wie zum Beispiel vor drei Monaten: Ich hatte<br />

mich in Berlin aufgehalten, wachte eines Morgens auf wie immer -<br />

und wußte dann drei Tage lang nicht, daß ich ihn Berlin war,<br />

obgleich ich bereits seit zwei Wochen dort logierte und in globo<br />

einen durchaus ungestörten Schlaf habe. Ich überlegte damals<br />

ernsthaft einen Anruf bei Professor M. in Wien, mit welchem ich<br />

regelmäßig im Café P. Backgammon spiele, entschloß mich dann aber<br />

kurzerhand, mit Doktor R. aus Madrid zu telephonieren, zumal<br />

Professor M. seinen letzten triumphalen Sieg über mich (11:1) auf<br />

widerliche Art auszukosten wußte, indem er mir zweimal "Revanche<br />

bei Gelegenheit" anbot. - - Normalerweise dauern solche Zustände<br />

bei mir jedoch niemals länger als einige Minuten, und darum hätte<br />

ich mich damals eigentlich um meinen Zustand genausowenig sorgen<br />

brauchen... Doch ich schweife ab! Ich war also keineswegs erstaunt<br />

darüber, in Paris zu sein, vielmehr erstaunte mich diese Erektion<br />

– wahrlich, ich wußte bislang nicht, daß ich über Schwellkörper<br />

verfügte vom Fassungsvermögen einer U-Boot-Tauchzelle! Manchmal<br />

passiert eine solche Reaktion des Blutes zwar nur deshalb, weil<br />

man drei Wochen oder länger nicht hat austreten können; doch ich<br />

kann Ihnen versichern, daß ich selbst mit solchen Schwierigkeiten<br />

in meinem ganzen Leben nicht zu schaffen hatte! Die Erektion, die<br />

ich hatte, mußte demnach das Ergebnis edelster Wollust gewesen<br />

sein. Bloß, was war passiert? Ich besaß keine Erinnerung an die<br />

vergangene Nacht, noch verspürte ich irgendeine Art von sexueller<br />

Begierde, nicht einmal Befriedigung empfand ich. Statt dessen<br />

fühlte ich mich – ganz normal; obwohl ich, wie bereits notiert,<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

diese prächtige Erektion hatte. Ich glaube, genau so mußte sich<br />

Hamlet gefühlt haben, als er Rosenkranz und Güldenstern gegenüber<br />

erwähnte, keine Lust am Manne und keine am Weibe zu haben,<br />

wenngleich Shakespeare nichts über eine etwaige Erektion Hamlets<br />

berichtet. ...<br />

Komm, du, komm her, an meine Seite komm, damit ich in die Augen<br />

dir sehe! Was sind das für Augen? Fürwahr seltsame Augen sind das,<br />

die du hast, ich wußte nicht, daß sie braun sind... Denn<br />

eigentlich dachte ich, daß sie glanzlos sein würden, damit man<br />

dich sogleich erkennt - an deinen Augen. Wie anders sollte man<br />

dich auch erkennen? Gewiß, man fühlt es, man ahnt, ob du es<br />

wirklich bist oder nur eine Täuschung, aber doch gibt unsereins<br />

dem Gefühl auch stets eine Gestalt. Anders würden wir dir ja nicht<br />

nachfolgen! Aber indem wir dir ein Gesicht aufschminken, deinen<br />

Augen Farbe verleihen und deinen Lippen, indem wir dir Arme und<br />

Beine, eine ganze Gestalt, geben, wissen wir, wer du bist. Und<br />

wenn du uns dann solcherart begegnest, mit Gesicht und Gestalt,<br />

lernen wir unsere Furcht zu bezwingen, zumindest glaube ich das.<br />

als die soldaten kamen<br />

und die frauen vergewaltigten<br />

im beisein der kinder und<br />

neben den toten männern,<br />

und wir flüchteten,<br />

lernte ich,<br />

den lauf zu reinigen, den<br />

ladebolzen auszubauen und<br />

den abzug zu prüfen,<br />

lernte ich, aufzumunitionieren<br />

und mein ziel zu erspähen,<br />

lernte ich, abzudrücken...<br />

Ich werde den Tod nicht aufhalten können, nicht seinen, nicht den<br />

eigenen, nicht irgendeinen. Aber wie soll ich dann reagieren auf<br />

den Tod, was soll ich fühlen, wenn der Vater stirbt, die Mutter,<br />

das Geschwisterchen oder sonst einer? Aber o, ich wünschte, ich<br />

wäre ein Tier, ein Wolf vielleicht, der sich um den Tod nicht<br />

kümmern braucht, weil er ihn zwischen seinen Zähnen trägt, oder<br />

ein Feldhase, der den Tod nicht kennt, bis zu jenem Moment, wo er<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

ihn ereilt in der Gestalt von Adlerfängen zum Beispiel oder durch<br />

das Eisen einer Falle. Ich wünschte, ich wäre solcherart unbesorgt<br />

oder rücksichtslos, auf jeden Fall aber teilnahmslos!<br />

Jener Art von Bedeutungslosigkeit, die der Tod mir aufzwingt, kann<br />

ich nicht mehr anders begegnen als mit Resignation.<br />

Das Für und Wider des Sein ist abhängig von den Umständen, unter<br />

welchen man existiert. In einem unglücklichen Leben lassen sich<br />

leichter Gründe gegen das Leben finden als in einem glücklichen.<br />

Materielles Unglück ist demnach ungleich schwerer zu ertragen als<br />

bloßes seelisches Leid. Denn in einer Hütte, durch deren Dach es<br />

regnet und deren Tür nicht mehr schließt, werde ich nicht an meine<br />

Seele, die mich schmerzt, denken, sondern daran, Dach und Tür zu<br />

reparieren. Aber weil ich arm bin, werde ich nichts dagegen tun<br />

können, ich werde keinen Handwerker engagieren noch irgendwie<br />

behelfsmäßig selbst die Lücken im Dach und die Ritzen in der Tür<br />

flicken können. Daß meine Seele ob dieser Umstände nicht heilen<br />

wird, ist gleichfalls unbestritten. Vielmehr ist es dann nur noch<br />

eine Frage der Zeit, woran ich sterbe – ob an einer Pneumonie,<br />

weil meine Hütte baufällig ist, oder an zerbrochenem Herzen, weil<br />

mir nicht geholfen wird und weil ich mir auch selber nicht helfen<br />

kann. Aber im Gegensatz zur Seele, die nicht so schnell kaputt zu<br />

bekommen ist, wird ein Stück Bauholz, das morsch ist, oder eine<br />

Mauer, die brüchig ist, um etliche Jahre früher zerfallen als eine<br />

Seele.<br />

Wenn im August oder im Juli, und oftmals sogar schon im Juni oder<br />

noch in den ersten Tagen des September, auf den Straßen und<br />

Gassen, welche sich durch die Häuserzeilen schneiden wie Adern,<br />

die ihren Weg um totes Fleisch und Knochen schürfen, die Schatten<br />

von ebendiesen Häusern liegen, gleichsam wie Schnee, der an einem<br />

Oktobermittag zum ersten Mal auf die Landschaft fällt und dort<br />

bereits im Moment eines Lidschlags die letzte Erinnerung an den<br />

Duft des Herbstes aus dem Erdboden gesaugt hat, dieweil man in den<br />

Supermarkt oder zum Bäcker muß oder sonst irgendeine Verpflichtung<br />

wahrzunehmen hat, beginnen die Schatten wie isländische Prinzen zu<br />

tanzen. Doch diese Prinzen werden den königlichen Hof, der sie<br />

erzieht und ihnen Nahrung gibt, niemals verlassen, um vielleicht<br />

das eigene elterliche jahrhundertealte Reich zu übernehmen und<br />

auszubauen oder überhaupt neue Welten zu erobern. Sie werden<br />

Prinzen bleiben, niemals aber wird sie einer zum Herrscher krönen,<br />

weil die Sonne, der seit jeher gehuldigt wird, obgleich sie es<br />

nicht verdient, das nicht zulassen wird. Diese Sonne nämlich, die<br />

wir so sehr verehren, und die doch in Wirklichkeit nichts anderes<br />

ist als eine Hure, die in der Art mittelalterlicher Folterknechte<br />

mit ihrem Brenneisen jedem das Mal ihrer Bedingungslosigkeit auf<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

die Stirnseite zeichnet, wird an jenem Tag, wo es gilt, über uns<br />

zu urteilen, schweigen. Denn für anderes sind sie nun doch zu<br />

schwach, diese Prinzen, die bloße Schatten sind.<br />

r e s i g n a t i o n<br />

e s i m e a n o n h a<br />

i e s c s d s r c<br />

c b g i h i h<br />

h l e c c f<br />

t o r h n h l d<br />

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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />

bin größer als<br />

mozart, aber<br />

kleiner wie beethoven...<br />

nichts großes bin ich so<br />

Weder ist die Liebe rein gedanklich, noch ist die Natur stärker<br />

als jener Teil der Liebe, zu welchem niemand sonst Zugang hat als<br />

wir Menschen selbst!<br />

seltsam sind die bewegungen der planeten, wo<br />

wir tanzen wie zum jüngsten tag, frei im denken von gestirnen<br />

und doch ganz der sonne unterworfen<br />

In einer Welt, wo Gott nicht existiert, ist der Tod überhaupt<br />

keine Art von Erlösung. Vielleicht ist dann sogar schon das Leid,<br />

welches passiert, erträglicher als die bloße Vorstellung, daß man<br />

sterben wird ohne den Beistand Gottes.<br />

es ist nicht leben, ist es liebe nur, und es ist nicht liebe, ist<br />

es leben bloß!<br />

kaliber 357: stahl, in form gegossen, der würde gibt dem<br />

geknechteten und erlösung dem unfreien<br />

UND WEIL ICH NICHTS WEIß DAVON, WER ICH BIN, UND AUCH DAS NUR<br />

SAGEN KANN, WAS MIR GEBÜHRT, WIRD MIR SELBST NIEMALS DAS GEHÖREN,<br />

WAS LÄNGER DAUERT ALS EINEN AUGENBLICK!!!<br />

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