PCSHK_R.pdf
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
© 1993 by PCS/HK • heinrich_kantura@hotmail.com<br />
R<br />
1
© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
R<br />
von<br />
Heinrich Kantura<br />
vulgo<br />
Peter Christoph Schwartz<br />
(geb. am 20. Juni 1972)<br />
1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Jenen, mit welchen ich über den Kritischen Rationalismus, den<br />
Solipismus und die Utopien diskutierte, sowie jenen, die mich<br />
unterstützt, angespornt oder inspiriert haben, und auch diesen,<br />
mit welchen ich eine bestimmte, hier nicht zu nennende Zeitdauer<br />
zusammenlebte, im besonderen jedoch dem Andreas Manfred H., der<br />
Martina S., der Elfriede W. sowie meiner Schwester, Alexandra<br />
Maria S.,<br />
gewidmet.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Dies ist kein Text zu lesen. Er ist nicht zu riechen, nicht zu<br />
greifen noch zu schmecken. Er wird nicht nacherzählt werden oder<br />
rezitiert, wird endlich keiner Beschreibung standhalten, noch<br />
ediert werden müssen. Dies ist kein Text zu lesen. Allenfalls ist<br />
er...zu leben.<br />
Ich hatte F geträumt. Ich meine, es war nicht der sechste<br />
Buchstabe des Alphabets, über welchen jener Traum sich gezeichnet<br />
hat. Aber es war auch nicht eine Person, es war nicht der Name<br />
irgendeines Menschen, welcher meinen Traum bestimmt hatte! - -<br />
Eine Leidenschaft ist es gewesen, von welcher mir träumte. Aber es<br />
war nicht an erster Stelle das Ficken oder das Fühlen, das mir<br />
träumte, wie Sie vielleicht jetzt denken mögen, daß ich geträumt<br />
hatte, sintemal ich von einer Leidenschaft gesprochen und sintemal<br />
das Ficken oder das Fühlen allenthalben solche Appetenzen sind.<br />
Ja, es war noch nicht einmal das Flüchten, mit welchem dieser<br />
Traum mich konfrontiert hatte, obschon ich zuweilen doch sehr<br />
eskapistisch bin! Dennoch ist es eine Leidenschaft gewesen, die<br />
mir träumte. Es war sogar – das kann ich heute gewiß sagen - eine<br />
Leidenschaft, welche sich bisweilen zum ersten Mal manifestiert in<br />
einer Gegenwart, die so bedeutungslos ist, daß sie sich nur noch<br />
nach den vergangenen Jahren sehnt. Und jene Leidenschaft, von<br />
welcher ich träumte gestern nacht, ist tatsächlich eine schon zehn<br />
Jahre dauernde. Ich hatte sonach, als ich vielleicht zwölf Jahre<br />
zählte oder sechszehn, diese Leidenschaft zum erstenmal<br />
rekognosziert, und ich hatte sie auch über zehn Jahre getragen in<br />
mir selbst wahrscheinlich zu jeder Stunde, während welcher ich<br />
träumte. Oh, aber es war das keine Appetenz, über welche man<br />
schlecht denken wird müssen! Es war keine Leidenschaft, die der<br />
Moral oder des Falsifikationsmechanismus (welcher - doch das sei<br />
nur jetzt gesagt - gewiß die bessere Moral zu sein vermag)<br />
bedurfte, um also irgendeinen dräuenden Schaden bereits im Ansatze<br />
zu zerschlagen. Nämlich es war nicht so, daß ich etwa die Folter<br />
träumte, und also spätestens nach dem Erwachen hätte handeln<br />
müssen, um nicht doch dereinst den Beruf eines Folterknechtes zu<br />
erlernen oder wenigstens dessen Gier mir anzueignen für spätere<br />
Zeiten und Umstände! (Wie ja so oft eine solche Leidenschaft, die<br />
allein dem Tod dient, nur deshalb möglich geworden war, weil man<br />
nichts dagegen getan hatte über jene vielen Jahre, während welcher<br />
man zwar keine Gelegenheiten hatte, das auszuüben, aber umso mehr<br />
Zeit, sich mit jenen Phantasien auseinanderzusetzen.) Auch habe<br />
ich nicht das Fliegen geträumt, von welchem ich immer solcherart<br />
dachte, daß es nur eine andere Art des Eskapismus sei! ...<br />
Gewisse Ideen sind nicht mehr abzuschaffen, wie zum Beispiel die<br />
Religion oder der Nationalsozialismus. Diese beiden werden immer<br />
als Korrektiv genannt und vielleicht sogar notwendig sein.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Ich schreibe aus der Situation und ihrem Augenblick heraus; das<br />
ist nun auch der Grund dafür, daß meinen Texten keine Überlegungen<br />
zugrundeliegen!<br />
Manche Gespenster, die in meinen Texten auftauchen, habe ich mir<br />
nicht ausgedacht, noch habe ich sie falsch geschminkt. Ich wollte<br />
dort vielmehr nichts anderes, als die Argumentation irgendeines<br />
Protagonisten wiedergeben, dessen Worte und Überzeugungen mich so<br />
falsch bedünken, daß der Text mehr und mehr in eine Verwirrung<br />
gedrängt werden mußte von mir selbst!<br />
Den Schriftstellern begegnet man heute nicht anders als den<br />
Zigeunern. Aus jeder Stadt und von jeder Straße werden wir gejagt!<br />
Aber wir schließen uns den Zigeunern nicht an, weil wir endlich<br />
wissen, daß man uns Literaten und Zigeuner im nächsten Moment<br />
vielleicht schon verlästern oder verlachen würde dafür, daß wir<br />
uns zusammengetan.<br />
Und wenn du nach der Wahrheit frägst, dann sollst du auch wissen,<br />
daß die Wahrheit nicht immer schön ist oder so ganz unbeschwert zu<br />
ertragen!<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
"Am elften Tag"<br />
Ein Leseheftchen<br />
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Prolog<br />
Aber ich werde nicht weinen, ich werde nicht weinen noch beten,<br />
ich werde nicht weinen oder beten noch hoffen. Ich werde dort<br />
stehen, ich werde dort stehen und ich werde wissen, daß das alles<br />
nun vorbei ist. Dort werde ich stehen und das werde ich wissen,<br />
aber nichts werde ich fühlen. Ich werde nichts fühlen; weil der<br />
Schmerz zu groß sein wird, werde ich nichts fühlen, nichts fühlen<br />
als Resignation. Also werde ich nicht weinen noch beten noch<br />
hoffen. Denn nichts sonst wird sich ereignen als Resignation. –<br />
Ich werde dort stehen, ich werde dort stehen und ich werde wissen,<br />
daß das alles nun vorbei ist. Ich werde dort stehen, wie ich<br />
nämlich in meinen Träumen schon tausendmal dort gestanden war in<br />
einer Ahnung, welche die Gewißheit mir verraten hat. Denn ich<br />
werde dort stehen und kein Gott wird sich erbarmen. – Ich werde<br />
dort stehen wie ein kleiner Junge, wie ein Bübchen werde ich dort<br />
stehen, ein Bübchen, das nichts mehr versteht. Aber ich werde auch<br />
nicht weinen, ich werde also kein Bübchen sein, das nichts<br />
versteht und dennoch weint, ich werde bloß ein Bübchen sein, das<br />
nichts versteht und nicht mehr weint. – Denn da wird niemand sein,<br />
der an die Schulter mir faßt, der mich faßt, um mir zu sagen, daß<br />
ich wieder lachen könne. – Es wird geschehen sein. Dort werde ich<br />
stehen, und es wird geschehen sein, wie nämlich so vieles einfach<br />
nur geschieht ohne daß jemand darauf reagiert.<br />
Also wird es geschehen sein, und keiner wird sich erbarmen. – - Es<br />
wird einfach geschehen sein, und niemand wird nicht einmal darüber<br />
schreiben brauchen.<br />
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In diesen Stunden, in diesen Stunden, habe ich gesagt, in diesen<br />
vielen Stunden habe ich tatsächlich gefühlt, daß die Angst so<br />
behende ist, daß einem nichts anderes bleibt, als sich ihr zu<br />
unterwerfen. Nein, haben sie gesagt, das war keine Art der<br />
Unterwerfung, weil es ein Kompromiß gewesen war! Aber ein<br />
Kompromiß, habe ich geantwortet, ein Kompromiß ist keineswegs so<br />
totalitaristisch, daß man ihn nicht unterscheiden könnte von einer<br />
Angst; also ist es allein diese Angst gewesen, welcher meine<br />
Unterwerfung gefolgt war. - - Der Schnee hatte gerochen wie am Tag<br />
zuvor, habe ich gesagt, und auch die Straßen und Gassen waren<br />
nicht irgendwie anders, nämlich mitleidend zum Beispiel oder<br />
tröstend. Es hat ja nichts, erklärte ich, davon gewußt, daß ich<br />
mich unterwerfen habe müssen, um diese Angst zumindest erträglich<br />
zu machen, obschon ich nicht zu sagen weiß, warum sie das<br />
überhaupt hätte sein sollen! Oh, hatten sie gelächelt, oh, eine<br />
Angst ist irgendwann einmal immer erträglich. Und wann also, frug<br />
ich, wann soll sie das sein? Niemand weiß das, haben sie<br />
geantwortet, und trotzdem, haben sie erklärt, trotzdem können wir<br />
alle das ertragen! Aber ich ertrage das nicht! habe ich gerufen,<br />
und sie haben solcherart gelächelt über mich, als ob sie über<br />
einen Idioten lächelten. Ja, habe ich gehöhnt, ja, lächeln Sie;<br />
aber Sie werden eines Tages gewiß eine ebensolche Angst erleben<br />
wie jene, der ich mich unterwerfen habe müssen, und Sie werden<br />
nicht anders handeln als ich selbst. Sie werden nämlich, fuhr ich<br />
fort zu erklären, auch Sie selbst werden nämlich dann erkennen,<br />
daß Sie kein Buch mehr lesen können in diesen Stunden und Tagen<br />
oder daß Sie Ihrem Neffen keine Geschichten mehr erzählen wollen –<br />
einfach nur deshalb, weil diese Angst jede Fähigkeit verbietet!<br />
Wir dürfen uns nicht unterjochen lassen von unseren Ängsten, war<br />
ihre süffisante Antwort, wir dürfen das nicht, weil wir sonst wie<br />
Tiere sind. Aber wir sind doch Tiere in der Angst, schrie ich,<br />
weil die Angst so etwas Tierhaftes ist!!! Oh, lieber Freund, nein,<br />
nein, begannen sie, da irren Sie! Ach ja, begann ich, ach ja...<br />
Nein, nein, lieber Freund, daß Sie uns nicht falsch verstehen,<br />
huben sie an; wir sind doch keine Tiere, obwohl manche Instinkte<br />
immer noch in uns allen zugegen sind und wirken-- Und ich bin kein<br />
Anhänger des Animalismus, unterbrach ich, daß Sie so mit mir reden<br />
müssen! Ja was wollen Sie dann überhaupt! wurde ich sofort laut<br />
angerufen. – - Was wollen Sie also überhaupt, wurde ich<br />
schließlich ein zweites Mal höflich gefragt. Ich weiß es nicht,<br />
antwortete ich; aber ich weiß, was ich in diesen Stunden will, daß<br />
wir uns nämlich von der Angst befreien. - - Verstehen Sie, begann<br />
ich nach einer Pause, die vielleicht zwölf Minuten dauerte,<br />
verstehen Sie, ich will, daß wir uns nicht mehr fürchten müssen.<br />
Oh, da müssen Sie aber schon, wurde mir erklärt, da müssen Sie<br />
aber schon sterben, wenn Sie das wirklich wollen! Das weiß ich,<br />
sagte ich, ich weiß, daß wir sterben müssen, um die Angst zu<br />
überwinden...Ja, wurde ich unterbrochen, gewiß ja, das müssen Sie<br />
dann wohl!...ich weiß das gut; aber es wird letztendlich nicht<br />
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mehr sein als eskapistisch. Und was ist der Eskapismus schon mehr,<br />
fuhr ich fort, nachdem man nur mit den Köpfen gewackelt hatte und<br />
ich also nicht zu sagen wußte, ob man mir damit zustimmte oder<br />
meine Aussagen ablehnte, was ist der endlich schon anderes als die<br />
Resignation vor einer Angst. Ja, haben sie gesagt in einem Timbre,<br />
über welches ich glaubte, daß es gleichermaßen resignativ wie<br />
stolz geklungen hat, ja, das ist der Eskapismus tatsächlich... - -<br />
Vielleicht müssen wir aber gerade deswegen sterben, begannen sie<br />
plötzlich, nachdem wir uns zehn Minuten oder zwölf bloß angestarrt<br />
hatten, vielleicht ist eben das die Ursache dafür. Oh, ich bitte<br />
Sie, sagte ich laut, ich bitte Sie! Konstruieren Sie doch nicht<br />
solche abstrusen Erklärungsmodelle nur deshalb, um sich nicht<br />
eingestehen zu müssen, daß wir schon im ersten Moment verloren<br />
haben! Aber wir sollen doch-- Nein, unterbrach ich, nein! Warum<br />
müssen Sie an einem Nus festhalten, der als eine bloße Theorie<br />
dekuvriert worden ist von uns allen; wir wissen doch gut, fuhr ich<br />
fort, daß wir verlieren, und wir brauchen dem keine Bedeutung mehr<br />
geben! - - Wir müssen an etwas glauben, sagten sie leise, wir<br />
müssen glauben oder lieben...oder zumindest hoffen... Nein, habe<br />
ich erklärt, nein, wir müssen das nicht und wir sollen es nicht<br />
(und vielleicht habe ich genauso stolz und eskapistisch geklungen<br />
wie sie zuvor).<br />
Schmerz, es ist immer nur Schmerz, habe ich geantwortet auf ihre<br />
Frage, warum ich nicht mehr lache oder tue. Ich bin kein Narr,<br />
habe ich ihnen gesagt, ich bin kein Narr, daß ich also hoffe, daß<br />
der Schmerz vielleicht behandelt werden könne! Es ist Schmerz, und<br />
es war immer Schmerz, erklärte ich mich, und wenn es einmal kein<br />
Schmerz gewesen war, dann war es statt dessen nicht das Lachen<br />
oder ein Lächeln, dann war es nämlich bloß Unbedachtheit oder<br />
Unaufmerksamkeit oder Lüge! Es ist also immer Schmerz, fuhr ich<br />
fort, weil schon der erste Schmerz oder ein einziger genügt dafür,<br />
daß sich nichts mehr herauswinden kann aus dem Schmerz! Wenn Sie<br />
also Ihre Diagnose ändern, um mir zu sagen, daß der Schmerz, von<br />
welchem Sie anfangs noch ge-dacht haben, daß er nicht zu behandeln<br />
sei, endlich als ein nicht so arg renitenter Schmerz sich bewiesen<br />
hat, habe ich gesagt, wenn Sie das also sagen, dann sagen Sie<br />
trotzdem nicht mehr, als daß es Schmerz ist! - - Es ist immer<br />
Schmerz, begann ich wieder, und wenn wir auch nicht sagen können,<br />
wie dieser Schmerz von jenem sich unterscheidet, so können wir<br />
doch immer sagen, daß es Schmerz ist. Und wir wissen endlich,<br />
sagte ich, wir wissen endlich alle, daß jeder Schmerz in einem Tod<br />
eine Akme findet, über welche wir schließlich genausowenig sonst<br />
sagen können wie über die verschiedenen Arten von Schmerz! - - Wir<br />
verlieren, habe ich geantwortet auf ihr Schweigen, wir verlieren.<br />
Dieser Schmerz, habe ich gesagt, ja, dieser eine Schmerz ist mir<br />
vielleicht genommen worden. Und weil sie nur lächelten, nämlich<br />
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lächelten, als ob sie wüßten, daß ich bloß begonnen hatte und also<br />
noch etwas sagen werde wollen, habe ich nicht geschwiegen: Aber<br />
wann, frug ich sie, werde ich zerrissen sein und betroffen, also<br />
noch einmal zwischen dem Schmerz und der Hoffnung umherirren<br />
müssen wie Ahasver daselbst? Das haben Sie geträumt! wurde mir<br />
geantwortet, und ich staunte so sehr ob dieser Aussage, daß ich<br />
zunächst nicht einmal irgendwelcher wütenden Reaktionen fähig war.<br />
Das haben Sie geträumt, wiederholten sie laut, ja, das haben Sie<br />
geträumt, wie man nämlich so vieles nur träumt und dabei meint,<br />
eine ganz bestimmte Tatsächlichkeit verifiziert zu haben! - - Das<br />
haben Sie geträumt, sagten sie zum drittenmal in einer Wut, welche<br />
schließlich die meine Lethargie zerhieb in einem Moment des<br />
Lidschlags, das haben Sie bloß geträumt! Ach, hub ich endlich an<br />
in einer durch und durch dünkelhaften Art, ach, ich wußte ja gar<br />
nicht, daß Sie den Popperschen Rationalismus verstanden haben...<br />
Oh, haben sie gelächelt, oh, da gehört doch wirklich nicht viel<br />
Besonderes dazu! Das ist jetzt aber eine Theorie, schrie ich, und<br />
wenn Sie tatsächlich den Kritischen Rationalismus verstanden haben<br />
oder gutheißen, dann müssen Sie auch wissen, daß Theorien bloße<br />
Hypothesen sind, und aber ich sehe in Ihren Fratzen, daß Sie das<br />
Wort Hypothese nicht einmal buchstabieren können! Popper ist nicht<br />
die ganze Welt, wurde ich selbst jetzt angeschrien, der ist nicht<br />
die ganze Welt! - - Aber der Schmerz, begann ich nach einer Pause<br />
von allenfalls zwölf Minuten, während welcher wir dagesessen waren<br />
wie die moribunden Patienten in einem schlecht durchlüfteten<br />
Wartezimmer, der Schmerz ist keine Theorie noch Hypothese. Oh,<br />
hörte ich jemand flüstern, oh, da haben Sie vielleicht sogar<br />
recht... Ich meine, begann ich, ich will nur sagen, daß ich mich<br />
weigere, den Schmerz als eine Theorie anzuerkennen. Sie sind ja<br />
nicht ausgesprochen konsequent, wurde ich zurechtgewiesen von<br />
einer dünnen Stimme. Natürlich, sagte ich, natürlich bin ich das<br />
dort nicht, wo es um den Schmerz zu forschen gilt... Wie können<br />
Sie also, frug diese Stimme, wie können Sie dann eine Theorie<br />
überprüfen, wenn Sie überhaupt keine operationalisiert haben. Oh,<br />
sagte ich, oh, ich brauche den Falsifikationsmechanismus<br />
nicht...Sie Narr, hörte ich jene Stimme, Sie Narr!...ich brauche<br />
den nicht, fuhr ich unbeirrbar fort, sintemal es Theorien gibt,<br />
die genausowenig formuliert wie falsifiziert werden können,<br />
nämlich mit den Postulaten des Kritischen Rationalismus weder<br />
formuliert werden können noch überhaupt geprüft! Daß Sie mich<br />
nicht falsch verstehen, erklärte ich mich, natürlich halte ich den<br />
Falsifikationsmechanismus Poppers für das wichtigste unsere<br />
Instrumente, das uns endlich ebenso in der Mathematik oder in den<br />
Geisteswissenschaften zu handeln erlaubt, wie wir schließlich auch<br />
unsere Vorurteile oder unseren Neid widerlegen können mit dem.<br />
Dennoch weiß ich, fuhr ich fort in meiner Erklärung, ich weiß sehr<br />
gut, daß es Fragen gibt oder Sehnsüchte, die nicht beantwortet<br />
werden können, indem man sie jenem Mechanismus überläßt. Nein,<br />
nein, unterbrach ich jene Stimme, die gewiß zu fragen oder zu<br />
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lästern sich bereitet hatte, nein, Sie können die Vorstellung von<br />
Immortalität nicht mehr aus der Welt schaffen, ich meine, Sie<br />
können die Unsterblichkeit als eine Theorie definieren; aber Sie<br />
werden das nicht widerlegen können. Mein lieber Freund, hub jene<br />
Stimme an, mein lieber-- Nein, unterbrach ich, nein, ich weiß, was<br />
Sie sagen wollen, und Sie müssen mir das nicht sagen! - - Ich will<br />
nur sagen, begann ich schließlich zögernd nach einer Pause von<br />
vielleicht sieben Minuten, ich meine, Sie können auch daraus eine<br />
Theorie machen...nämlich Sie können natürlich auch sagen, daß der<br />
Unsterblichkeit ein Bedürfnis zugrundeliegt...und daß dieses<br />
Bedürfnis wiederum nur eine Theorie ist... Verstehen Sie, suchte<br />
ich weiter zu erklären, nachdem man nicht einmal gegen mich zu<br />
argumentieren sich bemühte, verstehen Sie, Sie können das als eine<br />
Theorie betrachten; aber widerlegen werden Sie es nicht können.<br />
Ich habe noch nie ein Schwarz gesehen vor einem Weiß, habe ich<br />
geantwortet auf ihre Frage, warum ich Goethe, diesen Johann<br />
Wolfgang, keinen zu lesen aufgefordert habe in den vergangenen<br />
zehn Jahren. Aber Sie werden doch nicht die Insolenz haben, wurde<br />
ich sogleich gescholten, Sie können doch nicht tatsächlich so<br />
unverschämt sein, daß Sie die Schriften Goethes verlästern! Oh,<br />
habe ich gelächelt, oh, Sie wissen gut, daß dieser Johann Wolfgang<br />
vielleicht noch gelesen wird von Verrückten oder von Ärzten. - -<br />
Ob ich in meine Zelle zurückgehen könne, frug ich. Nein, nein,<br />
lieber Herr, hörte ich eine Stimme, Sie bleiben! Nun, begann ich<br />
schließlich, nachdem man mir eine Schachtel Zigaretten gereicht<br />
hatte und ein Päckchen Zündhölzer, nun, Sie wollen gewiß erfahren,<br />
weshalb ich so denke über Goethe. Ja, das wollen wir tatsächlich<br />
wissen, hörte ich zwei Stimmen, das wollen wir. Und wir wollen<br />
auch, hörte ich eine dritte Stimme, wir wollen auch wissen, warum<br />
Sie überhaupt so defätistisch sind. Oh, antwortete ich, oh, ich<br />
bin kein Defätist. Sie selbst aber, meine Herren, fuhr ich wütend<br />
fort, Sie selbst sind doch endlich für den Defätismus...Seien Sie<br />
still, wurde ich laut zurechtgewiesen, seien Sie still!...weil Sie<br />
weder Morus gelesen haben noch Campanella oder Orwell! - - Mein<br />
lieber Freund, begann schließlich der zweite dieser fünf, mein<br />
lieber guter Freund... Sie wissen ja, fuhr der vierte fort, daß<br />
wir hier alle nur Ihr Bestes wollen... Ihr Bestes, sagte der<br />
erste, daß Sie das nicht vergessen. Ich vergesse nichts so bald,<br />
lächelte ich und brannte eine Zigarette an. Auch das wissen wir,<br />
sagte der dritte, und wir werden darüber noch sprechen müssen. Ja,<br />
ja, sagte ich süffisant, wir werden hier ja über alles sprechen...<br />
Und das hat schon Sinn so, lächelte der fünfte, und sein Lächeln<br />
bedünkte mich das Lächeln eines Hohepriesters. Was die Welt im<br />
Innersten zusammenhält, skandierte ich dreimal auf eine durchaus<br />
pejorative Weise. O, mein lieber Freund, o, staunte der zweite...<br />
Sie kennen Goethe ja sehr gut, erklärte der erste, und-- Und jetzt<br />
bin ich Ihnen bereits so sympathisch, unterbrach ich ihn lachend,<br />
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daß Sie Ihr Urteil einstimmig revozieren werden. - - Wir hatten<br />
uns fünf Minuten angelächelt - wie nämlich auch zuweilen die<br />
Soldaten der Erschießungskommandos dem Lächeln des Delinquenten<br />
mit einem ebensolchen Lächeln begegnen -, als ich selbst endlich<br />
wieder zu sprechen mich mühte, sintemal man mich ohnedies nicht in<br />
meine Zelle zurückkehren lassen würde. Sie müssen wissen, meine<br />
Herren, daß ich während der vergangenen Jahre – Jahre übrigens,<br />
während welcher ich selbst noch ein freier Mensch sein habe<br />
dürfen, und Sie selbst gewiß Ärzte gewesen waren, welche allein<br />
dem Eid des Hippokrates sich verpflichtet hatten -, daß ich also<br />
in diesen Jahren vielleicht nur deshalb geschrieben habe, damit<br />
ich...Wir kennen Ihre Pamphlete, wurde ich unterbrochen vom<br />
zweiten, wir kennen die sehr gut!...damit ich-– Oh, Sie kennen<br />
meine Schriften!? frug ich erstaunt. Wir kennen die, lächelte der<br />
vierte, wir kennen die sehr genau! Und wir kennen Sie! sagte der<br />
erste. - - Vielleicht, begann ich schließlich in arroganter Weise,<br />
vielleicht, meine Herren, ist Ihnen nicht mehr bewußt, daß Goethe<br />
im Jahr 1832 gestorben ist...Wir wissen das, schrie der zweite<br />
nervös, wir wissen das!...und daß dieser Goethe außerdem geglaubt<br />
hat, zu jeder Nichtigkeit etwas schreiben zu müssen. Das ist eine<br />
Unverschämtheit, schrien der erste und der fünfte, das ist eine<br />
Unverschämtheit! Aber meine Herren, lächelte ich, Sie brauchen<br />
sich nicht exaltieren, zumal Sie doch wissen wollen, warum ich<br />
Goethe nicht mehr lese und auch zu lesen niemandem rate. - - Es<br />
ist schon gut so, sagte der dritte nach einer Pause, während<br />
welcher ich zwei Zigaretten geraucht hatte, es ist schon gut, daß<br />
Sie hier sind... Obgleich eigentlich Goethe behandelt gehört,<br />
reagierte ich sofort. Oh...na oh, staunten der erste und der<br />
fünfte, dieweil die anderen in ihren Aktenmappen blätterten oder<br />
irgendwelche Notizen machten und dabei so taten, als hätten sie<br />
mich nicht gehört. Sie müssen ja wissen, meine Herren, begann ich,<br />
daß ein Schriftsteller nicht mehr als zweitausend Seiten schreiben<br />
sollte, ich meine, insgesamt nicht mehr als zweitausend Seiten,<br />
weil er sonst nicht mehr ge-lesen wird. Und ich spreche jetzt,<br />
fuhr ich fort, ich spreche jetzt von Sätzen, die gleichermaßen<br />
rhythmisch sind wie lehrreich! Und Ihre Sätze sind das, rief der<br />
vierte laut lachend, Ihre Sätze sind das natürlich... Zumindest<br />
habe ich es immer versucht, antwortete ich, und ich fühlte indes,<br />
daß ich schon resigniert hatte, sintemal ich jene Antwort mit<br />
einer Indolenz formuliert hatte, die vielleicht nichts anderes<br />
sein hatte wollen als Resignation. - - Ja, lachen Sie, meine<br />
Herren, lachen Sie, rief ich endlich entrüstet; ich würde auch<br />
heute noch unverdrossen an diesen Sätzen arbeiten...aber Sie haben<br />
sie indiziert! Wir werden Ihre Bücher sogar verbrennen! rief der<br />
zweite. Oh, natürlich, sagte ich, ja, der Index war immer schon<br />
der Vorhof zur Brennkammer... Mein lieber Freund, begann der<br />
erste, noch verbrennen wir nur Ihre Bücher... Und bald schon, rief<br />
ich, werden Sie auch mich verbrennen. In Zeiten wie diesen...,<br />
sagte der fünfte. Ist das Autodafé, fuhr der dritte fort, eine<br />
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Notwendigkeit... Eine lebenswichtige, sagte der zweite, eine<br />
lebenswichtige und damit logisch-stringente Notwendigkeit der<br />
Staatsräson! Ein defätistischer Staat ist das, lächelte ich, ein<br />
Defätist...und ein Defraudant zudem. Seien Sie still, wurde ich<br />
zornig angewiesen, seien Sie still! - - Sie werden schon wissen,<br />
meine Herren, erklärte ich, warum Sie das tun; aber Sie werden es<br />
dereinst nicht zu legitimieren vermögen. Nämlich die Wahrheit,<br />
fuhr ich fort, denn die Wahrheit ist endlich gut. Ja, lachen Sie,<br />
meine Herren, sagte ich, lachen Sie, aber die Wahrheit ist endlich<br />
nicht die Lüge oder der Wille eines Souveräns. Denn die Wahrheit<br />
tötet nicht, versuchte ich mich zu erklären, sie tötet nicht, und<br />
sie ist auch nicht zu verbieten oder zu verhindern! Wir sagen<br />
Ihnen schon, was die Wahrheit ist, hörte ich fünf zynische<br />
Stimmen. Nein, lachte ich wie ein sorgloses Bübchen, nein, Sie<br />
können mir ja noch nicht einmal Ihre Wahrheit sagen.<br />
Darüber werde ich schweigen wollen, habe ich gesagt, darüber werde<br />
ich schweigen. Sie wissen aber, mein Herr, hörte ich sogleich jene<br />
Stimmen, Sie wissen schon, daß wir Mittel haben...Medikamente,<br />
unterbrach ich, Medikamente meinen Sie wohl!...daß wir Mittel<br />
haben und Medikamente, Ihr Schweigen in fünfzehn Minuten zu<br />
brechen. Oh, ich weiß das, hub ich an, ich weiß das gut. Und Sie<br />
weigern sich dennoch!? wurde ich von jenen erstaunten Stimmen<br />
gefragt. Nun, meine Herren, begann ich zögernd, nun, vielleicht<br />
habe ich es nur versuchen wollen...es zumindest versuchen... Ein<br />
Bluff ist das, wurde ich gefragt vom vierten. Keineswegs, sagte<br />
ich, nur ein letzter Rest der eigenen Hoffnung. Oh, staunte der<br />
dritte, oh...na dann... Ist ja alles in Ordnung, begann der erste,<br />
in bester Ordnung... Sozusagen, fuhr der zweite fort. - - Also die<br />
Ordnung meinen Sie, und die ist Ihnen so wichtig!? frug ich diese<br />
fünf in dem ehrlichen Bestreben, das zu verstehen. Die Ordnung,<br />
begann der vierte, ist das oberste Gesetz...Im Staate Dänemarks,<br />
fuhr ich dazwischen, im Staate Dänemarks!...das oberste Gesetz<br />
heißt Ordnung! - - Aber ich selbst, begann ich schließlich,<br />
nachdem mein letzter Zwischenruf keine Wirkung gezeitigt hatte,<br />
ich selbst mag Ihre Gesetz wenig leiden. Wenig, frug der fünfte,<br />
wenig oder... Oder überhaupt nicht? setzte der zweite fort. Ist<br />
das jetzt noch von Bedeutung, frug ich. Es ist aus-schlag-ge-bend!<br />
jubelten der dritte und der vierte. Das verstehe ich jetzt aber<br />
nicht, entgegnete ich, ich verstehe das nicht. Mein lieber Freund,<br />
sagte der erste, Sie müssen wissen... Daß die Ordnung, setzte der<br />
vierte fort, die Ordnung, die wir meinen... Daß also diese<br />
Ordnung, sagte der zweite, so etwas wie eine gottgewollte<br />
Richtungsentscheidung ist, die wir zu interpretieren aufgetragen<br />
sind-- Nach eigenem Gutdünken, schrie ich dazwischen, nach eigenem<br />
Gutdünken! - - Ich sehe, begann der fünfte nach einer Pause von<br />
zwölf Minuten, während welcher mir selbst nicht zu rauchen erlaubt<br />
war, ich sehe...Und wir bedauern das, unterbrachen ihn die<br />
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anderen, wir bedauern das ehrlich!...daß Sie so überhaupt nicht<br />
kooperativ sind! Oh, ich weiß meine Herren, sagte ich süffisant<br />
wie ein toter Clown, ich weiß, daß ich so ganz und gar ein<br />
schlechter Staatsbürger und Häftling bin. Und was werden Sie also<br />
tun, frug ich. - - Was werden Sie tun, meine Herren? frug ich ein<br />
zweites Mal ohne eine Antwort zu bekommen. - - Ohhh...natürlich,<br />
habe ich plötzlich gerufen; Sie werden mich wählen lassen, Sie<br />
werden mich wählen lassen zwischen diesem und jenem, obgleich Sie<br />
wissen, daß ich keine Entscheidung treffen werde können! - - Sie<br />
sind nicht ungeschickt, sagte endlich der zweite, Sie sind das ja<br />
wirklich nicht... Ja, Sie werden mich wählen lassen, begann ich<br />
laut, Sie werden mir wie Henkersknechte vorschlagen, ein<br />
Geständnis abzulegen...oder der Folter mich auszuliefern...und Sie<br />
wissen in diesem Moment bereits, fuhr ich fort zu schreien, daß<br />
ich nicht wählen werde können, weil ich leben will ohne eine<br />
Bedingung! - - Ich kenne das, sagte ich endlich, ich kenne das<br />
genau, ich kenne Ihre Methoden, weil es keine so anderen Methoden<br />
sind. Welche Methoden sind es denn, frug der erste gelangweilt.<br />
Erwachsene Methoden, es sind erwachsene Methoden, habe ich<br />
geschrien, ich meine, es sind das die Methoden, wie sie alle<br />
Erwachsenen immer schon gebraucht haben, um aus den Kindern eine<br />
servile fügsame Gefolgschaf-- Mann, wovon reden Sie überhaupt!<br />
wurde ich von fünf zornigen Stimmen unterbrochen. Aber meine<br />
Herren, lästerte ich (dermalen durchaus zufrieden), Sie müssen<br />
jetzt keine Verwirrung heucheln. Das ist doch wohl, hörte ich eine<br />
Stimme stottern, das ist doch-- Nein, aber nein, unterbrach ich<br />
jene Stimme; doch ich will Ihnen eine Geschichte erzählen-- Sie<br />
tun ohnehin nichts anderes, unterbrach mich der zweite, Sie tun<br />
seit Tagen nichts anderes... Als uns irgendwelche Geschichten zu<br />
erzählen, fuhr der vierte fort... Irgendwelche blöden oder<br />
langweiligen, jedenfalls erlogenen Geschichten, setzte der erste<br />
noch hinzu. Ein Dichter erfindet nichts, habe ich selbst jetzt<br />
fürwahr gelogen, ein Dichter erfindet keine Geschichten! - - Mein<br />
lieber Freund, begann endlich der zweite wieder, wir selbst sind<br />
ja keine Philologen... Daß wir jetzt, fuhr der fünfte fort, daß<br />
wir jetzt mit Ihnen, mein lieber Freund, über die Realität der<br />
Prosa diskutieren oder...Vergessen Sie aber die Lyrik nicht,<br />
unterbrach ich ihn, vergessen Sie die Lyrik nicht!...oder daß<br />
wir-– Ach, das ist doch einerlei... Das ist wirklich nicht von<br />
Bedeutung, rief der dritte, hier ist es nämlich überhaupt...<br />
Bedeutungslos! ergänzte der erste. Ich weiß das, lächelte ich, ich<br />
weiß das...und ich bedauere das. Aber statt zu bedauern, lachte<br />
der fünfte, statt das zu bereuen, sollten Sie endlich ein<br />
Geständnis ablegen.<br />
Sie sollen wissen, meine Herren, begann ich, Sie sollen wissen,<br />
daß vieles nur deshalb getan wird oder geplant, um den Tod zu<br />
retardieren. Ja, meine Herren, fuhr ich fort, das sollen Sie<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
wissen. Aber man kann den Tod nicht verzögern, hörte ich eine<br />
Stimme, und das wissen Sie! O, hörte ich mich sagen, o, ich selbst<br />
habe ja niemals etwas in dieser Hinsicht getan, im Gegenteil,<br />
meine Herren. Aber es wird ja, erklärte ich, es wird ja immer<br />
schlechter gestorben, und das wiederum wissen Sie, meine Herren!<br />
- - Wenn Sie sich erklären wollen, hörte ich schließlich eine<br />
helle Stimme. Natürlich, oh, natürlich, aber ich kann das nur<br />
versuchen, sagte ich, ich kann das versuchen... Mehr ist auch<br />
nicht verlangt worden von Ihnen! sagte der zweite in einer<br />
durchaus schulmeisterlichen Art. - - Nun fürchte ich dennoch,<br />
begann ich, nachdem ich zwei Zigaretten geraucht und indes meine<br />
Gedanken zu ordnen versucht hatte, fürchte ich dennoch, daß Sie<br />
meine Erklärungen, ich meine, jene versuchten Erklärungen – das<br />
Sie das alles endlich nur hören wollen, um eine Urteilsbegründung<br />
schreiben zu können; obschon ich selbst ja nicht-- Mein lieber<br />
Freund, wurde ich unterbrochen vom fünften, Sie wissen doch, daß<br />
wir keine Begründungen brauchen für unseren Spruch. Oh, entgegnete<br />
ich sardonisch, oh, natürlich weiß ich das, bitte verzeihen Sie<br />
meine...Unachtsamkeit. So erzählen Sie endlich, wurde ich herrisch<br />
aufgefordert vom vierten, erzählen Sie! Aber ich brauche nichts<br />
erzählen, reagierte ich sofort, ich brauche das nicht; sehen Sie<br />
sich, meine Herren, sehen Sie sich und Sie...Sie sind renitent,<br />
wurde ich zurechtgewiesen vom dritten, renitent!...und Sie, sehen<br />
Sie sich und-- Das hatten Sie aber schon einmal diagnostiziert!<br />
- - Man hatte mir schließlich eine Pause von dreißig Minuten<br />
gewährt. Die Ärzte waren aus dem Verhörzimmer gegangen und hatten<br />
eine rote dünne Mappe auf den Tisch gelegt. Zwei Blatt Papier<br />
waren darin, weißes glattes Papier in den Maßen 210 zu 297<br />
Millimeter, sowie ein stumpfer schäbiger kurzer Bleistift. Man<br />
hatte mir nämlich aufgetragen, alles das niederzuschreiben, was<br />
ich nicht artikulieren zu können glaube. Und natürlich hatte ich<br />
weder einen Satz oder ein Wort noch eine Interpunktion notiert<br />
gehabt, als jene fünf "Scharfrichter und Ärzte" schließlich wieder<br />
lächelnd eingetreten waren nach wahrscheinlich exakt dreißig<br />
Minuten. - - Nun, mein lieber Freund, begann der vierte mit einem<br />
süffisanten Timbre, dieweil der erste nach der Mappe griff, was<br />
haben Sie denn notiert? Lesen Sie selbst, meine Herren, antwortete<br />
ich lächelnd, lesen S-- Ohoo, ohoo, hörte ich den ersten lästern<br />
und den dritten, welcher neben ihm saß, ohoo... Unser Freund,<br />
sagte der erste, scheint ja tatsächlich zu glauben... Daß uns<br />
seine Scherze amüsieren, setzte der dritte fort in kurzen harten<br />
Betonungen, seine kindischen, naiven, dümmlichen, lästerlichen<br />
Possen. Ich beliebe nicht zu lachen, rief ich sofort, und ich tue<br />
das nicht...Aha, staunten diese fünf, aha!?...weil das Lachen hier<br />
wie eine Lüge riecht...<br />
Meine Herren, begann ich durchaus zuvorkommend, Sie brauchen mir<br />
keine Paraphrenie zu diagnostizieren, wiewohl Sie gewiß eine<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
katexochen ungebührliche Neigung zur Prognose jedweder Art von<br />
Schizophrenie leben m-ü-s-s-e-n...einfach schon deshalb, weil Sie<br />
selbst nichts wissen ob der Existenz eines Gottes. Das ist hier<br />
nicht die Sache, entgegnete der dritte, Gott ist hier nicht die<br />
Sache, über welche wir Ärzte...reden müss-- sollen, reden<br />
sollen... Nämlich mit Ihnen, setzte der fünfte noch hinzu. Aber<br />
ich wiederum muß diese Frage berücksichtigen, sagte ich; es gibt<br />
ja einen Punkt der Erkenntnis, erklärte ich, von welchem-- Ach,<br />
hören Sie auf damit, unterbrach mich der erste laut, lassen Sie<br />
das! Mein lieber Freund, fuhr der zweite höflich fort, mein lieber<br />
guter Freund, Sie sollen nur ein wenig mehr realistisch sein als<br />
Sie defätistisch sind. Aber ich habe schon einmal, hub ich an, ich<br />
habe schon-- Nein, nein, unterbrach mich der vierte; Sie sollen<br />
jetzt allein darüber nachdenken, daß es um Ihre Existenz nicht zum<br />
besten steht und daß Sie...Das haben Sie aber schön gesagt,<br />
lächelte ich, und das haben Sie schon einmal gesagt!...und daß<br />
Sie, erklärte der vierte beinahe unbeirrbar, daß Sie in der<br />
Situation, in der Sie sich jetzt befinden, auf keinen solchen<br />
Fragen insistieren brauchen. Verstehen Sie, lieber Freund, begann<br />
der dritte, und er schien ehrlich bestürzt, verstehen Sie –<br />
vielleicht werden Sie schon in drei Tagen gehängt...Oder<br />
erschossen, unterbrach ich ihn, oder erschossen!...oder auch<br />
erschossen, ja...Oder sogar geköpft, unterbrach ich ein zweites<br />
Mal, allenfalls sogar geköpft, oder überhaupt nur<br />
gevierteilt!...Vergessen Sie den Scheiterhaufen nicht, rief<br />
lächelnd der zweite dazwischen, vergessen Sie den nicht!...O ja,<br />
rief ich amüsiert, o ja, den Scheiterhaufen will ich auch ganz<br />
wohl erachten!...ja, oder verbrannt, lieber Freund, fuhr der<br />
dritte nervös fort, oder auch verbrannt; nichtsdestotrotz, mein<br />
lieber Freund, in Ihrer Lage – DA DÜRFEN SIE ÜBER SOLCHES NICHT<br />
MEHR IHRE ZEIT VERTUN! - - Was aber soll ich tun, meine Herren,<br />
was soll ich denn statt dessen tun, frug ich leise nach zehn<br />
Minuten, während welcher ich reumütig zu sein so gut geheuchelt<br />
habe, daß sogar diese fünf vielleicht gedacht haben über mich, daß<br />
ich kein Verbrecher sei.<br />
Warum ich also nicht weine, hatten sie mich gefragt, warum ich<br />
nicht weine. Warum solle ich das denn, hatte ich ihnen entgegnet.<br />
Sie schienen ein wenig verärgert darüber, daß ich ihrer Frage mit<br />
einer anderen Frage zu begegnen mich erdreistet habe. Warum ich<br />
das denn also solle, frug ich sie nochmals in einer<br />
Beharrlichkeit, über welche sie gewiß nicht geglaubt haben in<br />
diesem Moment, daß ich dazu fähig sein würde. Nun, hatten sie<br />
gezögert, nun, das Weinen sei so etwas wie eine Katharsis, welche<br />
hülfe, den Staub von der Seele zu schwemmen. Oh, hatte ich<br />
begonnen, oh, ich wußte ja nicht, daß Sie selbst an die Existenz<br />
von Seelen glauben... Sie können auch Zufriedenheit sagen, hatten<br />
sie geantwortet, Sie können das auch Zufriedenheit nennen! - - Zu-<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
frie-den-heit!? hatte ich mich erstaunt, Sie meinen tatsächlich<br />
Zu-frie-den-heit, bloße Zu-frie-den-heit!? Ja, ja, hatten sie<br />
gesagt, genau das! Aber ich solle endlich sagen, warum ich nicht<br />
weine. - - Ob Sie selbst also zufrieden seien, frug ich, und<br />
natürlich ärgerten sie sich ein zweites Mal (Aber sie waren jetzt,<br />
das habe ich rekognosziert, ehrlich bemüht, nicht etwa laut zu<br />
werden oder mir zu drohen, und vielleicht haben sie das nur<br />
deshalb getan, weil es alle Ärzte tun in den psychiatrischen<br />
Krankenhäusern und den Feldlazaretten oder weil es doch irgendwie<br />
verlangt wird ihnen.) Natürlich sind wir zufrieden, hatten sie<br />
geantwortet, und wir sähen es wirklich gerne, wenn auch Sie selbst<br />
endlich eine solche Zufriedenheit sich gestatteten. Ich müsse,<br />
hatte ich jetzt gefragt, ich müsse also nur das tun, wozu Sie mir<br />
raten, nämlich weinen, und dann würde sich diese Zufriedenheit<br />
schon ereignen wollen!? Gewiß, gewiß, hatten sie gelächelt, gewiß,<br />
ich müsse nur weinen; früher oder später, aber ziemlich bald auf<br />
jeden Fall, würde ich dann zufrieden sein können. Und was ist mit<br />
Gott, frug ich, was ist mit Gott. Wie bitte, wie? frugen sie in<br />
einer Verwirrung, die sogar auf ihren weißen Kitteln abzulesen<br />
war. Ich meine, hub ich an, was ist mit Gott? - - Mein lieber<br />
Herr, begannen sie schließlich, wir sprechen heute nicht über Gott<br />
mit Ihnen, wir-- Ja, ja, fiel ich den Ärzten ins Wort, ja, ja, Sie<br />
müssen nicht von Gott mit mir sprechen; aber Sie können etwas<br />
erzählen darüber! Sie scheinen die Situation falsch einzuschätzen,<br />
erklärten die Ärzte in ihrer gewohnten Routine, gänzlich falsch;<br />
Sie sind es doch, der erzählen soll... Aber ich weiß nichts von<br />
Gott! schrie ich laut und war sogar von meinem Sessel<br />
aufgesprungen. Bitte, lieber Freund, wenn Sie wieder Platz nehmen<br />
wollen! Natürlich, oh, natürlich, meine Herren; aber ich bin<br />
so...erregt...bei diesen Themen...und zwar so ganz...durcheinander<br />
und erregt. Das ist gut, das ist gut, erklärten sie, das ist<br />
wirklich gut! Nämlich die innere Erregung, wie ich aufgeklärt<br />
wurde, die Zerrüttung, die zuerst in ekstatischen Schüben<br />
passiert, um schließlich einem ausdauernden, wenngleich sich bald<br />
irgendwohin verlierenden Wohlgefühl zu weichen, kulminiert ja<br />
endlich in...Zufriedenheit. Also ist Gott zufrieden? frug ich.<br />
Sind Sie doch nicht naiv! wurde ich zurechtgewiesen, und es war<br />
sogar den Ärzten aufgefallen, daß sie in diesem Moment ihre<br />
Kontenance verloren hatten. Ich darf Sie jetzt aber bitten, meine<br />
Herren, nicht so arg persönlich zu werden, Sie verletzen mich, und<br />
ich bin ja hierher gebracht worden, daß man meine Wunden heilt und<br />
keine neuen schlägt. Sie sind bloß deshalb hier, weil Sie renitent<br />
sind, mein Herr! Aber nein, aber nein, entgegnete ich; Sie<br />
verwechseln mich mit jemand anderem; wenn Sie nur in Ihren Akten<br />
nachschla-- Seien Sie still! Wir wissen, weshalb Sie hier sind,<br />
mein Herr; Sie sind der Patient und wir sind Ihre behandelnden<br />
Ärzte! Aber man hat mir gesagt, ja, man hat mir glaubhaft<br />
versichert, daß ich-- Was, was, wurde ich unterbrochen, was hat<br />
man Ihnen versichert! Etwa daß Sie bloß zwecks Genesung in unsere<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Anstalt-- So ist es mir gesagt und versichert worden, rief ich<br />
dazwischen. So ist es Ihnen gesagt und versichert worden, lachten<br />
die Ärzte, so ist es ihm gesagt worden. - - Ja, sagte ich nach<br />
einer Pause, die mir selbst schließlich so lang und unangenehm<br />
schien, daß ich, nur um diese Pause zu unterbrechen, wieder zu<br />
sprechen begann, aber wenn sogar Sie mir nicht glauben... Oh,<br />
lieber Freund, wir glauben Ihnen; aber erzählen Sie jetzt, warum<br />
Sie nicht weinen wollen, erzählen Sie. Muß man das denn wollen,<br />
frug ich, kann man das nicht einfach können. Nun, mein Freund,<br />
begann der zweite dieser fünf Ärzte distanciert, und es schien,<br />
daß er Schwierigkeiten hatte, seine Gedanken zu formulieren, nun<br />
ja, Ihr...Fall ist...so...so ganz besonders, ja, ganz besonders.<br />
Nämlich Ihr Krankheitsbild, erklärte der vierte, ist so ganz<br />
spezifisch... Spezifisch, fuhr der dritte fort, für die ADT-<br />
Paranoia... Für eine Krankheit also, sagte der fünfte, die wir<br />
Ärzte überhaupt erst seit sieben Monaten kennen... Und Sie wissen<br />
ja, versuchte der erste mir zu erläutern, Sie wissen doch, daß für<br />
zuverlässige Aussagen reliable Beobachtungen notwendig sind! Aber<br />
ist Gott selber genügend zuverlässig gewesen? frug ich. Das ist<br />
hier und jetzt nicht von Interesse, lieber Freund, antworteten<br />
sie. Aber, hub ich an, aber-- Nein, nein, lieber Freund, wurde ich<br />
unterbrochen vom dritten; Sie leiden ja nicht an der ADS-Paranoia,<br />
daß wir jetzt also über Gott mit Ihnen sprechen müßten. Ihre<br />
Krankheit, erklärte der fünfte, heißt ADT-Paranoia. Und die ADTP,<br />
bemühte sich der erste, hat ihre Ursachen in jener inneren<br />
Zerrüttung...Ursachen der Ekphorie übrigens, erklärte der zweite,<br />
die wir ganz genau kennen!...in einer Zerrüttung, die Sie selbst<br />
uns schon geschildert haben. O ich bin gewiß nicht paranoid, meine<br />
Herren, entgegnete ich durchaus höflich. Natürlich sind Sie das,<br />
lieber Herr! sagten der erste und der vierte. Weil die Renitenten,<br />
antwortete der dritte wütend, dieweil die anderen vier sich ob<br />
seines Tonfalls erstaunten, weil die immer auch Paranoiker sind!<br />
- - Endlich bat ich um eine Zigarette, nachdem wir vielleicht<br />
schon zehn Minuten nichts gesagt hatten. Oh, wie unaufmerksam von<br />
uns, entschuldigte man sich bei mir, und der zweite reichte mir<br />
ein Päckchen Filterlose. Danke, erklärte ich mich kurz und brannte<br />
eine Zigarette an. Was unser Kollege eigentlich sagen will, begann<br />
schließlich der fünfte, und er schien ein wenig indigniert, ist ja<br />
nichts anders, als... Als daß wir alle hier nur Ihr Bestes wollen,<br />
sagte der vierte und schob mir einen Aschenbecher über den Tisch,<br />
nur Ihr Bestes... Lieber Freund, setzte der zweite noch hinzu. Oh,<br />
begann ich zu lächeln, oh, das haben sie im Zimmer Eins-Null-Eins<br />
auch gesagt... Im Zimmer Eins-Null-Eins? wurde ich erstaunt<br />
gefragt vom zweiten. Ja, Eins-Null-Eins – Sie kennen doch Orwells<br />
1984!? Während meiner Studienzeit habe ich es gelesen, glaube ich,<br />
sagte der erste ganz unbedacht, dieweil die anderen verärgert<br />
schienen. – - Mein lieber Freund, begann der fünfte, Sie müssen<br />
doch wissen, daß Bücher genausowenig real sind wie Träume und<br />
daß-- Es ist mir gleich, ob die real sind! schrie ich. Ich brauche<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
nicht darüber reden mit Ihnen, was warum und wie lange real ist,<br />
ich brauche das nicht, dafür bin ich nicht hier! - - Sie haben<br />
natürlich recht, mein lieber Freund, begann der vierte nach einer<br />
unangenehmen Stille, während welcher ich zumindest fünf Zigaretten<br />
geraucht hatte; es ist vollkommen gleichgültig, ob Bücher real<br />
sind oder bloße Illusionen, solange diese Bücher angelegentliche<br />
Scharteken sind und...Oder uns etwas zu lehren wissen, unterbrach<br />
ich ihn, irgend etwas zumindest!...Ja, vielleicht auch das... - -<br />
Ich lese keine Bücher mehr, hub ich an, sintemal ich ihrer<br />
nächsten Frage zuvorkommen wollte. Aber Sie haben sie in Ihren<br />
Erinnerungen behalten, begann der fünfte, und das ist ein<br />
gefährliches Spiel. Ein wir-kli-ch gefährliches Spiel! erklärte<br />
der zweite nachdrücklich. Oh, Sie kennen meine Erinnerungen nicht,<br />
lachte ich, oh, Sie kennen die nicht, daß Sie so etwas sagen<br />
können. Es tut mir leid Sie enttäuschen zu müssen, mein lieber<br />
Freund! sagte der erste. Doch wir Wissenschafter kennen die<br />
chemischen Reaktionen, sagte der dritte, welche... Welche auch so<br />
etwas wie Erinnerungen nachgerade erst auslösen, sagte der zweite.<br />
Ja, natürlich, ja, entgegnete ich jovial, ein Kuß ist ein<br />
histologisch-chemischer Prozeß! Ob Sie das glauben wollen oder<br />
nicht, antwortete der fünfte laut, aber das ist tatsächlich so,<br />
und es ist auch bereits bewiesen worden von uns! Warum soll ich<br />
dann denn weinen, frug ich und lächelte dabei ob der Verwirrtheit<br />
der Ärzte. Also soll ich mit einem chemischen Prozeß, fuhr ich<br />
fort zu fragen in jener gespielten konzilianten Art, einen zweiten<br />
chemischen Prozeß provozieren, um endlich einen dritten oder<br />
vierten zu verhindern!? Sie brauchen nur das tun, was wir Ihnen<br />
sagen! schrie der vierte, der jetzt aufgesprungen war von seinem<br />
Sitzplatz und dessen rechte Hand mich bedünkte, als würde er mich<br />
schlagen wollen. - - - Sie haben noch fünfzehn Minuten, wurde ich<br />
hingewiesen vom dritten. Danke, habe ich gesagt, und ich habe<br />
nicht geweint.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Es ist meine Aufgabe, den Leser in eine Verwirrung zu stürzen, aus<br />
der er nicht mehr herausfindet!<br />
hatt´ es nicht umsonst<br />
eine...unmenge<br />
taten schlechter tat<br />
beobachtet zu werden<br />
verlangt, aufdaß die<br />
dauernde, häßlichste<br />
trauer sich ganz verwandelt<br />
in die gestalt von göttern?<br />
Der Dialekt ist ein Wolf, dessen Belfern man mit rücksichtsloser<br />
Züchtigung begegnen muß!<br />
Im Sterben wird es die Hoffnung sein, die sich falsch benimmt!<br />
nur ich selbst war<br />
unter allen makellosen<br />
gegen das sterben gewesen.<br />
Wenn ich das in meine Tasche stecke - jenen braunen Strick, dessen<br />
Fasern ich mit einem Stückchen Seife geglättet haben werde wie das<br />
Haar einer Geliebten am frühen Morgen; wenn ich über die Stufen<br />
steige, in den achten Stock hinauf, wo ein Raum, ein trockener<br />
staubiger heißer, gebaut ist unter dem Ziegeldach; wenn ich die<br />
Tür versperre und den Schlüssel nicht abziehe; wenn ich den<br />
stärksten Balken von allen wähle, den Strick daran zu binden... O<br />
wie wird das sein dort oben? Wird dann die Seele aus mir platzen,<br />
so ganz wohlgefällig wie mein Samen ehedem? Wird es denn<br />
tatsächlich so sein, wie es mir träumte gestern abend, daß ich<br />
zernichtet werde und dabei lachen, und wird endlich gar die<br />
Hoffnung sich niederlegen, um der Gewißheit den Vortritt zu geben?<br />
O wie wird das sein dort oben?<br />
Es ist ein Erwachen, dem keine Erlösung folgt, ist ein Tun, das<br />
keine Taten legt, ist ein Denken, das kein Dauern hat.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
ich wollte ja emporsteigen - ins<br />
himmlische licht hinauf; daß ich<br />
mich durchwandern kann ohne alle<br />
irrungen.<br />
Ein Gedicht zu schreiben hat keine Überlegungen notwendig.<br />
Zwar scheint die Sonne, hub ich an, zwar scheint die Sonne an<br />
diesem Dienstag auch sechsundzwanzig Minuten vor 16 Uhr 10 noch;<br />
aber was will das heißen? Daß die Dämmerung beginnt, hat er<br />
gesagt. Ja, gewiß ja, habe ich ihm larmoyant entgegnet, das ist<br />
schon wahr... Was willst du eigentlich sagen? frug er ein wenig<br />
ungeduldig und sah zu dem Fenster, so als ob er sich vergewissern<br />
müsse, daß die Dämmerung tatsächlich eingesetzt hatte. Aber<br />
sie...sterben, habe ich gesagt, sie sterben! - - Ich weiß<br />
natürlich nicht, habe ich gesagt, ich selbst weiß nicht, wann sie<br />
sterben oder ob sie an Tumoren sterben oder an Hungerödemen, oder<br />
wie viele überhaupt sterben...Natürlich weißt du das nicht, hat er<br />
gesagt, das weißt auch du nicht!...aber ich weiß endlich sehr gut,<br />
fuhr ich fort, daß sie sterben. Wir alle werden das, hat er<br />
gelächelt, wir alle müssen sterben. - - Und wie kannst du das<br />
ertragen, frug ich ihn nach zehn Minuten, während welcher ich<br />
vielleicht dreimal mein Genital berührt hatte für einige Atemzüge<br />
oder länger, daß mich also zumindest diese Berührung endlich<br />
tröste, wie ich mich nämlich auch damals immer wieder, als ich ein<br />
kleiner Junge war und zum ersten Mal wirklich kapierte, was<br />
Sterblichkeit bedeutet, regelmäßig solcherart betastet habe, wie<br />
kannst du das ertragen? Wieso kannst du lachen, fuhr ich fort,<br />
wieso kannst du das, wenn irgendwo irgendwer stirbt!? Aber ich--<br />
Nein, unterbrach ich ihn, nein, ich verlange ja nicht, daß du<br />
nicht mehr lachen sollst! - - Und was verlangst du? frug er<br />
schließlich. Ich mag den Tod nicht leiden, begann ich, ich mag den<br />
nicht, und ich habe ihn noch nie mögen, weil er so ganz<br />
rücksichtslos ist! Und der Tod, habe ich gerufen, ist vielleicht<br />
nur deshalb so rücksichtslos, nachdem unsere Gefühle oder unsere<br />
Gedanken so wehrlos sind ihm gegenüber, wenigstens bis zu jenem<br />
Moment, wo man ihm nur noch mit Indolenz begegnen kann! Sich den<br />
Tatsachen zu stellen, hat er geantwortet, ist keine<br />
Gleichgültigkeit. - - Wir kennen keine Tatsachen, habe ich<br />
begonnen, wir kennen bloß Vorstellungen, und von diesen<br />
Vorstellungen, die wir haben, glauben wir endlich alle, daß diese<br />
oder jene Vorstellungen Tatsachen sein müssen. Nur w-e-i-l wir<br />
Tatsachen brauchen, fuhr ich fort mich zu erklären, glauben wir an<br />
Tatsachen! ...<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Es ist so kalt in einem Bett, das niemand zweiter nützt!<br />
Also, Alter, also,<br />
bald beginnt – bevor´s ein<br />
chamoisner Cherub charmant<br />
dir deuten darf als<br />
eine ehrlich endlos<br />
falsche falbe Fabel –<br />
gewiß ein gewaltsam Getöse!<br />
Horche, Alter – hörst helles<br />
idyllisch imposantes irrwitz´ges<br />
Jenseits, ja, Jenseits, du!?<br />
Komm´, Alter, kurz komm´ hierher und<br />
laß´ lüsternen Liedern, die so<br />
manchesmal mich mehr<br />
nötig, neidig nannten, als ein<br />
off´nes Ohr mir offen ist,<br />
pendente phobische Pakte folgen!<br />
Qualen, Alter! - Qualen quellen,<br />
ritzen in rabiaten raschen<br />
Schnitten, Stichen, Stößen<br />
triezende tiefe Tücke dir;<br />
und unheimlich, Alter - und<br />
vielleicht verwegen, verwegen zudem -:<br />
wollen wilde Wesen dir<br />
zuweilen zwei Zeichen<br />
in die Seele brennen.<br />
Ich kann schlafen in den Nächten, die den Hunger wie Heuschrecken<br />
über Äthiopien schicken. - Ich kann schlafen in den Nächten, die<br />
den Krieg wie von Alkohol trunkene Schauspieler rezitieren. - Ich<br />
22
© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
kann schlafen in den Nächten, die über das Lachen der<br />
Henkersknechte nicht einmal stumm werden. - Ich kann schlafen in<br />
den Nächten, die für die Ausbeutenden das Jus primae noctis<br />
bedeuten. - Ich kann schlafen in den Nächten, die über den Neid<br />
genauso staunen wie über die Morgensonne. - Ich kann schlafen in<br />
den Nächten, die nicht den Haß aus den Seelen der Schlafenden<br />
saugen. - Ich kann schlafen in den Nächten, die sogar vor den<br />
Diktatoren sich niederbeugen.<br />
wenn die kinder schreien<br />
weil die väter auf den schlachtfeldern krepieren<br />
während die mütter jener kinder nicht mehr wissen<br />
ob das mehl reichen wird...für einen dünnen brei<br />
wenn die kinder schreien<br />
und der general die huren an ihre front befiehlt<br />
dieweil er selbst mit seinem söhnchen spielt über<br />
der bunten großen befahnten generalstabskarte...<br />
Der zählte zwölf Jahre, als er starb. Er war ein Strichjunge<br />
gewesen. Auf den Bahnhoftoiletten - wie irgendwann ein Journalist<br />
vermuten wird - hat der seine Freier befriedigt mit der Hand oder<br />
vielleicht sogar oral; allenfalls hat er dafür bezahlt bekommen,<br />
sich einen runterholen zu lassen hinter einem Gebüsch im Stadtpark<br />
um 4 Uhr 10 morgens. - - Als er starb, hat er vielleicht geträumt;<br />
vielleicht hat er das tatsächlich, vielleicht hat er geträumt!<br />
Aber niemand weiß mehr zu sagen, was er geträumt haben wird, oder<br />
ob er überhaupt geträumt hatte in diesen Momenten, oder welche<br />
Träume das gewesen waren, ob es nämlich wohltuende heimatliche<br />
Träume waren oder bloß Alpträume. In der Zeitung jedenfalls wird<br />
darüber nicht zu lesen sein, daß er vielleicht geträumt haben k-ön-n-t-e,<br />
als er starb. - - Der da starb im morphinen Delirium,<br />
erstickt an einem Brei, der aus dem Magen gequollen war, hatte<br />
sozusagen eine Geschichte. Es war das nun eine Geschichte wie sie<br />
jeder Mensch schreibt mit jedem Tag, den er atmet, und wie sie<br />
doch so seltsam nur sein kann bei den Kindern! Aber diese<br />
Geschichte ist bereits verlorengegangen, als er starb, wie nämlich<br />
alle Geschichten irgendwann einmal nicht mehr dokumentiert werden,<br />
sintemal es so wenige sind, die sie ehrlich recherchieren oder die<br />
sie lesen ohne allen Vorbehalt. - - Und vielleicht gehen diese<br />
Geschichten nicht so sehr deshalb verloren, weil es fremde<br />
Geschichten sind; vielleicht gehen sie verloren, nachdem jeden<br />
bereits die eigene Geschichte so bedrohlich dünkt und unbekannt,<br />
daß er sie zu vergessen angehalten ist. - - Es ist das nun eine<br />
23
© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
kurze Geschichte, eine Geschichte von zwölf Jahren. Endlich aber<br />
ist es allein eine Geschichte über die Heimatlosigkeit! Denn<br />
manche Seelen sind ja schon sehr früh heimatlos geworden, sie sind<br />
Vagabunden...<br />
Die Entourage meiner Seele war die Sehnsucht gewesen!<br />
erst lachst du,<br />
dann fällst du,<br />
und schließlich<br />
weinst du<br />
erst kommt niemand,<br />
dann bleibt keiner,<br />
und du<br />
fällst ein<br />
zweitesmal<br />
Von Umständen ausgewalztes Fragezeichen: !<br />
hinab hinab<br />
hinab hin<br />
ab hina<br />
b hin<br />
ab!<br />
h<br />
Sie waren gekommen und hatten meine Erinnerungen zurückverlangt.<br />
Natürlich war ich erstaunt darüber, und ich bedeutete ihnen, daß<br />
sie gewiß nicht meine Erinnerungen haben könnten, sintemal das<br />
eben ganz und gar meine eigenen Erinnerungen seien, über welche<br />
sie selbst genausowenig bestimmen können wie über den Lauf der<br />
Monde des Jupiter. Außerdem sei das ja wirklich skurril, was sie<br />
hier verlangen von mir, und sie sollen sich überhaupt zum Teufel<br />
scheren! Ich würde ihnen meine Erinnerungen nicht überlassen, und<br />
schon gar nicht würde ich ihnen irgendwelche zurückgeben, weil das<br />
doch endlich hieße, die Rechtmäßigkeit ihrer Forderung<br />
anzuerkennen! Es wären das meine persönlichen Erinnerungen, und ob<br />
sie selbst nun ein Teil davon seien oder nicht – das bliebe für<br />
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mich ohne jede Bedeutung! ...<br />
Den Tod ge<br />
sto rbe n, den<br />
Tod ges to rbe n, den<br />
die See le mir sc hon<br />
hat gef lü ste rt !!!<br />
Das Kreuz hängt an der Wand, ein kleines hölzernes braunes<br />
Kreuz...vielleicht für die Kreuze, die auf jedem Rücken lasten und<br />
die so schwer sind wie die französische "Foch"?<br />
irgendwo ist immer ein<br />
krieg, der sein fieber durch die nächte schickt<br />
aber irgendwo ist auch immer einer<br />
dem dein kuß...gereichte<br />
Die Farben hatten sich geändert, sie waren nicht mehr bestimmt von<br />
den bislang universalen Gesetzen; sie waren statt dessen aus der<br />
Seele gemischt, wie vielleicht einmal auch Hieronymus Bosch die<br />
Farben vermengt hatte für den "Garten der Lüste" aus ebendieser<br />
Ungeheuerlichkeit. Dennoch war es großteils nur ein Schwarz, das<br />
man wahrzunehmen in der Lage war, ein tiefes, als solches<br />
furchterregendes übelgelauntes, das auch nur bisweilen in einem<br />
verspielten Grau oder in einem dünnen Gelb sich kleiden mochte. Es<br />
waren Farben, die irritierten! Allenfalls waren es auch nur die<br />
gewohnten Farben der Wände und Tapeten oder der Automobile und der<br />
Blumenbeete, die nämlich so plötzlich diesem Schwarz verfielen,<br />
daß es also nicht das Schwarz gewesen war, welches irritierte,<br />
sondern die Tatsache, daß hier ein Gegenstand seine Farbe<br />
gewechselt hatte in einem einzelnen Augenblick, der gewiß nicht<br />
bestimmt worden war für das Lachen. ...<br />
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doch die begierde -<br />
welche da gekommen in jenem<br />
moment der trauer -<br />
war allenthalten so<br />
wenig gegen die sonnenscheibe<br />
geneigt, daß ich selbst nur<br />
staunen hatte wollen...ohne<br />
alle inbrunst oder phantasie,<br />
ohne jede hoffnung habe ich´s<br />
bestaunen müssen.<br />
Worüber ich hier berichte...das hat sich nicht ereignet. Zumindest<br />
am ersten Tage nicht...und auch am elften nicht. Doch es m-u-ß<br />
sich irgendwann ereignet haben...weil ich anders nicht davon würde<br />
berichten können. Aber vielleicht wird sich das erst ereignen<br />
wollen...sintemal das, was sich bislang nicht ereignet hat und<br />
sich doch ereignen muß, sich schließlich ereignen wird wollen. - -<br />
Der Schneefall hatte begonnen, als ich schlief. Vielleicht hatte<br />
der aber auch begonnen, w-e-i-l ich schlief; niemand konnte das<br />
sagen. Und ich selbst war überhaupt so soporös aufgewacht, daß ich<br />
die Schneeflocken zuerst mit jenen Gespenstern verwechselte,<br />
welche seit acht Jahren des Nächtens über meinem Bette schweben<br />
für mehrere Stunden geradeso, als ob sie trauerten, als ob sie in<br />
ein geöffnetes Sargbehältnis blickten. Dann aber hatte ich die<br />
eigene Täuschung erkannt, und ich war erleichtert darüber, daß<br />
jene Gespenster nicht auch am Tage zu mir kamen, um mich zu<br />
bewachen wie einen Toten. ...<br />
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Entwurf - Akroteleuton:<br />
Der tod, über den las ich in der bibliothek -<br />
Ehrlich sag ich dir, dort hatt ich nur eine<br />
Runde scharteke in den borden ganz nebenbei<br />
gefunden.<br />
Tausendmal, ja vor zeiten schon tausendmale,<br />
Oder gar öfter noch,<br />
Daß also ich selbst dort gewesen war, um´s uns<br />
In diesen büchern, in allen diesen büchern, oh,<br />
Schon zu suchen. daß ich da sagen kann: "adieu,<br />
Tod. irgendwann werde ich dich besiegen können."<br />
Ich würde dich lieben, habe ich gesagt und noch nicht einmal davon<br />
gewußt, daß ich die Liebe mit dem Begehren verwechselte, ich würde<br />
dich lieben. Aber du mußt mir nachsehen, fuhr ich fort, du darfst<br />
also darüber kein Urteil formulieren, wenn ich dereinst sagen<br />
werde, daß ich dich lieben will. Denn die Schönheit, habe ich<br />
expliziert, will ich, sintemal das Schöne immer auch das Dauernde<br />
zu sein mich bedünkt. Aber die Schönheit ist eine bloße Theorie,<br />
habe ich jene Stimmen gehört, sie ist nur eine Theorie! Und wenn<br />
sie das auch ist, habe ich gesagt, so ist sie doch die Schönheit.<br />
c<br />
e<br />
S<br />
A<br />
C<br />
H<br />
E<br />
!<br />
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aus der herrlichkeit<br />
war<br />
ich<br />
hinabgestoßen worden<br />
in eine tiefe<br />
war<br />
ich<br />
gefallen, die<br />
so unendlich gewesen<br />
war<br />
daß<br />
ich nicht einmal des<br />
königs dort gedachte<br />
dem<br />
ich<br />
einst geschworen hab<br />
daß ich alles<br />
was<br />
ihm<br />
gehört, alles<br />
ihm zurückgeben will<br />
Ganz und gar war ich einer Erinnerung gefolgt, war ihr<br />
nachgelaufen, als ob ich davonlaufen hätte müssen, hab ihr<br />
zugesprochen geradeso, als ob sie mich anhören wollte, und hatte<br />
sie endlich gefaßt in einer Art, daß ich ihr verlorenging.<br />
Depressionen sind Satrapen!<br />
Ich war eingesperrt, ich meine, ich war nicht gefesselt, aber ich<br />
war dennoch arretiert. Draußen war ein Blizzard eben dabei, die<br />
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Straße, auf welche ich vielleicht hätte blicken können, und<br />
endlich die ganze Stadt, zu erobern, als ich das erkannte, nämlich<br />
daß ich eingesperrt war. Es war wenige Minuten nach 16 Uhr, und<br />
ich glaubte ganz gewiß sagen zu können, daß ich selbst der einzige<br />
war, der davon bemerkte, daß wir uns, wie man sagt, schon mitten<br />
im Krieg befanden. - - Aber hinter den Fenstern auf der anderen<br />
Seite der Straße (und sicherlich in der ganzen Stadt) war der<br />
Schein des elektrischen Lichts noch genauso unbeteiligt an diesem<br />
Krieg wie die Männer der Schneekommandos, welche gewiß noch bei<br />
Tee und Tabak in ihren Unterkünften saßen. Doch der Krieg hatte<br />
ohne Zweifel bereits begonnen! Und es schien, daß nur ich selbst<br />
davon wußte. Denn die Fenster wurden nicht verdunkelt und keine<br />
Straßenlaternen abgeschaltet; noch nicht einmal über die<br />
Warnsirenen wurde Signal gegeben... - - Natürlich hatte es keine<br />
offizielle Kriegserklärung gegeben, zumindest war bislang nichts<br />
bekannt geworden. Das Fehlen einer solchen Benachrichtigung ist<br />
aber eine bloße Formsache, was also bedeutet, daß der Krieg zwar<br />
nicht erklärt wurde, aber doch bereits geführt wird. (Eine<br />
durchaus übliche Vorgehensweise, geschätzter Leser, die auch nicht<br />
so selten in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten gewesen<br />
war.) Trotzdem war ich selbst der einzige, der von diesem Krieg<br />
schon Kenntnis genommen hatte, und ich wußte sehr gut, daß wir ihn<br />
verlieren würden, daß wir der Übermacht des Feindes nicht<br />
standhalten würden können, nicht zuletzt einfach schon deshalb,<br />
weil wir den gegnerischen Truppen bestenfalls irgendwann<br />
gegenüberstehen werden in einer Ahnungslosigkeit, die endlich<br />
nicht mehr bedeuten wird als Wehrlosigkeit! - - Wie konnte das<br />
also passieren, daß unter all diesen Menschen ich allein von einem<br />
Krieg wußte, der nicht erklärt worden war und der aber doch<br />
bereits rekognosziert werden konnte? Man muß doch, habe ich<br />
gedacht, nicht erst mit Fesseln an den Händen und Füßen aufwachen,<br />
um zu erkennen, daß man erschossen werden wird oder gehängt! Es<br />
braucht doch bloß ein wenig Aufmerksamkeit mehr, um die Menetekel<br />
deuten zu lernen! - - Oh, aber ich weiß, wie diese Menschen<br />
reagieren werden, wenn sie nur endlich erkannt haben, daß sie sich<br />
im Krieg befinden: Begeisterung! - - Ja, die werden sich<br />
begeistern; sie werden ihre Söhne zu den Kasernen begleiten, als<br />
ob sie sonntags spazieren gingen, sie werden Kriegsanleihen<br />
zeichnen oder Metall sammeln, und sie werden die Scheiben jener<br />
zerschlagen, welche gegen diesen (oder überhaupt gegen jeden)<br />
Krieg argumentieren. Also wird der Krieg, welcher an den Grenzen<br />
begonnen hatte, fortgesetzt werden in den Städten und Dörfern und<br />
Siedlungen, bis hinein in die Wohnungen!<br />
Todesvariatonen:<br />
Man hatte ihn zwingen wollen, und es war ihnen gelungen. Die<br />
Folter ist ja ein Instrument, das selten einmal versagt! Also<br />
hatten sie zwei Stäbe genommen, zwei allenfalls ein Meter lange,<br />
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im Durchmesser drei Zentimeter zählende Stäbe von Holz. (Und das<br />
waren gewiß nicht dieselben Holzstücke, mit welchen sie ansonsten<br />
die Bastonade "zu exekutieren pflegen"!) Die haben sie dann unter<br />
seine beiden Kieferknochen geklemmt und ihn daran aufgehängt; in<br />
einer Höhe von exakt einhundertachtundsechzig Zentimeter haben sie<br />
ihn solcherart "fixiert". "In zehn Minuten wirst du größer sein<br />
als du jetzt noch bist!" "Und dann wirst du davon träumen, zu<br />
laufen!" "Aber du wirst nur länger werden, und immer länger!"<br />
"Wenn du nicht schon erstickt bist!" "Zuerst werden deine Zähne<br />
knirschen!" "Du wirst nicht mehr schlucken können!" "Vielleicht<br />
zerbrechen sie auch!" "Aber Ausspucken wird dir nicht gelingen!"<br />
"Stell dir das vor!" "Du wirst da hängen, und du glaubst ja nicht,<br />
wieviel Speichel das sein wird!" "In zehn Minuten kannst du schon<br />
erstickt sein!" "Oder ertrunken!" "Wie man´s nimmt!" "Und wenn du<br />
die ersten Minuten überlebst!?" "Nach zwanzig Minuten verkrampft<br />
sich deine Zunge!" "Und vielleicht sind deine Knochen auch schon<br />
zersplittert!" "Aber schreien wirst du nicht können!" "Du wirst<br />
nur wollen, daß es aufhört!" "Aber es wird nicht aufhören!" "Und<br />
du wirst dich auch nicht daran gewöhnen!" "Du wirst es nicht<br />
ertragen!" "Das hat noch keiner ertragen!" "Die ´Kiefernschaukel´<br />
fürchtet jeder!" "Die meisten gestehen, bevor wir überhaupt<br />
begonnen haben!" "Aber manche probieren´s auch!" "Die glauben<br />
nämlich, sie sind harte Typen!" "Und nach zwei Minuten siehst du´s<br />
in ihren Augen!" "Die können ja nicht schreien; aber man sieht´s<br />
in ihren Augen!" "Und weißt du, was wir mit denen machen?" "Wir<br />
lassen sie noch vier oder sieben Minuten hängen!" "Das kann eine<br />
verdammte Ewigkeit sein!" "Hier oben gibt es ja nur eine Zeit!",<br />
"WENN DU HIER HÄNGST, GIBT ES NUR DIE EWIGKEIT!" "Aber es gibt den<br />
Schmerz dazu!" "Und die ´Kiefernschaukel´ ist erst der Beginn!"<br />
"Denn wir lassen dich nicht sterben!" "Dich nicht!" "Du wirst so<br />
lange leben, so lange wir es wollen!" "Und nach drei Tagen wirst<br />
du glauben, drei Jahre hier zu sein!" "Vielleicht wirst du hier<br />
nicht mehr ´rauskommen!" "Also wirst du die Sonne nie wieder<br />
sehen!" "Jetzt gehörst du uns!" "Und sogar deine Erinnerungen<br />
gehören uns!" "Wir machen mit dir, was wir wollen!" "Wir haben<br />
alle Zeit der Welt!" "Und was hast du?" "Du hast bloß deine<br />
Erinnerungen!" "Deine Erinnerungen, und die werden wir dir<br />
stückchenweise herausziehen!" "Und für jede Erinnerung, die wir<br />
uns nehmen, werden wir dir ein Schmerzgefühl implantieren!" "Wir<br />
können das!" "Und wir werden es tun!" "Wir haben ja schon begonnen<br />
damit!" "Du spürst es doch!?" "Das ist nur der erste Schmerz!"<br />
"Aber das ist wie ein Virus!" "Wir müssen dich nicht vollpumpen!"<br />
"Vier, fünf Schmerzgefühle werden genügen; heute, oder morgen!"<br />
"Den Rest machst du selbst!" "Wir brauchen nur zusehen!" "Es wird<br />
dich von innen auffressen!" "Es arbeitet wie ein Virus!" "Und du<br />
kannst nichts dagegen tun!" "Aber jetzt kannst du noch etwas<br />
tun...!" "Denn wir können es aufhalten!" "Wir brauchen bloß nicht<br />
weitermachen!" "Du mußt es sagen – und wir hören auf!" "Aber was<br />
wirst du sein, wenn du dich weigerst?" "Du wirst nichts sein!" "Du<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
wirst deinen Namen nicht mehr wissen!" "Du wirst nicht einmal mehr<br />
schreien können!" "Du wirst nämlich alles verloren haben!" "Denn<br />
wir werden alles ausgetauscht haben in dir!" "Wir werden dich<br />
durcheinanderdividiert haben!" "Wir können das!" "Wir machen das<br />
jeden Tag!"<br />
Die Schönheit habe ich gesehen, ich habe sie gefühlt, und ich habe<br />
sie sogar zu schmecken vermocht. Denn es ist das eine Schönheit<br />
gewesen, die vielleicht allein deshalb zu tasten oder zu kosten<br />
mir selbst erlaubt worden war, weil mir niemals zuvor etwas<br />
Ähnliches gestattet war und weil außerdem zu den seltsamsten<br />
Eigenschaften der Schönheit eine Vergänglichkeit gehört, die<br />
bisweilen schon im selben Moment passiert wie ihre Schöpfung! - -<br />
Dieses Schöne hatte ich gesehen, ich hatte es mit meinen Händen<br />
berühren dürfen, ich hatte es schmecken können. Und o, es war<br />
gewiß das Schönste, das ich erfahren!<br />
Als ich das getan hatte, war ein Urteil nicht notwendig! Weder<br />
hatte ich die Hoffnungslosigkeit von Carmen gutgeheißen, noch die<br />
Chuzpe der Königin der Nacht, und ich war auch nicht verärgert ob<br />
der Mordgelüste des Pizzaro. Ich hatte das getan ohne alle<br />
Überlegung, und ich hatte keine Ranküne noch überhaupt irgendeine<br />
Art der Aversion, als ich es tat! Es war passiert, statt dessen<br />
war es passiert, wie nämlich zuweilen immer etwas geschehen mag<br />
ohne eigentliche Absicht.<br />
Träume sind wie Erinnerungen handzuhaben!<br />
Wer nicht verzeiht, wird nicht vertrauen!<br />
Das Lachen heutzutage kann nicht mehr so laut sein oder so<br />
ehrlich, daß wir nicht schon bald, nachdem wir gelacht haben,<br />
erinnert werden!<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
aber ich will<br />
kämpfen, will<br />
mich wehren<br />
gegen diese<br />
ungeheuer<br />
die so behend<br />
nach unsern<br />
seelen fassen<br />
daß wir uns<br />
wie vögel<br />
wähnen, die<br />
in wolken<br />
tauchen und<br />
am horizont<br />
einen engel<br />
schlafend<br />
sehn, einen<br />
engel...!<br />
doch ich schreie<br />
weil wir<br />
sterben,<br />
weil wir<br />
wie verlorengegangne<br />
engel unsern flügeln<br />
nicht mehr vertrauen...<br />
Ich rekognosziere mehr und mehr ein Unglück, von welchem wir<br />
Menschen meinen, daß es über uns gekommen wäre wie eine Seuche.<br />
Und wirklich sind die Tatsachen der Sterblichkeit oder der<br />
Unfähigkeit zu handeln gegen den Schmerz vielleicht die ersten<br />
epidemischen Vorboten. Aber o, es ist ja heute nicht einmal der<br />
Kunst mehr möglich, ein Antidot zu mischen oder zumindest ein<br />
Palliativ!<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
in der dunkelheit waren<br />
die gespenster gekommen -<br />
und die haben die sonne<br />
versteckt gehabt in ihren<br />
magengruben...aus welchen<br />
ein rumoren zu hören war,<br />
das geklungen hat wie ein<br />
explodieren von granaten.<br />
o ich habe mich nicht<br />
gefürchtet vor denen;<br />
ich habe nur gelacht,<br />
und auch ich habe die sonne<br />
vom firmamente gestoßen und<br />
in ein gewölbe geworfen, wo<br />
eine hundertschaft von<br />
gestalten wimmerte wie<br />
füchse, deren läufe<br />
in den fallen der jäger<br />
so ganz zermahlen sind,<br />
daß nicht einmal jener mond<br />
sich wehren hat wollen, der<br />
das doch alles gesehen hat.<br />
Die Werbung macht die Demoskopie notwendig! Nämlich anders würde<br />
sich gewiß nichts mehr verkaufen lassen...als über die Exploration<br />
dessen, wer eigentlich diese Dummen sind!<br />
Die Unmöglichkeit erkennt bereits in der eigenen<br />
Bedeutungslosigkeit etwas Sakrosanktes.<br />
Die christliche Religion zerstört uns; sie sagt uns, wer Gott ist,<br />
und sie lehrt uns zugleich, was es bedeuten mag, daran zu<br />
zweifeln, daran nicht zu glauben.<br />
Die Probleme der Menschen rühren meistenteils daher, daß sie sie<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
nicht artikulieren!<br />
Schon in einer Masse von zehn Menschen kann untergegangen werden!<br />
Im Tod zerbricht der Hamletsche Widerstand wie ein Bohrstift von<br />
Glas!<br />
Es war Winter gewesen, als wir spaziergegangen an den Ufern eines<br />
Sees. Eine vielleicht vierundzwanzig Zentimeter dicke Platte von<br />
Eis hatte sich dort gebildet während einiger Nächte, und es<br />
bedünkte mich, als würde das Wasser darunter stöhnen, als würde es<br />
nach mir rufen, daß ich das Eis zerschlage. Ich wollte es auch<br />
tun! Ich stand schon auf dem Eis und überlegte, an welcher Stelle<br />
die mitgebrachte Axt solcherart klug eindringen würde müssen, daß<br />
das Eis ganz zersplittern möchte, als ich die gegnerischen Späher<br />
rekognoszierte, wie sie sich von vier Seiten näherten. Die kamen<br />
über die Anhöhen gelaufen; über Berghänge, die wie Soldaten<br />
gekleidet waren, kamen sie. ...<br />
Die Zeit, die in der Gestalt eines Hundes neben mir gelegen hatte<br />
und meine rechte Hand zerbiß, habe ich mit der anderen karessiert.<br />
Auch sie schien mich zu mögen! Und ich selbst hatte das Gefühl,<br />
daß sie, obschon sie an meiner Hand kaute mit einer Inbrunst, die<br />
ihr vielleicht angeordnet worden war, ich selbst hatte tatsächlich<br />
das Gefühl, daß sie mich achtete, indem sie ihre Zähne in mein<br />
Fleisch bohrte. Es war das aber ein Schmerz gewesen, wie er<br />
vielleicht ansonsten nur den Soldaten passiert, die in den<br />
Schützengräben die Sekunden bis zur nächsten Detonation zählen. –<br />
- Allein, ich bin kein Kynologe, daß ich Ihnen sagen kann, welcher<br />
Rasse dieser Hund angehörte. Sein Fell war schwarz, vielleicht so<br />
schwarz wie verbranntes Menschenfleisch, und zerzaust. Er hatte<br />
einen Schädel, der so langgeformt und spitz war wie der Sprengkopf<br />
eines Marschflugkörpers, und seine Läufe schienen genauso muskulös<br />
wie jene eines Löwen im Sprunge. Aber das ist alles, was ich sagen<br />
kann über diesen Hund! Ich erinnere mich weder seiner Augen, noch<br />
weiß ich das Geschlecht. - - Schließlich war es eine zweite<br />
Gestalt, die meine Aufmerksamkeit verlangte, sodaß ich die Zeit,<br />
die als Hund zuvor erschienen war, nicht mehr zu antichambrieren<br />
suchte mit meiner Linken. Als sich das Skelett auf mich legte,<br />
habe ich nämlich diese Hand gebraucht, seine Rippen zu betasten! -<br />
- Ich weiß nicht, warum ich dessen Rippenknochen berührt hatte,<br />
vielleicht auf die gleiche Art berührt hatte wie man einmal als<br />
Kind über die zähe Haut einer Poularde seine Finger einfach nur<br />
deshalb dirigieren hat müssen, um deren Rippen zu zählen. Ich weiß<br />
das nicht! - - Doch war es ein schönes Skelett, ich meine, es war<br />
nicht eine abstoßende oder gar eine gespenstische Erscheinung!<br />
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Auch war es nicht begierig auf mein Fleisch wie die Zeit, die in<br />
der Gestalt eines Hundes immer noch meine rechte Hand zerbiß!<br />
Trotzdem schien es mir, als würde das Skelett etwas fordern<br />
wollen, sintemal es sich auf mich gelegt und damit begonnen hatte,<br />
mich zu liebkosen. ...<br />
als ich die gedanken<br />
als gespenster hörte<br />
und das denken so sehr fürchtete,<br />
daß ich davonzufliegen wagte... –<br />
oh, ich war nicht eingetaucht ins<br />
himmlische, ich war gestürzt; wie<br />
eos - die dem kephalos gebührt! - war<br />
ich aus dem morgen gefallen in dunkle<br />
nacht hinunter, und dort hab ich alle<br />
meine gespenster, die gedanken waren,<br />
wiedergefunden. und ich hab mich so<br />
gefürchtet ein zweites mal, daß ich<br />
emporsteigen wollte aus jenem sumpf<br />
selbstauferlegter verzweiflung, daß<br />
ich den phönix grüßen kann, daß der<br />
die gedanken - die gespenster sind! -<br />
verbrennen soll am nächsten morgen,<br />
daß er sie den flammen der eignen<br />
beschaffenheit denn überreiche,<br />
daß die nicht mehr aufersteh´n!<br />
Hier waren die Geräusche und Melodien andere, unbekannte,<br />
mühevolle. Als er sie auseinanderzureißen begann, sie aufs neue zu<br />
lernen, explodierte ein Schmerz in seinen Ohren mehr und mehr.<br />
Indes war auf den Rücken der Anhöhen eine Reiterschaft zu sehen.<br />
Was geschlafen hatte, war erwacht! - - Das wälzte sich, streckte<br />
seine Arme; und es gähnte so moribund wie ein Scheintoter am<br />
zwölften Tag seines rauschhaften Zustandes. Vielleicht war das ein<br />
Scheintoter, der seine Finger nur deshalb bewegte, um nach dem<br />
Totengräber zu fassen, den er versucht hatte in seinen<br />
Erinnerungen zu behalten, dessen rauhe somnambule Physiognomie er<br />
nicht zu vergessen angehalten war! - - Nun weiß der sehr gut, daß<br />
er ihn niemals berührt hatte, daß er während dieser zwölf Tage<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
nicht einmal wußte, wie dessen Schultern beschaffen waren. Aber es<br />
war passiert, daß ihn der angefaßt hatte, daß der irgendwann auf<br />
ihn zugekommen und so nahe über ihm geblieben war, daß er den<br />
warmen Atem riechen konnte, der zwischen diesen Lippen genauso<br />
vorsichtig hervorströmte wie vielleicht der Nebel am Morgen<br />
zwischen den Gräbern schleicht. Da fühlte er dessen rechtes Bein<br />
zwischen die seinen geklemmt, leicht nur aber doch, ein wenig warm<br />
nur aber eben warm! So stieß er den schreiend von sich, mit all<br />
der Kraft, die er aufzubringen fähig gewesen war, und erkannte,<br />
daß der lachte, daß der sich nicht einmal ekelte vor ihm, daß der<br />
statt dessen wie eine Mutter, die ihr Kind hält, lächelte und<br />
seufzte. - - Als seine Augen geschlossen wurden, streckte er<br />
seinen linken Arm aus und griff nach dem Sargdeckel, dessen<br />
tapezierter Stoff so kalt und glatt sich anfühlte wie eines<br />
Messers Klinge. Sein Atem aber wurde nicht flacher; der war nicht<br />
bereit, sich erneut dem Schlafe zu überlassen! - - Er selbst war<br />
wenige Meter entfernt von ihm, von diesem Totengräber, der im<br />
sandigen Erdboden ein Grab auszuschaufeln sich ereiferte. Doch in<br />
diesem Sarg war kein Spalt und keine Ritze, keine Öffnung, durch<br />
die er hätte blicken können! Die Luft jedenfalls war heiß,<br />
vielleicht so heiß wie nach der Zündung einer Atombombe, und<br />
allein das Firmament, auf dem träge Wolken sich wie Schauspieler<br />
verwandelten, schien davon zu wissen, daß hier etwas geschah, was<br />
zu beobachten man sich nicht weigern sollte. Aber der Totengräber<br />
erschrak nicht! Der roch nur das warme Gras und die kühle sandige<br />
Erde, in die er seinen Spaten stieß. - - So weiß auch heute noch<br />
niemand etwas von der Logik des Totengräbers, dessen Erinnerungen<br />
mit jedem Kubikmeter, den er schaufelt, bestimmt verlorengehen.<br />
Dieser Erdboden, in den der sich wühlt, ist das tatsächlich<br />
Beherrschende auf dem Friedhof! ...<br />
Als der wiederumgestoßene Wagen jedenfalls hart auf den Rädern<br />
landete und einige Male ebenso hart nachschaukelte, spürte er<br />
kühles wunderbares Blut auf seiner Hand, die in den spitzen<br />
Stückchen des zersplitterten Scheibenglases mit einer Wollust<br />
gewühlt hatte, die einfach passiert war, die also keineswegs<br />
beabsichtigt und geplant, sondern nur passiert war! Doch dann<br />
verzogen sich seine blutenden geschwollenen aufgeschlagenen<br />
Lippen, und man sah das Weiß seiner Zähne, die für dieses Lächeln<br />
vielleicht genauso unbeholfen wirken mochten wie ein Clown im<br />
Zeugenstand.<br />
Als ich schließlich den Knauf des Ganghebels mit dem zweiten und<br />
dem dritten Finger meiner Rechten umfasse, vielleicht so verliebt<br />
umfasse wie der Pilot der "Enola Gay" den Steuerknüppel gehalten<br />
hatte, als ich die Kupplung niederdrücke mit einer Beharrlichkeit,<br />
die schon sehr der Wut ähnelt, als ich den Schalthebel in den<br />
ersten Gang presse und endlich die Pedale schnalzen lasse, drehen<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
die Antriebsräder zuerst kreischend am Stand - und der Geruch des<br />
verbrannten Gummis erinnert mich an den...Duft von<br />
Schlachtfeldern. Aber plötzlich greifen sie! Der Wagen schnellt,<br />
springt vorwärts, und beschleunigt dabei in einer Gier, die so<br />
ungestüm ist, daß ich glaube, auf dem Cerberus zu sitzen, dem ich<br />
meine Finger in die Augen stoße, daß er laufe, laufe, laufe... Der<br />
Motor erschöpft sich auch nicht, als ich im zweiten und im<br />
dritten, im vierten, fünften Gang beschleunige! 228 km/h... Die<br />
Straße ist der Styx. Ich höre, wie die harten Schalen von Insekten<br />
an den Scheiben zerplatzen geradeso, als würde Charon mit seinen<br />
knöchernen Fingern dagegentrommeln.<br />
Todesvariationen:<br />
Ich war nie ein mutiger Mensch, also, ich war nie einer, der in<br />
einem Helikopter geflogen war oder vielleicht über die Eiger<br />
Nordwand hätte klettern wollen. In diesen Dingen war ich – das<br />
gebe ich offen zu! -, in diesen Dingen war ich tatsächlich ein<br />
Feigling. Aber was heißt schon Mut! In meiner Kompanie zum<br />
Beispiel war niemand mutig gewesen, niemand, kein einziger. Das<br />
ist auch keine Schande! Ich meine, Soldaten brauchen keinen<br />
solchen...Mut. – - Wenn sie jemanden erschießen, brauchen sie kein<br />
mutiger Kerl sein, ich meine, sie müssen sich beim ersten Mal<br />
gewiß überwinden, irgendwie innerlich überwinden... Aber dafür ist<br />
kein Mut vonnöten! Sie haben ihre Pflicht getan, mehr als Pflicht<br />
ist das nicht! - - Wenn sie einen gegnerischen Bunker knacken,<br />
braucht es keinen Mut, ich meine, es ist eine verdammt miese<br />
Situation, die sie bewältigen...ich meine, wenn sie das tun, wenn<br />
sie einen Bunker hochgehen lassen...da hilft kein Mut...ich meine,<br />
da brauchen sie Erfahrung, da muß jeder Handgriff sitzen... – - Es<br />
geht hier nicht um Mut, ich meine, im Krieg ist nicht der Mut<br />
entscheidend! Schnelligkeit entscheidet! Sie müssen besser, also<br />
ich meine, schneller zielen als ihr Gegenüber...sie müssen einfach<br />
schneller sein...ich meine, sie müssen schneller und besser sein<br />
als ihr Gegner...da dürfen sie nicht zögern...wenn sie einen<br />
Straßenzug mit fünf anderen Kameraden sichern sollen...weil<br />
irgendwo Partisanen verschanzt sind...in diesen Momenten können<br />
sie sich keine Fehler leisten...jeder Fehler, den sie machen, kann<br />
ihren Tod bedeuten...oder den Tod eines Kameraden...und das wollen<br />
sie nicht...sie wollen überleben...sie wollen ja nicht als<br />
Kriegskrüppel heimkehren oder auf dem Heldenfriedhof enden...sie<br />
wollen nicht mehr als überleben...und dafür müssen sie einfach<br />
schneller sein als der Feind...sie müssen schneller sein...wer zu<br />
langsam ist, stirbt...wer zögert, stirbt...verstehen Sie...da geht<br />
es ums nackte Überleben, da geht´s um "Du oder ich"...<br />
Diese Entwicklung hatte er nicht vorhersehen können noch<br />
beabsichtigt gehabt. Statt dessen war es einfach passiert! An<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
irgendeinem Abend war es nämlich geschehen! Nun war das gewiß kein<br />
besonderer Abend gewesen und auch keine irgendwie besondere<br />
Situation, über welche man vielleicht hätte sagen können in jener<br />
tributären Art, die so oft genannt und dabei so selten bewiesen<br />
wird von den Anklägern, die auch so wenig gern ihr Gesicht zeigen,<br />
daß es aber dennoch ebendieser Abend und ebendiese Situation<br />
gewesen waren, welche verantwortlich zeichneten für jene durchaus<br />
scham- und halt- jedenfalls charakterlose Entwicklung. Aber<br />
Gedanken oder Phantasien sind diesen Anklägern ohnehin seit ehedem<br />
verhaßt, und so ist denen die einzige Ursache unbedingt in den<br />
Zeiten und den Situationen zu erforschen! - - Was war es nun, das<br />
geschehen war ohne daß er selbst etwas dazugetan hatte? Es war ein<br />
Gedanke; aber vielleicht war es auch eine Ahnung gewesen, welche<br />
als Gedanke sich verkleidet hatte, um dann dereinst als Wollen<br />
(oder als Müssen) sich zu erkennen zu geben, wie vielleicht<br />
irgendwann der Herold eines Königs als Herold empfangen und<br />
endlich als Erpresser bewirtet worden war! Das geschieht ja oft;<br />
daß uns nämlich Gesichter begegnen, die uns anfangs ehrlich oder<br />
schön bedünken, deren ganze Häßlichkeit wir aber meist zu spät<br />
erkennen, sintemal uns das Schöne oder das Ehrliche verzaubert und<br />
wir in solchen Momenten nicht mehr zu glauben fähig sind, daß<br />
vielleicht doch die Lüge das Lächeln sich aufgeschminkt hatte oder<br />
daß uns die Schönheit wie ein Jüngling erschienen war! So sind<br />
also die Gesichter nicht anders als die Gedanken, über welche man<br />
selten einmal im Moment ihrer Schöpfung schon sein Urteil bilden<br />
mag und bilden kann! - - Die Begierde war also geschehen an diesem<br />
Abend! Aber die Begierde erstaunt uns; sie erstaunt uns nicht so<br />
sehr in ihrem Wesen als in ihrer zuweilen plötzlichen Entität. Und<br />
diese Begierde, die geschehen war an jenem Abend, war der Herold,<br />
der ein Erpresser ist, welcher sich noch nicht einmal zu<br />
verkleiden braucht! - - Also, er war begierig, war erstaunt. An<br />
diesem Abend aber war er mehr begierig als erstaunt, sodaß er eine<br />
präzise Beobachtung ebendieser Erscheinung (die ihm eine<br />
vielleicht ebenso detaillierte Erkenntnis über jene Ahnung, die<br />
hier tatsächlich geschehen war, erlaubt hätte) nicht für notwendig<br />
hielt und sich statt dessen jener plötzlich aufgetretenen Lust<br />
nachgerade hingeben hatte müssen wie eine Magd ihrem Herren zu<br />
Zeiten des Jus primae noctis. - - Die einstmals geforderten und<br />
dann gesetzten Grenzen des eigenen Wollens – das hatte er mit<br />
vorsichtigem Bedauern rekognosziert – waren schließlich soweit<br />
korrigiert worden von ihm selbst, daß er nicht mehr umhin hatte<br />
können sich einzugestehen, keine solchen Grenzen mehr zu zeichnen<br />
noch zu respektieren. Damit war sein Wollen, das oftmals überhaupt<br />
nur das Wünschen irgendeiner Begierde ist, endlich eben das<br />
geworden, was die Ankläger in ihrer Rücksichtslosigkeit richtig<br />
diagnostiziert hatten ohne es ehrlich beobachtet zu haben: Er war<br />
scham-, halt- und charakterlos an diesem Abend. ...<br />
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Das Inferno ist hier. Man muß nur seine Augen öffnen. Man braucht<br />
dabei nur sich selbst beobachten. – Tu das! Sieh dich an!<br />
Es war also nicht möglich, eine exakte Zeit zu bestimmen, und<br />
vielleicht hätte ich selbst nicht einmal den Gedanken gehabt, nach<br />
der Zeit zu fragen oder eine Zeit abzulesen, wäre ebendiese Zeit<br />
nicht mit einemmal verlautet worden: In sechsunddreißig Sekunden,<br />
hörte ich jemand rufen, ist es 16 Uhr 10. Aber vielleicht habe ich<br />
das auch nur gesehen, daß es nämlich 16 Uhr 10 wird, vielleicht<br />
hatte ich das rekognosziert, ich weiß es nicht zu sagen. - -<br />
Jedenfalls war es 16 Uhr 10 geworden, und ich mußte mich sputen,<br />
wie ich ja überhaupt, seitdem ich die Zeit nicht mehr nennen<br />
konnte oder irgendwo abzulesen vermochte, ausgesprochen rastlos<br />
(und vielleicht auf der steten Suche nach der exakten Zeit)<br />
gewesen war! Ich durfte nicht zu spät beginnen - das wußte ich;<br />
obschon ich anderenteils keine Kenntnis darüber hatte, womit ich<br />
eigentlich beginnen würde müssen. Aber beginnen würde ich<br />
müssen! ...<br />
Es wird mir gelingen, habe ich gedacht und an das Verlieren<br />
geglaubt. Jetzt war ich selbst über mich erstaunt; daß ich nämlich<br />
den Tod negiert hatte und dennoch ebendiesem Tod versprochen war<br />
seit ehedem! - - Stimmen hatte ich gehört, vielleicht sardonische<br />
Stimmen, die vom Morgen sprachen in jenem Timbre, das ich schon<br />
genannt, vom Morgen! Aber o, jetzt mußte ich mich eilen, diesen<br />
einen Morgen nicht zu verpassen, von welchem die Stimmen<br />
gesprochen hatten zuvor noch, als ich den Tod mit der Hoffnung<br />
verwechselte! - - Um 4 Uhr 10 war ich denn aufgewacht und hatte<br />
keinen solchen Morgen agnoszieren können, von welchem jene Stimmen<br />
gesprochen. Ich frühstückte, mit schwarzem Tee und mit drei Tage<br />
altem Gebäck, und drückte endlich wie ein neugieriger Junge die<br />
Tablette aus ihrer knisternden glänzenden Umhüllung und ging in<br />
das Badezimmer, wo ich sie, dieweil ich das Wasser aus dem<br />
Brausekopf über meinen Körper spritzen fühlte geradeso, als wäre<br />
es das Sputum der Literaturkritiker, fast schon begierg schluckte.<br />
Es wird dir gelingen, hörte ich jene Stimmen in meinem Kopf, das<br />
wird dir wohl gelingen. Aber ach, was wußten diese Stimmen von der<br />
Angst! Was wußten die schon, daß man sich vor Dante fürchtete und<br />
statt dessen Orwell las? - - Vielleicht waren diese Stimmen<br />
zeitlos, ich meine, vielleicht akzeptierten sie keine Zeit. Denn<br />
die Zeit, habe ich gedacht, ist es ja, die uns eine Angst erst<br />
fühlen läßt auf diese Weise, daß wir zu verzweifeln oder zu<br />
sterben glauben, obschon wir vielleicht lachen sollten. Aber es<br />
ist die Zeit, welche sich stets so sehr zwischen unsere<br />
Erinnerungen zwängt, daß wir sie einfach schon deshalb beachten,<br />
um nicht unsere Erinnerungen zu verwechseln mit unseren Vorhaben!<br />
- - Nun kann ich gewiß sagen, daß ich die Zeit zu bekämpfen mich<br />
befleißige, sintemal die Angst die Stunden, die Jahre oder die<br />
Jahrzehnte überdauert in einer Unbekümmertheit, die mich<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
ausgesprochen charakterlos bedünkt! ...<br />
In der Nacht war ich einsam, und am Tag war es so dunkel. Es war<br />
so dunkel, daß ich glaubte, in die eigene Seele gefallen zu sein,<br />
in ein Loch hinunter, zu welchem kein Lichtstrahl mehr drang und<br />
in welchem ich verirrt war und verwirrt. Es war so dunkel in dem<br />
Hospital, und es war so dunkel zwischen den Menschen, welche ich<br />
dort traf, daß ich also nach der Uhrzeit frug. Man sagte mir, daß<br />
es 16 Uhr 10 sei, nämlich früher Nachmittag an diesem Tag, diesem<br />
Montag. Aber warum ist es hier so dunkel, frug ich erstaunt, und<br />
gewiß war auch eine Angst in mir vor dem Dunkel, daß ich<br />
schließlich frug nach dem Dunkel. Sie müssen Ihre Augen öffnen,<br />
war die Antwort, Ihre Augen öffnen, dann werden Sie erkennen, daß<br />
es wenige Minuten nach 16 Uhr ist und daß-- Aber diese Dunkelheit,<br />
unterbrach ich, diese Dunkelheit ist doch nicht zu leugnen! Mein<br />
lieber Herr, hörte ich eine Stimme mich rügen, wenn Sie hier um<br />
diese Zeit tatsächlich ein Dunkel agnoszieren, dann müssen Sie<br />
einen Stock höher, nämlich in die Augenambulanz müssen Sie dann!<br />
Oh, die Augen sind es nicht, hub ich an, die Augen sind es<br />
wirklich nicht, die mir dieses Dunkel vermitteln. So gehen Sie<br />
halt einen Stock tiefer, hörte ich diese wütende Stimme, einen<br />
Stock tiefer, in die Psychiatrie hinunter! Und was wird dort sein,<br />
frug ich diese Stimme, was wird dort anderes sein...als ein<br />
Dunkel, es ist doch immer nur ein Dunkel. Mein lieber Herr, hörte<br />
ich diese Stimme süffisant erklären, es ist heute Montag, und es<br />
ist 4 Uhr Nachmittag vorbei; aber wenn Sie das nicht erkennen<br />
können – oder erkennen wollen -, dann gehören Sie wirklich nicht<br />
hierher! Ich weiß das, schrie ich, ich weiß das gut, daß nämlich<br />
Montag ist und welche Uhrzeit wir haben! - - Aber es ist dunkel,<br />
fuhr ich endlich fort, und Sie sagen mir nicht warum... Die Sonne,<br />
explizierte diese Stimme, die Sonne ist um exakt 16 Uhr 10<br />
untergegangen, und der Mond ist zwei Minuten davor aufgegangen;<br />
vielleicht könne das Ihnen jenes seltsame Dunkel erklären... - -<br />
Es war gewiß kein seltsames Dunkel, begann ich schließlich, es war<br />
das nicht, weil...das Dunkel...Ja, hörte ich diese Stimme mich<br />
auffordern, ja!?...weil das Dunkel...auch niemals so besonders<br />
ist...nämlich das Dunkel der Nächte zum Beispiel...daß es<br />
solcherart seltsam sein wird können... Also ist es denn doch ein<br />
Dunkel, das sich ereignet allein in Ihrer Seele, frug jene Stimme<br />
in einer Bedächtigkeit, über welche ich mich erstaunte, sintemal<br />
es nun endlich geschehen war, daß jemand von der Seele nicht<br />
anders gesprochen als von der Dunkelheit, von der Dunkelheit der<br />
Nächte zum Beispiel. Oh, Sie kennen dieses Dunkel, reagierte ich<br />
sofort; Sie kennen diese Stunden, während welcher man ein Dunkel<br />
agnosziert, wiewohl die Sonne den Zenit bereits überschritten!?<br />
Die Sonne hat mit der Dunkelheit nichts zu schaffen, hörte ich ihn<br />
sagen; die Sonne bekümmert das genausowenig wie die Monde des<br />
Jupiter! - - Aber Sie selbst wollen ja, hub er an zu erklären, Sie<br />
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wollen bestimmt eine solche Dunkelheit verstehen, über welche man<br />
endlich nicht mehr sagen wird können als man vielleicht über den<br />
Haß wird sagen wollen... Und was sagst du über den, frug ich. Über<br />
den sage ich nichts, war seine Antwort, über den schweige ich<br />
still... - - Jedenfalls ist der Haß keine einfache Sache, hörte<br />
ich ihn schließlich sagen (und es bedünkte mich, daß er sich<br />
erinnerte an den Haß, daß ihm übel wurde dabei und daß er trotzdem<br />
noch nicht einmal sich entscheiden hat müssen über den Haß); der<br />
ist das wirklich nicht, und sogar die Dunkelheit, fuhr er fort,<br />
sogar die ist niemals etwa unschwer zu verstehen gewesen<br />
oder...Oder zu akzeptieren, unterbrach ich ihn, wenigstens zu<br />
akzeptieren!...ja, oder zumindest anzunehmen als das, was sie ist!<br />
- - Natürlich, begann ich endlich, werden wir diese Dunkelheit,<br />
eine solche Dunkelheit, meine ich, natürlich werden wir die auch<br />
nicht zu akzeptieren uns befleißigen eben schon deshalb, weil wir<br />
das Schöne wollen...nämlich das Schöne... Das Schöne ist ja, fuhr<br />
ich fort zu erklären (oder vielleicht hab ich´s auch nur gedacht),<br />
das ist ja das eigentlich Verlangende in uns selbst... Und weil´s<br />
das ist, begann ich wieder, wollen wir nicht resignieren vor einer<br />
Dunkelheit, die uns das Schöne nicht erlaubt! - - Verstehst du,<br />
begann ich schließlich, nachdem wir uns zwölf Minuten<br />
gegenübergesessen waren wie müde Totengräber am Nachmittag,<br />
verstehst du, daß wir nicht wählen wollen, weil wir nicht wählen<br />
können, daß wir nicht für das Licht uns entscheiden, weil das<br />
einzige Licht, das wir kennen, bloß das der Wasserstoffbomben ist?<br />
- - Ob ich´s versteh oder nicht, hat er geantwortet, brauch ich<br />
dir nicht zu sagen. Aber ich will endlich kein Licht, fuhr er<br />
fort, das aus der Dunkelheit kommt, das aus ihr hervorkriecht wie<br />
eine plötzliche Übelkeit, um dann wieder abzutauchen wie ein<br />
Gespenst zum Stundenschlag, ich will kein solches Licht! - - "Mehr<br />
Licht...", hat er dann skandiert, "Mehr Licht...", und vielleicht<br />
habe ich ihn gehaßt in diesem Moment als er es sagte nicht so<br />
sehr, weil er Goethe, diesen Johann Wolfgang, zitierte; allenfalls<br />
habe ich ihn hassen m-ü-s-s-e-n einfach schon deshalb, um nicht<br />
selbst vor jenem Dunkel mich niederzuwerfen, von welchem ich<br />
bislang überzeugt war, daß es das Licht – nämlich jenes<br />
sagenumwobene Licht - festhalten würde, wie vielleicht auch die<br />
Hoffnung in der Büchse der Pandora festgehalten worden war, aufdaß<br />
wir nicht die Erlösung hoffen, aufdaß eben wir nicht glauben, die<br />
Erlösung müsse entweder der Tod sein...welcher die Dunkelheit<br />
zerbricht oder das Licht, jedenfalls ir-ge-nd et-wa-s zersplittern<br />
läßt...oder die Unsterblichkeit, nämlich eine Unsterblichkeit, die<br />
nicht anders sei als der Tod und die also nichts anderes tun würde<br />
mögen als ohnehin dieser Tod denn täte, indem er das Licht aus der<br />
Dunkelheit schneidete allenfalls wie ein Soldat, welcher den Bauch<br />
einer Gebärenden durchwühlt mit seinem Bajonett. - - Also weinen<br />
wir, begann er, weinen wir über das verlorengegangene Licht, weil<br />
wir die Dunkelheit bestaunen!? Ich weiß das nicht, habe ich<br />
ehrlich geantwortet, ich weiß das nicht und niemand weiß es;<br />
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vielleicht wollen wir auch nicht...lachen...in jenem Moment, in<br />
welchem wir erkennen, daß wir einsam sind... Und was hülfe das<br />
Lachen, frug er, was hülfe das. Niemand weiß das, wiederholte ich<br />
mich; und trotzdem m-ü-s-s-e-n wir uns entscheiden... - - Wir<br />
waren jetzt dagesessen nicht wie zwei Totengräber am Nachmittag um<br />
16 Uhr 10, sondern wie zwei Kinder im Stadtpark vielleicht,<br />
welche, als sie die Abendsonne staunten, nach den Müttern riefen,<br />
weil dieses Licht an das Blut erinnerte, das aus ihren Nasen troff<br />
als sie sich geschlagen hatten bloß deshalb, weil die Gespenster,<br />
von welchen sie träumten am Vortag, mit dem Dutzend Engel, von<br />
welchen ihnen erzählt worden war, zu kokettieren schienen<br />
geradeso, als wären diese Teufelchen ebendieser Engel Geschwister.<br />
- - Vielleicht sollten wir uns nur erinnern, begann er<br />
schließlich, nur erinnern...Wir tun doch nichts anderes,<br />
unterbrach ich ihn, wir erinnern uns zu jedem Augenblick, weshalb<br />
es auch so schmerzt!...nur erinnern, meine ich... - - Ob ich das<br />
denn tatsächlich glaube, frug er mich sodann erstaunt, daß wir uns<br />
nämlich bloß erinnern an den Schmerz oder an die Dunkelheit...an<br />
die Dunkelheit der Nächte zum Beispiel... Ja, habe ich gesagt, ja,<br />
wir tun selten etwas anderes als die Vergangenheit<br />
heraufzubeschwören wie ein Zauberer... Aber wir staunen ja nicht<br />
über den Zauberer, erklärte er sich; wir staunen über die eigene<br />
Unfähigkeit, uns selbst dessen Täuschungen zu erklären! Darüber<br />
staunen wir, habe ich gesagt und meinen Kopf bewegt in einer<br />
durchaus affirmativen Weise, über welche er vielleicht glauben hat<br />
müssen, daß ich das getan hatte allein darum, ihm nicht zu<br />
widersprechen. - - Ich werde das Dunkel niemals leiden mögen, hat<br />
er endlich gesagt, nachdem wir abermals geschwiegen hatten wie<br />
zwei Kinder, welche vielleicht über die Totengräber nicht anders<br />
denken als wir selbst über Hamlet gedacht haben, daß der wohl ein<br />
Spaßmacher gewesen war, als er Yoricks Schädel, des ermordeten<br />
Königs toten Spaßmachers Schädel, genommen; niemals werd ich das!<br />
Und ich, habe ich gerufen, ich selbst werde das Licht nicht mögen,<br />
das aus der Dunkelheit sich schafft, das wie eines Messers Klinge<br />
den blauen Samt durchstößt und noch nicht einmal stöhnt dabei oder<br />
danach! - - Also hast du die Dunkelheit gewählt, frug er mich,<br />
hast dich für die Dunkelheit entschieden. Nein, habe ich gerufen,<br />
Nein! Denn ich will das Licht wählen, ich w-e-r-d es wählen - wenn<br />
es sich mir nur ehrlich anbietet, sodaß ich mich entscheiden kann<br />
als freier Mensch. - - - Wir hatten eine Burg gebaut im Sand, mit<br />
Zinnen und Fenstern - und mit einem Turm, in welchen obersten<br />
Punkt wir ein Ästchen bohrten mit einer Flagge; wir hatten auch<br />
einen Graben geschaufelt und zwei Eimerchen Wasser<br />
herbeigeschafft, und des Nachts hatten wir davon geträumt.<br />
Ich werde das tun, habe ich gesagt, ich werde das tun, weil ich es<br />
tun muß und weil ich´s beobachten möchte. Also werde ich es tun,<br />
wie man nämlich überhaupt so vieles getan hatte ohne die Verstecke<br />
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zu kennen, aus welchen das vielleicht wie eine Erinnerung<br />
hervorgekrochen war, was man zu tun sich schließlich getraute,<br />
sintemal bereits die Vorstellung, eben das nicht zu tun,<br />
genausowenig hilfreich gewesen war wie ein Gebet des Nächtens, das<br />
die Dunkelheit hätte auflösen sollen oder zumindest verscheuchen<br />
und das dann endlich nur die nächste Angst heraufbeschwört hatte<br />
aus jenen Tiefen, in welche wir uns so selten wagen. Diese Tiefen<br />
sind die Archive Gottes! Es sind Seine Archive, für welche wir den<br />
Schlüssel aus der Hand gegeben in der allenfalls imbezilen<br />
Vorstellung, mit jenem weggelegten Schlüssel Ihn selbst<br />
provozieren zu können; wie man vielleicht auch als Kind den Vater<br />
nicht gegrüßt hatte und nicht zu ihm gelaufen war, als man ihn die<br />
Wohnungstür aufsperren hörte, nur deshalb, daß der Vater grüße und<br />
daß er selbst zum Spiel einen auffordere. Der Vater hatte das<br />
getan! Aber Gott würde das allenfalls nicht einmal tun brauchen,<br />
sintemal das Spiel, das Er ersann, bloß ein Spiel ist, das auch<br />
niemals verlorengeht...<br />
Die Angst war wie ein Geschwisterchen zu ihr gekommen, oder wie<br />
eine Mutter. Sie hatte gelächelt und sie war schön; sie war so<br />
schön, daß sie anfangs geglaubt hatte, sie müsse sie grüßen, wie<br />
sie selbst vielleicht einmal ihre Mutter gegrüßt hatte an jenem<br />
bestimmten Morgen, welcher eine stinkende erstickende Nacht<br />
davongescheucht hatte wie ein plötzlicher Windstoß einen üblen<br />
Geruch! - - Aber diese Angst war kein Geschwisterchen und keine<br />
Mutter gewesen. Die war noch nicht einmal schön! - - So war es<br />
geschehen, daß die Angst, welche zu Beginn willkommen geheißen<br />
war, endlich nicht sobald hinabgestoßen werden k-o-n-n-t-e,<br />
sintemal sie sich festgefressen hatte wie eine schlechte<br />
Erinnerung. - - Ich selbst hatte von dieser Angst erfahren am<br />
elften Tag, wiewohl ich in jener Nacht vielleicht davon geträumt<br />
hatte, um mich dann doch ihrer nicht zu erinnern am Morgen, als<br />
ich erwachte! - - Du, habe ich gesagt, du hast diese Angst<br />
mißverstanden; du hast vielleicht geglaubt, deine Mutter wäre<br />
es... Und du hast sie, fuhr ich fort, hast ihr endlich deine Hand<br />
gereicht, daß sie deine eigene kalte schwitzende Haut denn fühle<br />
und dich also tröste... - - So geh, habe ich gesagt, geh, lauf!<br />
Lauf!!! Nämlich du mußt laufen und darfst dabei nicht mehr nach<br />
der Angst dich drehen in dem falschen Glauben, du liefest der<br />
Mutter davon oder dem Geschwisterchen! Das ist nicht die Mutter,<br />
die gelacht hat, das ist nicht das Geschwisterchen. - - Du hast<br />
die Angst mißverstanden, hub ich wieder an; du hast sie nicht<br />
erkannt als das, was sie ist, nachdem ja die Angst klug genug<br />
gewesen war, ihr Antlitz zu verstecken und die Stimme zu<br />
verstellen, um dir die Mutter zu heucheln oder das<br />
Geschwisterchen. - - Ich verabscheue die Angst, habe ich endlich<br />
wütend gerufen, ich abhorresziere sie, und gleichgültig, in<br />
welcher Gestalt die auch erscheint – ich werd ihr das Gesicht<br />
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zerschlagen!!! Stünde die nur einen Moment still, daß ich<br />
zuschlagen kann, einfach zuschlagen – ich will ihr dann das<br />
Gesicht zerschlagen!!! - - Ich will sie zumindest, habe ich<br />
geflüstert wie ein Sterbender, ich will sie denn doch davonjagen<br />
können...für einige Atemzüge oder länger... Verstehst du? - - Doch<br />
du hast die Angst, begann ich schließlich, willkommen<br />
geheißen...du hast sie eintreten lassen...hast ihr den Platz neben<br />
deinem Bett geboten...und ich selbst hatte mich verspätet gehabt<br />
an jenem Tag und Morgen... - - Ich war zu spät gekommen, oder<br />
vielleicht bin ich auch bloß unaufmerksam gewesen, nämlich<br />
vielleicht hatte ich mich verspäten w-o-l-l-e-n, um mir nicht<br />
eingestehen zu müssen, daß wir die Angst an keinem Morgen einholen<br />
können, weil die schon wach ist und angekleidet, wenn wir selbst<br />
noch schlafen... - - Ich weiß jetzt nicht, habe ich gesagt, ich<br />
selbst weiß jetzt nicht einmal mehr, was wir über die Angst denken<br />
sollen...was wir überhaupt denken k-ö-n-n-e-n von ihr...jetzt weiß<br />
ich das nicht mehr... Vielleicht sollten wir sterben, ich meine,<br />
vielleicht brauchen wir bloß neununddreißig Tabletten<br />
schlucken...oder einen Schritt wagen...um uns selbst zu erlösen,<br />
sintemal eine andere Art der Erlösung nicht mehr möglich ist...und<br />
vielleicht auch niemals geplant gewesen war... - - Es ist ja nicht<br />
der Tod, den wir fürchten, habe ich mich erklärt, der ist es<br />
nicht. Den Morgen fürchten wir! Wir fürchten den Morgen; weil<br />
schon das Heute nicht mehr zu ertragen ist, fürchten wir den<br />
Morgen umso mehr. Aber es wird niemals passieren, daß wir vor der<br />
Angst erwachen, ich meine, daß wir selbst bereits aufgestanden<br />
sind, dieweil sie noch schläft, das wird nicht passieren! - - Wir<br />
können uns lieben, habe ich gesagt, gewiß, wir können das und uns<br />
an den Händen halten dabei... Wir können das tun, und dann werden<br />
wir dennoch genauso unaufmerksam sein wie ehedem...und uns von der<br />
Mißgestalt des Herzogs von Gloster w-i-e-d-e-r-u-m nicht bekümmern<br />
lassen... Und was werden wir tun, wenn Gloster sich entschließt?<br />
Wir werden ihn fürchten! Wir werden u-n-s fürchten, und wir werden<br />
ihm dienen, obschon wir ihn hassen werden!!! Also werden wir ihm<br />
nicht anders begegnen als wir der Angst an jedem Morgen begegnen,<br />
indem wir die Mutter zu grüßen glauben oder das Geschwisterchen...<br />
Die Straße, auf welcher wir gegangen, war von Asphalt; die hatte<br />
Kurven und Geraden und war nicht weniger breit als Straßen breit<br />
sind, auf welchen die Toten marschieren hinein in den Schlund der<br />
Vergangenheit! Auf den Anhöhen, zwischen welchen jene Straße<br />
gebaut (oder zumindest erdacht) worden war, wuchs eine gut<br />
getarnte Hundertschaft von Eichen und Birkenbäumen, welche, so<br />
bedünkte es, das Firmamente trugen geradeso, als wären das nicht<br />
Bäume sondern Karyatiden. Aber die stöhnten nicht; die jammerten<br />
nicht, und die flüsterten nicht einmal! Also war es still,<br />
vielleicht so still wie in den Nächten des August, während welcher<br />
man die Monde des Jupiter zerschlagen möchte mit einem einzigen,<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
gut angesetzten Hieb, aufdaß endlich auch die Sonne einmal jenen<br />
Schmerz erleide, welcher sich seit ehedem ereignet in den<br />
Duldsamen, die den Unbedachtsamen nicht anders zu begegnen wissen<br />
als in Demut! - - Aber im Wald war es still, und auch der Asphalt<br />
war kalt geworden, als ich eine Gestalt agnoszierte wenig hinter<br />
mir, die eine Melodie summte geradeso, als würde sie dem<br />
neugeborenen Herkules ein Wiegenlied singen. Es war aber ein<br />
Mozartsches Lied, das hier gesungen wurde von jener Gestalt, die<br />
mich von Anfang keineswegs irritierte, und von einer Stimme, über<br />
welche ich jetzt nicht mehr sagen kann, als daß es ein helles<br />
geschultes sicheres Timbre war! (Vielleicht waren es auch drei<br />
Stimmen, die ich hörte. Aber wenn es auch drei Stimmen gewesen<br />
waren, so war es doch nur diese eine Gestalt, die sie sang.) Also<br />
verlangsamte ich meinen Schritt, in der vielleicht falschen<br />
Annahme, daß ich den Abstand zwischen uns zusehends vergrößern<br />
würde während jener Momente der Unaufmerksamkeit, welche sich so<br />
oft ereignen, und dann erkennen würde müssen, jene Distanz nicht<br />
mehr korrigieren zu können. Aber ich wollte nicht davonlaufen, und<br />
ich wollte genausowenig irgendwann mir selbst eingestehen müssen,<br />
davongelaufen zu sein, weshalb ich also meinen Schritt<br />
verlangsamte! - - Während dieser Momente war ich, das kann ich<br />
durchaus sagen, vielleicht so frei wie niemals noch zuvor, denn<br />
ich fühlte keine Angst noch irgendwelche dräuenden Übel. Und auch<br />
von dieser Gestalt, die unablässig das Mozartsche Liedchen summte,<br />
war ich überzeugt, daß es ein freies Wesen war, wenngleich kein<br />
Engel. - - Als ich dann den Abgrund agnoszierte zu meiner Rechten,<br />
neben welchem wir gingen, habe ich noch nicht einmal daran<br />
gedacht, jenen festen unbeirrbaren Schritt zu tun! Aber plötzlich<br />
verstummte der Gesang; ich sah zu der Gestalt, die mir gefolgt.<br />
Sie war verschwunden! - - Es war still, als ich jene wenigen Meter<br />
zurücklief in ehrlicher Sorge und Sehnsucht. Aber ich konnte<br />
nichts mehr tun! Es war weg. Nur ein zertrümmertes Käferchen lag<br />
dort im Laub am Straßenrand, mit gebrochenem Genick und<br />
deformierten Gliedmaßen, über das etliche Ameisen krochen wie<br />
Soldaten, denen eine Anhöhe einzunehmen befohlen ist.<br />
ich höre die engel nach mir rufen, die engel, die<br />
auf den schlachtfeldern die schädel der toten numerieren, aufdaß<br />
die schlangen ihre wohnhöhlen kennen und die generäle ihre verluste<br />
Sie brauchen einen Arzt, hat man mir gesagt, als ich selbst davon<br />
gesprochen, daß wir Wunden geschlagen bekommen, über welche man<br />
endlich nicht mehr sagen kann, als daß die nicht bluten, Sie<br />
brauchen einen Arzt, einen Neurologen vielleicht. O den brauch ich<br />
keinesfalls, habe ich sogleich reagiert, den brauch ich nicht!<br />
Statt dessen brauche ich Gewißheit, hub ich an, Gewißheit, nämlich<br />
eine Gewißheit, ir-gend-ei-ne zumindest... Warum ich die denn<br />
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brauche, wurde ich gefragt, und ich habe das Staunen agnosziert,<br />
das zu sehen war und zu hören, sintemal es vielleicht das Staunen<br />
von Kindern gewesen. - - Das Leben ist nicht mehr zu ertragen,<br />
habe ich gerufen, und vielleicht war es das niemals gewesen, weil<br />
jene Wunden, welche wir geschlagen bekommen, dieweil wir schlafen<br />
oder die Wahrheit zu erkennen suchen, weil ebendiese Wunden,<br />
welche noch nicht einmal bluten, auch nicht vernarben! Es sind das<br />
Wunden, fuhr ich fort, die wie Löcher in uns aufgerissen werden<br />
von Händen, oder von Hoffnungen, die allesamt ausgerüstet sind mit<br />
Schaufeln und Krumpen von Stahl, welche das Fleisch ebenso<br />
unbeschwert zu zerteilen vermögen wie unsere Seelen! Solche Wunden<br />
sind´s, habe ich geflüstert, solche... L-ö-c-h-e-r.<br />
wissen, welche<br />
wunder, welche<br />
wege!!!<br />
Vielleicht hatte er gelacht, ich weiß das nicht zu sagen; wohl<br />
aber weiß ich mein eigenes Staunen noch, das sich ereignet hatte,<br />
als er selbst lachte, oder eben ich selbst nur glaubte, daß er<br />
lache. Es war schön gewesen, ihn lachen zu sehen, und ich habe<br />
also geglaubt, daß es die Schönen seien, welche lachen, dieweil<br />
jemand anderer staunt über die Schönen. Was anderes hätte ich auch<br />
tun können in jenem Moment, als es sich ereignete, daß er selbst<br />
lachte, dieweil ich staunte? Die Schönheit, habe ich gedacht, oder<br />
vielleicht hab ich´s auch gewußt, die mußt du bestaunen ganz ohne<br />
Vorbehalt, weil du die Schönheit nicht verstehen noch erbitten<br />
sollst!<br />
Gott ist meine Zaubermacht, und Er hat mich geliebt in diesem<br />
Moment nur deshalb, weil ich Seiner bedurfte, hat mich geküßt nur<br />
deshalb, daß ich´s wissen kann, und hat mich endlich befreit von<br />
den Fesseln jener strengen unbeirrbaren Vergangenheit nur deshalb,<br />
daß ich wieder lachen kann und dienen.<br />
Ich schreibe nur deshalb über den Tod, weil sich der zu keinem<br />
Augenblick von mir absentiert!<br />
Ich schlafe nicht mehr, habe ich gesagt, ich schlafe nicht mehr,<br />
um die Träume, welche Herolde sind einer übermächtigen<br />
Vergangenheit, besiegen zu lernen, um mich zu rüsten wie Hamlet,<br />
der vielleicht ebendiese Träume verwechselt hatte mit jenen Übeln,<br />
die er nicht hat zählen können noch verwandeln...mit jenen Übeln,<br />
die allein zu fühlen sind wie das Brennen im Bauch des Soldaten,<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
für welches die Granaten verantwortlich zeichnen und dereinst<br />
vielleicht ebenso die Generäle...die Granaten also, welche<br />
irgendeiner verratenen Liebe wegen zerrissen waren in tausend<br />
Stücke und mehr, als zwischen den Frontlinien das Wasser faulig<br />
wurde. Also ich selbst, fuhr ich fort, ich selbst schlafe nicht<br />
mehr, sintemal ich nicht träumen will von den Soldaten und von den<br />
Übeln oder von den Schmerzen... Es sind doch Lügen, habe ich<br />
wütend gerufen, es sind doch Lügen, die wir träumen! - - Es sind<br />
Lügen, die wir träumen, und es sind Lügen, daß wir träumen, habe<br />
ich schließlich geflüstert und an den zwölfjährigen Mozart<br />
gedacht. Welche Träume Mozart denn gehabt habe, wurde ich gefragt<br />
(oder vielleicht habe ich das auch nur gedacht), was ich also<br />
glaube, daß er geträumt habe. Oh, habe ich gerufen, oh, der hat<br />
gewiß kein einziges Mal geträumt! - - Warum ich mich überhaupt<br />
erdreiste, das zu sagen, hörte ich jemand mich anrufen, warum. Ich<br />
weiß das nicht, habe ich geantwortet; weiß nicht, warum ich darauf<br />
habe insistieren wollen... - - Mozart hat es gewußt..., hub ich<br />
endlich wieder an. Was hat er gewußt, hörte ich einen mich fragen.<br />
Irgend etwas, rief ich sogleich, irgend etwas, zumindest irgend<br />
etwas...<br />
Für die Gerechtigkeit muß man selbst gereichen!<br />
in der nacht<br />
hatte mir<br />
geträumt,<br />
daß ich<br />
erlöst würde<br />
von ihm, daß<br />
ich ihn<br />
begreifen<br />
würde für<br />
diese nacht.<br />
Ich hatte mich ihnen gezeigt, in meiner ganzen Häßlichkeit hatte<br />
ich das, und die haben nicht gelacht noch gelästert; die haben<br />
gelächelt geradeso, als hätten sie das, was ich ihnen gezeigt,<br />
schon gewußt gehabt zu jener Zeit, zu welcher es mich selbst noch<br />
nicht einmal danach verlangt hatte. Also hatte ich mich ihnen<br />
gezeigt gehabt in einer so seltsamen Ahnungslosigkeit, daß ich ihr<br />
Lächeln endlich ebenso zu abhorreszieren mich befleißigte wie ich<br />
ihr Lachen mißverstanden hätte! - - Aber sie waren schön, und ich<br />
war häßlich! So habe ich denn ihr Lächeln gedeutet als einen "Akt<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
der Diplomatie", und war ihnen endlich nicht weniger wohlgesonnen<br />
als sie mir vielleicht häßlich waren. Trotzdem waren sie schön,<br />
und ich selbst mir so sehr der eigenen Häßlichkeit gewärtig, daß<br />
ich mich ihnen zeigte in der vielleicht unbegründbaren Hoffnung,<br />
mit dieser einmal offenbarten Häßlichkeit jene Schönheit mir<br />
anzueignen, von welcher mir seit ehedem träumt, wie man nämlich<br />
allenfalls als Junge schon geglaubt hatte, die Mutter sein zu<br />
können oder der Vater, indem man sich evozieren hat lassen von dem<br />
Geruch, den die Mutter hatte, oder von der Eigenheit, mit welcher<br />
der Vater des abends eine Geschichte vorgelesen. Natürlich war<br />
nicht dieses noch jenes jemals gelungen, sintemal der Körper, in<br />
welchen man nachgerade gestopft worden war wie ein Korken in die<br />
Öffnung einer Champagnerflasche, schließlich immer das Seine getan<br />
hatte, jeder Andersartigkeit einfach davonzuwachsen! - -<br />
Jedenfalls hatte ich agnosziert, daß sie schön waren; dieweil ich<br />
selbst zwar nicht davon- oder überhaupt auf irgendeine, zumindest<br />
ähnliche Weise gewachsen, aber doch verwachsen war. So war also<br />
meine Häßlichkeit – das kann ich heute sagen – jenes<br />
Antipodenhafte, das sich immer wieder dort schafft, wo<br />
Ähnlichkeiten nicht erlaubt sind! - - Diese Schönen aber bedünkten<br />
mich genauso ehrlich wie eine Übelkeit am Nachmittag um 16 Uhr 10<br />
vielleicht, von welcher gewiß keiner behaupten wird, daß es sich<br />
um eine erfundene illusionäre Übelkeit handelt, sintemal wir ja<br />
das Häßliche immer als eine ganz bestimmte Wirklichkeit zu<br />
erkennen uns getrauen, dieweil wir das Schöne allein nur allzu<br />
gerne leugnen zugunsten ebendieser Häßlichkeit! - - Nicht anders<br />
habe ich selbst gehandelt, als ich die eigene Häßlichkeit als jene<br />
Wahrheit akzeptierte, von welcher ich in globo dachte, daß sie<br />
universell sein müsse, nachdem sich mir das Häßliche gezeigt hatte<br />
und nicht das Schöne. ...<br />
Zu schreiben heißt auszuatmen. Vielleicht ist denn das Leben jene<br />
Art der Respiration, die so wenig leidlich passiert, daß ein<br />
zweites Mal ausgeatmet werden muß!<br />
Irgend etwas, habe ich mich erinnert, irgend etwas hatte ich<br />
gerufen, vielleicht sogar um Hilfe! Vielleicht hatte ich das,<br />
vielleicht hatte ich um Hilfe gerufen in einem Moment, über<br />
welchen ich dachte, daß ich zerdrückt würde von den Rädern<br />
irgendeines zwölf Tonnen schweren Lastkraftwagens, dessen<br />
Geschwindigkeit ich falsch bemessen hatte; und vielleicht hatte<br />
ich statt dessen genauso gefühlt wie ich dereinst fühlen werde,<br />
wenn ich jenen festen unbeirrbaren Schritt denn wage! - - Aber ich<br />
weiß jetzt nicht, was geschehen war und was ich gerufen hatte,<br />
oder ob ich selbst überhaupt irgend etwas gerufen hatte, nämlich<br />
allenfalls um Hilfe gerufen. Trotzdem war etwas geschehen, auf das<br />
ich zu reagieren hatte! Es bedünkt mich sogar, daß etwas geschehen<br />
war nicht in einem bloßen Augenblick an diesem ganz bestimmten<br />
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Tag, von welchem ich geschrieben, sondern daß es geschehen war<br />
bereits vor neun Jahren! Also hatte ich das, was irgendwann einmal<br />
geschehen war, nicht in jenem Moment agnosziert, zu welchem ich´s<br />
vielleicht hätte erkennen müssen! Es ist vielmehr das, was<br />
geschehen war, auf eine so seltsame Weise geschehen wie vielleicht<br />
jene Ahnung, welche eine Gewißheit ist, irgendwann einmal<br />
passierte als man sieben Jahre zählte oder acht, als man nämlich<br />
die eigene Sterblichkeit zu wissen nicht mehr umhin hatte können!<br />
- - So ist es passiert, oder so ähnlich doch passiert, was endlich<br />
nicht von Bedeutung ist! Denn wie oder zu welchem Zeitpunkt es<br />
passiert war, ist für das, was passierte mit einem selbst, als es<br />
passierte, geradeso unbedeutend wie die Phantasien desjenigen<br />
Lenkers, welcher vielleicht die Knochen bersten hörte oder die<br />
Gedärme platzen! - - Es war passiert, und nur weil es passiert<br />
war, habe ich schließlich irgend etwas gerufen, vielleicht sogar<br />
um Hilfe.<br />
Eine Liebe, die ich verstünde, sei zur Freiheit, welche mich<br />
verlangt, ein Gutteil mehr!<br />
Vierzig, hatten sie gesagt, während jener vierzig...Einheiten von<br />
Zeit werde ich endlich nichts mehr wissen! Ich werde denn, hatten<br />
sie gerufen, ich werde denn nicht wissen was...und warum...und<br />
wer... Schon jetzt, habe ich lachend geantwortet, sogar schon in<br />
diesem Moment weiß ich eigentlich nichts mehr... - - Warum ich<br />
also, habe ich gefragt, warum ich mich bekümmern lassen solle von<br />
jener so sonderbaren Konjektur, daß nämlich ich vielleicht<br />
dereinst nichts mehr wissen werde. Oh, huben sie an, oh... Ich<br />
dürfe ja, hörte ich einen fortsetzen, nicht verwechseln, daß jene<br />
Ahnung, von welcher ich gesprochen, nicht kommensurabel sein würde<br />
mit der Tatsächlichkeit-- Aber ich selbst, habe ich wütend<br />
dazwischengerufen, ich selbst möchte nun so indezent sein, daß ich<br />
´s zu behaupten wage! - - Dieser Unterschied, begann ich<br />
schließlich, nachdem ich mich nicht zu entscheiden wußte zwischen<br />
der Resignation und einem Tod, der nur nach innen wirkt, o ja,<br />
dieser Unterschied wird ohne jede Bedeutung sein für mich. Und ich<br />
werde jene Furcht, fuhr ich fort, welche sich gewiß ereignen würde<br />
wollen, nicht sich ereignen lassen nur deshalb, weil sie sich<br />
ereignen wird! - - Ich bin müde, begann ich schließlich wieder,<br />
ich bin so müde, daß ich sogar in der Liebe nur eine Last<br />
erkenne... Dann müsse ich eben, hörte ich eine Stimme, müsse ich<br />
eben-- Nichts werde ich müssen, habe ich laut dazwischengerufen<br />
und noch nicht einmal gewußt warum, nichts! Für Sie selbst mag die<br />
Liebe eine Sinekure sein, hörte ich mich sagen, und vielleicht ist<br />
sie das auch... Aha, reagierte jemand, aha!? Aber die ist trotzdem<br />
nichts, fuhr ich fort, diese Liebe ist trotzdem nichts, für<br />
welches ich mich entscheiden kann nur deshalb, w-e-i-l ich müde<br />
bin...oder w-e-i-l ich gegen jede Art der Simonie zu leben<br />
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versucht habe! Also ist die Liebe ein Artefakt..., frug man mich.<br />
Nein, reagierte ich sofort, nein; aber die Indolenz ist es,<br />
nämlich Ihre Gleichgültigkeit ist es. Wir stellen uns nur den<br />
Tatsachen, hörte ich jemand antworten. Und weil Tatsachen, fuhr<br />
ein zweiter fort, von größerer Evidenz sind für unsere Theorien<br />
als Sehnsüchte... Brauchen wir selbst nicht mehr über die Liebe zu<br />
diskutieren, ergänzte jemand anderer. - - Zuweilen habe auch ich<br />
geliebt, habe ich gesagt, und es war das immer eine Erfahrung,<br />
die, bevor ich sie überhaupt noch hatte evaluieren können oder<br />
gutheißen, zerstückelt worden war von der Unendlichkeit der...ja,<br />
von der Unendlichkeit der Ängste... Daß Sie das jetzt verstehen,<br />
fuhr ich fort, ich meine damit die Beständigkeit, über welche wir<br />
immer glauben, daß sie der Schönheit allein gehöre! Oh, hörte ich<br />
jemand sich erstaunen, oh, die Schönheit ist ja genausowenig<br />
beständig wie die Schockwelle einer explodierenden<br />
Wasserstoffbombe!<br />
Zuerst, habe ich begonnen, zuerst hatte ich gedacht, es sei das<br />
Geld, nämlich jenes Geld, über welches ich nicht disponieren kann,<br />
verantwortlich für den Schmerz und die Unzufriedenheit.<br />
Irgendwann, fuhr ich fort, irgendwann später aber hatte ich<br />
geglaubt, es sei vielmehr die Angst der Prätendent jenes<br />
Zustandes, den ich Ihnen zu beschreiben mich mühe, nämlich eines<br />
Zustandes von Schmerz. Dann wiederum, habe ich gesagt, hatte ich<br />
unsere eigene Sterblichkeit für jene einzige Ursache<br />
diagnostiziert gehabt; und endlich hatte ich geglaubt, in der<br />
Mühsal und in der Müdigkeit eine plausible Antwort formuliert zu<br />
haben. Beim fünften Mal jedoch war es die Lust, habe ich gesagt,<br />
in welcher ich sine ira et studio eine Erklärung geschaffen zu<br />
haben...mich selbst düpierte. - - Ob es nun das Geld sei, wurde<br />
ich gefragt, das Geld, oder die Wollust, die Angst, die Müdigkeit,<br />
oder eben die Sterblichkeit? Vielleicht, hub ich an, vielleicht<br />
ist es mehr die Lust denn die Angst, weshalb ich resigniere und<br />
endlich sterben werde, und allenfalls ist es das Mühen und eben<br />
nicht so sehr die Münze, warum ich sterbe! - - Bloß in meinen<br />
Träumen, fuhr ich fort nur deshalb, um es endlich aussprechen zu<br />
k-ö-n-n-e-n, begegne ich Gott. Allein wenn ich träume, erklärte<br />
ich mich, dirigiere ich meine zitternden Finger über dessen Seiten<br />
ganz ohne Vorbehalt... Und um Ihn zu küssen, begann ich wieder,<br />
muß ich träumen, muß ich schlafen, mich hinabstoßen lassen in die<br />
Gewölbe jener Seele, von welcher man sagt, es sei die meine... - -<br />
Bloß um den zu küssen, habe ich gerufen, nur zu küssen, wie<br />
vielleicht einmal desgleichen der verkleidete Bastien den als<br />
Bastienne geschminkten Freunde geküßt hatte in der<br />
Theatergarderobe an einem Sonntagnachmittag um 16 Uhr 10... Nur<br />
für einen Kuß, habe ich wiederholt, muß ich der Nacht mich<br />
unterwerfen... - - Aber daß dieser Bastien jener Bastienne<br />
vielleicht am nächsten Sonntag, hub ich an, daß der dann gegen des<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
kostümierten Freundes Erinnerungen anging, dieweil der Freund zu<br />
flüstern begann von der Unendlichkeit – o, schon das wage ich<br />
nicht mehr zu träumen, habe ich gerufen, schon das nicht, um nicht<br />
zerrissen zu werden von der Übermächtigkeit der eigenen Gefühle,<br />
um nicht zu sterben in jenem einzigen Moment der Trauer! - - Diese<br />
Seele, habe ich geflüstert, in deren Gewölbe ich steigen muß wie<br />
der Renegat Pizzaro...um endlich das Gewölle dort<br />
hinunterzuschlingen wie ein hungriger Wolf in den letzten Tagen<br />
des Winters...diese Seele ist bestimmt nicht meine... - - Die<br />
Juristen, begann ich schließlich wieder, nachdem man nicht einmal<br />
indigniert gelächelt hatte, die sind es, welche vielleicht mehr zu<br />
erzählen wissen denn die Schriftsteller! Und vielleicht,<br />
korrigierte ich mich sogleich, vielleicht wissen die de facto<br />
nicht mehr zu erzählen als die Schriftsteller - um´s jedenfalls in<br />
einem Timbre zu erzählen, über welches man glauben wird wollen,<br />
daß es die zweifelsfreie Stimme sei von Gott...oder doch von etwas<br />
Ähnlichem! - - Sie müssen das wissen, fuhr ich endlich fort, sie<br />
müssen das wissen, daß nämlich die Juristen so ganz genau wissen,<br />
wovon sie sprechen, daß es mich immer wieder bedünkt, daß ich<br />
selbst nichts erzählen kann, sintemal ich die Seele...deren<br />
Paragraphen, Ränge und Absätze die Themen der Schriftsteller sind<br />
geradeso wie die Juristen sich vielleicht für das Junktim<br />
interessieren oder für die Interpretationen von supranationalen<br />
Rechtsvorschriften...daß ich ebendiese Seele bloß zu versuchen<br />
verstehen kann...daß nämlich ich immer ein Studiosus bleiben<br />
werde...und daß ich selbst endlich niemals jene Logik der Seele<br />
zumindest umzeichnet haben werde, um davon zu erzählen in der Art<br />
der Jurisprudenz, Sie müssen das wissen! - - Wir dürfen uns nicht<br />
täuschen lassen von den Juristen, habe ich gesagt, wir müssen<br />
jetzt aufmerksam sein und skeptisch! - - Das müssen wir sein, habe<br />
ich gerufen, andernfalls wir einem Phantasma anheimfallen wie die<br />
Juristen oder deren Zuhörer...und vielleicht tatsächlich behaupten<br />
werden, daß w i r a l l e s v e r s t e h e n k ö n n e n!!!<br />
- - Aber die Seele ist kein Gesetzesbuch, hub ich wieder an, das<br />
wir auswendiglernen können und interpretieren! Und wäre sie das,<br />
fuhr ich fort, wäre sie ein solches Buch – o, ich weiß gewiß, daß<br />
dann die Juristen noch vor den Schriftstellern resignieren<br />
möchten! - - Das, habe ich gesagt nach einer Pause von zweimal<br />
zehn Minuten, während welcher ich selbst keine Erinnerungen hatte<br />
noch jenen Schmerz agnoszierte, von welchem ich bislang immer<br />
glaubte, daß der allein den Juristen unbekannt geblieben, welche<br />
die Ataraxie genausowenig kümmert wie einen toten Clown allenfalls<br />
leichenfleddernde Kinder, das bin ich nun Ihnen allen zu sagen in<br />
der Lage...und vielleicht werde ich dereinst mehr darüber erzählen<br />
können als diese Juristen im allgemeinen zu erzählen sich<br />
befleißigen... - - Der Haß, habe ich denn dann zu erklären<br />
versucht, ist keinesfalls die Reaktion auf eine Unmöglichkeit,<br />
nämlich auf die Unmöglichkeit zu lachen, zum Beispiel... Vielmehr<br />
ist der Haß eine Reaktion, w-e-i-l wir nicht mehr lachen...Dann<br />
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lachen Sie doch, hörte ich einen sagen, lachen Sie!...und-- Oh,<br />
habe ich dazwischengerufen genauso süffisant wie der zwölfjährige<br />
Mozart in jener Nacht um 4 Uhr 10, als er erwachte, sintemal ihm<br />
ein Engel erschienen war im Traum, oh, ich selbst lache nur noch<br />
aus Verlegenheit; nämlich in diesen Momenten lache ich, fuhr ich<br />
fort, während welcher ich mit einem Male mir wieder bewußt werde,<br />
daß wir sterben werden... - - Also ist der Haß, frug man mich,<br />
nachdem ich dagesessen war wie ein Soldat zum Ende der Schlacht,<br />
die einzige Möglichkeit, für die wir uns entscheiden können!? Wir<br />
entscheiden uns nicht für den Haß noch wählen wir ihn, habe ich<br />
geflüstert; aber wir haben ihn erkannt als das, was er ist. Was<br />
ist denn der, frug man mich sogleich (und vielleicht habe ich´s<br />
auch nur gedacht), was ist der Haß? Er ist ein Tröster, habe ich<br />
gelächelt; er ist endlich das, was uns selbst zumindest zu trösten<br />
versucht, weil Gott nicht mehr reagiert! - - Wir w-ü-r-d-e-n<br />
weinen, habe ich schließlich gesagt, aber weil der Schmerz zu groß<br />
ist für jene Art der Erlösung, welche dem Weinen inhärent zu sein<br />
dünkt, weinen wir nicht mehr, um statt dessen zu hassen... Denn<br />
für den Tod, fuhr ich fort zu erklären, sind wir nämlich nicht zu<br />
feig, wir sind nicht ausgerüstet worden für das Sterben, weshalb<br />
wir endlich hin und her geworfen werden wie ein Spielball in den<br />
Händen eines Kindes, welches sich nicht zu entscheiden weiß<br />
zwischen der Appetenz und jener Angst! Verstehen Sie? - - Aber auf<br />
den Friedhöfen, habe ich schließlich begonnen, auf den Friedhöfen<br />
zwischen den Gassen sammeln wir unsere Toten...und fühlen uns<br />
endlich...fühlen uns zu Hause... Auf den Friedhöfen, fuhr ich<br />
fort, zwischen den Gassen riechen wir den Tod; dort f-ü-h-l-e-n<br />
wir ihn, und wir fürchten ihn, obschon wir nur noch für jene<br />
skurrile Art von Hoffnung leben, die uns zu träumen täuscht...<br />
Aber auf den Friedhöfen zwischen den Gassen wissen wir endlich,<br />
habe ich gerufen, wissen wir ganz genau, daß wir nicht träumen!<br />
hörst du das,<br />
daß nämlich i c h...<br />
nun nicht mal weiß -<br />
warum das geschehen,<br />
nämlich d a s geschehen war?<br />
weißt du was,<br />
daß nämlich d u...<br />
nun gewiß nur du –<br />
mich befreitest,<br />
nämlich u n s!?!<br />
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Wir können uns lieben, habe ich gesagt, oder wir können uns<br />
negieren, sintemal wir fähig sind zur Liebe genauso wie zur<br />
Indolenz; aber immer werden wir das falsche getan haben damit!<br />
Also verlieren wir, habe ich geflüstert, nur deshalb, weil wir<br />
tatsächlich zu siegen unfähig sind...weil wir den Tod...jenen<br />
beständigen plötzlichen determinierten, meine ich...weil wir den<br />
anzunehmen nicht bereit sind in den Nächten, die der Angst<br />
gehören... In den Nächten, fuhr ich fort, nämlich in diesen<br />
Nächten sind wir wie die Kinder, welche mit einemmal davon wissen,<br />
daß die Mutter sterben wird oder das Geschwisterchen und daß sie<br />
selbst nichts dagegen werden tun können. Aber dann beten wir! Wie<br />
jene Kinder beten wir, dieweil wir daliegen wie zitternde, halb<br />
zerrissene Soldaten, die in die Schützengräben zurückgefallen<br />
sind, über welchen die Panzerkolonnen sich zu drehen beginnen<br />
geradeso, als würden die mit dem Senfgas, welches über die Felder<br />
stiebt, tanzen wollen! - - In den Nächten, habe ich begonnen, in<br />
diesen Nächten sind wir die Kreatur eines gnadenlosen Weltenraums,<br />
sind wir Bastarde, aus deren wunden eitrigen offenen Bauchhöhlen<br />
jener Moder steigt, von welchem wir erzählt bekommen haben, daß es<br />
der Gestank sei von Prosekturen! - - Das sind wir in den Nächten,<br />
habe ich gesagt, nicht so sehr, weil die Nächte sich maskieren wie<br />
Mörder; weil die Nächte so...exakt zu riechen sind, spüren wir<br />
unsere Abdomina zerplatzen und den Moder sich ergießen! Und wir<br />
können nichts tun dagegen, habe ich gerufen, wir können nicht<br />
einmal etwas tun!!! - - Die Sonne, habe ich schließlich begonnen,<br />
allenfalls die Sonne ist eine Schauspielerin! Zwar hat die, fuhr<br />
ich fort, ihren Text gut gelernt, und trotzdem ist sie eine<br />
heuchelnde unbarmherzige ekelhafte Darstellerin! Wir dürfen ihr<br />
nichts glauben, habe ich gerufen, nichts!!! In der Wüste tötet sie<br />
uns, auf den Schneefeldern der Gletscher läßt sie uns erblinden,<br />
und in den Städten und den Nächten schweigt sie wie eine Hure, die<br />
sich zum erstenmal entkleidet! Wir dürfen ihr nichts glauben, habe<br />
ich mich wiederholt, nichts!!! Wem wir also glauben sollen, frug<br />
man mich. Keinem, habe ich sofort reagiert, keinem sollen wir<br />
glauben, und noch nicht einmal uns selbst! Aber etwas müssen wir<br />
glauben, wurde ich laut angerufen, etwas müssen wir immer glauben!<br />
Ja, den Schmerz, habe ich gesagt, den Schmerz und die Resignation<br />
können wir glauben ganz ohne Vorbehalt. - - Der Schmerz, habe ich<br />
sodann wieder begonnen, ist nicht wie die Sonne oder wie unsere<br />
Vorstellungen und Hoffnungen...denn der Schmerz ist immer nur der<br />
Schmerz; er wird sich nicht verkleiden und sich keine Maske<br />
aufschminken, wie das die Sonne tut, indem sie uns das Wasser aus<br />
dem Körper zieht oder unsere Iris verbrennt. Und der Schmerz ist<br />
auch nicht wie die Hoffnung, habe ich zu erklären mich<br />
weiterbemüht, über welche wir nicht zu erkennen wagen, daß sie uns<br />
nicht anders desavouiert als das vielleicht der Schularzt<br />
irgendwann einmal getan hatte, sintemal er argwöhnisch gelächelt<br />
hatte in jenem Moment, während welchem man als Junge sich<br />
entblößen hat müssen vor ebendiesem Doktor, damit der das<br />
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Präputium des Buben kontrolliere auf irgendwelche drohenden<br />
Verwachsungen. ...<br />
Gott, habe ich zu sagen versucht, Gott ist nur deshalb nicht zu<br />
beschreiben, weil so etwas wie Gott über die bloße Imagination<br />
nicht hinauskommt... - - Was wir endlich tun können, ist nicht<br />
mehr, als uns über eine Art der Vorstellung ebendieser anderen<br />
Vorstellung zu approximieren, indem wir die Metaphysik<br />
diskutieren, vielleicht wie das die Kinder tun, welche noch nicht<br />
einmal die Nomenklatur definieren oder einen Unterschied! - - ABER<br />
ICH HASSE DAS, habe ich gerufen, ICH HASSE DAS...DAß WIR NÄMLICH<br />
GOTT DISKUTIEREN WOLLEN UND NICHTS WISSEN...nichts wissen<br />
von...von dem, das wir zu diskutieren uns erdreisten... ICH HASSE<br />
DAS!!! - - So ist Gott vielleicht die größte Lüge, von der wir<br />
wissen, habe ich geflüstert, die einzige wirkliche Lüge... Aber<br />
wollen wir denn, habe ich gefragt, wollen wir das Verlieren<br />
anerkennen nur deshalb, um zu sterben als einer, der behaupten<br />
kann, davon gewußt zu haben!? Oh, habe ich gelächelt, oh, wir<br />
brauchen das nicht tun! Nicht einmal der Zirkusclown wird sich<br />
seiner Verkleidung erinnern müssen, sintemal er sehr gut weiß,<br />
geschminkt zu sein und maskiert! - - Das ist kein Gott, habe ich<br />
begonnen, das ist keiner, der e-r-k-a-n-n-t w-e-r-d-e-n m-u-ß!!!<br />
- - Ich hasse das, habe ich abermals geflüstert (und vielleicht<br />
habe ich auch geweint dabei). Und vielleicht, habe ich endlich<br />
gesagt, vielleicht hasse ich nicht so sehr diesen metaphysischen<br />
Gott als ich uns selbst dafür hasse, daß wir schwach sind und<br />
unbeholfen wie ein Rudel sieben Tage alter Wolfsjungen... Daß<br />
nämlich wir selbst irgendeinen Gott geschaffen haben nur deshalb,<br />
um die Nacht nicht zu fürchten...die Nacht...in welcher die Mutter<br />
zerrissen wird vom Rudel und der Vater vielleicht über die Anhöhen<br />
hetzt mit zwölf anderen... "Sieh, Hektor, wie die Sonne sinkt<br />
herab, und schwarze Nacht auf ihren Spuren keucht", habe ich<br />
Shakespeare zitiert geradeso, als würde ich beten müssen, "und<br />
wenn die Sonn´ im Dunkel niederschwebt, erlischt der Tag, und<br />
Hektor hat gelebt." - - Ich selbst, habe ich schließlich zu<br />
flüstern begonnen, ich selbst fürchte diese Sonne... Weil ich<br />
nichts kenne, das ich nicht fürchte, habe ich geflüstert, fürchte<br />
ich auch die Sonne!!! - - Das, habe ich gerufen, nämlich das ist<br />
kein Leben, weil es endlich nicht einmal kommensurabel ist mit<br />
dem, was wir Leben heißen! Denn die Kreatur, fuhr ich fort, die<br />
Kreatur lebt nicht, sie kennt nicht die Liebe und nicht die<br />
Wahrheit, kennt nicht einmal die eigene Furcht so genau, daß sie<br />
zumindest behaupten kann, daß es ein Schmerz ist, über welchen<br />
keine andere Macht, die Erlösung anbietet, sich offenbart! - - Die<br />
Kreatur, habe ich vielleicht sogar geweint aber bestimmt zu<br />
formulieren versucht, ist endlich bloß das Resultat jener<br />
unbestimmbaren Sehnsucht nach Freiheit, die sich zu jedem Moment<br />
ereignet in allen diesen Wesen, die irgendeinen Schmerz zu<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
agnoszieren fähig sind... Und ich selbst, habe ich gelächelt, wie<br />
vielleicht ein Soldat nur mehr zu lächeln sich befleißigt in jenem<br />
Augenblick, als er die Gewehrkugel den Nebel durchbrechen fühlt,<br />
die ganz gewiß in seinen Körper dringen wird, ich selbst also<br />
kenne keinen, der frei ist von Sehnsucht, frei ist von Furcht. - -<br />
Aber auf den Schlachtfeldern ist jener Gott genausowenig zu<br />
bezwingen wie in den Nächten, die der Angst gehören! habe ich<br />
gerufen und ein zweites Mal gelächelt geradeso, als würde ich mich<br />
nicht bekümmern lassen von den Seelen der Toten, die vielleicht<br />
nur länger brauchen, um zu verfaulen, als ihre Körper.<br />
Warum ich lebe, frug man mich. Warum ich lebe, habe ich<br />
wiederholt, warum ich lebe – das weiß ich nicht zu sagen. Aber daß<br />
Sie leben, wissen Sie? Oh, habe ich gelächelt, oh, das weiß ich so<br />
ganz genau wie Descartes. Das ist schon etwas, haben sie<br />
gelächelt, das ist immerhin schon etwas... Wenn es nicht<br />
überhaupt, fuhr ein anderer fort, alles ist, was Sie wissen<br />
müssen. Es ist alles, habe ich wütend gerufen, es ist alles, was<br />
ich weiß! - - Es ist alles, was ich weiß, habe ich nochmals<br />
geflüstert und dabei zu weinen mich befleißigt. Warum weinen Sie,<br />
wurde ich sofort gefragt, warum weinen Sie? Nun will ich es wagen,<br />
habe ich gesagt (und vielleicht habe ich´s auch nur gedacht),<br />
jetzt will ich zu weinen probieren, einfach so... Aber warum,<br />
wurde ich laut angerufen, warum? - - Es war Sonntag gewesen,<br />
nämlich Sonntag um 16 Uhr 10, als ich zu weinen mich bemühte,<br />
sintemal es das einzige war, was ich bislang nicht gewagt hatte.<br />
Irgendein Sonntag ist es gewesen im August; aus dem Firmamente<br />
sinterten Wolken, die ich von Anfang als den Moder eines dräuenden<br />
Unwetters erkannte, sintemal sie rochen wie der üble heiße<br />
prodromale Duft der Friedhöfe und gekleidet waren wie Schauspieler<br />
zur Generalprobe. Das habe ich agnosziert, daß es nämlich Wolken<br />
gewesen waren, über welche man vielleicht nichts anderes wissen<br />
braucht, als daß es vermodernde stinkende übelgelaunte Zuträger<br />
sind! - - Aber ich weine nicht, habe ich schließlich gesagt, ich<br />
weine auch jetzt nicht... Denn der Hoffnung, fuhr ich fort, habe<br />
ich abjuriert; und weil ich von ebendieser Lüge mich nicht<br />
versuchen lasse, darf ich gewiß keiner anderen Lüge anheimfallen,<br />
indem ich vielleicht statt zu hoffen weine, statt zu hassen liebe<br />
oder statt zu lachen mich erinnere!<br />
Dort war ich hilflos, ich war ihnen ausgeliefert. Also tat ich<br />
endlich, weshalb ich gekommen war, nämlich ich stöhnte! Ich<br />
stöhnte wie vielleicht einmal Richard III. gekeucht hatte, als er<br />
träumte in der Art einer Theophanie, seine Neffen töten zu werden.<br />
- - Aber das Feuer, dessen Glut genauso amikal schien wie jener<br />
Orgasmus, der sich ereignete in einer Nacht, die fürderhin der<br />
Angst gehört hatte, oh, durch dieses Feuer meinen Körper zu<br />
befehlen, habe ich nicht gewagt... Ich mußte mich dennoch beeilen,<br />
sintemal man mich zu töten plante, wie vielleicht einmal ebenso<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Gott gedacht hatte, daß er die Menschen würde töten müssen,<br />
nämlich genauso langsam würde töten müssen wie ein Henkersknecht<br />
zu Zeiten ebendieses Richard, also foltern! - - Dieses Feuer war<br />
der Nebel am Morgen über den Schützengräben, von welchem die<br />
Soldaten endlich ebensowenig wissen wie deren Mütter, die<br />
vielleicht irgendwann nicht mehr beten können einfach nur deshalb,<br />
weil sie müde sind, also genauso müde wie die Kinder, welche<br />
zwischen den Ruinen umhergelaufen waren geradeso, als wären das<br />
die Paläste, die man ihnen versprochen. - - Aber das Feuer hatte<br />
die Schatten dieses Escorials verschlungen in einer Gier, die<br />
vielleicht an den Hunger von Zwölfjährigen erinnert, die hungrig<br />
sind, weil sie sich verirrt hatten auf den Friedhöfen zwischen den<br />
Gassen.<br />
in den nächten,<br />
als die gespenster<br />
sich entkleidet<br />
hatten,<br />
als ihre masken<br />
zersplitterten,<br />
war ich<br />
schon gestürzt;<br />
in den nächten.<br />
Wo es tief ist, werden wir tauchen, wo es weit ist, werden wir<br />
hinausschwimmen. Wo es aber tief ist und weit, werden wir uns wohl<br />
nicht für eine Richtung entscheiden!<br />
Um 4 Uhr 10 war ich aufgewacht. Ich hatte bestenfalls zwei Stunden<br />
geschlafen, als ich erwachte, nämlich um 4 Uhr 10 vielleicht<br />
erwachen hatte müssen einfach schon deshalb, um mein Wasser<br />
abschlagen zu können. Nun ist es aber nicht so, daß ich an jener<br />
Nykturie leide, welche die Träume der Kranken vielleicht genauso<br />
rücksichtslos unterbricht wie das ansonsten nur die einschlagenden<br />
Granaten tun in den Nächten. Meine Harnblase funktioniert seit<br />
ehedem! Auch war ich als Junge niemals irgendeiner Art von Enurese<br />
wegen gescholten oder gar behandelt worden, als ich denn jetzt<br />
vermuten würde können, beschaffen zu sein für ebendiese<br />
Inkommodität. Ich bin also in solchen Dingen, wie man sagt,<br />
durchaus normal entwickelt. Trotzdem war ich aufgewacht, nämlich<br />
um 4 Uhr 10, und ich habe dabei gefühlt geradeso, als würde der<br />
Urin plötzlich herausdrängen! Denn mein Schwanz war eregiert; der<br />
war so steif wie in jenen seltenen Augenblicken höchster Wollust,<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
während welcher man gewiß nicht glauben würde können der eigenen<br />
Erinnerung oder einem Geschichtenerzähler, welche dennoch beide<br />
flüstern, daß dieser Moment nicht währen wird, daß nämlich das<br />
Blut wieder zurückfließen und daß das Geschlechtsteil erneut<br />
erschlaffen werde! Also das habe ich gespürt in jener Nacht um 4<br />
Uhr 10, obgleich ich nicht geträumt hatte von irgendwelchem<br />
Sexuellen. - - So war ich endlich gegangen mich zu erleichtern und<br />
dachte an jene Gespenster, welche mir begegnet waren auf den<br />
Friedhöfen zwischen den Gassen und welche vielleicht ihrerseits<br />
agnosziert hatten, daß ich von ihnen träumen würde wollen in<br />
dieser Nacht oder der nächsten. Doch ich hatte in keiner der<br />
folgenden Nächten geträumt von ihnen, und gewiß hatte ich das auch<br />
nicht geträumt gehabt in jener Nacht, als ich erwachte um 4 Uhr<br />
10! – - Schließlich war ich wieder zu Bette gewesen, als ich mit<br />
einemmal jene Stimme hörte – eine flüsternde unbeholfene,<br />
allenfalls gutturale Stimme. Und oh, ich habe mich von Anfang<br />
gefürchtet, sintemal es nicht meine Stimme gewesen, die ich hörte!<br />
Auch war es nicht die Stimme eines obstinaten Engels, der gekommen<br />
war eben deshalb, weil ich nicht weinen kann noch rufen in den<br />
Nächten, die der Angst gehören, um meine Hand zu halten oder mich<br />
gar zu küssen. Es war gewiß kein Engel!<br />
Ja, habe ich gelächelt, ja, ich könne Ihnen Wilde zitieren oder<br />
Winkler, allenfalls sogar Goethe, nämlich diesen Johann Wolfgang;<br />
und vielleicht, fuhr ich fort, vielleicht würde es mir sogar<br />
gelingen, Shakespeare zu zitieren. Sie sprechen von Shakespeare ja<br />
im Konjunktiv, hörte ich einen sich erstaunen. Und ich tue das,<br />
habe ich sofort reagiert, weil ich nicht lügen habe wollen! - -<br />
Was ich also denke über Shakespeare, wurde ich schließlich<br />
gefragt, nachdem ich ihn weder zitiert hatte noch zu weinen mich<br />
befleißigte, was ich denke über den. Oh, habe ich begonnen, oh,<br />
mit dem ist es wie mit der Weisheit, die endlich genausowenig eine<br />
Sache des Alters ist wie die Traurigkeit... Statt dessen ist das<br />
eine Sache der Überlegung, fuhr ich fort, der Überlegung, also des<br />
willentlichen Tuns... Was ich denn hätte tun müssen, um<br />
Shakespeare zitieren zu können, wurde ich gefragt. Ich hätte frei<br />
sein müssen, habe ich geantwortet. - - Sie müssen nämlich wissen,<br />
habe ich schließlich gesagt, Sie müssen wissen, daß in den<br />
Shakespeareschen Werken eine Weisheit zu finden ist, die es uns<br />
vielleicht erlauben möchte, glücklich zu sein ganz ohne Vorbehalt.<br />
Natürlich kann ich das jetzt, fuhr ich fort, nur vermuten,<br />
sintemal es mir nicht gestattet war, frei zu sein für jene Dauer,<br />
die notwendig ist, alle seine Schriften gelesen zu haben,<br />
zumindest ein einziges Mal gelesen zu haben. Aber das, habe ich<br />
gerufen, was ich selbst gelesen habe von Shakespeare, hat jene<br />
Theorie bestätigt! Was wollen sie dann überhaupt, wurde ich<br />
lächelnd gefragt. Ihre Theorie, hörte ich einen anderen<br />
fortsetzen, ist damit verifiziert... Da brauchen Sie Ihre Zeit<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
nicht mehr mit bloßen Messungen verschwenden, fuhr ein nächster<br />
fort. Ich soll ja nicht bestätigen, habe ich wütend gerufen, ich<br />
soll das nicht, weil Theorien widerlegt werden müssen!!! - - Meine<br />
Herren, begann ich nach einer Pause von zwölf Minuten, während<br />
welcher ich zu erklären versucht habe, warum Theorien widerlegt<br />
werden müssen, ich selbst aber von Verifikationen gesprochen<br />
hatte, meine Herren, jene Theorie, welche ich über die Dramen, die<br />
Shakespeare geschrieben, formuliert habe, ist in drei mal drei<br />
Jahren nicht zu prüfen noch in zwölf Jahren! Verstehen sie, fuhr<br />
ich zögernd fort, ich hatte erst begonnen damit...ich war<br />
frei...und hatte erst begonnen damit... Aber jetzt, habe ich<br />
gelächelt wie vielleicht Hamlet gelächelt hatte, als ihn des<br />
Laertes vergiftetes Rapier gestreift, jetzt bin ich hier... Jetzt<br />
sind Sie hier, hörte ich einen höhnen, ja, jetzt sind Sie hier!<br />
Wie soll ich denn dann, habe ich lächelnd gerufen, Shakespeare<br />
lesen und klug werden dabei!? Wir verbieten Ihnen das nicht! hörte<br />
ich eine Stimme. Nämlich wir, fuhr ein anderer fort, verbieten<br />
überhaupt nichts! Oh, habe ich konstatiert, oh, Sie verbieten die<br />
Freiheit, und weil Sie die versagen, verbieten Sie endlich schon<br />
genug! - - Drei mal zwölf Stunden, habe ich schließlich gesagt,<br />
nämlich drei mal zwölf Stunden plus vier Stunden bin ich Ihre<br />
Fragen zu beantworten gezwungen an fünf Tagen in der Woche...und<br />
Sie sprechen von Freiheit!? Ich habe ja noch nicht einmal die<br />
Zeit, fuhr ich erregt fort, an meine Liebste zu denken, oder mich<br />
dafür zu bedanken, daß ich frei sein habe dürfen... - - Doch Sie<br />
haben die Freiheit zerstört in einer einzigen Nacht... Als Sie mir<br />
telegraphiert hatten... Sie erinnern sich gewiß... - - Sie wollen<br />
Shakespeare nur lesen, wurde ich mit einemmal entrüstet angerufen<br />
vom ersten, weil Sie endlich zu feige sind, sich von jenen Engeln,<br />
die des Nächtens über Ihre Träume wachen und die in Wirklichkeit<br />
Gespenster sind, auch fellieren zu lassen! Und Sie wollen sich<br />
auch bloß deshalb, fuhr der vierte fort, bedanken für jene<br />
Freiheit...Bei wem auch immer, rief der zweite dazwischen, bei wem<br />
auch immer!...weil Sie selbst nicht glauben können an eine solche<br />
Freiheit, die nur ein Fordern ist... An eine Freiheit, die nur ein<br />
Ficken ist! ergänzte der erste. Die nur ein Fordern und ein Ficken<br />
ist, schrie der dritte, ein Fordern und ein Ficken, ein Fordern<br />
und ein Ficken!!! - - Sie haben wohl recht, meine Herren,<br />
flüsterte ich endlich, Sie haben wohl recht, daß ich ein Feigling<br />
bin... Aber ist nicht jeder Häftling, frug ich, auch ein Feigling;<br />
und ist es nicht der Tod und die Wollust, die uns gefangennehmen<br />
schon im ersten Augenblick? - - Man hat mir nicht mehr<br />
geantwortet, und ich hatte auch keine Erklärung erwartet, sintemal<br />
diese fünf "Ärzte und Scharfrichter" aus dem Zimmer gegangen waren<br />
geradeso, als wäre ich selbst nicht dort gesessen. Die waren ohne<br />
Gruß gegangen und ohne mir zu drohen (was vielleicht wiederum eine<br />
Drohung ist, oder doch ein Menetekel); sie hatten auch kein Papier<br />
zurückgelassen noch irgendwelche Zigaretten. Schließlich wurden<br />
mir die Hände gebunden und die Füße von zwei Wächtern, die<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
maskiert waren wie Henkersknechte am Morgen. Dann wurde die Tür<br />
versperrt und die elektrische Beleuchtung abgeschaltet. – - Es war<br />
dunkel, und es war still. Doch ich fürchte keine Dunkelheit und<br />
nicht die Stille, weil ich weiß, daß jene Gespenster in der Nacht<br />
nur besser zu sehen sind, nur besser zu hören sind als vielleicht<br />
im Stadtpark um 16 Uhr 10, wo man die Spaziergänger verwechselt<br />
mit den Gespenstern oder sie stöhnen zu hören glaubt, obschon es<br />
ein kleiner Junge ist, der hinter dem Gebüsch flüstert mit einem<br />
Mädchen, das ihm gefällt und deren Vulva er zumindest gesehen<br />
haben möchte, um sich nicht mehr masturbieren zu müssen vor den<br />
Seiten jenes Versandhauskatalogs, der auf der Toilette liegt<br />
zwischen den Tageszeitungen, auf welchen noch nicht einmal ein<br />
entblößter Busen ediert werden darf! – - Aber ich fürchte die<br />
Dunkelheit nicht und nicht die Stille. Weil ich einen Tod fürchte,<br />
den ich nicht retardieren kann und nicht verbieten, und weil ich<br />
außer dem Tod die Hoffnung fürchte, die sein Geschwisterchen<br />
bedünkt, fürchte ich die Dunkelheit nicht und nicht die Stille!<br />
- - Aber in dieser Nacht waren Gespenster erschienen geradeso, als<br />
hätten die erzählt bekommen von mir selbst, als hätten die meine<br />
Sehnsüchte erzählt bekommen von irgendwelchen Zuträgern. Es waren<br />
jedennoch schöne Gespenster! - - Es waren schöne Gespenster, und<br />
ich habe für sie gebetet in jener Art, die den Kindern zu eigen<br />
ist, welche nichts wissen von den Friedhöfen zwischen den Gassen.<br />
Und ich selbst hatte nicht einmal gewußt, warum ich mich<br />
erinnerte...an die Gebete...und an die Gefühle... - - Die<br />
Gespenster jedenfalls waren schön gewesen, und sie waren stumm<br />
geblieben, oder wenigstens zu sprechen nicht beflissen. Die hatten<br />
mir ihre Arme gezeigt und ihre Bäuche; und sie hatten mich endlich<br />
geküßt geradeso, als wäre ich zurückgefallen in den<br />
Schützengraben, aus welchem ich hatte springen wollen in jenem<br />
Moment, als die Artillerie versagte. Und o, die hatten mich<br />
vielleicht geküßt, w-e-i-l ich zurückgefallen war...<br />
DieL uft, überw elche ichb islangg edachth atte, daßs ieg<br />
enausowenigb elfernw ürdek önnenw iee inK ind, warn unt<br />
atsächlichd urchd ieG asseng eschlichenw iee inü blerG erucha mN<br />
achmittagu m 16 Uhr 10, ward anna ufd enD ächernl iegengebliebeng<br />
eradeso, alsg eltee s, jenenf estenu nbeirrbarenS chrittz ut un,<br />
undh attes iche ndlichn iedergeworfenv ord enM auernd erF<br />
riedhöfe. Dorts tandend ieE rinnerungend erT otenw ieS tyliten!<br />
Der hatte mir jene Freiheit gestattet, von welcher ich bisweilen<br />
geglaubt habe, daß nur Er sie würde erlauben können. Also der<br />
hatte die Schmerzen aus meiner Seele geschöpft geradeso, als wäre<br />
es ein Eimerchen mit Wasser gewesen; dieweil Er immer nur davon<br />
gesprochen hatte, daß ich klüger würde und endlich auch gesunden!<br />
Der hatte mich geheilt, und er hatte noch nicht einmal reagiert<br />
auf mein Seufzen! Aber der war nicht Gott gewesen, und ich weiß<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
nicht zu sagen, wer oder was der gewesen war, aber Gott war der<br />
nicht gewesen!<br />
Auf den Photographien waren die Seelen der Toten abgelichtet. Aber<br />
vielleicht waren es auch die eigenen Erinnerungen, die in jenem<br />
Moment abgebildet worden waren, als jene Übelkeit hervorgekrochen<br />
war wie ein verspätetes Gespenst am Morgen um 4 Uhr 10! Allenfalls<br />
waren das Sehnsüchte gewesen oder Appetenzen! Ich weiß das nun<br />
nicht zu sagen!!!<br />
Ich will eigentlich nicht, daß die Leser zu Sprachwissenschaftern<br />
werden. Die sollen lesen, das erste Mal, vielleicht auch ein<br />
zweites oder ein drittes Mal, und dann nicht mehr sagen, als daß<br />
es sie erinnert, vielleicht an ein Traumgefühl, das ihnen<br />
irgendwann einmal über einen ganzen Tag nachgefolgt war.<br />
Todesvariationen:<br />
Das war damals, im Sommer ´44, im KZ. Ich war vierundzwanzig Jahre<br />
alt, als ich nach M. kam. Aber ich hatte mich freiwillig gemeldet!<br />
Und es war eine tolle Zeit! Wenn Sie auf der richtigen Seite<br />
stehen, ist jeder Krieg eine un-ver-gleich-ba-re Erfahrung! Weil<br />
es dann nämlich keine Regeln gibt, die Sie einhalten müssen, ich<br />
meine, fast keine Regeln! Und ein KZ ist ja überhaupt<br />
ein...Mechanismus, der... Ich meine, im KZ hat es keine Regeln<br />
gegeben, die wir hätten beachten müssen... Verstehen Sie, im KZ<br />
stellen Sie selbst die Regeln auf! Wenn Sie jemanden prügeln<br />
wollen, dann prügeln Sie ihn, oder Sie erschießen in<br />
sechsunddreißig Sekunden ein Dutzend Gefangene nur deshalb, weil<br />
Sie es tun wollen... Ich meine, Sie können alles tun, a-l-l-e-s!<br />
Wenn Sie auf der richtigen Seite stehen, ist das KZ das Land Ihrer<br />
Träume, ich meine, dort können Sie tun, was Sie wollen, und Sie we-r-d-e-n<br />
es tun!!! Ich selbst war ja lange genug im KZ<br />
stationiert, und ich habe während dieser Zeit keinen gesehen, der<br />
das nicht irgendwann erkannt hat, daß er nämlich alles tun kann,<br />
was er will! Sie wollen jemandem die Zähne ausbrechen? Dort können<br />
Sie es tun! Sie wollen den Fötus einer Schwangeren zertreten? Dort<br />
tun Sie es! Verstehen Sie... Sie können tun, was Sie wollen... Sie<br />
selbst bestimmen die Regeln! Im KZ gibt es so etwas wie Moral<br />
nicht; die wird von Ihnen nicht verlangt noch brauchen Sie sie!<br />
Dort sind Sie frei, ich meine, im KZ können Sie die Moral als das<br />
erkennen, was sie ist: ein Knebel; eine Fessel, die Sie selbst<br />
gewiß immer schon zerschneiden haben wollen. Und dort werden Sie<br />
es tun! Im KZ werden Sie Ihre Moral ablegen wie einen zerrissenen<br />
Mantel! Das habe ich schon am ersten Tag erkannt. Als ich die<br />
Gefangenen aus den Waggons habe fallen sehen, habe ich das<br />
erkannt! Verstehen Sie... Ich meine, Sie sollten Ihre Arbeit nicht<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
vernachlässigen oder zu spät zum Dienst kommen... Aber sonst<br />
können Sie alles tun...<br />
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"Zum Ende der Schlacht"<br />
Ein Leseheftchen<br />
(Seite 869 – 876)<br />
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Ich war auf der Suche, in der ganzen Stadt, an jedem Tag. Wie<br />
Ahasver daselbst lief ich umher, lief über Plätze und durch Höfe,<br />
querte eine Hundertschaft von Straßenkreuzungen, nahm die Stufen<br />
der Bahnstationen im Sprunge, stolperte über Fußsteige und<br />
Schlaglöcher, stieß gegen Laternen- und andere Masten, trat in<br />
Pfützen und Rinnsteine, stob über Brücken und Stege, und stürzte<br />
dann an der Kreuzung Mohngasse/Passerellestraße vor dem Hotel<br />
Rotunde. - - Der Asphalt dort roch nach Sonnencreme und Chlor, und<br />
er war heiß. Meine Weste war denn zerrissen, und ich blutete an<br />
der Stirnseite. Brauchen Sie einen Arzt? hörte ich jemand mich<br />
fragen. Ich brauche ein Zimmer, habe ich gelächelt; denn es war<br />
der Pförtner, der zu mir geeilt und mich gefragt hatte. Das können<br />
Sie bekommen, sagte er, und auch einen Arzt werden wir rufen<br />
lassen. Nein, keinen Arzt, habe ich sofort reagiert, keinen Arzt!<br />
Sie dürfen das nicht unterschätzen, mein Herr, fuhr er unbeirrbar<br />
fort, dieweil er mir aufhalf; Sie bluten ja. Oh, habe ich<br />
gelächelt und nach meinem Taschentuch gegriffen, oh, es ist nur<br />
Blut... Es sind keine Tränen, erklärte ich mich sogleich, sintemal<br />
der Pförtner vielleicht eine Art von Bewußtseinstrübung agnosziert<br />
hatte einfach nur deshalb, weil wir in ähnlichen Situation immer<br />
ähnlich outriert reagieren, es ist nur Blut. - - Meine<br />
Zimmernummer war die Zwölf; es war ein großes paneeliertes Zimmer,<br />
in welchem neben dem Bett und einer Chiffonniere zwei gepolstere<br />
Sessel, ein barockes Taburett sowie ein mit farbigen Intarsien<br />
geschmückter Schreibtisch standen, mit zwei Fensterbänken und<br />
verstaubten Draperien. - - Das Bett war weich, und es war groß,<br />
vielleicht zu groß für einen wie mich. Jedenfalls hatte ich die<br />
Fenster schließen und die Vorhänge zuziehen lassen, um die Sonne<br />
nicht zu riechen, nämlich jene mimenhafte despektierliche Gestalt<br />
flüssigen Magmas, die an dieser Stadt genausowenig interessiert<br />
ist wie an den Monden des Jupiter, welcher wiederum an den Kindern<br />
keinen Gefallen findet, die erzählt bekommen haben von eben ihm<br />
oder allenfalls gelesen haben über ebendiesen fünften Planeten in<br />
jenen Büchern, die sie versteckt hatten unter ihren Kopfkissen<br />
oder anderswo nur deshalb, weil sie sonst nicht mehr hätten<br />
träumen wollen! - - Ich hatte eine Karaffe eisgekühltes Wasser<br />
bestellt, das jetzt wie der stinkende Sud eines extramuralen<br />
Rinnsals wirkte in der Düsternheit des Zimmers (Aber ich fürchte<br />
nicht die Dunkelheit und nicht die Stille!) und von welchem ich<br />
keinen Schluck getan, obschon ich wußte, daß ich in der Nacht<br />
träumen würde von jenem Wasser, das ich dann mir selbst verwehrt<br />
haben werde. Also brannte ich eine Zigarette an und dachte an den<br />
zwölfjährigen Mozart, der vielleicht gewußt hatte, daß er sterben<br />
würde, und der endlich nur deshalb komponierte, w-e-i-l er starb.<br />
- - In der Nacht jedenfalls hatte ich nicht geschlafen; ich war<br />
auf dem Alkoven gelegen wie ein moribundes Käferchen im August und<br />
hatte mich der Mozartschen Musik zu erinnern befleißigt, wiewohl<br />
ich ihr abjuriert. Um 4 Uhr 10 klopfte es; der Chef de rang, der<br />
mich ein ängstlicher Mann mit nervösen zitternden kranken Lippen<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
bedünkte, frug mich, ob ich an der Table d´hôte speisen wolle oder<br />
in meinem Zimmer, sintemal ein Arzt schon reserviert hätte seit<br />
elf Tagen. Ich bot ihm eine Zigarette, die er wie ein schüchternes<br />
Kind nahm und sogleich in seine Seitentasche steckte vielleicht<br />
wie ein Priester das Stilett, welches er überreicht bekommt von<br />
einem, der den Mord, welchen er begangen, schließlich nicht anders<br />
hatte formulieren können als mit der Vorlage ebendieser Mordwaffe.<br />
Ob der denn Patienten empfange, dieweil er zu Tische sitzt, frug<br />
ich ihn also. Das gewiß nicht, hörte ich ihn antworten; aber die<br />
Handlungen von Ärzten seien endlich genausowenig vorhersagbar wie<br />
allenfalls-- Der Chef de rang stockte. Ja, frug ich ihn und dachte<br />
wieder an den zwölfjährigen Mozart, ja!? Nun, begann er zögernd, o<br />
ja, dieser Arzt ist keinesfalls irgendein Allopath, sondern-- Der<br />
Chef de rang unterbrach sich ein zweites Mal. Vielleicht wollen<br />
Sie endlich sagen, weshalb Sie gekommen sind, hub ich an, sintemal<br />
mich die häsitierende Art des Chef de rang zu erzürnen begann. Der<br />
wird ja kein Ophthalmologe sein, fuhr ich fort, der ausgerechnet<br />
meine Augen behandeln will, weil das-- Ich darf Sie jedenfalls<br />
davon in Kenntnis setzen, begann der Chef de rang plötzlich laut,<br />
daß wir Ihre Reservierung seit elf Tagen erwartet haben! Er hatte<br />
das gesagt wie ein Soldat der Ehrenwache, der zum Rapport befohlen<br />
ist, und war dann aus dem Zimmer gelaufen ohne Gruß. - - Jetzt war<br />
ich aber doch erstaunt, sintemal ich selbst jene Vormerkung, von<br />
welcher der Chef de rang gesprochen, tatsächlich niemals gefordert<br />
hatte! Ich war bloß durch die Stadt gelaufen wie an jedem Tag; und<br />
daß ich dann gestürzt war, hatte gewiß keine andere Bedeutung als<br />
die, daß es passiert war, vielleicht nur deshalb passiert war,<br />
weil das, was passieren kann, auch irgendwann einmal geschehen<br />
wird! Trotzdem war ich verwirrt, und zum dritten Male dachte ich<br />
an Mozart, an jenen Mozart, der vielleicht eine ebensolche<br />
Bestürzung agnoszieren hatte müssen in jenem Moment, als er nicht<br />
träumte. - - Ich brannte eine Zigarette an und nahm dann doch<br />
einen Schluck von jenem übelriechenden Wasser, nachdem nämlich ich<br />
nicht mehr wußte, ob es der Durst ist, der mir den Schlaf<br />
verbietet, oder die Einsamkeit. Aber ich wollte schlafen, ich<br />
meine, ich hatte ja die Fähigkeit zu schlafen noch vor Jahren und<br />
Zeiten wie jeder andere auch gehabt, als ich nicht auf der Suche<br />
war, in der ganzen Stadt, an jedem Tag; damals hatte ich schlafen<br />
können. Und ich hatte geträumt dabei! O, ich hatte nur die Augen<br />
schließen brauchen zur rechten Zeit, um dann aufzuwachen nach acht<br />
oder neun und bisweilen nach zehn Stunden ohne irgendeine Art der<br />
Somnolenz oder Traurigkeit, dieweil ich mich erinnerte an jene<br />
Träume, die mir vielleicht erlaubt worden waren! - - Nun ist es<br />
aber nicht so, daß ich durch die Stadt zu laufen begonnen habe nur<br />
deshalb, weil ich einen Geschichtenerzähler suchte oder um vor der<br />
Traurigkeit zu flüchten. Ich wußte ja sehr gut, daß die einmal<br />
verlorengegangenen Träume genausowenig zurückbefohlen werden<br />
konnten wie ein Kind, das die Straßenkreuzung quert ganz ohne<br />
Vorbehalt am Nachmittag um 16 Uhr 10, dieweil die Mutter, die<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
vielleicht unaufmerksam gewesen war in jenem Augenblick, als sie<br />
die Sonne staunte, mit einemmal laut zu rufen beginnt und zu<br />
zetern, und das dann überfahren ist. Das Kind ist tot, und niemand<br />
wird also die gedrückten zerrissenen Gliedmaßen neu zusammensetzen<br />
und es aufzustehen heißen; keiner wird das zu tun den Mut haben!<br />
- - Die Nacht war jedenfalls ihren Zenit zu verlassen bemüht, um<br />
vor der renitenten häßlichen Sonne zurückzuweichen, die ja alles,<br />
was sich nicht beugt in Demut, zuerst bewußtlos schlägt und es<br />
endlich aussaugt wie ein Spinnentier. Ich vermochte diese Sonne zu<br />
riechen, ja, sie zu schmecken war ich imstande, wie man vielleicht<br />
schon als Kind geahnt hatte an jenem bestimmten Abend, während<br />
welchem der Geruch der Mutter ein anderer war als sonst, daß man<br />
selbst Soldat werde und daß man jeden Weg, den man laufen würde<br />
aus bloßem Pflichtgefühl noch nicht einmal für sich selbst würde<br />
nachzeichnen müssen! - - Vielleicht hatte ich das getan!<br />
Vielleicht war ich ein Soldat gewesen einfach nur deshalb, um<br />
jenen festen unbeirrbaren Schritt nicht selbst wagen zu müssen<br />
sondern passieren zu lassen, weil sogar die Tretmine, auf welche<br />
man denn steigen wird, einen braucht, der das tut. – - Es klopfte<br />
abermals, und das war ein hämmerndes ruheloses wenngleich<br />
herrisches Klopfen. Herein! rief ich, vielleicht wie ein<br />
schüchterner Junge, der sich beim Onanieren ertappt weiß. Es war<br />
der Hoteldirektor, ein Mann mit gierigen unangenehmen Augen, der<br />
das Befehlen ganz gewiß gewohnt war und der denn die<br />
Selbstverständlichkeit, mit welcher seinen Wünschen Genüge getan<br />
wird, vermissen würde wie ein Alkoholiker das Äthanol. Der Krieg<br />
lehrt uns zu dienen, hub er sogleich an, wiewohl schon der Krieg<br />
per se ein Diener ist! Aber Herr Direktor, reagierte ich soporös;<br />
der-- Nein, nein, mein Herr, unterbrach mich der Direktor, der<br />
Krieg i-s-t ein Diener. Und das Dienen, fuhr er fort, ist ein Tun,<br />
das dem Menschen zu eigen ist, weshalb der es auch nicht verlieren<br />
darf oder verlernen! - - Ich selbst, begann der Direktor<br />
schließlich nachdem ich ihm eine Zigarette und auch von jenem<br />
Wasser geboten hatte, bin Major. Ich verstehe, habe ich<br />
geflüstert, weil ich nicht wußte, was ich hätte antworten sollen,<br />
und mit meinem Kopf genickt auch deshalb, weil ich dem Direktor,<br />
der wie eine Raubkatze umherlief, bedeuten wollte, sich zu setzen.<br />
Und welchen Rang, begann der Direktor unbeirrbar, bekleiden Sie<br />
selbst? Oh, habe ich gelächelt, oh, ich selbst habe...nicht<br />
gedient... Der Direktor versuchte zu lächeln und war jetzt<br />
offensichtlich bemüht um die Reputation seines Hauses, die es ihm<br />
nicht gestattete, einen Gast zu desavouieren. Nun, hörte ich ihn<br />
keuchen nach einer Pause von einigen Atemzügen, nun, dann sind Sie<br />
gewiß...indisponiert! O ja, lächelte ich sofort, ja, ich bin nicht<br />
eben der-- Das erklärt natürlich alles, unterbrach mich der<br />
Direktor und schlug die Hacken zusammen. - - Doch darf ich mich<br />
jetzt absentieren, begann der Direktor schließlich nachdem wir<br />
beide geschwiegen hatte während einiger Minuten. Ich danke<br />
vielmals, sagte ich und reichte dem Direktor meine Hand, obschon<br />
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mich davor ekelte, nach einer Hand zu greifen, die vielleicht noch<br />
vor elf Tagen in den Abdomina irgendwelcher Menschen gewühlt<br />
hatte. - - Ich hatte also nach der Hand des Direktors gegriffen,<br />
und das war festes zähes brutales Fleisch, das gewiß um ebensolche<br />
Knochen gewachsen war. Die Hand war wenig warm gewesen, vielleicht<br />
sogar zu wenig, und es schien, als hätte der Direktor als er zwölf<br />
Jahre zählte oder dreizehn auch niemals mit ebendieser Hand sein<br />
Geschlecht berührt in der Ahnung, daß das die Hand eines Majors<br />
würde. Aber vielleicht war er auch bloß Linkshänder, ich weiß das<br />
nicht zu sagen! - - Dann war mir Mozart erschienen in der Art<br />
einer Epiphanie! Ich war eben vor dem Fenster gestanden, weil ich<br />
den süffisanten Geruch der Sonne atmen wollte mit einer Inbrunst,<br />
die vielleicht allen jenen zu eigen ist, welche die Demut<br />
verabscheuen, als ich die Gegenwart des zwölfjährigen Mozarts<br />
rekognoszierte wenig neben mir. Der summte eine Melodie, die er<br />
gewiß nicht geschrieben hatte und die ich selbst wiederum nicht zu<br />
kategorisieren klug war in jenem Moment, als er erschienen. Ob<br />
also er selbst jemals gehandelt hätte gegen die Generäle und<br />
Majore, nämlich gegen den Krieg, gegen den Siebenjährigen Krieg<br />
zum Beispiel, frug ich ihn, zumindest irgendwie. Ich habe<br />
komponiert, hat er geantwortet. Und ich hatte gedichtet! habe ich<br />
ihm wütend entgegnet. Aber heute weiß ich, fuhr ich schließlich<br />
fort, daß wir über den Krieg nur auf die gleiche sinnlose ridiküle<br />
Weise dichten können wie über die Sonne. - - Nur Hamlet, hub ich<br />
an nachdem Mozart nicht einmal mehr summte, nur dieser Hamlet hat<br />
den Mut besessen, die Wahrheit wissen zu wollen! Die Wahrheit,<br />
lächelte Mozart, dieweil ich mich an Popper erinnert fühlte, ist<br />
die einzige Befangenheit, der sich das Menschengeschlecht<br />
tatsächlich unter-- Nein, habe ich gerufen, nein, die Wahrheit ist<br />
nicht die Lüge, weil sonst die Lüge das Menschliche ist! Aber das<br />
Menschliche, fuhr ich sogleich flüsternd fort, ist-- Ja, hörte ich<br />
ihn mich auffordern in einem süffisanten Timbre, über welches man<br />
vielleicht nichts anderes behaupten wird können, als daß es die<br />
Stimme eines Zwölfjährigen sei, ja!? Oh, habe ich geflüstert,<br />
jetzt weiß ich plötzlich nicht mehr, was ich habe sagen wollen...<br />
Die Wahrheit, hörte ich ihn aber stöhnen geradeso, als würde er<br />
sie nun erklären müssen, die Wahrheit sind wir nicht einmal zu<br />
fühlen in der Lage! Nicht einmal zu fühlen, wiederholte er sich,<br />
nicht einmal zu fühlen sind wir jene Wahrheit imstande! O, habe<br />
ich gelacht, o, dafür weiß ich selbst jetzt sehr gut, warum ich<br />
die Musik nicht habe leiden mögen...weil sich ja auch die Musik<br />
mit der Wahrheit nicht anders auseinanderzusetzen vermag als in<br />
der Art eines Schauspiels... Und wir sollten lachen über<br />
ebendieses Schauspiel, reagierte der zwölfjährige Mozart,<br />
zumindest lachen! - - In jenem Moment, habe ich schließlich<br />
begonnen, da ich sterbe - und ich sterbe zu jedem Moment -, will<br />
ich nicht dem Lachen gehören... Wem ich also gehören wolle, frug<br />
mich Mozart. Mir selbst will ich gehören, habe ich gerufen, einmal<br />
wenigstens nur mir selbst gehören! - - Mozart war gegangen, und er<br />
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hatte dabei ein Liedchen gesungen geradeso, als wäre das die<br />
einzige Art, den Pförtner zu düpieren und aus dem Irrenhaus zu<br />
retirieren. Aber ich mochte diesen Mozart genausowenig wie den<br />
Direktor oder den Chef de rang, der vielleicht dessen Adjutant<br />
gewesen war! Überhaupt wußte ich nicht zu sagen, warum alle diese<br />
Gestalten gekommen waren oder weshalb ich selbst, als ich<br />
gestürzt, nach einem Zimmer verlangt hatte. Nichtsdestotrotz<br />
erinnerte ich mich, daß ich auf der Suche war, in der ganzen<br />
Stadt, an jedem Tag, als ich mich endlich zum zweiten Male lang<br />
ausstreckte auf jenem Bett, das, wie ich zuvor schon agnosziert<br />
hatte, groß war und weich gepolstert. Es wäre gewiß gut zu<br />
schlafen darin! Aber o, ich selbst konnte nicht einschlafen, nicht<br />
einmal für einige Atemzüge oder länger! Nämlich ich war dagelegen<br />
wie ein aufgebahrter Toter in der Prosektur, für dessen Sarg schon<br />
das Maß bestimmt worden war. - - So ist der Sarg, habe ich denn<br />
gedacht (und vielleicht habe ich das auch gewußt), das Spielzeug<br />
des Küsters, der den Deckel öffnet mit einer Appetenz, die schon<br />
sehr den Leichenfledderern ähnelt, welche wiederum die Toten<br />
verwechseln mit den Körpern von liegengelassenen Puppen, die<br />
vielleicht elf Tage davor durch die Luft geschleudert worden<br />
waren, als die Schockwelle irgendeiner Explosion den Äther<br />
erleuchtete! - - An jedem Vorplatz habe ich den Tod riechen<br />
können; an jedem Platz, auf jeder Straße habe ich den Tod<br />
schmecken können, in jedem Hinterhof, in den Gassen und den<br />
Unterführungen, in den Vestibülen oder den Parkanlagen, nämlich<br />
überall dort hatte ich seine Markierung aufgespürt, wo nur<br />
zumindest eine unbebaute Fläche zu rekognoszieren war, vielleicht<br />
drei oder dreiundeinhalb Quadratmeter Erdboden, Asphalt, Beton,<br />
Parkett... - - Dieser Tod hatte ganz gewiß einen feinen Duft, ich<br />
meine, der war nicht unschwer zu erschnüffeln oder eben bloß<br />
nebenbei mitzunehmen, wie man vielleicht als Kind an irgendeinem<br />
Tag den Geruch des toten Geschwisterchens wiedererkannt hatte<br />
bereits an der ersten Straßenkreuzung auf dem Weg zur Schule! Man<br />
brauchte indes schon einen präzisen Olfaktorius, um die Witterung<br />
aufnehmen zu können von ebendiesem Tod, der so scham- und<br />
charakterlos aber gewiß nicht planlos durch die Stadt spaziert<br />
war. Ich selbst hatte diesen Tod gerochen; es war ein<br />
unappetitlicher schartiger wenngleich unauffälliger Duft,<br />
vergleichbar dem Ruch, der sich über die Schützengräben verteilt<br />
zum Ende der Schlacht um 4 Uhr 10 vielleicht. - - An diesen<br />
Gestank hatte ich mich zu erinnern versucht, als das Türschloß<br />
knackte. Es war das Zimmermädchen, das einen Servierwagen<br />
hereinschob, auf welchem ein Dutzend bunte Flaschen und Tuben<br />
nebst mehreren Aufnehmern und dreien Handfegern geordnet waren,<br />
und mich grüßte in einer ebensolchen Unbefangenheit, als würde sie<br />
in ein leeres Zimmer gekommen sein und einiges flüstern dabei. - -<br />
Kennen Sie diese Stadt, hub ich schließlich an, sintemal ich nicht<br />
habe schweigen wollen, ich meine, kennen Sie ihren Geruch!? Also<br />
kennen Sie diesen Geruch, fuhr ich wütend fort nachdem das<br />
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Zimmermädchen nicht einmal reagiert hatte, der in den Gassen und<br />
über den Plätzen hängt geradeso wie der Duft von verfaulendem<br />
Fleisch!? Ich kenne einen Geruch, hat sie gelächelt, dieweil sie<br />
sich mir näherte. Den kannst Du zwischen meinen Schenkeln<br />
schnuppern! hat sie gestöhnt in der Art eines Klageweibs. Nein,<br />
habe ich gerufen, nein, ich kenne diesen Geruch und-- Dir ekelt!?<br />
hat sie mich unterbrochen, und ich habe gewußt in diesem Moment,<br />
daß sie selbst jenen Gestank, von welchem ich gesprochen, ganz<br />
gewiß zwischen ihren Beinen trug. Ja, habe ich geflüstert, ja, ich<br />
will diese faulenden anstößigen homonymen Ausdünstungen nicht mehr<br />
schmecken müssen, weil mir übel wird davon und-- Du selbst riechst<br />
nicht anders! hat sie mich wütend unterbrochen zum zweitenmal und<br />
mich zu fellieren begonnen. Nein, habe ich nochmals gerufen, nein,<br />
ich will das nicht, daß nämlich Du meine Glans leckst und denn<br />
dann den Samen, der gewiß heiß sein wird und blutig, ausspeien<br />
wirst-- Sogar der Gepäcksjunge, hat sie mich zornig unterbrochen,<br />
sogar der spuckt zumindest zwölf Mal nachdem er ein Zimmer wieder<br />
verlassen! Und über den wisse jeder in diesem Etablissement, fuhr<br />
sie fort, daß der den Ratten, welche er fängt, die Köpfe abbeiße!<br />
Warum er das tue? frug ich sie sogleich und brannte zwei<br />
Zigaretten an, deren eine ich ihr reichte in dem Bestreben, sie<br />
von ihrem Vorhaben abzulenken. Vielleicht sei der krank, aber so<br />
genau wisse sie selbst das nicht, hat sie geantwortet und, dieweil<br />
sie rauchte, mein Präputium bewegt geradeso, als täte sie das<br />
überhaupt zum ersten Male. So muß man dem eben nachgehen! habe ich<br />
gerufen und war von jenem Bette aufgesprungen. - - Ich werde dem<br />
Herrn Direktor berichten, habe ich schließlich begonnen und war<br />
nervös herumgegangen, dieweil das Zimmermädchen sich entkleidete<br />
und indes mit ihren Augen jede meiner Bewegungen verfolgte in<br />
einer Gier, die allein Ophelia gehörte, als sie Hamlet zum<br />
erstenmal erblickt. Irgend etwas müssen wir doch tun! habe ich<br />
schließlich gerufen und dem Zimmermädchen, das jetzt einzuschlafen<br />
schien, sich sofort anzukleiden bedeutet. - - In diesem Hotel,<br />
hörte ich das Zimmermädchen noch flüstern, dieweil es die Tür<br />
öffnete, lernen wir zu dienen. Aber was ist das für ein Dienst,<br />
habe ich ihr nachgerufen, was ist das für ein Dienst!? - - Ich<br />
hatte dann jenen Arzt, von welchem mir der Chef de rang erzählt,<br />
getroffen um 16 Uhr 10 im Rauchsalon nachdem der Direktor, dem ich<br />
habe berichten wollen, mir in einem Schreiben ebendiesen<br />
Oberstabsarzt zu Rate zu ziehen empfohlen hatte, sintemal er<br />
selbst für fünfzehn Tage oder länger verreisen müsse. - - Der Herr<br />
Direktor ist ganz gewiß ein hochmögender Mann, hub ich sogleich<br />
an, als jener Arzt, der sich mir als Doktor Krath, Oberstabsarzt<br />
der Dritten Panzerdivison "Berlichingen", vorgestellt, Platz<br />
genommen hatte. Nun, das ist er wohl, lächelte der Arzt, ein<br />
exzellenter Stratege und treuer Kamerad. Vergessen Sie den<br />
Hoteldirektor nicht, habe ich gehöhnt, vergessen Sie den nicht! An<br />
der Front zählt das nicht, was einer ist oder warum, hat er<br />
gelächelt. Da haben Sie natürlich recht, habe ich geflüstert, weil<br />
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dort nur von Bedeutung ist, daß-- Mich bedünkt, mein Herr,<br />
unterbrach mich der Oberstabsarzt, Sie verkennen den Ernst der<br />
Lage! Oh, habe ich servil geantwortet, oh, ich selbst bin doch nur<br />
ein Dichter, und auf der Suche, in der ganzen Stadt, an jedem<br />
Tag... Ich habe das gehört, sagte der Arzt, ja, der Herr Major hat<br />
mir erzählt davon. Und was, fuhr er schließlich fort und bot mir<br />
eine Zigarette, was suchen Sie? Erinnerungen, habe ich gerufen,<br />
ich suche Erinnerungen! Erinnerungen!? frug der Oberstabsarzt<br />
erstaunt. Ja, Erinnerungen, habe ich sogleich reagiert, nämlich<br />
Erinnerungen an die Schönheit suche ich, verstehen Sie,<br />
verlorengegangene Erinnerungen, also Erinnerungen, die irgendwann<br />
irgendeiner sich bemüht hat zu vergessen... - - Kennen Sie selbst,<br />
begann ich schließlich nachdem wir nur geraucht hatten und von<br />
unserem Tee genommen, die Geschichte dieses Gepäcksjungen!? Ich<br />
kenne seinen Akt, lächelte der Arzt. Und welche Diagnose hatten<br />
Sie formuliert, habe ich gefragt, welche Behandlung haben Sie<br />
vorgeschlagen? Da braucht es keine Diagnose, habe ich ihn<br />
antworten gehört, da braucht es keine Behandlung! Ja wollen Sie<br />
selbst nicht einmal wissen, habe ich erregt gerufen, warum dieser<br />
Junge die Köpfe von Ratten frißt? Ich darf Sie jetzt korrigieren,<br />
insistierte der Arzt; der Junge frißt nicht die Köpfe von Ratten,<br />
er beißt sie ihnen bloß ab! Aber das tut doch kein Kind, habe ich<br />
ihm wütend entgegnet, daß-- Mein lieber Herr, unterbrach mich der<br />
Oberstabsarzt süffisant, Sie erstaunen mich, nicht dieser<br />
Junge...der übrigens das Dienen bereits beherrscht in einer<br />
Vollendung, die-- Ja, habe ich ihn wütend unterbrochen, ja, der<br />
ist gewiß ein stupender Diener geworden, hilfsbereit,<br />
verschwiegen, zufrieden, anspruchslos, ja, vor allem<br />
anspruchslos!!! Am Tag ein Diener, erklärte ich mich ohne jede<br />
Rücksicht, und in seiner Kammer-- Mein lieber Freund, lächelte der<br />
Arzt und bewegte dabei seine Hände wie ein Dirigent, welcher dem<br />
Konzertmeister zulächelt in einer Art der Verliebtheit, um<br />
vielleicht dessen Aufmerksamkeit zu provozieren, Sie sind doch ein<br />
kluger Mann, der die Antwort kennt... Ich kenne keine Antworten,<br />
habe ich ihm sarkastisch entgegnet, die nicht irgendwann die<br />
Mißhandlung von Menschen begründet haben. Wir sind keine<br />
Leutschinder! hat der Oberstabsarzt erregt gerufen. Ja, habe ich<br />
gesagt, Sie sind Pädagogen, über welche man bestenfalls dereinst<br />
wird lesen können in den Geschichtsbüchern, daß Sie die<br />
Indoktrination verwechselt hatten mit der...mit der... Ja,<br />
lächelte der Arzt, ja!? O, es gibt kein Wort, das zu beschreiben,<br />
habe ich geflüstert (und vielleicht hatte ich sogar geweint). - -<br />
Der Mensch, hatte der Oberstabsarzt schließlich begonnen, will<br />
erzogen werden, und weil niemand-- Ich darf mich nun verfügen,<br />
habe ich plötzlich gerufen und war von meinem Sitzplatz<br />
aufgesprungen geradeso, als wäre ich galvanisiert worden, sintemal<br />
ich müde bin und meine Augen schmerzen! - - Das wird nicht<br />
irgendein Tod sein, habe ich gedacht, als ich meine Augen<br />
geschlossen hatte und wieder den Geruch jener Sonne schmeckte,<br />
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nicht irgendeiner, weil das nämlich noch kein einziges Mal<br />
irgendein Tod gewesen war. O, es wird ganz gewiß einer sein, der<br />
nicht anzuklopfen braucht und mir nicht zu dienen! Der wird nicht<br />
einmal eintreten, ja mich noch nicht einmal suchen; statt dessen<br />
werde ich selbst ihn aufgespürt haben. Nämlich ich werde auf der<br />
Suche gewesen sein, in der ganzen Stadt, an jedem Tag; und<br />
irgendwann werde ich erschöpft sein und mich selbst nicht mehr<br />
dulden mögen... Also werde ich stürzen! Ich werde stürzen,<br />
vielleicht werde ich sogar fallen. Stürzen jedenfalls werde ich<br />
oder fallen, und vielleicht wird es auch bloß ein Brennen sein<br />
oder ein Spritzen von Blut. Aber stürzen werde ich oder fallen!<br />
Und dort, wo ich aufschlagen werde, wird ebendieser Tod, der nicht<br />
irgendeiner ist, mich morden!!! - - Vielleicht hatte ich<br />
geschlafen, ich weiß es nicht zu sagen. Dann hörte ich jemand<br />
unter meinem Bett kriechen! Das waren Geräusche geradeso, als<br />
würde dort ein Mineur nach irgendwelchen Ungeheuern jagen. Wer ist<br />
das unter meinem Bette, habe ich geflüstert, was ist das? - - Und<br />
dann wußte ich mit einem Male, wer es ist, nämlich der<br />
Gepäcksjunge! Nun weiß ich nicht, hub ich endlich an, ob es die<br />
Ratten sind, weshalb ich nicht schlafe... Die Ratten, fuhr ich<br />
fort, die Du fängst, sind gewiß Soldaten, ich meine, die sind<br />
wirklich gut gerüstet, eben wie Soldaten es sind: sie haben spitze<br />
Zähne, sie formieren sich-- Und ernähren sich von den Toten! hörte<br />
ich ihn flüstern. O, ja, entgegnete ich, bereits auf den toten,<br />
warmen Körpern, die ihre Farbe noch wechseln werden, habe ich die<br />
Ratten tanzen sehen-- Weil die fressen zuerst die Bulben, hörte<br />
ich ihn stöhnen, immer zuerst die Augen... Und wenn es genügend<br />
Tote sind, ergänzte ich, die auf den Schlachtfeldern liegen,<br />
werden die Ratten nichts anderes fressen als die Augen der<br />
Toten... - - Aber die Toten kümmert das nicht, habe ich<br />
schließlich begonnen; die haben ja keinen Spiegel, das zu sehen,<br />
und-- Ich bin dieser Spiegel, hörte ich ihn leise sagen, in der<br />
Nacht, wenn ich über die Schlachtfelder laufe und sich die<br />
Augenhöhlen, die ich gesehen und die ich nicht habe zählen können,<br />
widerspiegeln auf meinen Händen oder auf dem Mauerwerk... Dann<br />
wird mir übel, fuhr er fort, und ich erbreche mich... Und dann<br />
kommen die Ratten hervorgekrochen, flüsterte ich selbst, und<br />
stoßen ihre schwarzen unruhigen feuchten Nasenspitzen in diesen<br />
stinkenden Brei... - - Warum tun wir nichts gegen den Tod? hörte<br />
ich ihn dann fragen. Vielleicht weil wir müde sind, habe ich<br />
gesagt, weil wir so müde sind... Nein, hat er wütend gerufen,<br />
nein!!! Wir tun nichts dagegen nur deshalb, fuhr er fort, weil wir<br />
alles für diesen Tod tun! Ja, habe ich gesagt, gewiß ja, wir<br />
dienen diesem Tod, indem wir auf den Schlachtfeldern unsere<br />
Erinnerungen verbrämen und sie anderenteils auf den Friedhöfen<br />
nicht mehr exhumieren... Aber was können wir dagegen tun, hat er<br />
geflüstert geradeso, als würde ein Dichter, der mit einem<br />
Gepäcksjungen spricht, welcher unter jenem Bette nach Ratten<br />
sucht, um denen die Köpfe abzubeißen, eine Antwort wissen. Wir<br />
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sollten sterben, habe ich gesagt, wir alle sollten das, ich<br />
meine-- Und ich will das nicht, hat er gerufen, weil mir übel wird<br />
vor jedem Tod, vor jedem, verstehst Du! - - So mußt Du einen<br />
wählen, der nur nach innen wirkt, habe ich endlich gesagt, ich<br />
meine, einen Tod, der nur nach innen wirkt; also wirst Du Dich für<br />
das Lachen entscheiden müssen, sintemal die Schmerzen, welche in<br />
Dir selbst zugegen sind an jedem Tag seit jenem Tag, anders nicht<br />
behandelt werden können als mit dem Lachen der Verzweiflung. Auch<br />
das wird keine Wunden schließen, hat er entgegnet, da wird der<br />
Eiterfluß nicht versiegen! Mehr weiß ich selbst doch nicht!!! habe<br />
ich erbost gerufen und mich erinnert an die Friedhöfe zwischen den<br />
Gassen. - - Man kann die Menschen lieben, hat er dann begonnen,<br />
man kann das. Und dennoch wird man sie sterben sehen, fuhr er<br />
sogleich fort; und in diesen Momenten, da du sie sterben siehst,<br />
weißt du ganz genau, daß du alles verloren hast! Ich selbst, habe<br />
ich geflüstert, habe in diesen Augenblicken stets an Gott gedacht<br />
gehabt... An Gott!? hat er gefragt geradeso, als würde er zum<br />
ersten Mal davon hören. Ja, an Gott, habe ich geantwortet, oder<br />
zumindest an das hatte ich zu denken versucht, von welchem wir<br />
glauben, daß es Gott sein müsse, weil-- Ich habe ihn nicht<br />
gesehen, Deinen Gott, hat er wütend gerufen, ich habe ihn nicht<br />
gesehen!!! Die zerrissenen leeren Augenhöhlen habe ich gesehen,<br />
hat er sich erklärt, die Ratten habe ich gesehen und die<br />
Schlachtfelder. O, ich weiß das, habe ich geantwortet, daß nämlich<br />
Gott nicht zu sehen ist, nicht zum Ende der Schlacht, nicht auf<br />
den Friedhöfen zwischen den Gassen, nicht in den Kinderzimmern,<br />
nicht in den Nächten, die der Angst gehören... - - Du sollst jetzt<br />
in deine Kammer gehen! habe ich unvermutet begonnen nach einer<br />
Pause von vielleicht elf Minuten, während welcher ich selbst zu<br />
denken nicht umhin hatte können, daß ich sterben werde in<br />
ebendieser Art, die den Soldaten zu eigen ist, welche nämlich über<br />
den Tod geradeso erstaunen wie spielende Kinder, die über das<br />
Firmament die Artilleriefeuer stieben sehen. Du sollst jetzt<br />
gehen! habe ich ein zweites Mal gerufen. Aber wenn Du wissen<br />
wirst, fuhr ich sogleich fort, warum jener, welcher dient, diesen,<br />
welchem er dient, verachten wird müssen und denn dann töten...Weil<br />
die Pejoration, unterbrach ich mich, ist nur eine andere Art zu<br />
morden!...wenn Du das wissen wirst, sollst Du also wiederkommen<br />
und die Ratten, die heute noch meine Diener sind, unter jenem<br />
Bette töten! Wie kann ich das wissen, frug er mich und kam sogar<br />
hervorgekrochen aus seinem Versteck, daß ich diese hier töten<br />
solle oder warum. Du wirst es wissen, antwortete ich ihm, zu jenem<br />
Augenblick wirst Du das wissen! Zu welchem Augenblick, hat er<br />
gerufen, zu welchem? Ich bin müde, habe ich gesagt, ich rieche den<br />
Ruch der aufsteigenden Sonne... - - Wann werde ich das wissen, hat<br />
er nochmals gefragt, zu welchem Augenblick? Er war nun neben jenem<br />
Bette gestanden geradeso wie vielleicht jeder Vater stünde an<br />
seines Sohnes Seite zum Ende der Schlacht und hatte meine Hand<br />
umfaßt mit der seinen, die wenig warm gewesen, vielleicht sogar zu<br />
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wenig! Hörst Du, habe ich geflüstert wie im Delirium, daß ich<br />
sterbe... Ich sterbe, habe ich wiederholt, ich sterbe, und die<br />
Ratten, die meine Diener sind, werden endlich über mich herfallen<br />
ganz ohne Vorbehalt... Die will ich töten, hat er erregt gerufen,<br />
die will ich töten, die das wagen! O, habe ich gelächelt, Du wirst<br />
gewiß einige töten, vielleicht elf oder sogar zwölf... Das werde<br />
ich wohl, hat er sich begeistert, ja, wenigstens ein Dutzend werde<br />
ich töten zu jeder Stunde! Vielleicht während zehnen Stunden, fuhr<br />
ich fort, die Du ehrlich wachen kannst... Sind denn zwölf zu<br />
wenig, hat er gefragt (und vielleicht schon resigniert gehabt).<br />
Wir werden immer zu wenig tun können! habe ich zornig geantwortet<br />
und ihm zu gehen bedeutet. - - Auch in dieser Nacht hatte ich<br />
nicht schlafen können; aber vielleicht hatte ich auch nur jegliche<br />
Erinnerung verloren gehabt am Morgen, als erneut die Sonne meinen<br />
Olfaktorius irritierte auf eine Weise, die dem über die<br />
Feldlazarette wallenden Dunst ähnelt, welchen ich agnosziert. Denn<br />
mich bedünkte tatsächlich, daß ich geschlafen hatte, wiewohl ich<br />
keine Erinnerung zu nennen wußte! Daß dennoch die Sonne zu<br />
bemerken gewesen war vielleicht um 4 Uhr 10, war geradeso<br />
geschehen, als hätte ebendieser Stern mich aufzuwecken geplant<br />
gehabt zu jener Stunde, während welcher es mich bedünkte, daß ich<br />
geschlafen hätte. Nun vermag ich selbst nicht zu behaupten noch zu<br />
beweisen, ob ich geschlafen hatte oder nur getäuscht war ein<br />
weiteres Mal, sintemal ich über den Schlaf längst nicht mehr sagen<br />
kann, als daß es mich verlangt danach! - - Diesen Vormittag war<br />
ich in meinem Zimmer geblieben; ich hatte einige Zigaretten<br />
geraucht, hatte hinwieder einen Schluck von jenem Wasser genommen,<br />
und wartete, daß etwas geschehen würde, daß vielleicht die Ratten<br />
plötzlich hervorsprängen oder es an der Türe klopfte. Aber nichts<br />
von alledem war geschehen, und ich dachte an den Tod, der<br />
vielleicht genauso plötzlich passieren wird in ebendiesem<br />
Augenblick, zu welchem man vergessen würde aus bloßer Müdigkeit,<br />
daß man sterben wird! - - Am Nachmittag um 16 Uhr 10 vielleicht<br />
saß ich im Foyer. Ich war denn aus meinem Zimmer gelaufen wenige<br />
Minuten zuvor, weil ich es nicht mehr hätte ertragen können,<br />
diesem Tod zu begegnen in einem Hotelzimmer. - - Ich brannte eine<br />
Zigarette an und beobachtete das Personal, das in der Art von<br />
hungrigen wenngleich domestizierten Wölfen beschäftigt schien, ja<br />
bekümmert um jeden An- oder Abreisenden, als ich eine Gestalt<br />
perzipierte, die ich endlich nur deshalb auch hatte wahrnehmen<br />
können, weil mir sogleich übel wurde geradeso, als wäre die<br />
Erinnerung an den Ruch der Sonne mit einem Male wiedergekommen in<br />
der Art einer plötzlichen Furcht; anderenteils war ich jene<br />
Gestalt von jetzt auf gleich zu erkennen in der Lage vielleicht<br />
schon insofern, als es hatte passieren müssen! - - Mein lieber<br />
Kamerad, begann jene Gestalt und winkte den Gepäcksjungen heran,<br />
ich darf Dir zuvörderst-- Kameradschaften sind Knechtschaften,<br />
habe ich ihn ärgerlich unterbrochen und ihm einen Sitzplatz<br />
angeboten. Oh, das sind sie wohl, hat er entgegnet und dem<br />
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Gepäcksjungen, der wie ein Stylit neben ihm gestanden war, ein<br />
Zettelchen und einige Münzen in die Rocktasche gesteckt. Dort<br />
bekommt man noch Schokolade zu kaufen, hat er geflüstert, echte<br />
Schokolade, verstehst Du... Der Junge nickte; aber mich selbst<br />
bedünkte es, daß der seinen Kopf bewegte nur deshalb, weil im<br />
Foyer jede andere Art der Reaktion, ein Wort vielleicht oder ein<br />
Lächeln, gewiß die Aufmerksamkeit des übrigen Personals provoziert<br />
hätte, das endlich, wie ich selbst konjekturierte, jede<br />
Auffälligkeit dem Direktor zu melden verpflichtet war. Du magst<br />
doch Schokolade!? hat er dann gefragt geradeso, als würde er in<br />
diesem Moment nicht mehr wissen, ob es die Kinder gewesen waren,<br />
für welche jede Art von Schokoladen gerührt wird, oder ob die bloß<br />
zubereitet werden für die Soldaten. Magst Du Schokolade, hat er<br />
nochmals gefragt, magst Du die? Ich mag das Blut von Ratten, hat<br />
der Junge geflüstert. Dann sollst Du auch die Schokolade<br />
probieren! habe ich dazwischengerufen. Ja, die solltest Du<br />
probieren, hörte ich ihn zustimmen, die solltest Du wenigstens<br />
gekostet haben. Ich werde sie kosten, hat der Gepäcksjunge<br />
geantwortet und dabei mich selbst angesehen wie einen Konjuranten.<br />
Dann geh und kauf Dir Schokolade, hörte ich mit einemmal die<br />
Stimme des Oberstabsarztes, lauf! Aber der Herr Direktor,<br />
stotterte der Junge, ich-- Papperlapapp, reagierte der Arzt<br />
sofort, der Herr Direktor wird davon nicht erfahren. Sie wollen<br />
also ehrlich schweigen, habe ich den Oberstabsarzt gefragt. Ich<br />
werde nicht schweigen, hat der süffisant geantwortet, weil ich das<br />
bloß nicht zur Kenntnis nehmen werde, daß der Junge Schokolade<br />
ißt! Und gewiß wird auch der Herr Oberleutnant, setzte er fort und<br />
suchte dessen Augen, keine Meldung machen. Oh, ganz gewiß nicht,<br />
hat der sofort reagiert, ganz gewiß nicht, Herr Oberstabsarzt!<br />
Nun, dann bleibt uns noch zu erfahren, begann der Arzt, dieweil er<br />
seine Hand auf die Schulter des Jungen legte geradeso, als würde<br />
er den über einen Friedhof geleiten, ob desgleichen Sie selbst das<br />
nicht zur Kenntnis nehmen werden... Ja, hörte ich den Oberleutnant<br />
erregt nachfassen, ja, wirst Du, sag, wirst Du-- Natürlich, habe<br />
ich ihn wütend unterbrochen, natürlich werde ich schweigen<br />
darüber! Sie sollen ja nicht schweigen, hub der Arzt jetzt an,<br />
sondern keine Kenntnis nehmen, was-- Oh, ich werde schweigen, habe<br />
ich ein zweites Mal unterbrochen, ich werde das rekognoszieren und<br />
dann werde ich darüber schweigen! Denn das Schweigen, fuhr ich<br />
fort, erlaubt es wenigstens, daß wir uns erinnern... Sie wollen<br />
sich also ad infinitum erinnern, frug der Oberstabsarzt durchaus<br />
schulmeisterlich. Ich muß mich erinnern, habe ich gerufen, weil<br />
ich sonst zum Ende der Schlacht noch nicht einmal mehr weinte!<br />
Aber das Weinen ist eine Schimäre, hörte ich den Oberleutnant<br />
stöhnen, ganz gewiß ist das Weinen nur eine Lüge... Und das ist es<br />
nur deshalb, erklärte der Oberstabsarzt geradeso, als würde er nun<br />
einer Hundertschaft von Studenten beiwohnen, weil wir nicht<br />
dienen, sobald wir weinen! - - Ob er also wisse, frug ich<br />
schließlich den Oberstabsarzt, daß wir den Krieg nur deshalb<br />
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wollen - vielleicht sogar den totalen Krieg -, weil wir den<br />
eigenen Tod nicht begreifen, weil der endlich so etwas sei wie der<br />
Versuch einer Apologie für alles das, was wir nicht getan haben...<br />
Wie nun darf ich Sie verstehen, frug mich der Arzt und bewegte<br />
seine Finger dabei geradeso, als würde er die Seiten aus einem<br />
Lexikon herausreißen. O, habe ich gelächelt, ich meine denn, daß<br />
wir uns fürchten vor dem Tod und daß wir, w-e-i-l wir uns<br />
fürchten, nichts anderes können als hassen, weil doch der Haß uns<br />
selbst unbeirrbar macht und wagemutig. Mein lieber Freund,<br />
reagierte der Oberstabsarzt sofort, wir müssen den Tod als das<br />
akzeptieren, was er ist! Und was ist der, hörte ich den<br />
Gepäcksjungen fragen, was ist also der Tod. - - Das wird gewiß<br />
nicht irgendein Tod sein, habe ich gedacht und den Stoff der<br />
Vorhänge kontrolliert, weil mich bedünkte, daß der an ebendiesem<br />
Morgen das Licht der Sonne geradeso durchgelassen hatte, als hätte<br />
sich irgendwo im Gewebe eine Öffnung aufgetan. Aber ich konnte<br />
keine Beschädigung im Stoff agnoszieren noch einen Fehler im<br />
Webmuster! Also war wiederum allein die Beharrlichkeit des<br />
Sonnenlichts dafür verantwortlich zu machen, daß ich geradeso<br />
reagierte...nämlich allenfalls wie der wahnsinnige Ahab, der<br />
seinen Männern die Netze zu prüfen befiehlt, wiewohl jenen Moby-<br />
Dick zu fangen keines Fischernetzes Knoten genügend stark geknüpft<br />
sind. - - Das wird gewiß nicht irgendein Tod sein, habe ich mich<br />
wiederholt, weil endlich zum Ende der Schlacht der Tod derjenige<br />
ist, welcher eine Begründung schafft. - - In den Büchern der<br />
Generäle, habe ich gedacht, werden die Summen der Toten notiert.<br />
Und diese Zahlen wird vielleicht der Tod selbst irgendwann einmal<br />
erklären. - - Ich verabscheue den Tod, habe ich geflüstert, als<br />
ich den Gepäcksjungen unter jenem Bette hervorkriechen sah, hörst<br />
Du, daß ich den abhorresziere? Und das, hat er gesagt, tust Du<br />
gewiß, weil-- Weil ich mich erinnere, habe ich ihn unterbrochen,<br />
ja, weil ich mich zu diesem Augenblick erinnere an den Tod, der so<br />
regelmäßig passiert wie das Glockenspiel einer Uhr zum<br />
Stundenschlag. Nämlich in dieser Welt, fuhr ich fort, dieweil der<br />
Gepäcksjunge eine tote Ratte in seine Hosentasche steckte, sind<br />
bloß der Tod oder die Wollust von Bedeutung für uns selbst! Nichts<br />
anderes können wir beobachten als eben das, habe ich mich erklärt<br />
und auf jene Ratte gedeutet. Der Tod, hörte ich den Gepäcksjungen<br />
mir zustimmen, ist nur eine andere Art von Schmerz, wie nämlich<br />
auch die Wollust...ob du sie nun verlangst oder ihr dienen sollst,<br />
nämlich im Zimmer eines Hotelgastes oder im Kontor des<br />
Direktors...sogar die Wollust ist dem immer kommensurabel... Und<br />
was können wir tun dagegen, habe ich ihn gefragt geradeso, als<br />
würde er die Antwort kennen, sintemal ich selbst zu diesem Moment<br />
gefühlt hatte wie ein Kind, das überzeugt ist, daß der Vater oder<br />
die Mutter zu jeder Zeit dessen Fragen wird beantworten. - - Die<br />
Ratten, die ich fange, hat er dann begonnen, fürchten sich nicht;<br />
die sind genauso tollkühn wie Soldaten, die im Fieber der Nächte<br />
keinen Unterschied mehr machen... Die quietschen wie kleine Kinder<br />
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am Spielplatz, hat er sich erklärt; ganz vergnügt sind die, wenn<br />
ich ihnen die Köpfe abbeiße... Aber irgendwo wird wer weinen,<br />
dieweil Du das tust, habe ich gesagt und an den zwölfjährigen<br />
Mozart gedacht, weil endlich immer irgendwo wer weint oder einer<br />
stirbt... - - Wir glauben ja, habe ich schließlich begonnen, daß<br />
der Tod etwas Einzigartiges ist, nämlich etwas für uns selbst<br />
Einzigartiges... Aber der Tod, fuhr ich sogleich fort, passiert<br />
millionenmal an jedem Tag! Ich weiß das, hat der Gepäcksjunge<br />
wütend gerufen, ich weiß das; daß nämlich bloß die Orte andere<br />
sind, ich weiß, daß das zu jedem Augenblick passiert und daß wir<br />
diese Orte-- Ja, habe ich ihm zugeraten, sintemal er sich<br />
unterbrochen, ja!? "Laßt jede Hoffnung, die ihr mich<br />
durchschreitet", hat er Dante zitiert geradeso, als würde er eine<br />
Wahrheit kennen, welche jede Zeit überdauert. - - Wir hatten dann<br />
geschwiegen vielleicht wie zwei Totengräber zum Ende der Schlacht.<br />
Hast Du Dir Schokolade gekauft, frug ich endlich, sintemal ich<br />
nicht mehr wußte, was ich über den Tod noch hätte fragen können<br />
oder behaupten. (Denn daß wir wissen von unserem Tod, ist zu<br />
manchen Momenten überhaupt die einzige Vorstellung, die uns<br />
bleibt.) Ich habe mich konskribiert, hat er geantwortet und dabei<br />
die Vorhänge zurückgezogen; der Herr Oberstabsarzt hat mir<br />
gratuliert-- Laß das, habe ich wütend gerufen, dieweil ich nach<br />
seiner Hand faßte, laß die Vorhänge geschlossen! - - Und die<br />
Toten, habe ich schließlich begonnen, was ist mit den Toten, deren<br />
Augen zerfressen sind von den Ratten... Die sind nicht anders tot<br />
als wir, hat er geantwortet in einem Timbre, das mich an den<br />
zwölfjährigen Mozart erinnerte, die sind nicht anders tot als wir!<br />
Ach so, habe ich agitiert, Du hast aufgegeben, wie ein Nichtsnutz<br />
hast Du einfach aufgegeben, einfach aufgeben und Dich gemeldet!<br />
Und Du selbst hast keine besseren Gründe als ich, hat er<br />
gelächelt; Du bist doch jenen Tod, der nur nach innen wirkt, schon<br />
längst gestorben. Aber ich habe nicht meinen Glauben verloren<br />
dabei, habe ich gerufen, und ich-- Du hast den Glauben ganz gewiß<br />
nie gehabt! hat er mich mahnend unterbrochen (und mich bedünkte<br />
plötzlich, daß es denn der Frieden sein müsse, über welchen ich<br />
falsch gedacht hatte). - - Der Oberstabsarzt, fuhr ich endlich<br />
fort, der Oberstabsarzt hat Dir also gratuliert... Der Herr<br />
Direktor hat sogar telegraphiert, hat er sich begeistert und war<br />
dann umhergesprungen wie ein Gassenjunge am Sonntagnachmittag<br />
vielleicht um 16 Uhr 10. Oh, habe ich gelächelt, oh, der Herr<br />
Direktor ist ein kultivierter kluger Mann... Das ist er wohl, hat<br />
der Gepäcksjunge geantwortet, das ist er bestimmt! Und ich selbst,<br />
habe ich gesagt, hatte vergessen, daß ich ihn liebe! Daß Du ihn<br />
liebst, fuhr er fort, und daß Du ihm dienst! - - So ist denn<br />
jener, welcher dient, habe ich konstatiert (und ich habe es ganz<br />
gewiß gewußt zu jenem Moment), der Edelste unter uns, sintemal<br />
der, welcher dient, zu sterben nicht mehr angehalten ist und-- Und<br />
auch zu sterben nicht mehr nötig hat! ergänzte der Gepäcksjunge.<br />
- - Zum Ende der Schlacht, hat er schließlich skandiert, nachdem<br />
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wir die Vorhänge zerrissen und die Fenster geöffnet hatten, zum<br />
Ende der Schlacht werden wir nicht vergessen sein! Und wir werden<br />
daliegen, fuhr ich fort, mit zerfressenen blutenden Augen... Und<br />
die Ratten werden über unsere Abdomina tanzen, hat er gelächelt,<br />
und fröhlich quieken dabei... - - In dieser Nacht hatte ich<br />
geschlafen und nicht geträumt währenddes, ich meine, ich hatte zum<br />
ersten Mal keine Erinnerungen wiederbeschaffen noch irgendwelche<br />
Schlußfolgerungen formulieren oder überhaupt irgend etwas<br />
verifizieren müssen. Ich hatte also geschlafen, vielleicht nicht<br />
anders unbeirrbar geschlafen als Kinder unbeirrbar schlafen in<br />
jenen Nächten, die dem Krieg vorausgehen. So war ich denn<br />
aufgewacht und agnoszierte abermals den zwölfjährigen Mozart neben<br />
jenem Bette stehen geradeso, als würde er die Totenwache halten.<br />
Was er wolle, schalt ich ihn sogleich, was er endlich wolle von<br />
mir? Daß ich nicht geträumt hätte, flüsterte er, nicht geträumt<br />
hätte von ihm und nicht von irgendeinem... Dafür daß ich schlafen<br />
kann, habe ich gesagt, habe ich nun mich selbst verkaufen müssen,<br />
und es reut mich nicht! Welchen Teil ich also hätte hergeben<br />
müssen für diese Stunden Schlaf, frug er und schien ehrlich<br />
betrübt. Den ganzen Teil, habe ich geantwortet, ja, den ganzen<br />
Teil habe ich eingetauscht! - - Ich stand jetzt vor dem Fenster<br />
und brannte eine Zigarette an, dieweil ich die Sonne staunte, als<br />
ich mit einemmal Mozarts Hand meine rechte Schulter karessieren<br />
fühlte in jener Art, die vielleicht den Müttern ähnelt. Zum Ende<br />
der Schlacht, hat er in mein Ohr geflüstert, wirst Du Dich<br />
erinnern an diesen Morgen...und Du wirst Dich an diese Stadt<br />
erinnern...und an ihre Straßen und Hinterhöfe... Vielleicht werde<br />
ich das, habe ich gelächelt; aber vielleicht werde ich auch nur<br />
wie ein zertrümmertes Käferchen im Bombentrichter liegen und<br />
schreien... Und dort unten wirst Du Dich nicht erinnern, frug er<br />
mich erstaunt. Am Grund dieses Trichters werde ich schreien, habe<br />
ich gesagt, und die verlorengegangenen Erinnerungen werden sich<br />
erfüllen in meinen duktilen lästernden schwingenden Hilferufen<br />
vielleicht nur insofern, als sie nicht anders zerbröckeln werden<br />
wie mein Körper! - - Im Foyer dann um 16 Uhr 10 vielleicht, wo die<br />
kleinen Geschwister der Soldaten an deren Uniformen schnupperten,<br />
traf ich den Herrn Direktor wieder, der eben dabei war, den<br />
Tornister dem Gepäcksjungen umzuschnallen. Ah, der Herr Hauptmann,<br />
rief er begeistert und winkte mich heran. Sie haben sich<br />
entschieden, hub er an und legte seine Hand auf die Schulter des<br />
Gepäcksjungen geradeso, als würde er ihn palpieren, sintemal ja<br />
der Krieg selbst schon ein Diener ist. Ich habe mich entschieden,<br />
hub ich an, ja, ich habe mich entschieden vielleicht nur deshalb,<br />
weil wir uns endlich immer für etwas entscheiden sollen... Es ist<br />
nicht mein Interesse, wann Sie sich entschieden haben oder wofür,<br />
Herr Hauptmann, begann der Direktor in durchaus amikaler Weise,<br />
sondern daß Sie sich entschieden haben! Ich nickte mit dem Kopf<br />
und bedeutete indes dem Gepäcksjungen, an meiner Statt zu<br />
antworten, sintemal ich selbst jetzt nicht mehr wußte, ob ich den<br />
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Direktor lieben müßte oder vielleicht nur davonlaufen hätte<br />
sollen. Aber der Gepäcksjunge schwieg, und mich bedünkte, daß er<br />
zu jenem Moment an die Ratten dachte, die er fangen hatte wollen<br />
und töten. - - - Diese Schlacht hatte begonnen. Die Soldaten<br />
beider Seiten sprangen aus ihren Gräben. Sie trafen sich irgendwo<br />
zwischen den Trichtern und den zerrissenen Feuerstellungen<br />
vergangener Frontlinien. - - Und dort, irgendwo in diesem<br />
Niemandsland von Blut und Lärm, war es geschehen, daß ich stürzte.<br />
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Sobald man vielleicht sagen wird über alles das, was ich<br />
geschrieben habe, daß es nicht zu verstehen sei, sollen Sie<br />
lächeln! Denn ich selbst werde auf den Grund der Seele getaucht<br />
sein, oder es zumindest versucht haben. Aber das sind ja Tiefen<br />
dort, wo ein Atmen nicht mehr möglich ist!<br />
Und der hatte es getan! Der war nach Hause gekommen an jenem<br />
Abend, war gewiß gelaufen den ganzen Weg zurück wie ein<br />
flüchtender General, und hatte dann noch nicht einmal...dann noch<br />
nicht einmal...noch nicht einmal...nicht einmal...einmal sie<br />
geküßt.<br />
Entwurf: HUNDERT HEKTOMETRISCHE TEXTE<br />
Was Liebe ist? Ich weiß es nicht! Was Verliebtheit ist? Es ist<br />
meine Art zu lieben!<br />
Ich hatte überlegt, den Tod in eine Plastiktasche zu räumen und<br />
endlich ebendiese Tasche irgendwohin zu tragen, um sie liegen zu<br />
lassen in einem Hinterhof vielleicht, oder überhaupt zu<br />
verstecken, und ich hatte es auch getan: ich hatte den Tod, oder<br />
vielmehr das, was zurückgeblieben war, in jene falbe Tragetasche<br />
von Plastik gesteckt, die – und ich weiß nicht warum – mich dafür<br />
unauffällig genug dünkte, nämlich diesen übriggebliebenen Teil<br />
darin irgendwohin zu tragen, wie man vielleicht einmal einige<br />
Kapseln Antidepressiva hastig aus der Rocktasche gezogen hatte im<br />
Supermarkt und endlich in eine ebensolche Tragetasche zwischen das<br />
Gemüse und das Fleisch hat fallen lassen geradeso, als wären´s<br />
drei, vier Münzen Restgeld, welches man in sein Portemonnaie zu<br />
stecken nicht in der Lage gewesen! - - Dieser Tod, oder vielmehr<br />
das, was tot war, war denn elf Tage oder länger – ich weiß auch<br />
das Ihnen nicht zu sagen – in meinem Zimmer gewesen, nämlich in<br />
meinem Alkoven war dieses Bündel Tod gelegen vielleicht wie ein<br />
Reisekoffer, der dorthin gebracht und in den dann doch nur zwei<br />
Oberhemden und ein Schlafanzug gepackt worden waren. Jedenfalls<br />
hatte ich selbst keine Reise geplant gehabt noch irgendwelche<br />
Gäste einquartiert; auch war ich während dieser elf oder mehr Tage<br />
nicht erstaunt darüber, daß jene Valise auf dem Bette lag und also<br />
einen zumindest leidlichen Schlaf bisweilen doch konterkarierte<br />
vielleicht wie eine Katze, die auf dem Kopfpolster zu liegen<br />
pflegt und die man davonzujagen sich nicht befleißigt, wiewohl man<br />
selbst an jedem Morgen aufwacht mit schmerzendem Rücken! Warum ich<br />
selbst also während dieser elf oder mehr Tage nicht agnosziert<br />
hatte, daß ein Tod, oder wenigstens etwas einem Tod Ähnliches,<br />
neben mir auf dem Bette zugegen gewesen war vielleicht auf die<br />
gleiche Weise, wie irgendwann einmal der Vater in einer Nacht, die<br />
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der Angst gehört hatte, in des zitternden schwitzenden febrilen<br />
Sohnes Bett gestiegen war, um dem die Hand zu fassen oder die<br />
schwingende Brust, vermag ich selbst Ihnen nicht zu erklären.<br />
Vielleicht hatte ich nur nicht gedacht gehabt, daß der Tod, oder<br />
eben das, was er zurückgelassen hatte, jemals mir selbst<br />
solcherart nahe sein würde können; sintemal es doch immer wieder<br />
über das Abhorreszierende passiert, von welchem wir nicht glauben,<br />
daß es sich tatsächlich neben uns legen würde mögen oder überhaupt<br />
ein Teil ist von uns, daß es neben uns gelegen hat oder ein Teil<br />
von uns gewesen war! - - Am elften Tag hatte ich das<br />
rekognosziert, oder vielleicht sogar später; aber rekognosziert<br />
hatte ich! Nämlich um 4 Uhr 10 war ich aufgewacht geradeso, als<br />
hätte ich plötzlich aufwachen m-ü-s-s-e-n, und war dann doch nur<br />
aufgewacht, weil mir schlecht geträumt hatte. Also war ich<br />
aufgewacht und hatte mit einem Male davon gewußt, daß ich den Tod,<br />
oder vielmehr das, was ebendieser Tod vor elf oder mehr Tagen auf<br />
mein Bett gelegt hatte, daß ich endlich irgend etwas werde tun<br />
müssen. Und ich hatte das getan: Ich hatte den Tod, oder eben das,<br />
was übriggeblieben war, in jene Tragetasche gesteckt und war dann<br />
davongelaufen, wiewohl ich noch nicht einmal wußte, wohin ich<br />
laufen würde sollen! - - Ich war durch die Straßen gelaufen, stob<br />
über Plätze und durch Hinterhöfe, und erinnerte mich indes an<br />
jenen Hieronymus Bosch. Was ich da mit mir trug, war aber tot,<br />
vielleicht genauso tot wie das Licht der Straßenlaternen, das auf<br />
dem Asphalt zersplitterte, als ich davon- und darüberrannte.<br />
Im Moment der Freiheit ist nichts anderes von Bedeutung als man<br />
selbst!<br />
Um uns selbst abzubilden sind die Dichter nötig, die in die Seele<br />
dringen und sich dabei trotzdem geradeso lächerlich aufführen wie<br />
ein Clown, der sich als Arzt verkleidet.<br />
Lieben kann man schnell einmal, heftig und kurz, ungestüm und ganz<br />
ohne Kraft.<br />
Ich bin die neue Kunst. Weil ich mich jeden Tag entscheiden muß am<br />
Morgen gegen den Tod, bin ich die neue Kunst; weil ich nicht<br />
schaffe sondern schreibe, weil ich nicht schreibe sondern<br />
hervorwürge, bin ich die neue Kunst.<br />
Vielleicht war es 1871 geschehen, vielleicht war es in diesem Jahr<br />
geschehen, in London, an irgendeiner Straßenkreuzung. Ich hatte<br />
eine Münze aus meiner Rocktasche gezogen und dem Schuhputzer, der<br />
dort gesessen war wie ein junger Artist in der Garderobe des<br />
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Vaters zum Beginn der Vorstellung, hingeworfen in jener Art, die<br />
ganz unmißverständlich klarmachte, wer ich sei. Während ich denn<br />
das geübte und höfliche wenngleich müde Kopfnicken des<br />
Schuhputzers goutierte vielleicht wie Oscar Wilde, stampfte ich<br />
meinen rechten Fuß auf den Schemel, vor welchem der Knabe saß,<br />
geradeso, als würde ich dort irgendwelches Ungeziefer zertreten<br />
wollen, und erklärte wütend, daß er gute Arbeit tun solle. Aber<br />
der Junge dünkte nicht wirklich erschrocken! Statt dessen begann<br />
er sein Werk, indem er zuerst den Staub von meinem Trotteur<br />
wischte und endlich das Leder bürstete; auch das richtige Fett<br />
schien er indes schon gewählt zu haben, sintemal er, als er die<br />
Bürste weggelegt, mit sicherem Griff aus einem Holzkistchen, in<br />
welchem allerlei verbeulte Dosen geordnet waren, eine Büchse<br />
herauslangte und öffnete. Dieses Fett ist verdorben, hub ich<br />
sogleich an, ich rieche das! Aber mein Herr, begann der Knabe,<br />
ich-- Sei still, habe ich ihn erbost unterbrochen; das ist ein<br />
schlechtes Fett und ich trage gutes Schuhwerk, Du Defraudant! Der<br />
Schuhputzjunge ließ die Dose fallen und begann zu schluchzen,<br />
sintemal er, wie ich dachte, mir ein zweites Mal zu widersprechen<br />
den Mut nicht hatte. Aber das Geld..., stotterte er und suchte in<br />
den Taschen seiner Weste nach jener Münze, die ich ihm gegeben,<br />
das Geld... Nun, es ist nur eine einzelne Münze, habe ich<br />
gelächelt und mich neben den Knaben gehockt. Die darfst Du<br />
behalten, habe ich erklärt und ihm eine zweite Münze in die<br />
zerrissene Rocktasche gesteckt, wofern Du mir erzählst von den<br />
Ratten und von Deiner Mutter, welche sich des Nächtens bestimmt<br />
fürchtet vor diesen Biestern nicht anders als Du oder ich. ...<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
a lles<br />
k ann ich<br />
r ichtig<br />
o rdnen - ja<br />
s taunt, daß ich das gewiß in den nächten<br />
t un kann, weils<br />
i mmer irgendein<br />
c harybdis<br />
h att befohlen -<br />
o bgleich<br />
n iemand,<br />
a lso<br />
k einer<br />
r ichtigstellen hat wollen, daß<br />
o hne die liebe<br />
s selten auch der<br />
t apf´re, nämlich<br />
i<br />
c<br />
h<br />
o bsiegen und noch nicht einmal ein<br />
n estchen wird bauen können.<br />
Der Hure, die mich fellierte, als denn jede Moral von mir selbst<br />
abgefallen war wie das vom Harmatan davongescheuchte Miasma der<br />
Leprosorien, hatte ich mich erinnert zu jenem Moment, als es<br />
geschah, daß ich einen festen unbeirrbaren Schritt zu tun mich<br />
mühte, sintemal die eigenen Träume geradeso unerträglich geworden<br />
waren wie verlorengegangene Erinnerungen.<br />
Wir müssen etwas tun, hatten sie wütend gerufen, etwas tun,<br />
nämlich irgend etwas! Und was müssen sie tun, habe ich entgegnet,<br />
also was? Irgend etwas, haben sie geantwortet, nämlich ganz gewiß<br />
irgend etwas! Aber warum, habe ich mich erstaunt nach einer Pause<br />
von vielleicht zwei Atemzügen, warum... Weil wir etwas geschaffen<br />
haben müssen, haben sie gesagt, nämlich zumindest etwas<br />
geschaffen! - - Was sie denn geschaffen hatten, frug ich, was sie<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
geschaffen hatten. Was ich selbst geschaffen hatte, wurde ich<br />
sogleich gefragt, was ich selbst getan hatte, daß ich so süffisant<br />
reden könne! Sag schon, haben sie gerufen, sag, was Du geschaffen<br />
hast! Nun antworte! - - Ich selbst war beflissen, habe ich<br />
schließlich begonnen, war bemüht zu verstehen...warum ich laufen<br />
muß, um den Tod nicht zu fürchten...ich meine, warum sogar ich<br />
etwas habe tun müssen nur deshalb, daß ich mich IHM nicht stellen<br />
muß, nämlich diesem Tod, der überall auf meinem Körper seine<br />
eiternden stinkenden Wunden hinterlassen hat...<br />
die auf den panzermaschinen<br />
ihren erinnerungen davonge-<br />
fahren waren, sind soldaten<br />
gewesen, nämlich mörder und<br />
totschläger waren das ge-<br />
wesen; und die haben noch<br />
nicht einmal vor den drei<br />
engeln ihre motoren ge-<br />
stoppt, die dort hinter<br />
dem schützengraben<br />
gelegen waren zur wache<br />
und die kein gebet noch<br />
irgendein wort gesprochen<br />
hatten nur deshalb, weils<br />
keine engel waren sondern<br />
geschwisterchen, allenfalls<br />
sogar das eigne brüderchen,<br />
das vorausgeeilt war, weils<br />
so schnell war wie der tod.<br />
Es hatte sich bewegt, ganz gewiß hatte es das! Bloß für zwei<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Atemzüge oder länger war ich unaufmerksam gewesen, hatte<br />
weggeschaut gehabt, als ich rekognoszierte, daß es sich bewegt<br />
hatte, nämlich bewegt haben mußte! ... Ich selbst habe ja das, was<br />
sich nun bewegt hatte, eigentlich für tot gehalten, als ich denn<br />
doch endlich, wie bereits notiert, erkennen mußte, daß es sich<br />
bewegt hatte. Es hatte sich bewegt! ... Aber was hätte ich tun,<br />
was hätte ich tun können? Es war doch eigentlich tot – und hatte<br />
sich dann doch bewegt. Das fürchtete ich! Denn es war das, was<br />
hätte tot sein müssen und was sich dennoch bewegt hatte. ... Und<br />
was erwartete es? Daß ich etwas tun würde müssen? Die Nacht war<br />
wie jede andere davor gewesen, nämlich diese Nacht, in der es<br />
geschehen war, daß ich das, was meine Augen für tot gehalten, sich<br />
habe bewegen sehen; es war eine Nacht wie davor: der Regen hatte<br />
um 4 Uhr 10 aufgehört, und ich habe schließlich wieder das kalte<br />
Blut gerochen, das von ebendiesem Regen davongeschwemmt worden war<br />
geradeso, als würde damit irgend etwas vergessen werden können.<br />
Und dann hatte es sich bewegt, und ich fürchtete es, ich fürchtete<br />
mich. Denn diese Nacht war wie jede Nacht davor gewesen; es hätte<br />
also in dieser Nacht nicht passieren dürfen, daß sich dort etwas<br />
würde zu bewegen beginnen. ... Das waren gewiß Gespenster! Nämlich<br />
die Gespenster von Soldaten waren das, vielleicht waren das die<br />
umherirrenden Seelen der getöteten Soldaten, die sich dort<br />
bewegten wie erschöpfte Tänzer am Parkettboden! ...<br />
wenn du ich wärest<br />
und könntest über<br />
monde laufen,<br />
sag,<br />
wenn du ich wärest<br />
und könntest das!?<br />
Ich kann das nicht vidieren, wovon ich hier berichte, weil nämlich<br />
das, was sich ereignet hatte vielleicht zwei Meter vor jenem<br />
Steilabfall, in welchen man zu stürzen geplant, keine Bedeutung<br />
hat dafür, daß man denn doch nicht hinabgefallen war, um endlich<br />
irgendeinem zu erzählen von diesem Abenteuer, das keines ist.<br />
Das waren elf gewesen, nämlich elf Kreaturen. Und ich selbst war<br />
die zwölfte und übelste dieser Kreaturen! ... Zu diesem Moment war<br />
ich der eine Punkt im Universum, war ich der Beweis einer<br />
Newtonschen Konjektur. Und es hat mich nicht bekümmert, daß ich<br />
von diesem Punkt als den falschen Satz einer widerlegten<br />
Newtonschen Theorie gewußt hatte. Denn ich selbst war zu diesem<br />
Moment von jeder Theorie befreit! Und o, ich war der Punkt im<br />
Universum!<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Wir hatten auf der Straßenkreuzung gehalten, vielleicht in dem<br />
Glauben, daß wir überfahren würden von einem Automobil oder daß<br />
uns die Kugel eines Soldaten tötete, dem zwei Plünderer zu<br />
erschießen aufgetragen war. Allenfalls würde uns dort der<br />
einstürzende Glockenturm einer Kirche erschlagen, oder wir würden<br />
überhaupt bloß deshalb sterben, weil wir uns der Rasierklingen<br />
erinnerten, die wir irgendwann einmal in unsere Rocktaschen<br />
gesteckt hatten.<br />
Max kaxx schreibex oder sterbex. Schreibex kaxx max oder sterbex.<br />
In der Wehmut wird das Schweigen Gottes hörbar!<br />
sehe n<br />
höre n<br />
fühle n<br />
rieche n<br />
schmecke n<br />
im aufwachen, am morgen, ist es der tod. auf dem weg ins büro,<br />
durch den park, ist es der tod. vormittags, in der küche, bei<br />
einem glas limonade und einer zigarette, ist es der tod. im zimmer<br />
der vorgesetzten, oder im zimmer der arbeitskollegen, oder am<br />
telephon, oder auf der toilette, ist es der tod. zu mittag, in der<br />
werksküche, oder auf der straße, oder in den büchern, ist es der<br />
tod. am nachmittag, vor dem computer, oder in der küche, oder im<br />
dritten stock, ist es der tod. am abend, im park oder in der<br />
straßenbahn, auf dem weg zurück, ist es der tod. im kühlschrank,<br />
oder im backofen, ist es der tod. über den manuskripten, oder vor<br />
dem radiogerät, oder in den büchern, oder in den erinnerungen, ist<br />
es der tod. im einschlafen, am abend, ist es der tod.<br />
Tod und Wollust sind Brüderchen und Schwesterchen. Die halten sich<br />
an den Händchen, weil sie den Vater suchen und die Mutter. Den<br />
Vater und die Mutter! ... Mich selbst suchen sie, und ich fürchte<br />
mich vor ihnen, wiewohl sie Kinder sind, die den Vater suchen und<br />
die Mutter. Den Vater und die Mutter!<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
als ob ich<br />
als ob ich tot wär,<br />
als ob ich verrückt wär<br />
oder zerschunden...<br />
als ob ich<br />
das wär...<br />
Als ich geträumt hatte, war ich gewiß irgendeiner gewesen. ...<br />
Aber was sich ereignet hatte, war vielleicht nicht eben deshalb<br />
geschehen, w-e-i-l es geschah. Denn was passiert war, war<br />
geschehen an irgendeines Statt. ... Ich selbst war gewiß<br />
irgendeiner gewesen, als es passierte, daß denn einer vom Tod<br />
gesprochen. Vielleicht war ich selbst dieser eine; aber vielleicht<br />
war jener bloß ich... Wer weiß das schon zu sagen, was einer<br />
ist! ... Daß irgendeiner er und ich gewesen war, hatten wir<br />
jedenfalls nicht zu erklären vermocht, nicht als es geschah, nicht<br />
als wir uns erinnerten; der nämlich war ich und der war er. Und<br />
vielleicht war der sogar es oder du oder überhaupt wir! Allenfalls<br />
war der auch keiner.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
s ieh<br />
t od,<br />
e inmal, nur dies eine mal sollst du<br />
r ichtig<br />
b ekennen...und dich vielleicht<br />
e rinnern an die<br />
n ächte,<br />
i n welchen die<br />
s onne dir<br />
t rotzte! -<br />
w eil<br />
i ch<br />
d arf´s jetzt<br />
e hrlich<br />
r ichtigstellen:<br />
s iehst du, daß die<br />
p laneten ihre<br />
r unden um jene sonne<br />
u nverdrossen schreiben, weil´s kein<br />
c anossagang ist, dem zu dienen, der<br />
h ellerleuchtet ist und unbeschwert?<br />
An jenem Morgen hatte ich mich entschlossen! Ich war aufgewacht<br />
geradeso, als hätte ich aufwachen müssen, um rechtzeitig im Büro<br />
zu sein. Aber es war ein Sonntag, als ich an jenem Morgen so ganz<br />
entkräftet erwachte nach vielleicht sechs Stunden Schlaf. - - In<br />
dieser Nacht hatte ich geträumt, und vielleicht hatte ich schon<br />
den Entschluß formuliert gehabt, von welchem ich gesprochen. Denn<br />
ich hatte von ihnen geträumt, ich meine, ich hatte von diesen<br />
Engeln geträumt. Und o, das waren schöne Kerlchen, über welche<br />
jener Traum sich zeichnete... Die waren gewiß so schön wie...<br />
Genauso schön waren die wie Ihr Liebster, nicht anders schön wie<br />
Ihre Schönste waren die... - - Ich hatte mich also entschlossen an<br />
jenem Morgen, und vielleicht hatte ich sogar seit ehedem jenen<br />
Entschluß gefaßt gehabt und das bloß nicht gewußt oder eben nur<br />
nicht wahrhaben wollen... - - Ich frühstückte, ich wusch den<br />
Körper, ich kleidete ihn. Aber das war an jenem Morgen gewiß nicht<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
mit größerer Aufmerksamkeit als ansonst, nicht anders als<br />
vielleicht an irgendeinem Tag getan! - - Der Körper betrat die<br />
Straße, ging ruhigen festen Schritts, ohne daß ich selbst wußte<br />
wohin. Vor dem Schaufenster eines Ladens blieb der Körper stehen<br />
und brannte eine Zigarette an. Aber in Wirklichkeit prüfte der<br />
Körper die Luft! Und der Körper nahm das Aroma, nach welchem er<br />
schnüffelte, tatsächlich wahr, nämlich fünf oder sieben Partikeln<br />
in gewiß tausend Kubikmetern Luft. Der Körper lachte, ich meine,<br />
der tat zumindest so, als würde er lachen, um endlich nichts<br />
anderes als diesen Duft einzusaugen; und für einen Augenblick<br />
bedünkte es sogar, als würde der Körper wieder zurücklaufen<br />
wollen, nämlich davonlaufen. Doch der lief nicht zurück noch fort!<br />
Statt dessen ging der Körper weiter, in unbeirrbarem gleichwohl<br />
unbeholfenem Takt. - - Mit jedem Meter, den der Körper<br />
zurücklegte, habe ich selbst mich einverstanden erklärt und nichts<br />
getan, ihn aufzuhalten. Jetzt wußte ich denn auch, daß der Körper<br />
zu den großen Plätzen und Chausseen strebte, nämlich zu jenen<br />
Orten ging der Körper, wo die Galerien und Kirchen oder die<br />
Kaffeehäuser gebaut worden waren, sintemal sich dort an jenem<br />
Morgen ein intensiver essenzenhafter Duft von Engeln gesammelt<br />
hatte. - - Der Körper zitterte, als er die Seitenstraße verließ<br />
und den Platz vor dem Dom betrat, über welchen der Körper dann<br />
spazierte wie ein Spion. Und der Körper war ein Spion! Der war<br />
gewiß nicht auf diesen Platz gelangt, um auf den Turm des Doms zu<br />
steigen oder um in einem der Kaffeehäuser zu verweilen für zwei<br />
Stunden oder länger. Statt dessen brannte der Körper abermals eine<br />
Zigarette an und inhalierte jenen pulpösen eindeutigen engelhaften<br />
Duft mit einer Gier, die endlich auch mich selbst betäubte. Jetzt<br />
sei es getan! - - Der Körper hatte es agnosziert, dieweil ich<br />
selbst einer Verzückung anheimfiel, die keinen Widerspruch mehr<br />
gestattete, sintemal das Engelchen, welches wir beobachteten,<br />
tatsächlich zufrieden lächelte. Sogleich stellte der Körper dem<br />
Engel nach, und in einem Moment der Unaufmerksamkeit raubte der<br />
Körper den Engel; wie ein Zauberer warf er sich über den und war<br />
entschwunden mit ihm, dieweil ich selbst noch dachte, daß wir<br />
geträumt hatten von ebensolchen Engeln und auch geschworen, denen<br />
kein Leid zu tun! - - Nun war der Engel des Körpers festgesetzter<br />
Gefangener. Und ich selbst wiederum dünkte gefangengenommen von<br />
diesen beiden! Denn was der Körper getan hatte, konvenierte mir,<br />
wie mir ja auch die Tatsache, einen Engel zu besitzen, gefiel. Und<br />
o, ich gehörte beiden! - - Der Körper kniete sich neben den Engel<br />
und berührte zuerst dessen Seiten geradeso, als würde Gott selbst<br />
das geschaffene Werk betasten, und als der Körper noch die Hand<br />
auf die Stirnseite des Engels legte, schien alles Geschaffene aus<br />
diesem Geschöpf hervorgegangen. - - Und o, als der Körper vor<br />
jenem Engel sich niederwarf, habe ich selbst nicht einmal gedacht<br />
gehabt, daß wir vielleicht das falsche tun! Denn der Engel – das<br />
wußte ich nun wohl – schmeckt unserer Seele so ungeläufig und zart<br />
wie der erste Schneekristall auf der Zunge eines Kindes.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
wir hatten ein liedchen gesungen, und damit eine lüge erlaubt. wir<br />
hatten nicht nein gesagt und nicht um verzeihung gebeten. wir<br />
hatten bloß gesungen. - und wir hatten denn auch nur gesungen, und<br />
damit eine lüge erlaubt.<br />
Daß ich dich ficke, deshalb lieb ich dich...!<br />
hier war euch das kranke begegnet. das kranke war euch begegnet,<br />
als ich vor dem richter stand; es hat den kopf geneigt gehabt und<br />
war angesehen worden ohne jedes mitleid. das ist das kranke! hat<br />
der richter begonnen. - - es soll sprechen, hat der staatsanwalt<br />
gerufen, das kranke soll sprechen, daß es nicht sagen kann, wir<br />
hätten es nicht angehört; es soll sprechen. das kranke soll<br />
sprechen! hat der richter wiederholt. - - das kranke, habe ich<br />
schließlich gesagt, weint nicht anders als ihr und träumt nicht<br />
anders als ihr. vielleicht, fuhr ich fort, ist es anders einsam<br />
als ihr, aber es weint gewiß nicht anders. das kranke soll nicht<br />
deklamieren, hat der richter gerufen; das kranke soll sprechen!<br />
das kranke hält uns zum narren..., hat der staatsanwalt empört<br />
geflüstert. das kranke weint wie ihr, habe ich wiederholt; das<br />
kranke hat eine geschichte-- das kranke soll sprechen, hat der<br />
richter dazwischengerufen, allenfalls das kranke mit einem<br />
ordnungsruf zu raisonieren sei! - - das kranke, hat der<br />
staatsanwalt aus den akten zitiert, ist seit zwölf jahren<br />
amtsbekannt: das kranke ist klug wenngleich obstinat; es liest<br />
bücher und schreibt selbst ideologische pamphlete genauso wie<br />
pornographische schriften; das kranke gibt als beruf<br />
schriftsteller an, obschon es sich als sachbearbeiter verdingt; es<br />
besucht theater und oper; das kranke gehört zu keiner anerkannten<br />
religionsgemeinschaft und ist überhaupt weder als partei- noch als<br />
vereinsmitglied registriert. das kranke soll diese angaben<br />
bestätigen! hat der richter gesagt. das kranke bestätigt, habe ich<br />
gerufen; aber-- das kranke soll schweigen! hat der richter<br />
gerufen. - - das kranke, hat der richter begonnen, ist der<br />
oneirologischen unzucht sowie der verherrlichung der phantasie<br />
angeklagt. das kranke, fuhr der staatsanwalt fort, ist im besitz<br />
einschlägigen photographischen traummaterials; das kranke hat die<br />
vorsätzliche beschaffung ebendieses materials bereits gestanden.<br />
das kranke soll sprechen! hat der richter gesagt. das kranke ist<br />
einsam, habe ich geantwortet, und es benötigt jede art von<br />
schönheit, diese einsamkeit zu verwinden. das kranke lügt! hat der<br />
staatsanwalt wütend gerufen. das kranke, hub er sogleich an, ist<br />
bei eindeutigen traumhandlungen beobachtet worden! das kranke soll<br />
sprechen! hat der richter gesagt. weiß es nicht, hat der<br />
staatsanwalt gefragt, daß es krank ist!? das kranke soll sprechen!<br />
hat mich der richter aufgefordert. was empfindet es beim<br />
phantasieren, frug er. das kranke ist verliebt, habe ich<br />
geantwortet, und es lächelt. das kranke, hat der staatsanwalt<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
entrüstet gerufen, spricht von der liebe geradeso wie ein krankes!<br />
- - das kranke, hat der staatsanwalt schließlich begonnen,<br />
verwechselt die liebe mit dem begehren. das kranke, habe ich<br />
sofort reagiert, kennt keine liebe, die ohne das begehren<br />
auskommt. das kranke will allein die erlösung, hat der<br />
staatsanwalt erklärt, und keinesfalls nur phantasieren! - - ob es<br />
weiß, was es tut, hat der staatsanwalt gefragt, ob es das weiß.<br />
jedenfalls weiß das kranke sehr gut, habe ich geantwortet, was es<br />
irgendwann wird tun müssen. was es endlich sagen will, hat der<br />
richter gefragt. das kranke wird wissen müssen, wie das ist, habe<br />
ich geflüstert. das kranke will die erlösung! hat der staatsanwalt<br />
insistiert. - - das kranke, habe ich schließlich begonnen, will<br />
von dem schönen kosten, um sich des schönen zu erinnern. das<br />
kranke wird sich gewiß ein einziges mal erinnern, hat der<br />
staatsanwalt entgegnet, und dann immer wieder kosten von dem<br />
schönen; das kranke ist unersättlich! das kranke soll sprechen!<br />
hat der richter gesagt. vielleicht ist es wahr..., habe ich<br />
geflüstert. und warum tut es das, hat der richter gefragt. weil<br />
sich das schöne verwandelt, hat der staatsanwalt an meiner statt<br />
geantwortet, weil das schöne älter wird und seine farbe wechselt!<br />
ja, habe ich wütend gerufen, ja, weil das schöne an irgendeinem<br />
tag alles schöne abgestoßen haben wird, werde ich selbst auch das<br />
nächste schöne verlangen! - - das kranke, hat der staatsanwalt<br />
begonnen, hat uns seine pleonexie offenbart. das kranke soll<br />
sprechen! hat der richter gesagt. das kranke soll sterben! hat der<br />
staatsanwalt dazwischengerufen. das kranke stirbt an jedem tag,<br />
habe ich sofort reagiert. - - das kranke, hat der staatsanwalt<br />
gesagt, versucht uns zu täuschen; denn das kranke weiß, daß es<br />
nicht unseres mitleids noch unserer freundschaft würdig ist! das<br />
ist vielleicht sogar richtig..., habe ich geflüstert. - - das<br />
kranke will uns also beweisen, frug der staatsanwalt, daß es<br />
lieben kann ohne zu begehren!? das kranke tut nichts anderes, habe<br />
ich gerufen, das kranke tut ja nichts anderes, als eine liebe<br />
auszuprobieren, die ohne jedes begehren passiert-- nun will uns<br />
das kranke responsabel machen, hat der staatsanwalt unterbrochen,<br />
will es das? das kranke soll sprechen! hat der richter gesagt. das<br />
kranke, habe ich geantwortet, ist ein gefangener in einer welt des<br />
kordsamtes, des leinens, des garns, des saffians, des<br />
verlours...es ist eine welt der stoffe, eine welt der<br />
schauspieler. das kranke soll sprechen! hat der richter gesagt.<br />
das kranke, hat der staatsanwalt gerufen, düpiert uns! - - das<br />
kranke soll sprechen! hat der richter gesagt. das kranke wird<br />
gehört, habe ich gesagt, aber das kranke wird nicht geheilt. das<br />
kranke leugnet das kranke! hat der staatsanwalt gejauchzt. das<br />
kranke soll sprechen, hat der richter wütend gerufen, andernfalls<br />
es uns es zu diagnostizieren zwingt! - - wie soll das kranke, habe<br />
ich schließlich begonnen, wie soll es das schöne beschreiben, wenn<br />
es kein dichter ist und kein bildhauer... das kranke, fuhr ich<br />
fort, kennt nur die sehnsucht, die wie der hunger ist oder<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
wie...wie die wahrheit-- die wahrheit! lästerte der staatsanwalt.<br />
ja, habe ich sogleich gerufen, ja, ebenso wie die wahrheit, weil<br />
die nämlich nicht anders in unserem körper schmerzt als jene<br />
sehnsucht! das kranke soll sprechen! hat der richter gesagt. daß<br />
wir sterben, habe ich gesagt, da können wir sagen, daß wir´s<br />
wissen... wer aber wollte nicht dem tod davonlaufen, fuhr ich<br />
fort, indem er sich verliebt!? - - ich nun kenne keine andere<br />
liebe als jene, für welche ich angeklagt, habe ich gesagt, die den<br />
tod bezwingt zumindest für einige atemzüge oder länger. doch warum<br />
das so ist, habe ich gesagt, vermag ich vielleicht genausowenig<br />
anzunehmen wie, daß es so ist! denn eine liebe, fuhr ich fort, die<br />
nicht weiß, wem sie gehört, noch wessen ganzes sie ist, wählt<br />
nichts sonst als ein weiteres mal! - - sie hatten mir indes an<br />
beiden händen jene fältchen haut zerschnitten, welche zwischen den<br />
fingern wachsen, und ich habe gedacht, daß sie das getan hatten<br />
vielleicht nur deshalb, daß ich die nicht mehr über die seiten der<br />
engel, von welchen mir träumt, zumal sie zuhörer und nutznießer<br />
gottes sind, bewege. aber der staatsanwalt, welcher selbst das<br />
messer achtmal zwischen meine finger gelegt hatte, hat noch nicht<br />
einmal gelächelt dabei. - - so saß ich denn da mit zerschnittenen<br />
blutenden händen und habe von meinen nächtlichen träumen erzählt,<br />
dieweil das blut von den fäusten tropfte und mich an hamlets<br />
blutende tödliche wunde erinnerte.<br />
die erste nacht<br />
war<br />
der nächste tag<br />
war<br />
gestern gewesen<br />
war<br />
also irgendwann<br />
war<br />
nämlich nicht<br />
gewesen<br />
wenn wir sterben, habe ich gefragt, warum sollen wir uns erinnern.<br />
daß ich sterbe, habe ich gesagt, da weiß ich ganz genau, was für<br />
träume das sein werden, was für träume und was für schreie,<br />
nämlich keine träume und bloß noch schreie.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
und die stunden,<br />
wer wollte die nicht<br />
kürzen, sie zu überdauern?<br />
das<br />
war<br />
ich<br />
war<br />
wer<br />
war überhaupt nicht<br />
ich<br />
Die Liebe überdauert den Tod nur insofern, als sie vielleicht<br />
größer wird aber gewiß nicht klüger!<br />
Entwurf:<br />
n ich t die epheben gleiche n kinder dort haben das<br />
endende me in er be gier de zurückverlangt wie ab und ante<br />
poten tat en zum gewor den en augen blick der inthronisation!<br />
nächstes jahr, habe ich gesagt, im nächsten jahr. aber ich habe<br />
nicht einmal gewußt zu jenem moment, als ich davon sprach, ob das<br />
tatsächlich passieren würde, weil nämlich währenddes so vieles<br />
andere passieren kann, daß es unstatthaft ist, von einem anderen<br />
augenblick als diesem, zu welchem man gelacht hatte oder<br />
verzweifelt war, zu sprechen.<br />
die zimmerwände sind schmutzig, vielleicht ist es aber auch nur<br />
der sud von verlorengegangenen trepanierten und sodann verklebten<br />
erinnerungen, der an ihnen haftengeblieben war. im gardinenstoff<br />
hängen leblose insekten, die, auf der suche nach einem weg ins<br />
freie, bestimmt unermüdlich mit ihren saugrüsseln dagegen<br />
angegangen waren, vielleicht wie panzer, die man schon als<br />
ahnungsloses bübchen erfolglos gegen bunkerwände geschickt hatte.<br />
und die dämmerung, die man abermals beobachten könnte, wenn man<br />
nicht ohnehin bereits von ihr wüßte, scheint eine krankmachende<br />
sonne anzukündigen. die schatten auf den wänden, die indes<br />
passieren, sind vielleicht die schatten dieser erinnerungen,<br />
welche sich wie moribunde tänzer vor einem leeren zuschauerraum<br />
bewegen.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
neun. wir schweigen, weil wir ich sind. weil ich du nicht mehr<br />
bin, schweigen wir. und ich beginne das zu vergessen, was vor dem<br />
schweigen war. neun.<br />
neun..., neun...<br />
neun?<br />
neun, neun...<br />
neun? neun???<br />
neun! neun...<br />
neun!<br />
nein.<br />
Es wirkt wie ein Zauber, wie eine Verzauberung! Auf den Plätzen,<br />
die ganz gewiß keine Magier sind, oder in den Hinterhöfen, wohin<br />
sich vielleicht nicht einmal die Eskamoteure verirren, passiert<br />
es, daß ich verzaubert werde. Aber welche Art von Zauber das ist,<br />
weiß ich Ihnen nicht zu sagen, weiß nicht zu sagen, ob´s ein<br />
Bannzauber ist oder ein Schauspiel! Das weiß ich nicht zu sagen,<br />
weiß nicht, welche Zeilen geschrieben stehen in dem Zauberspruch,<br />
weiß nicht zu sagen, ob ich davonlaufen soll oder lachen! - - Das<br />
weiß ich nicht, weiß nicht, ob da der Mephistopheles befohlen hat<br />
oder eine Art von Cherub! Nur das weiß ich zu berichten, daß es<br />
mich erstaunt und mir zumeist gefällt. Und wie unsere Kinder<br />
vielleicht staunen über einen Zauberer geradeso, als würde der<br />
eine Art von Wahrheit kennen, die allein seinen Zuschauern<br />
verborgen bleibt, weiß ich selbst nun nicht zu sagen, warum mir<br />
diese Gespenster gefallen, weiß nicht zu sagen, warum es mich<br />
verlangt nach ihnen, die doch mit den Zauberern nichts anderes zu<br />
schaffen haben als jemand zu schaffen hat, der einen Magier<br />
staunt. - - Das ist ein Zauber, das ist eine Verzauberung! Aber<br />
ich weiß Ihnen nicht zu sagen, warum es passiert, weiß nicht zu<br />
sagen, wie es passiert oder wann, wiewohl es jedesmal passiert.<br />
Und o, das weiß ich zu sagen, daß es nämlich zu jedem Tag<br />
passiert!<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
ja wie geschmiedeter<br />
verschlossen<br />
darauf<br />
und nebenher<br />
wie geschmiedeter<br />
heißgekochter<br />
geschockt<br />
und starr<br />
gekochter<br />
wie geschmiedeter<br />
Ich hatte so getan, als würde ich spazierengehen, so getan, als<br />
würde ich von irgendwo nach dort wollen ganz ohne Vorbehalt. Denn<br />
ich mußte ja zu jedem Moment so tun, als würde ich bloß das tun,<br />
was die anderen tun, nämlich spazierengehen an einem<br />
Sonntagnachmittag vielleicht um 16 Uhr 10. Vor dem Dom zum<br />
Beispiel, wo die Kinder der Touristen photographiert wurden, mußte<br />
ich so tun, als würde ich pflichtschuldigst stehenbleiben für jene<br />
fünf oder sieben Sekunden des Photographierens, obschon ich nur<br />
deshalb stehengeblieben war, weil auch diese gespensterhafte<br />
Gestalt, die ich agnosziere zu jedem Augenblick und überall,<br />
abgelichtet werden sollte! Auf den Plätzen um den Dom wiederum<br />
mußte ich so tun, als würden mir die Betrügereien der<br />
Zauberkünstler gefallen, wiewohl ich nichts anderes getan, als<br />
jene Gestalt zu beobachten, die dort unbemerkt zwischen den<br />
Zuschauern stand. O dieses Schauspiel!<br />
Das Geld ist der Hebel des Archimedes. Daß die Moral<br />
davongeschleudert würde und nur ich selbst übrigbliebe, ich selbst<br />
und Gott, dessen Locken mich zuweilen genauso erebisch bedünkt wie<br />
Sein Lachen! ... Ich hatte also diesen Hebel gebaut und endlich<br />
befestigen können an jenem einen Punkte, der vielleicht nicht<br />
weniger unbezwingbar ist als meine Gier dauernd. Und ich hatte<br />
diesen Hebel angesetzt und also die Moral zertrümmert wie eine<br />
falsche Vorstellung. ... Die Moral war denn hinfort, und ich<br />
selbst bin zu jenem Moment vielleicht so frei gewesen wie Ikarus,<br />
als er seine Schwingen erprobte zum ersten Mal. Aber dieser<br />
Ikarus, der stürzte, war aufgefangen worden von mir selbst<br />
geradeso, als gelte es, jene Kilogramm an Sünde davonzutragen,<br />
welche aus dem Orkus geschöpft worden waren von einem, der das<br />
Himmlische prophezeit und dem Mephistopheles dient.<br />
93
© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Todesvariationen:<br />
Hitler war tot. Aber sein Sohn, der zwölfjährige Siegmund, war von<br />
alliierten russischen Soldaten aufgespürt worden in einem<br />
Kellerabteil der Göringschen Villa. Der Knabe wurde verhaftet und<br />
Marschall Schukow vorgeführt. Wir schicken Dich in den Gulag,<br />
Fritzenjunge, oder wir liefern Dich an die Amerikaner aus, sagte<br />
der und bedeutete dem Jungen, sich zu entscheiden. Aber Du willst<br />
ganz gewiß zu den amerikanischen Soldaten..., fuhr der Marschall<br />
unbeirrbar fort, und der Junge, der ein schüchternes Kind war,<br />
nickte vorsichtig mit dem Kopf. - - Drei Wochen später, im Juni<br />
1945, wurde ebendieser Knabe einem Trupp amerikanischer<br />
Panzergrenadiere übergeben. Es war ein formloser inoffizieller<br />
Akt. Der Kommandant der amerikanischen Panzerstaffel, Sergeant<br />
Pattons, salutierte vor seinem russischen Visavis, versuchte sich<br />
in belangloser militärischer Konversation, grüßte ein zweites Mal<br />
und schleifte den Jungen zu seinem Jeep. - - Dieser Sergeant<br />
Pattons war mein vorgesetzter Offizier. Er war neununddreißig<br />
Jahre alt und Soldat geworden, weil man auf dem Schlachtfeld keine<br />
Servietten braucht und kein Scheißpapier! Aber so genau wußte ich<br />
das damals auch nicht. Ich wußte nur das, daß nämlich der Junge,<br />
den der Sergeant an jenem Sonntagnachmittag um 16 Uhr 10 in meine<br />
Stube führte, ein höfliches senibles Kerlchen war! - - Motts, hat<br />
der Sergeant gesagt, nachdem er den Knaben auf meine Pritsche<br />
geworfen hatte wie einen Tornister, Motts, das da ist der Bastard<br />
eines verdammten Hurensohns, Sie verstehen. Ich lächelte<br />
indigniert, zumal es ein liebes, zuvorkommendes Bübchen war, von<br />
welchem der Sergeant solcherart despektierlich sprach. Motts, Sie<br />
verfluchtes Schwein, flüsterte der Sergeant, ich will, daß Sie<br />
diesen deutschen Scheißkerl fordern, verstehen Sie, ich will, daß<br />
Sie ihn f-o-r-d-e-r-n... Natürlich wußte ich schon im Augenblick,<br />
was der Sergeant eigentlich wollte von mir selbst. Ist das ein<br />
Befehl, frug ich ihn deshalb durchaus selbstgefällig, dieweil ich<br />
das Gesicht des Jungen betrachtete geradeso, wie das vielleicht<br />
nur Zuträger, Henkersknechte oder die Briganten der Nachhut tun.<br />
Sie haben drei Tage! hörte ich den Sergeant antworten, als er aus<br />
dem Zimmer ging. Länger hat sowieso noch keiner durchhalten...,<br />
habe ich ihm nachgerufen und vorsichtig nach meinem Seitenmesser<br />
gegriffen. - - Im Krieg, habe ich irgendwann gedacht, ist es das<br />
Schweigen, durch das wir unsere Phantasien verwirklichen; ich<br />
meine, wir kaufen die Realität unserer Phantasien, indem wir über<br />
die der Kameraden schweigen. Auch der Sergeant hatte seine<br />
Phantasien, und ich selbst werde schweigen darüber, weil das der<br />
Preis ist, den ich zahle.<br />
Da existiert eine Art von Liebe, hub sie an, die vielleicht nichts<br />
anderes erlaubt als Schmerz... Verstehst Du, erklärte sie, gerade<br />
in diesem Moment beweist es sich: nämlich ich sehe Deine Glans,<br />
über welche diese köstliche Flüssigkeit sich breitet und die dabei<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
wie ein Eiskristall glitzert... Ich meine, ich sehe es, ich rieche<br />
es, fuhr sie fort, und ich weiß, daß das alles irgendwann vorbei<br />
sein wird, und dieweil sie das sagte, hat sie meine Seiten berührt<br />
geradeso wie ein Bildhauer das geschaffene Werk, obgleich sie es<br />
hätte zerschlagen können. Aber ich will mich nicht, fuhr sie fort,<br />
bekümmern lassen von irgendwelchen geschlechtslosen Dämonen, die<br />
nichts wissen von der Schönheit in einem Moment wie diesem, denn<br />
ich möchte jetzt nur neben dir liegen, und ich weiß dabei, daß ich<br />
heute noch nicht einmal in jenen Zustand seltsamster Dämmerung<br />
werde flüchten müssen, den ich ansonsten aufzusuchen angehalten<br />
bin, sintemal von Engeln zu träumen in diesen Stunden keine<br />
Notwendigkeit ist, wo ein solcher Engel ruht neben einem selbst.<br />
sag<br />
warum<br />
mich<br />
wundert<br />
daß<br />
einer<br />
bloß<br />
jener<br />
tot war<br />
Der Tod war ganz nah. Plötzlich war der so nah gewesen, als hätte<br />
er seine Hände auf meine Brust gelegt, so nah war der gewesen, daß<br />
ich ihn atmen hörte, so nahe bei mir, daß ich seine Wimpern zu<br />
zählen vermochte. Der Tag wird kommen, an dem das passiert, an dem<br />
der mich aufsuchen wird wie eine Geliebte! Und wenn dieser Tag<br />
passiert, wird endlich irgendeiner er, nämlich irgendeiner, und<br />
irgendeiner ich selbst, also irgendeiner, gewesen sein, vielleicht<br />
wie der Duft von irgendwelchen Erinnerungen, den dann irgendein<br />
Körper inhaliert haben wird.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
widerstand eigentlich<br />
wir lassen es geschehen, und bisweilen<br />
dünkt sogar, als gefiel das uns, weils<br />
ein tun ist und nicht der wagemut, daß<br />
unser schweigen die schuld nicht kümmert.<br />
also betrachten wirs ganz ohne vorbehalt,<br />
obschon wir schlecht schlafen darüber und<br />
es geschehen lassen ein zweites mal, sich<br />
vervollkommnen, entschließen an unser statt.<br />
nicht bricht und bricht dies schweigen; und die<br />
schuld wird gleichkommen dem hohelied gewes´ner<br />
veranlassung.<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
"Über Monde"<br />
Ein Leseheftchen<br />
97
© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
Prolog<br />
Unheimliche Geräusche, überall da, ein Surren, ein Zittern, ein<br />
Quietschen und Knarren, überall um ihn herum, ein Klopfen und<br />
Schlagen, ein Rascheln, ein Ziehen, ein Knacken, unheimlich in<br />
dieser Nacht, überall in dieser Nacht, ein Wehen und Bewegen, ein<br />
Bohren, ein Graben und Knirschen, überall in dieser Nacht, vor und<br />
hinter und unter ihm, ein Hecheln, ein Stöhnen, ein Keuchen, ein<br />
Speicheln und Trenzen, ein Lecken und Schmatzen, ein Fletschen,<br />
ein Knurren, unheimlich, überall.<br />
98
© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
In der Nacht war ich über Monde gelaufen. Und ich habe gefühlt in<br />
diesen Stunden, daß die Sonne mich an irgendeinem Morgen<br />
verleugnen wird und verleumden. Aber ich war nur über Monde<br />
gelaufen; und bereits das hatte genügt, die Sonne zu verärgern.<br />
Denn ich war auch in der zweiten Nacht über Monde gelaufen, und<br />
ich hörte die Sonne dann sogar sich empören, obgleich ich nichts<br />
anderes getan hatte, als über Monde zu laufen. - - In der dritten<br />
Nacht endlich war ich nochmals über Monde gelaufen. Am Morgen<br />
dann, an jenem dritten Morgen hatte man mich erkannt als "Den-derüber-Monde-läuft".<br />
Also am dritten Morgen zum Beginn der fünften<br />
Stunde haben sie mich festgenommen; sie haben mich aufgehalten,<br />
nach meinen Papieren gefragt und schon mit ihren Handschellen und<br />
Fußfesseln geklimpert, dieweil sie meine Rocktaschen<br />
perlustrierten. Natürlich hatte ich weder irgendwelche<br />
Ausweispapiere bei mir, noch war ein zweiter mit mir gelaufen, der<br />
meine Identität hätte bezeugen können. Außerdem hatte ich seit der<br />
zweiten Nacht eine Gewißheit darüber, daß man mich zwar irgendwann<br />
nach meinem Namen und nach meinem Propusk würde fragen, aber<br />
keinesfalls ehrlich interessiert wäre an diversen Personalien. Sie<br />
wollten mich arretiert wissen, und die Frage nach meinen Papieren<br />
war also eine Formsache! - - Keinesfalls aber hatte ich mit einer<br />
so baldigen Festnahme gerechnet. Ich hatte vielmehr gedacht, daß<br />
ich elf Tage oder länger ungestört über Monde würde laufen können,<br />
und wurde dann doch, wie ich es bereits notiert, am dritten Morgen<br />
in Hand- und Fußfesseln abgeführt. - - Meine Zelle maß<br />
zweiundsiebzig Quadratmeter, Wohnraum und Alkoven, Bad, Toilette<br />
und Flur sowie ein Arbeitszimmer, hatte zudem vier große,<br />
natürlich von Gitterstäben umbaute Fenster und war in globo sehr<br />
geschmackvoll möbliert. Man hatte mir sogar eine Bibliothek<br />
eingerichtet! - - Ich dürfe hier wohnen bleiben, hatte mich der<br />
Gefängnisdirektor schließlich aufgeklärt, dessen Karte ich, wenige<br />
Minuten nachdem ich meine neue Wohnstätte betreten hatte an der<br />
Seite von zwei Wachmännern, überreicht bekommen habe von einem<br />
dritten, der mir endlich genauso distinguiert begegnete wie ein<br />
englischer Diener aus dem neunzehnten Jahrhundert seinem<br />
Dienstherren ("Der Herr Direktor läßt fragen, ob Sie den Herrn<br />
Direktor empfangen"). Ich lasse also bitten, habe ich geantwortet<br />
in dem Versuch, nicht weniger förmlich zu sein. - - Und da stand<br />
er nun - der Herr Direktor. Ein kleiner, vielleicht<br />
achtundvierzigjähriger Mann von gepflegtem Air, mit einem<br />
schmalen, gut gestutzten Oberlippenbart und mit großen jedennoch<br />
glanzlosen Augen, die mich an die Bulben von weidwundem Tier<br />
erinnerten. - - Wir hatten Platz genommen, und ein vierter<br />
Wachmann brachte uns Tee und Gebäck, dieweil wir schon rauchten<br />
und der Herr Direktor sichtlich bemüht war, ein Thema zu finden,<br />
über welches wir beide uns unterhalten können. - - Sie müssen<br />
wissen, hub er schließlich an, daß Sie hier...auf Lebenszeit<br />
bleiben...ich meine, wohnen bleiben... Ich nickte wohlgefällig und<br />
bedeutete ihm, ob er Milch haben wolle in seinen Tee. Ein wenig<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
doch, nur ein Tröpfelchen, lächelte er; und keinen Zucker, bitte!<br />
- - Jaaa, begann er wieder und goß dabei in umständlichen<br />
Bewegungen nochmals einige Tropfen Milch in seinen Tee, natürlich<br />
können Sie hier wohnen bleiben... Aber es zählt zu meinen<br />
Pflichten, fuhr er fort, Sie zumindest darüber aufzuklären, was<br />
der Paragraph zwanzig des VMPRG von Ihnen verlangt während der<br />
Dauer Ihrer...Unterbringung. Des VMPRG frug ich. Ja, das<br />
Verwesermondprüf- und -richtgesetz, flüsterte er. Oh, ich glaube,<br />
entgegnete ich, nachdem ich zuvor ein Stück von dem Gebäck<br />
probiert hatte, ich glaube, ich kenne dessen Bestimmungen. Dann<br />
wissen Sie also, frug er erstaunt, daß Sie fürderhin weder über<br />
Monde laufen dürfen noch-- Noch überhaupt in den<br />
Sternennavigationsplänen lesen, unterbrach ich ihn, ich weiß das.<br />
Sie dürfen auch nicht danach fragen, erklärte der Direktor<br />
schüchtern; Sie dürfen dahingehend nichts fragen. Aber über Monde<br />
zu laufen, hub ich an, über Monde-- Nein, nein, rief der Direktor<br />
ängstlich dazwischen und schaute nach den Wachmännern (die aber<br />
nicht mehr anwesend waren); Sie müssen jetzt stillschweigen! - -<br />
Also hatte ich geschwiegen und dabei den Direktor, der mich<br />
vielleicht von Anfang ein Schauspieler wider Willen bedünkte,<br />
beobachtet. Aber auch ich selbst, begann der Direktor ebenso leise<br />
wie zögernd, war einmal...über...Monde gelaufen...als ich zwölf<br />
Jahre zählte... Und heute sind Sie der Direktor dieses...nun,<br />
dieses Etablissements, lächelte ich. Der Direktor nickte. Und<br />
vielleicht, fuhr ich fort in einer Ahnung, die nicht so sehr einer<br />
plötzlichen Eingebung als jener ohnedies manifesten Gewißheit<br />
zugeschrieben werden kann, welche in solchen oder ähnlichen<br />
Situationen ganz bestimmt das Gute vom Bösen zu unterscheiden uns<br />
erlaubt, sind Sie der nur deshalb, weil man Sie dekuvriert hatte,<br />
um dann doch keine andere Gegenleistung zu verlangen von Ihnen<br />
selbst als Ihre Treue. Oh, na oh, staunte der Direktor und schien<br />
indes für einen Augenblick geradeso zufrieden wie ein Gassenjunge<br />
an einem Sonntagnachmittag vielleicht. Wie können Sie das wissen,<br />
frug er sogleich, daß ich habe bezahlen müssen dafür, wie können<br />
Sie das. Ich bin ein Mondläufer, Herr Direktor, habe ich<br />
gelächelt, und was ich also weiß, das weiß ich dieserhalb, weil<br />
das zu wissen nicht vieles nötig ist. O ja, Sie sind ein<br />
Mondläufer! begeisterte sich der Direktor, um dann doch in jene<br />
einstmals eingeforderte wenngleich atavistische Achtsamkeit<br />
zurückzufallen, aus welcher er gerade eben für die Dauer eines<br />
Atemzugs gekrochen war und aus welcher er ganz gewiß immer wieder<br />
für den Moment eines Lidschlags kriechen würde. - - Mein Vater,<br />
erklärte der Direktor, und es schien, als wollte er weinen, mein<br />
Vater hatte nämlich ausgezeichnete Verbindungen zu den<br />
Sternenrichtern... Oh, die Sternenrichter, sagte ich, die<br />
Sternenrichter werden uns alle nicht mehr lange am Leben lassen...<br />
Glauben Sie das tatsächlich, frug der Direktor aufgeregt, glauben<br />
Sie das. Es ist wahrscheinlich nur noch eine Frage von Wochen,<br />
antwortete ich. Aber warum sollten die das tun? überschlug sich<br />
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die Stimme des Direktors, der jetzt wieder nach den Wachmännern<br />
schaute. Ja, begann ich durchaus sarkastisch, ja, warum sollen sie<br />
das denn tun. - - Wir waren jetzt dagesessen wie zwei Soldaten zum<br />
Ende der Schlacht, die auf der Walstatt vielleicht nur deshalb<br />
ausharren, daß sie sich erinnern, und die dann doch über den dort<br />
gesammelten Erinnerungen zerbrechen, sintemal das, was geschehen<br />
war, weder unbeschadet noch insgesamt zu überdauern ist. (Daß aber<br />
irgendeiner zum Ende der Schlacht würde heimkehren können und sich<br />
erinnerte an die Zeit davor, bedünkte uns beide ganz unwichtig,<br />
weil es nicht geschehen würde, daß ebendiese Erinnerungen die<br />
eigene Niederlage wettmachten.) - - Kennen Sie die Methoden der<br />
Sternenrichter, Herr Direktor, frug ich, ich meine, die Methoden,<br />
von welchen-- Oh, mein lieber Freund, unterbrach mich der Direktor<br />
nervös; wir sollten aber davon nicht sprechen. Sie dürfen Ihre<br />
Ohren nicht verschließen, Herr Direktor, rief ich, Sie dürfen<br />
nicht einfach weghören in dem falschen Glauben, der<br />
Sterneninquisition mit ihrem Schweigen antichambrieren zu werden,<br />
Sie dürfen das nicht, ich meine, wir müssen jetzt dagegen<br />
ankämpfen! Sie wollen gegen einen Feind angehen, entgegnete der<br />
Direktor müde, der so unsichtbar ist wie die Luft, die wir atmen,<br />
und so übermächtig wie die Gefühle, die wir haben... Das ist ein<br />
Schuß nach hinten, fuhr er fort, ein Schuß ins Leere ist das. Ich<br />
bin nicht dieser Hamlet, begann ich, ich bin der nicht, daß ich<br />
nur deshalb resigniere vor einem Übel, weil ich vielleicht ebenso<br />
resignieren muß vor dem nächsten. Ja, lächelte der Direktor, ja,<br />
Sie sind der nicht, und darum sind Sie ein Mondläufer gewesen...<br />
Ich bin es noch, rief ich emphatisch, ich bin es noch! - - Die<br />
Sterneninquisition, begann der Direktor, wird Sie als einen<br />
Häretiker verurteilen...Die Sterneninquisition, unterbrach ich,<br />
spricht in ihren Urteilen jedesmal von der Ketzerei!...sie wird<br />
Sie brandmarken...und dann werden in jedem Witzblatt Ihre Träume<br />
veröffentlicht und Ihre Erinnerungen... Das ist der Lauf der Zeit,<br />
lächelte ich sardonisch, eine Zeit, die wir nicht verhindert<br />
haben, als wir noch hätten reagieren können. Aber ich bereue das<br />
nicht, hub ich an, und ich werde bis zum letzten Atemzug ein<br />
Mondläufer bleiben, bis zum Schluß will ich fühlen wollen wie ein<br />
Mondläu-- Ich unterbrach mich, weil ich den zweiten Wachmann, der<br />
eingetreten war ohne Zeichen zu geben, habe lächeln sehen in jener<br />
umtriebenen mokanten Art, die endlich einen Zuträger von einem<br />
Clown nicht zu unterscheiden erlaubt. - - Sie wollen zum nächsten<br />
Mal nicht unangemeldet eintreten! maßregelte der Direktor den<br />
Wachmann, dieweil er jene Papiere goutierte, die derselbe ihm<br />
übergeben hatte, in einer Art, die vielleicht den Sternenrichtern<br />
zu eigen ist. Und um das hier, erklärte er und deutete auf die<br />
Papiere, werde ich mich rechtzeitig kümmern; danke, Sie können<br />
gehen! Der Wachmann schlug die Hacken zusammen in exakter<br />
vorbildlicher Weise und eilte davon. - - Der Direktor keuchte, und<br />
der Glanz in seinen Augen, der eben noch jener eines Löwen im<br />
Sprunge gewesen war, verwirkte genauso plötzlich wie das Licht<br />
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einer heruntergebrannten Kerze, sintemal die Angst, welche der<br />
Direktor wenige Momente zuvor noch bezwungen, nun wieder<br />
freigelassen war. Glauben Sie an den Sieg der "gerechten Sache",<br />
frug mich der Direktor geradeso, wie vielleicht die Kinder fragen<br />
über den Krieg in jenen Nächten, die dem Krieg vorausgehen,<br />
glauben Sie, daß diesen Zeiten endlich andere, bessere Zeiten<br />
nachfolgen werden. Ich weiß es nicht, begann ich; ich weiß nicht,<br />
welche Zeiten jetzt noch möglich sind... Aber Sie wollen doch,<br />
rief der Direktor verwirrt, Sie haben doch gesagt, dagegen<br />
ankämpfen zu werden. Gewiß will ich kämpfen, habe ich geantwortet,<br />
gewiß will ich das; aber...Ja, insistierte der Direktor,<br />
ja!?...aber ich allein werde eine neue Zeit nicht schaffen. So<br />
sagen Sie mir, begann der Direktor aufgeregt, sagen Sie mir<br />
zumindest, was ich tun soll, oder was ich tun kann, sagen Sie´s.<br />
Ich versuchte zu lächeln und brannte statt dessen eine Zigarette<br />
an nachdem ich mit einemmal nicht mehr wußte, was ich anderes<br />
hätte tun können oder erklären in diesem Augenblick, der so<br />
wundersam war wie alle solche Augenblicke seltsam sind, zu welchen<br />
vielleicht eine Wahrheit sich offenbart, die man zu formulieren<br />
weniger unfähig als erschrocken ist, weil das endlich bedeutete,<br />
die eigene Resignation anzuerkennen ganz ohne Vorbehalt und sich<br />
ihre Male aufbrennen zu lassen. (Wie es ja so oft passiert in den<br />
Nächten, daß wir ein Dutzend Ratten über den Bretterboden unseres<br />
Zimmers kriechen hören und dabei noch nicht einmal denken mögen,<br />
daß es Ratten sind! Aber es wird den Augenblick geben, während<br />
welchem die Ahnung unsere Entscheidung vorwegnimmt und sich selbst<br />
gewissermaßen erfüllt, indem sie unsere Hilflosigkeit bejaht.) - -<br />
Der Direktor war plötzlich aufgesprungen und aus dem Zimmer<br />
gelaufen wie ein wahnsinnig gewordener Soldat zum Ende der<br />
Schlacht um 4 Uhr 10 vielleicht. Indes bedünkte mich selbst, daß<br />
ich nicht anders davongelaufen war, als ich über Monde zu laufen<br />
suchte. - - Sie sind ein schwieriger Mensch, hörte ich die luzide<br />
Stimme des dritten Wachmanns; nämlich alle Mondläufer sind das!<br />
Oh, habe ich gelächelt, oh, wir bedünken vielleicht schwieriger<br />
als die Sternenrichter gefährlich sind. Gefährlich sind nicht die<br />
Zeiten sondern deren Illusionen! entgegnete der Wachmann, dieweil<br />
er gelangweilt die Gitterstäbe zweier Fenster prüfte. Und welche<br />
Zeiten sind das, die Sie geschaffen haben, habe ich ihm<br />
nachgerufen und an die Sonne gedacht, die mich verraten hatte,<br />
welche Zeiten? Aber der Wachmann, der vielleicht lächelte,<br />
ignorierte meine Frage, und war schließlich aus dem Zimmer<br />
gegangen ohne Gruß. - - In der Nacht habe ich nicht geträumt<br />
gehabt, wiewohl ich es versucht hatte. Denn daß ich hier nicht<br />
träumen würde, fürchtete ich, zumal mit jedem Traum, der nicht<br />
zugelassen werden kann, ein Stückchen mehr verdirbt in uns selbst.<br />
- - Ich hatte also nicht geträumt, und vielleicht war das bereits<br />
die wirksamste Methode der Sternenrichter: nämlich die behüten<br />
"die Zeiten" und betäuben dabei den Widerstand geradeso wie ein<br />
KZ-Kommandant, der den Häftlingen über den Appellplatz zu<br />
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paradieren befiehlt, dieweil er dort ein Dutzend anderer morden<br />
läßt. (Und dort, wo "die Zeiten" an Schlachthöfe erinnern,<br />
verdirbt das Reine, verdirbt das Unverdorbene und kehrt wieder als<br />
Diener und Gespenst.) - - Wir müssen etwas tun, hörte ich am<br />
nächsten Morgen die aufgeregte Stimme des Direktors, wir müssen<br />
etwas tun, irgend etwas, verstehen Sie. Sie stören mein Dejeuner!<br />
habe ich ihn sogleich wütend angerufen und dabei unbeirrbar ein<br />
Stück von jenem Semmelwecken gebrochen. Aber mein lieber Freund,<br />
hörte ich den Direktor nachfassen, mein lieber guter-- Ich bin<br />
niemandes Freund, habe ich ihn unterbrochen und ein halbes<br />
Löffelchen Marmelade auf das Brötchen getan, ich bin niemandes<br />
Freund! Der Direktor stand jetzt vor mir wie ein schüchterner<br />
ängstlicher zitternder Schuhputzjunge, der sich um seinen Lohn<br />
betrogen wähnt. Nun, Herr Direktor, spottete ich und brannte,<br />
dieweil ich ihm sich hinzusetzen bedeutete, eine Zigarette an, Sie<br />
haben vielleicht über die Freundschaft sich täuschen lassen! Wie<br />
darf ich das verstehen, hörte ich ihn fragen. Es ist wohl nicht<br />
nötig zu erklären, hub ich an, daß wir verlieren, daß wir nämlich<br />
mit jedem Tag ein Stückchen mehr verlieren, und daß wir nichts tun<br />
können dagegen. Natürlich, fuhr ich fort, wir können das<br />
beobachten wie ein Soldat, der den Wundbrand auf seinen wieder<br />
zusammengeflickten Beinen sieht-- Haben Sie solche Beine schon<br />
einmal gesehen, Herr Direktor, unterbrach ich mich, haben Sie sie<br />
gerochen? - - Daß wir sterben, begann der Direktor nach einer<br />
Pause von vielleicht sieben Minuten, fühlen wir bereits mit dem<br />
ersten Atemzug, den wir schreiend tun. Überhaupt bedünkt das<br />
Schreien, entgegnete ich durchaus sarkastisch, eine sonderbare Art<br />
der Artikulation zu sein, zumal wir es nicht lernen müssen noch--<br />
Der Schrei ist mithin die eigentliche Inspiration unserer Sprache!<br />
unterbrach mich der Direktor. Denn die Kreatur, fuhr er sogleich<br />
fort, die wir sind am Beginn des Morgens und am Ende unserer<br />
Erinnerungen, schreit! Ja, immerzu schreit die, habe ich<br />
geflüstert und mich dabei ein wenig über den Tisch gebeugt, die<br />
schreit, die kreischt, brüllt, seufzt, stöhnt... - - Wir waren<br />
jetzt dagesessen wie zwei alte Schauspieler in einer<br />
Untergrundschule des Warschauer Ghettos, die den Hamlet und den<br />
Herzog von Gloster gewiß schon hundertmal aufgeführt hatten ganz<br />
ohne Vorbehalt. Aber erst hier, erst auf den Straßen und in den<br />
Hinterhöfen des Ghettos würde es geschehen, daß ebendieser<br />
Vorbehalt zurückweicht, vielleicht sogar zersplittert vor den<br />
Schreien der Verhungernden. Und in der Nacht, die das Stöhnen der<br />
Gemarterten wie ein Summen von Chören über die Bezirke des Ghettos<br />
hinausträgt, würden die beiden Schauspieler vielleicht nicht mehr<br />
zu unterscheiden vermögen zwischen Spielern und Gespielten! - -<br />
Zum Ende der Schlacht werden die Mondläufer obsiegen, begann der<br />
Direktor unvermutet, das glaube ich ganz fest, am Ende werden sie<br />
gewonnen haben! Doch das wird ein Pyrrhussieg sein, Herr Direktor,<br />
lächelte ich und brannte ein Zigarette an. Sagen Sie, lieber<br />
Freund, frug er unbeirrbar, soll ich mit der Untergrundbewegung<br />
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Kontakt aufnehmen, oder muß ich...muß ich vielmehr-- Es gibt keine<br />
Bewegung, unterbrach ich ihn wütend, es gibt sie nicht mehr,<br />
verstehen Sie, die Bewegung ist t-o-t! Aber was sagen Sie da, mein<br />
lieber Freund, rief der Direktor irritiert, was sagen Sie da...das<br />
ist doch nicht wahr...sagen Sie, daß das nicht wahr ist... Aber es<br />
ist wahr, Herr Direktor, es ist seit vierzehn Monaten wahr. - -<br />
Der Untergrund heute, begann ich schließlich, ist nur mehr in den<br />
einzelnen Köpfen möglich... Und auch die Erlösung, fuhr ich fort,<br />
die Erlösung, Herr Direktor, ist keine Sache mehr, die auf den<br />
Straßen erzwungen wird oder in den Gerichtssälen entschieden,<br />
diese Zeiten sind vorbei! - - Also haben wir denn doch<br />
verloren..., sinnierte der Direktor. Nein, sagte ich, nein, wir<br />
haben noch nicht verloren; aber wir verlieren, ich meine, Herr<br />
Direktor, wir sind eben dabei zu verlieren. Denn die<br />
Sternenrichter, Herr Direktor, erklärte ich, die Sternenrichter<br />
sind zwar nicht die Orwellsche Gedankenpolizei...Obschon sie das<br />
natürlich sein möchten, unterbrach ich mich, und endlich auch<br />
alles dafür tun!...aber ihre Methoden sind nicht weniger wirksam<br />
als jene...verstehen Sie, die Methoden der Sternenrichter machen<br />
uns alle glauben, daß wir nichts tun können dagegen - die<br />
Methoden, Herr Direktor! Die Methoden, frug der Direktor ein wenig<br />
sinister; Sie meinen vielleicht die Propaganda!? Die Propaganda,<br />
Herr Direktor, erklärte ich, und die Medien...die Gesetze, die<br />
Vorschriften, überhaupt der ganze Apparat. Dieser ganze sogenannte<br />
Staat, fuhr ich fort, dieser Staat, der doch im Wesen nicht anders<br />
ist als die Funktionäre der Sterneninquisition, das alles, Herr<br />
Direktor, das alles hat den einzelnen Menschen entmündigt<br />
zugunsten irgendwelcher Vorstellungen, die irgendwelche...irgendwelche,<br />
fast möchte ich sagen: Verschwörer, ja, Verschwörer, Herr<br />
Direktor, die irgendwelche Verschwörer irgendwann einmal hatten...<br />
Herr Direktor, rief ich, dieser Staat ist ein Artefakt, er ist ein<br />
Werkzeug; ein Werkzeug, das wir uns nicht mehr getrauen aus der<br />
Hand zu geben. - - Sie müssen wissen, Herr Direktor, hub ich<br />
schließlich an, daß sich zweitausendvierhundert Jahre Geschichte<br />
nicht einfach so revozieren lassen! Was wir heute erleben, fuhr<br />
ich fort, oder was wir jetzt erleben, das ist nur das aktuellste<br />
Ergebnis ebendieser Geschichte, einer Geschichte, Herr Direktor,<br />
die sich selbst mit jedem Tag, den wir gegen sie nicht ankämpfen,<br />
neu berechnet! Denn es h-a-t sich entwickelt, Herr Direktor, und<br />
wurde nicht bloß geschaffen, es hat sich berechnet mit jedem Tag,<br />
mit jedem Jahrzehnt, und es wird sich weiterentwickeln, solange<br />
wir es zulassen. Solange wir nicht Nein sagen, fuhr ich fort,<br />
solange wir nicht Nein sagen, solange wird es immer weiter<br />
wachsen, solange wird es sich immer unkorrigiert neu berechnen und<br />
also ungestört weiterentwickeln können. Es ist wie die<br />
Kettenreaktion einer Atombombenexplosion, Herr Direktor! - - Die<br />
Geschichte, nämlich diese Geschichte, Herr Direktor, unsere<br />
Geschichte ist das Trojanische Pferd eines Epeios, dem wir in<br />
unseren Herzen Platz geboten haben! Und wer, frug der Direktor<br />
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leise, welcher wird der Laokoon sein, der uns zu retten<br />
sucht...oder werden auch wir uns düpieren lassen...uns täuschen<br />
lassen von diesem...von diesem Artefakt. Wir sind die Täuscher,<br />
sagte ich, und wir sind die Getäuschten...Aber nein, rief der<br />
Direktor dazwischen, aber nein!!!...und doch sind wir zuerst<br />
einmal... Ja, frug der Direktor ungeduldig, ja!? Oh, ich weiß es<br />
nicht mehr, Herr Direktor, jetzt weiß ich plötzlich nicht mehr,<br />
wer wir sind in diesem Spiel. Aber ist das denn ein Spiel! hörte<br />
ich den Direktor sich exaltieren. Ich brannte eine Zigarette an<br />
und versuchte zu lächeln. Aber ich fühlte mich verraten, und mein<br />
Lächeln war nicht anders ungeübt als das eines Kindes, welches<br />
vielleicht in den Straßen des Warschauer Ghettos neben den toten<br />
Eltern sitzen geblieben war. (Und was tun wir an solchen Orten und<br />
während ihrer Momente? Wir weinen, wir verstummen, verhärten -<br />
oder wir lächeln, lächeln geradeso blödsinnig, als würden es<br />
unsere verunstalteten verzogenen spröden Lippen vermögen, eine Art<br />
von Tröstung zu provozieren, die auch davor stets nur in den<br />
Köpfen der Menschen passiert war!) - - Daß es ein Spiel ist, hub<br />
ich schließlich an, ist die einzige Wahl, die uns bleibt. Denn<br />
wofern es ein Spiel ist, versuchte ich zu erklären, hat es<br />
Regeln-- Und Sie meinen, frug der Direktor dazwischen, daß wir<br />
seine Regeln neu definieren können!? Nein, habe ich sofort<br />
reagiert, diese Regeln zu gestalten ist uns nicht erlaubt noch<br />
vermöchten wir´s! Wie darf ich Sie dann verstehen, frug der<br />
Direktor und schaute nach den Fenstern. Nur d-a-ß wir denken, es<br />
sei ein Spiel, habe ich gesagt, nur d-a-ß wir es denken, macht es<br />
uns möglich, das alles zu ertragen, über welches wir ansonsten<br />
vielleicht resignieren möchten. - - Es ist ein Spiel, Herr<br />
Direktor, erklärte ich mich, es ist wie Hamlet, den wir auf der<br />
Bühne sehen und den zu verstehen uns nicht kümmert, weil das<br />
endlich bedeutete, nicht anders verzagt zu haben wie der Prinz von<br />
Dänemark. Verstehen Sie, Herr Direktor, fuhr ich zu erklären fort,<br />
indem wir das Spiel anerkennen, verleugnen wir unsere eigene<br />
tatsächliche Verzweiflung! - - In der Nacht hatte ich geträumt von<br />
Hamlet, daß er Waffen und Widerstand zu wählen nur deshalb sich<br />
entschied, um jenen totzuschlagen, der Yoricks Schädel, des toten<br />
Königs Spaßmachers Schädel, bestaunt hatte und befühlt geradeso,<br />
als würde das Betasten von blankem Knochenzeug den Tod bezwingen.<br />
(Also hat er den einen totgeschlagen; und der eine war er selbst,<br />
war Hamlet.) - - Ich werde etwas tun, hörte ich eine Stimme<br />
flüstern, ich werde Sie hier herausholen, und dann werden Sie--<br />
Was werde ich dann, habe ich den Direktor torpide angerufen und<br />
meine Augen geschlossen gehalten vielleicht nur deshalb, um des<br />
Hamlets Staunen, von dem mir träumte, in meine Erinnerungen<br />
einzubrennen geradeso wie das ansonsten nur geschieht in den<br />
Nächten, die dem Krieg vorausgehen, bei den Kindern, welche nichts<br />
zu vergessen angehalten sind, weil das, was vergessen ist, auch<br />
nicht mehr wirken kann in der Art eines Antidots, was werde ich.<br />
(Der Direktor respirierte heftig, vielleicht sogar zu heftig, und<br />
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plötzlich bedünkte mich, daß er mich verraten wird einfach schon<br />
deshalb, weil an diesem Ort der Unterschied zwischen Spielern und<br />
Gespielten vollzogen wird an irgendeines Sternenrichters Statt,<br />
der die Menschen verwechselt und die Methoden.) Also was werde<br />
ich, habe ich mich wiederholt. Aber der Direktor antwortete nicht<br />
und war sichtlich bemüht um seine Atmung. Nun, Herr Direktor, hub<br />
ich an, wenn Sie meine Flucht begünstigen, wird man mich nach acht<br />
Tagen wieder aufgegriffen haben, nach acht oder nach elf Tagen,<br />
und die Sonne, die sich empört, wenn ich über Monde laufe, wird<br />
auch dieses Mal meine Spur verfolgen. Das wissen Sie sehr gut,<br />
Herr Direktor, erklärte ich, daß nämlich die Sonne-- Die Sonne<br />
will ich schon bezwingen, rief der Direktor erregt dazwischen und<br />
faßte nach meiner Hand geradeso wie man vielleicht nach einem<br />
Sterbenden faßt in jenem Moment, wo er den letzten Seufzer tut.<br />
Ach nun, hörte ich mich sagen, Sie wollen die Sonne niederringen<br />
wie irgendeinen Eskamoteur... Aber das wird Ihnen nicht gelingen,<br />
fuhr ich sogleich fort und löste mich aus seinem Griff, weil noch<br />
nicht einmal die Sonne verantwortlich ist für jene Geschichte,<br />
gegen welche wir ankämpfen! Verstehen Sie, Herr Direktor, erklärte<br />
ich mich, dieweil ich meine Augen öffnete und seinen Blick suchte,<br />
die Sonne ist nur ein Teil des Schauspiels, vielleicht sogar ein<br />
bedeutender Teil; doch ich weiß es nicht und niemand weiß es,<br />
nicht einmal die Sonne weiß es! - - Wenn wir sie also dereinst zu<br />
bezwingen vermöchten, hub ich an nach einer Pause von vielleicht<br />
sieben Minuten, während welcher der Direktor gewiß an seinen<br />
Treueschwur dachte, würden wir erkennen, was sie tatsächlich ist<br />
und warum wir verraten werden von den Sternenrichtern und ihren<br />
Vasallen. Aber wenn das passiert, fuhr ich fort, werden die<br />
Sternenrichter eine neue Sonne schaffen, und jene Geschichte,<br />
gegen die wir angekämpft haben, wird zum weiteren Mal ihren<br />
Fortlauf finden in den häßlichen morbiden rücksichtslosen<br />
Vorstellungen ebendieser Sternenrichter. Der Direktor versuchte zu<br />
lächeln, versuchte das Lächeln der Zuträger, welche zum Ende der<br />
Schlacht die Toten zählen und dabei eine Regung in sich spüren,<br />
eine Ahnung von Mitleid vielleicht oder eine Art von Trauer, die<br />
nach Vergebung drängt, und die dann doch nur lächeln, damit sie<br />
den eigenen Glauben nicht verlieren noch resignieren brauchen. Ja,<br />
lächeln Sie, spottete ich, lächeln Sie; aber vergessen Sie über<br />
Ihrem Lächeln die Wahrheit, die Sie behüten, nicht! Oh, die will<br />
ich wohl erachten, rief der Direktor amüsiert, und auch meine<br />
Treue halten. - - Der Direktor war gegangen, und ich stand jetzt<br />
vor dem vergitterten Fenster und suchte die Sonne zu sehen, die<br />
mich verraten hatte. Doch über das Firmament zogen Gewitterwolken<br />
wie Schauspieler zur Generalprobe, und hinter dem Reigen, den sie<br />
veranstalteten und den gewiß die Sonne ihnen anbefohlen hatte,<br />
konnte ich ebendiese Sonne erkennen für jene kurze Dauer, welche<br />
die Erinnerung braucht, um wieder abzutauchen in das Pandämonium<br />
längst vergessener Glückseligkeit. Die Sonne lächelte, geradeso<br />
wie vielleicht Claudius gelächelt hatte, als er das Gift in seines<br />
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Bruders Ohr träufelte. Jetzt lachst du noch..., flüsterte ich.<br />
(Mir war nicht wohl, zumal sich ja oft eine Übelkeit zur<br />
Resignation beigesellt und einen den Entschluß, den man<br />
auszusprechen nicht wagt, ohne Vorbehalt anzunehmen heißt.) Ein<br />
Knecht bist du, fuhr ich leise fort, der zerschunden ist vom Joch<br />
der falschen Vorstellungen; dein Rücken ist gebeugt und in deinem<br />
immer neuen Antlitz spiegelt sich eine alte Verheißung wider...<br />
- - Ich dachte zum dritten Mal an das Warschauer Ghetto und an die<br />
Kinder dort, welche die Sonne zwischen den Gassen oder über den<br />
Mauern haben aufsteigen sehen, dieweil der Gestank der Toten den<br />
eigenen Moder verbergen half, und die vielleicht gedacht hatten,<br />
daß es den Moment geben wird, zu welchem der Hunger eine bloße<br />
Erinnerung sein würde. - - Ich selbst, begann ich sofort als ich<br />
den Direktor eintreten sah, war ein Mondläufer gewesen-- Sie sind<br />
ein Mondläufer, unterbrach mich der Direktor, Sie sind das noch<br />
immer! Aber nein, Herr Direktor, rief ich erregt, ich war ein<br />
Mondläufer, verstehen Sie? Nun, ich weiß das, flüsterte der<br />
Direktor, ich weiß es. Und dennoch haben mich die Sternenrichter<br />
gefaßt! Sie dürfen jetzt nicht aufgeben, lieber Freund, sagte der<br />
Direktor, jetzt nur nicht aufgeben! Aber oh, lächelte ich,<br />
vielleicht hat man uns bereits vor zweitausendvierhundert Jahren<br />
aufgegeben... So sollen Sie aber nicht reden, mein lieber Freund,<br />
sagte der Direktor ängstlich, ich meine, Sie sollen nicht<br />
resignieren, nicht auch die Mondläufer sollen jetzt resignieren!<br />
Der Untergrund ist zerschlagen worden, Herr Direktor, hub ich an,<br />
und die Sternenrichter machen keine halben Sachen! Aber, begann<br />
der Direktor, aber es ist doch-- Nein, rief ich wütend dazwischen,<br />
nein; die Organisation ist zerschlagen, sie existiert nicht<br />
mehr!!! - - Der Direktor schwieg, und sein Schweigen war wie das<br />
plötzlich beginnende Sperrfeuer der feindlichen Artillerie, das<br />
die eigenen Empfindungen im Dröhnen der niederstürzenden Granaten<br />
unhörbar macht, sodaß nur mehr eine Ahnung übrigbleibt von dem,<br />
was man zu tun geplant hatte. Doch diese Ahnung, der man<br />
vielleicht unter anderen Umständen oder an anderen Orten nachgeben<br />
würde, verliert zum Ende der Schlacht ihre ganze Bedeutung, und<br />
der Mut, den man verloren hatte über dieser Ahnung, wird zum<br />
Wahnbild der Resignation, der das Spiel gefällt. - - Warum tun Sie<br />
das, frug ich endlich den Direktor, dieweil wir rauchten und Tee<br />
tranken, zu welchem uns der dritte Wachmann einiges Gebäck<br />
servierte, warum kommen Sie hierher und schmeicheln mir, obgleich<br />
Sie das Urteil, das die Sterneninquisition fällen wird, kennen und<br />
gebunden sind an deren Spruch und Ihren Schwur. Der Direktor<br />
schaute nach dem Wachmann, und mich bedünkte mit einemmal, daß<br />
jene Verlegenheit, die ihm anzumerken war, genauso im VMPRG<br />
festgeschrieben ist wie das Verbot, in die Sternennavigationspläne<br />
Einsicht zu nehmen, oder die vorschriftsmäßige Vergitterung der<br />
Fenster. Also, warum tun Sie das, rief ich nochmals und merkte zu<br />
spät, daß meine Stimme exaltierte. Wir wollen, daß Sie Gefallen<br />
finden an dem Spiel, antwortete der Direktor ohne Zögern. Aber wie<br />
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kann ich das, rief ich sofort und war sogar von meinem Platz<br />
aufgesprungen, wie soll ich Gefallen finden an einem solchen<br />
Spiel! Sie können das, lächelte der Direktor und nahm ein Stück<br />
von jenem Gebäck, da gehört nicht viel dazu. Ja, für dieses Spiel,<br />
versuchte ich mich zu erklären, braucht es nur die Resignation,<br />
und dann gefällt es mit einemmal. Aber ich will das nicht,<br />
flüsterte ich in das Ohr des Direktors und legte meine Hand auf<br />
dessen Schulter, ich will das nicht, verstehen Sie!? Bitte setzen<br />
Sie sich, entgegnete der Direktor ein wenig irritiert. - - Sie<br />
sind ein Mondläufer, hub der Direktor schließlich an, und Sie<br />
wissen, was die Menschen wollen... Aber auch wir wissen das, fuhr<br />
er fort nach einer Pause von vielleicht drei Atemzügen, ich meine,<br />
was die Menschen wollen, das ist eine Art von Schönheit, nämlich<br />
eine Schönheit, welche keiner Erklärung bedarf noch eine<br />
Beschreibung notwendig hat; doch Sie wissen sehr gut, mein lieber<br />
Freund, daß uns diese Schönheit immer vorenthalten worden war, daß<br />
immer irgendwer, ein König, oder eine Regierung, von ebendieser<br />
Schönheit gesprochen hatte geradeso wie man die Utopien<br />
diskutiert. Verstehen Sie, lächelte der Direktor, die Schönheit,<br />
welche die Sterneninquistion ihren Mitspielern gestattet, ist eine<br />
tatsächliche Schönheit, ist eine Schönheit, die nicht wie die<br />
Menschenrechte bloß niedergeschrieben steht. Ich versuchte zu<br />
lächeln, dieweil der Direktor unbeirrbar weitersprach, geradeso<br />
als ob er eine Frist einhalten müsse. Nämlich diese Schönheit,<br />
erklärte er mit Grandezza, von welcher niemand-- Ich glaube nicht<br />
an Ihre Schönheit, rief ich dazwischen, ich glaube das nicht, ich<br />
glaube Ihnen nicht. Das müssen Sie auch nicht! begeisterte sich<br />
der Direktor und schaute zufrieden nach dem Wachmann, der begonnen<br />
hatte, die Gitterstäbe an den Fenstern zu prüfen. Mein lieber<br />
Freund, begann der Direktor sogleich, wir sind keine<br />
Religionsgemeinschaft und wir verlangen-- Ich weiß nicht, wer Sie<br />
sind oder was, unterbrach ich ihn zum zweiten Mal, und ich weiß<br />
auch nicht, warum Sie das tun... Nur das weiß ich, rief ich<br />
zornig, daß die Schönheit, zu welcher Sie raten, eine Art von<br />
Demut verlangt, die ich selbst nicht leiden mag, zumal diese Demut<br />
der Betise ungleich näher liegt als die Resignation! Bitte gehen<br />
Sie, rief ich erregt, lassen Sie mich allein. - - In der Nacht<br />
hatte ich an den Mond gedacht, über welchen ich gelaufen war und<br />
der vielleicht nichts anderes war als die Reflexion einer<br />
allenfalls konstruierten Erinnerung, die man zu erfahren den Mut<br />
nicht hat, weil das endlich bedeutete, eine Sonne, die von den<br />
Sternenrichtern geschaffen wurde, anzuerkennen ganz ohne<br />
Vorbehalt. Aber wie ist zu wählen in den Zeiten, die behütet<br />
werden? Ich wußte keine Antwort mehr. - - In der Nacht kamen die<br />
Wachmänner; sie standen neben dem Alkoven und warteten schweigend,<br />
bis ich erwachte. Haben Sie gut geschlafen, frug mich der dritte<br />
Wachmann auf jene zynische Art, die allein den Henkersknechten zu<br />
eigen ist, und stieß mit seinem Finger wieder und wieder gegen<br />
meine Brust, haben Sie gut geschlafen, haben Sie, sagen Sie´s! Bis<br />
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mich der Gestank von Verrätern geweckt hat..., habe ich soporös<br />
geantwortet und mich auf die Bettkante gesetzt. Nun, dann sollten<br />
wir entsprechend vorsorgen, sagte der erste Wachmann und schlug<br />
gegen meine Nase. Damit wir Sie nicht inkommodieren, ergänzte der<br />
dritte, dieweil er mein Nasenbein zersplittere mit einem einzigen,<br />
gut angesetzten Fausthieb. Es ist zwar besser, stotterte ich, aber<br />
es schmerzt. Das soll es auch, lächelte der zweite Wachmann und<br />
half mir aufzustehen. Was werden Sie mit mir tun, frug ich ihn,<br />
was wird passieren. Fürchtest Du Dich, hörte ich ihn flüstern,<br />
während wir aus dem Zimmer gingen. Ja, sagte ich, denn ich mag den<br />
Tod nicht. Du bist eben ein Mondläufer, sagte der erste Wachmann.<br />
Und die mögen den Tod alle nicht leiden, fuhr der dritte fort.<br />
Aber sie wollen genausowenig unser Spiel, ergänzte der zweite. Ja,<br />
da haben Sie wohl recht, lächelte ich und tastete mit den ersten<br />
beiden Fingern meiner rechten Hand vorsichtig über meine blutige<br />
Nase, denn ich will tatsächlich nichts mehr, ich will über keine<br />
Monde mehr laufen, ich will nicht an Ihrem seltsamen Spiel<br />
teilnehmen, und ich will das alles nicht mehr begründen müssen,<br />
verstehen Sie, meine Herren. Tun Sie, was Sie wollen, antworteten<br />
der erste und der dritte Wachmann, denn uns bekümmerst Du ohnehin<br />
nicht. - - In dieser Nacht geschah es dann, daß ich nicht<br />
aufgewacht war, als ich aufwachte, denn ich war ja nicht<br />
eingeschlafen, als ich schlief; auch war ich nicht gefallen, als<br />
ich stürzte, wiewohl ich fiel, als ich gestürzt war. So war ich<br />
nicht ganz geworden, als ich einen Teil gewann, denn ich war schon<br />
nichts, als ich ganz gewesen bin.<br />
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Also habe ich es getan! Ich habe sie geküßt ohne jede Demut, habe<br />
sie berührt wie mit Schwertern! Ich habe sie gefickt ohne jede<br />
Dankbarkeit, habe sie gekostet wie zum Richterspruch!<br />
zauderts<br />
über den totengesang hinaus,<br />
der mirs erschließen will:<br />
das geschändete, das spiel<br />
zauderts<br />
daß ichs hören kann, wissen,<br />
wer dies element hat spalten<br />
sollen<br />
o steiget auf<br />
ihr geschändeten, steiget<br />
ohne zaudern ins himmlische<br />
o steiget auf<br />
so ichs enden will, steiget<br />
Es schmerzt, sogar in jenen Momenten, zu welchen ich lache, tut es<br />
das, irgendwo in der Brust, von der man sagt, daß man die Seele<br />
spüren könne in ihr, irgendwo dort, an irgendeiner Stelle tut es<br />
weh, wenn ich glücklich bin, wenn ich im Hamlet lese, wenn ich<br />
spreche über allenfalls große und großartige Themen, oder wenn ich<br />
schweige. Vielleicht hat es dort schon immer weh getan, ich<br />
erinnere mich nicht; aber vielleicht muß es dort auch einfach nur<br />
weh tun, damit ich nicht vergesse, daß ich lebe, damit ich zu<br />
atmen nicht vergesse, zu schlafen, zu essen oder zu trinken, damit<br />
ich mich nicht hinabstürze oder erdrossele nur deshalb, weil ich<br />
vergessen habe, daß ich lebe. Ist es das, warum es schmerzt? Ich<br />
weiß es nicht, ich weiß nur, daß es weh tut und daß ich lebe,<br />
solange es weh tut, geradeso wie ein Soldat, der verwundet<br />
zwischen den Frontlinien liegt, vielleicht bis zum Morgen, an dem<br />
er dann verblutet ist, oder bis in den Vormittag hinein, an dem<br />
die feindliche Artillerie ihr Trommelfeuer ein zweites Mal<br />
eröffnet, um ihn zu zerreißen, aufdaß er ganz gewiß nicht mehr<br />
spüre in der Brust, daß er lebt.<br />
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der kuß der<br />
wenn immer mir gesehen dein, wenn nicht vergessen dir berührten dich, oder<br />
dein mit lächelten dir; wenn erinnern uns liebgekosten uns – dann<br />
will dich schmecken mir, mich neu schaffenen dich, dann will mir<br />
für immer küssen dir<br />
von zweien und anderen<br />
was ich weiß, ist,<br />
daß du: bist,<br />
und daß wir niemals<br />
aufhören sollten zu<br />
sein, bloß deshalb<br />
weil ich mich<br />
verloren hab.<br />
Was bleibt, sind nur Momente, wo man lacht oder tanzt, Momente, zu<br />
denen man ganz vergessen hat, daß die Menschen sterben - und daß<br />
man selbst ein Mensch ist. Aber anders als durch den Tod kann ich<br />
dem Tod nicht begegnen, denn indem ich sterbe, besiege ich mich<br />
selbst, besiege ich alles, was ich fühle oder denke über den Tod,<br />
und indem ich mich besiege, triumphiere ich letztendlich über<br />
einen Tod, der unbezwingbar ist. - - Wie könnt Ihr das tun, wie<br />
könnt Ihr lachen, obgleich Ihr von den Friedhöfen zwischen den<br />
Gassen wißt oder den Siechen beim Sterben zuseht und vielleicht<br />
sogar deren Hand haltet, wie könnt Ihr das!? - - Der Tod ist die<br />
einzige Tatsache, die wir kennen, er ist die einzige Erkenntnis,<br />
die wir besitzen. Und Gott schweigt, er schweigt, weil er niemals<br />
existiert hat, denn der Tod zeigt uns, daß Gott nicht existiert.<br />
- - Sterbt! Stirb! Indem ich sterbe, löse ich ein Rätsel, das<br />
keines ist, ich zerschlage den Gordischen Knoten, der keiner ist,<br />
ein zweites Mal; indem ich sterbe, besiege ich den Tod, ich<br />
triumphiere über ihn, ohne ihn aufgehalten zu haben. Aber o, das<br />
ist ein Sieg, den man nicht schmecken kann, weil es nämlich bloß<br />
die Antwort ist auf eine Frage, die niemand stellt. - - In einer<br />
unerträglich gewordenen Welt ist jedenfalls nur mehr die<br />
Häßlichkeit des Sterbens selbst noch zu erdulden. Was sich anders<br />
nicht besiegen läßt, wird auf diese Weise dennoch zernichtet, und<br />
im Glanz deiner Augen, die erlöschen, leuchtet dann das Licht der<br />
Erlösung für den Moment des letzten Atemzugs!<br />
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doch mir sehnt dich, mich träumenden uns, mir<br />
auflösenden, erloschenen mich<br />
Kondolenzschreiben:<br />
Als ich jung war, dachte ich, daß ich mit jedem Jahr, das ich<br />
älter werden würde, den Tod besser werde verstehen lernen. Aber<br />
als ich dann älter wurde mit jedem Jahr, habe ich erkannt, daß es<br />
kein Alter gibt, wo man dem Tod vielleicht mit Gleichgültigkeit<br />
begegnen kann. Am Ende haben wir nur unsere Erinnerungen, die<br />
guten genauso wie die schlechten, und indem wir uns erinnern,<br />
lernen wir, wenn schon nicht den Tod zu verstehen, so wenigstens<br />
neben ihm zu leben.<br />
Jetzt besaßen wir also nur noch unsere Erinnerungen. Aber manchmal<br />
weiß man dann nicht einmal mehr, was man damit tun soll, ob man<br />
diese Erinnerungen nämlich für sich behalten oder sie zur Gänze<br />
zerstören müßte, um zumindest irgendwie weiterleben zu können.<br />
Denn darum geht es ja, es geht zu jedem Augenblick, den man atmet,<br />
um das Weiterleben, es geht immer um das Überleben!<br />
Und bisweilen passiert es dann, daß jene Erinnerungen, die man<br />
behalten hatte einer falschen Hoffnung wegen, oder vielleicht auch<br />
nur aus Gewohnheit, obgleich man sie eigentlich auszulöschen<br />
bemüht war, den Schmerz, welchen man empfindet, nicht zu lindern<br />
vermögen, im Gegenteil, es ist während dieser Momente, wo man sich<br />
erinnert, tatsächlich vielmehr so, als würde der Schmerz losgelöst<br />
von den gemachten Erinnerungen zu betrachten sein, es ist<br />
geradeso, als würde er existieren ohne daß davor etwas<br />
Schmerzhaftes geschehen wäre. Letztendlich bedeutet das natürlich<br />
nichts anderes, als Ursache und Wirkung umgekehrt oder überhaupt<br />
außer Kraft gesetzt zu haben...<br />
Nun hatte es sich aber auf ebendiese Weise ereignet bei mir, und<br />
ich weiß Ihnen nicht zu sagen, ob ich nicht besser daran getan<br />
hätte, den Schmerz, welchen ich empfand, zu behandeln, indem ich<br />
mich einfach erinnerte; schließlich hört man ja doch immer wieder<br />
sagen, daß es hilfreich wäre, sich zu erinnern, und daß man sich<br />
nicht wehren solle dagegen, weil es sonst nur umso mehr schmerze<br />
und vielleicht sogar die Wunde, die man trägt, niemals abheilen<br />
werde. Doch manchmal sind es wirklich nur die Erinnerungen, welche<br />
einen zu zerstören beginnen, und da weiß man dann sehr gut, daß<br />
man sich zu erinnern aufhören muß, um weiterleben und irgendwie<br />
überleben zu können.<br />
Und an jenem Morgen, der dann irgendwann einmal passiert und dich<br />
zum Ende der Erinnerungen ruft, widersteht man auch nicht mehr,<br />
sondern hört auf, sich zu erinnern an den erlittenen Verlust oder<br />
an das Schöne, das man geschaffen und geteilt hatte mit jemand<br />
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anderem, um schließlich nur noch den eigenen Schmerz wahrzunehmen,<br />
zumal wenn es sich um einen handelt wie mich. Verstehen Sie? Es<br />
scheint, als wäre ich einer, der von allem, was passiert, immer<br />
das Verkehrte zurückbehält...<br />
Wir hielten uns nah umschlungen und atmeten den Odem des jeweils<br />
anderen. Es war ein Moment, wie er ansonsten nur passieren mag im<br />
Augenblick des Todes, wo man vielleicht die Fingerspitzen Gottes<br />
nach den eigenen Schultern tasten fühlt und sogleich Gewißheit<br />
darüber gewinnt, daß man selbst errettet ist.<br />
Sie begann ein wenig zu zittern, geradeso wie ich selbst, als ich<br />
ihren Kopf zwischen meine Hände nahm und sie zu küssen anhub. Und<br />
o, sie hatte eine weiche, makellose Haut um ihre Wangen gespannt,<br />
die so unvergleichlich schmeckte, daß ich schließlich nicht mehr<br />
anders konnte, als meinen Mund auf den ihren zu drücken, zumal<br />
auch ich selbst bereits das Blut in meinem Geschlechte pulsieren<br />
fühlte. Ihre Zunge war warm und wunderbar feucht, sie glitt wie<br />
geschmeidiges straffes Band von Gummi zwischen unseren<br />
Mundöffnungen hin und her, verbarg sich einmal, um gleich darauf<br />
erneut hervorzustoßen, versteckte sich ein weiteres Mal, um ebenso<br />
plötzlich wieder aufzutauchen mit kreisenden oder schnalzenden<br />
Bewegungen; auch ich tat es zu diesen Momenten nicht anders als<br />
sie und forschte mit meiner Zunge in ihrer köstlichen Mundhöhle<br />
wie ein Somnambule nach irgendwelchen Gegenständen, hielt dort<br />
inne für den Moment ihres Lidschlags, um gleich darauf wieder<br />
zurückzuweichen vor ihrer eigenen Zunge, die abermals in mich<br />
einzudringen sich ereiferte. Dann aber ließen wir die Spitzen<br />
unserer Zungen wie Balletteleven zur ersten Unterrichtsstunde um<br />
die jeweils andere drehen, wurden Ringkämpfer, die sich zu<br />
umschlingen versuchten, genauso wie Baggermaschinen, welche sich<br />
von der Straße zu schieben mühen, und während wir all dies taten,<br />
legte ich schließlich meine rechte Hand zwischen ihre Beine und<br />
begann ihre weiche Scham zu streicheln, dieweil sie selbst nun<br />
ihrerseits beide Hände um meinen Kopf legte, aufdaß sie uns stütze<br />
und, wie es nämlich zuweilen passiert im verzückenden Spiel der<br />
Liebenden, solcherart vor dem Umfallen bewahre. Nun aber öffnete<br />
ich, dringend und drängend gewiß in beiden Seelen, den Bund ihres<br />
Beinkleides und legte meine hohle Hand auf ihr weiches, schon<br />
feuchtes Geschlechtsteil, welches ich sanft zu drücken begann,<br />
zumal ich merkte, wie auch das ihre Blut bereits dergestalt<br />
wallte, daß Erlösung rechtzeitig nur mehr geschehen könne durch<br />
ebendiese Hand. Sogleich öffnete ich ihre Schamlippen, schob den<br />
Mittelfinger in ihr Löchlein, welches mich so eng und wundervoll<br />
bedünkte, daß ich darob beinahe meinen Samen verlor, und begann<br />
unser gemeinsames Werk, indem ich meinen Finger dort in vielerlei<br />
Weise dirigierte, dieweil sie selbst ihren Unterleib in<br />
arrhythmischen Zuckungen gegen meine Hand und den sie<br />
karessierenden Finger drückte. Die Bewegungen ihrer Zunge jedoch<br />
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wurden rasch langsamer, hörten von jetzt auf gleich überhaupt auf<br />
und geboten mir solcherart, ihren ganzen Mund mit ruheloser<br />
wenngleich ideenreicher Zunge zu schmecken, aufdaß sie selbst sich<br />
überantworten könne jenem wunderbaren Rauschgefühle, welches zu<br />
einem solchen Moment wirken mag wie das Herz Gottes, das sich in<br />
sich selber weiß. So tat sie denn, als ich den Zeigefinger meiner<br />
Rechten in ihr heftig saugendes, zitterndes Löchlein zu führen<br />
begann, einen leisen schluckenden Aufschrei, an welchem ich,<br />
genauso wie an ihren Händen, die mich nicht mehr loszulassen<br />
schienen, erkannte, daß die Erlösung nunmehr geschehen war. Und o,<br />
wie schön sie anzublicken und zu fühlen war in jenem Augenblick!<br />
Da spürte ich mit einemmal, wie meine Finger aus ihrem noch immer<br />
aufgeregt pochenden Löchlein glitten, weil sie selbst sich<br />
niederkniete vor mir; denn auch mich verlangte es von Anfang<br />
nahezu unbändig nach jener Art von Trunkenheit, die allen<br />
Liebenden am ersten Tag zu eigen ist und die sich auch für uns<br />
beide bereits im Moment erfüllen mußte, um erst danach in wonniger<br />
endloser Zusammengehörigkeit immer wieder neu zu wachsen. Mit<br />
raschen Griffen faßte sie also nach meinem erigierten<br />
Geschlechtsteil, aus welchem klare Tropfen reinigender Flüssigkeit<br />
getreten waren, preßte ihre Lippen um meine Glans und begann mit<br />
den ersten drei Fingern ihrer Linken mein Häutchen zu bewegen,<br />
dieweil ihr Mund allerlei saugende, pressende oder lutschende<br />
Kunststücke solcherart geschickt vollführte, daß nun auch ich dem<br />
eigenen Rausche verfiel immer mehr. Sie stieß mit ihren Zähnen<br />
immer wieder vorsichtig gegen die Öffnung meiner Eichel, tat dann<br />
wiederum so, als würde sie sich in deren Spitze festbeißen wollen,<br />
wiewohl ihre Zähne nicht anders zugriffen als die einer Löwin,<br />
welche ihr Junges davonträgt, oder schmiegte ihre Zunge in<br />
drückenden begierigen leckenden Bewegungen darum, während die<br />
Bewegungen jener Hand, mit welcher sie mein Präputium schob,<br />
zunehmend fester wurden, sodaß ich mich plötzlich nicht mehr hatte<br />
einhalten können und meinen nunmehr heißen Samen in zwei starken<br />
feisten Strahlen entließ, dieweil sie selbst mein Geschlechtsteil<br />
mit ihrem Mund zu liebkosen nicht aufhörte. Für den Moment eines<br />
Atemzugs ließ ich das noch geschehen mit mir, um mich gleich<br />
darauf zu lösen aus ihr; ich kniete nun meinerseits nieder vor<br />
ihr, half ihr beim Ausspeien jener Flüssigkeit, indem ich ihr mein<br />
Taschentuch reichte und sie stützte, drückte meinen zitternden<br />
Körper an den ihren und begann sie sogleich zu küssen, aufdaß sie<br />
den gewiß haften gebliebenen, üblen, allenfalls salzigen Geschmack<br />
zu tauschen vermöchte gegen jenes süßliche Aroma, das stets sich<br />
aufs neue mischt und erfindet, sobald sich zwei Liebende dem Kuße<br />
hingeben. ...<br />
ich liebe den menschen, ich respektiere ihn, ich habe das immer<br />
getan, auch wenn ich weiß, daß das jenen, die mich gekannt haben,<br />
wie ich vor zehn jahren war, schwer fällt. aber ich habe den<br />
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menschen immer geliebt, ich habe immer an ihn geglaubt – bloß<br />
damals hatte ich keine mittel, um das auszudrücken; heute habe ich<br />
wenigstens meine sprache, um das zu tun.<br />
Frühmorgens gegen Halbzwölf wachte ich auf in einem fremden<br />
Zimmer. Dort, in einem nicht unbequemen aber jedennoch fremden<br />
Bette, wachte ich also auf, mit einer Erektion wie einst, als ich<br />
ein sechszehnjähriger Jüngling gewesen war, welche bekannterweise<br />
nimmermüde Liebhaber sind (wofern sie denn nicht besoffen oder<br />
Kastraten am Hofe des äthiopischen Kaisers oder überhaupt vom<br />
hemmungslosen Onanieren kraftlos gewordene Memmen sind).<br />
Jedenfalls hatte ich, sogleich als ich erwachte, dieses sagenhafte<br />
große feste Ding aus meiner Körpermitte ragen gespürt geradeso wie<br />
den Obelisken auf dem Place de la Concorde, vor dem ich gestern<br />
zum ersten Mal leibhaftig gestanden war. Voilà! Ich war also –<br />
jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen - in Paris. Nun ist<br />
die Tatsache, daß ich in Paris in einem fremdem Bett aufwachte, an<br />
sich noch keine erwähnenswerte Besonderheit, denn ich reise<br />
insgesamt sehr viel und leide des öfteren am Morgen an einer<br />
gewissen Art der - kurzzeitigen - Amnesie, sodaß ich bisweilen in<br />
den ersten Momenten nach dem Erwachen nicht zu sagen weiß, wo ich<br />
mich eigentlich befinde. Ganz selten dauern diese Zustände auch<br />
ein wenig länger an, wie zum Beispiel vor drei Monaten: Ich hatte<br />
mich in Berlin aufgehalten, wachte eines Morgens auf wie immer -<br />
und wußte dann drei Tage lang nicht, daß ich ihn Berlin war,<br />
obgleich ich bereits seit zwei Wochen dort logierte und in globo<br />
einen durchaus ungestörten Schlaf habe. Ich überlegte damals<br />
ernsthaft einen Anruf bei Professor M. in Wien, mit welchem ich<br />
regelmäßig im Café P. Backgammon spiele, entschloß mich dann aber<br />
kurzerhand, mit Doktor R. aus Madrid zu telephonieren, zumal<br />
Professor M. seinen letzten triumphalen Sieg über mich (11:1) auf<br />
widerliche Art auszukosten wußte, indem er mir zweimal "Revanche<br />
bei Gelegenheit" anbot. - - Normalerweise dauern solche Zustände<br />
bei mir jedoch niemals länger als einige Minuten, und darum hätte<br />
ich mich damals eigentlich um meinen Zustand genausowenig sorgen<br />
brauchen... Doch ich schweife ab! Ich war also keineswegs erstaunt<br />
darüber, in Paris zu sein, vielmehr erstaunte mich diese Erektion<br />
– wahrlich, ich wußte bislang nicht, daß ich über Schwellkörper<br />
verfügte vom Fassungsvermögen einer U-Boot-Tauchzelle! Manchmal<br />
passiert eine solche Reaktion des Blutes zwar nur deshalb, weil<br />
man drei Wochen oder länger nicht hat austreten können; doch ich<br />
kann Ihnen versichern, daß ich selbst mit solchen Schwierigkeiten<br />
in meinem ganzen Leben nicht zu schaffen hatte! Die Erektion, die<br />
ich hatte, mußte demnach das Ergebnis edelster Wollust gewesen<br />
sein. Bloß, was war passiert? Ich besaß keine Erinnerung an die<br />
vergangene Nacht, noch verspürte ich irgendeine Art von sexueller<br />
Begierde, nicht einmal Befriedigung empfand ich. Statt dessen<br />
fühlte ich mich – ganz normal; obwohl ich, wie bereits notiert,<br />
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diese prächtige Erektion hatte. Ich glaube, genau so mußte sich<br />
Hamlet gefühlt haben, als er Rosenkranz und Güldenstern gegenüber<br />
erwähnte, keine Lust am Manne und keine am Weibe zu haben,<br />
wenngleich Shakespeare nichts über eine etwaige Erektion Hamlets<br />
berichtet. ...<br />
Komm, du, komm her, an meine Seite komm, damit ich in die Augen<br />
dir sehe! Was sind das für Augen? Fürwahr seltsame Augen sind das,<br />
die du hast, ich wußte nicht, daß sie braun sind... Denn<br />
eigentlich dachte ich, daß sie glanzlos sein würden, damit man<br />
dich sogleich erkennt - an deinen Augen. Wie anders sollte man<br />
dich auch erkennen? Gewiß, man fühlt es, man ahnt, ob du es<br />
wirklich bist oder nur eine Täuschung, aber doch gibt unsereins<br />
dem Gefühl auch stets eine Gestalt. Anders würden wir dir ja nicht<br />
nachfolgen! Aber indem wir dir ein Gesicht aufschminken, deinen<br />
Augen Farbe verleihen und deinen Lippen, indem wir dir Arme und<br />
Beine, eine ganze Gestalt, geben, wissen wir, wer du bist. Und<br />
wenn du uns dann solcherart begegnest, mit Gesicht und Gestalt,<br />
lernen wir unsere Furcht zu bezwingen, zumindest glaube ich das.<br />
als die soldaten kamen<br />
und die frauen vergewaltigten<br />
im beisein der kinder und<br />
neben den toten männern,<br />
und wir flüchteten,<br />
lernte ich,<br />
den lauf zu reinigen, den<br />
ladebolzen auszubauen und<br />
den abzug zu prüfen,<br />
lernte ich, aufzumunitionieren<br />
und mein ziel zu erspähen,<br />
lernte ich, abzudrücken...<br />
Ich werde den Tod nicht aufhalten können, nicht seinen, nicht den<br />
eigenen, nicht irgendeinen. Aber wie soll ich dann reagieren auf<br />
den Tod, was soll ich fühlen, wenn der Vater stirbt, die Mutter,<br />
das Geschwisterchen oder sonst einer? Aber o, ich wünschte, ich<br />
wäre ein Tier, ein Wolf vielleicht, der sich um den Tod nicht<br />
kümmern braucht, weil er ihn zwischen seinen Zähnen trägt, oder<br />
ein Feldhase, der den Tod nicht kennt, bis zu jenem Moment, wo er<br />
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ihn ereilt in der Gestalt von Adlerfängen zum Beispiel oder durch<br />
das Eisen einer Falle. Ich wünschte, ich wäre solcherart unbesorgt<br />
oder rücksichtslos, auf jeden Fall aber teilnahmslos!<br />
Jener Art von Bedeutungslosigkeit, die der Tod mir aufzwingt, kann<br />
ich nicht mehr anders begegnen als mit Resignation.<br />
Das Für und Wider des Sein ist abhängig von den Umständen, unter<br />
welchen man existiert. In einem unglücklichen Leben lassen sich<br />
leichter Gründe gegen das Leben finden als in einem glücklichen.<br />
Materielles Unglück ist demnach ungleich schwerer zu ertragen als<br />
bloßes seelisches Leid. Denn in einer Hütte, durch deren Dach es<br />
regnet und deren Tür nicht mehr schließt, werde ich nicht an meine<br />
Seele, die mich schmerzt, denken, sondern daran, Dach und Tür zu<br />
reparieren. Aber weil ich arm bin, werde ich nichts dagegen tun<br />
können, ich werde keinen Handwerker engagieren noch irgendwie<br />
behelfsmäßig selbst die Lücken im Dach und die Ritzen in der Tür<br />
flicken können. Daß meine Seele ob dieser Umstände nicht heilen<br />
wird, ist gleichfalls unbestritten. Vielmehr ist es dann nur noch<br />
eine Frage der Zeit, woran ich sterbe – ob an einer Pneumonie,<br />
weil meine Hütte baufällig ist, oder an zerbrochenem Herzen, weil<br />
mir nicht geholfen wird und weil ich mir auch selber nicht helfen<br />
kann. Aber im Gegensatz zur Seele, die nicht so schnell kaputt zu<br />
bekommen ist, wird ein Stück Bauholz, das morsch ist, oder eine<br />
Mauer, die brüchig ist, um etliche Jahre früher zerfallen als eine<br />
Seele.<br />
Wenn im August oder im Juli, und oftmals sogar schon im Juni oder<br />
noch in den ersten Tagen des September, auf den Straßen und<br />
Gassen, welche sich durch die Häuserzeilen schneiden wie Adern,<br />
die ihren Weg um totes Fleisch und Knochen schürfen, die Schatten<br />
von ebendiesen Häusern liegen, gleichsam wie Schnee, der an einem<br />
Oktobermittag zum ersten Mal auf die Landschaft fällt und dort<br />
bereits im Moment eines Lidschlags die letzte Erinnerung an den<br />
Duft des Herbstes aus dem Erdboden gesaugt hat, dieweil man in den<br />
Supermarkt oder zum Bäcker muß oder sonst irgendeine Verpflichtung<br />
wahrzunehmen hat, beginnen die Schatten wie isländische Prinzen zu<br />
tanzen. Doch diese Prinzen werden den königlichen Hof, der sie<br />
erzieht und ihnen Nahrung gibt, niemals verlassen, um vielleicht<br />
das eigene elterliche jahrhundertealte Reich zu übernehmen und<br />
auszubauen oder überhaupt neue Welten zu erobern. Sie werden<br />
Prinzen bleiben, niemals aber wird sie einer zum Herrscher krönen,<br />
weil die Sonne, der seit jeher gehuldigt wird, obgleich sie es<br />
nicht verdient, das nicht zulassen wird. Diese Sonne nämlich, die<br />
wir so sehr verehren, und die doch in Wirklichkeit nichts anderes<br />
ist als eine Hure, die in der Art mittelalterlicher Folterknechte<br />
mit ihrem Brenneisen jedem das Mal ihrer Bedingungslosigkeit auf<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
die Stirnseite zeichnet, wird an jenem Tag, wo es gilt, über uns<br />
zu urteilen, schweigen. Denn für anderes sind sie nun doch zu<br />
schwach, diese Prinzen, die bloße Schatten sind.<br />
r e s i g n a t i o n<br />
e s i m e a n o n h a<br />
i e s c s d s r c<br />
c b g i h i h<br />
h l e c c f<br />
t o r h n h l d<br />
ß m t e t ü i<br />
e i u e s r<br />
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© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11<br />
bin größer als<br />
mozart, aber<br />
kleiner wie beethoven...<br />
nichts großes bin ich so<br />
Weder ist die Liebe rein gedanklich, noch ist die Natur stärker<br />
als jener Teil der Liebe, zu welchem niemand sonst Zugang hat als<br />
wir Menschen selbst!<br />
seltsam sind die bewegungen der planeten, wo<br />
wir tanzen wie zum jüngsten tag, frei im denken von gestirnen<br />
und doch ganz der sonne unterworfen<br />
In einer Welt, wo Gott nicht existiert, ist der Tod überhaupt<br />
keine Art von Erlösung. Vielleicht ist dann sogar schon das Leid,<br />
welches passiert, erträglicher als die bloße Vorstellung, daß man<br />
sterben wird ohne den Beistand Gottes.<br />
es ist nicht leben, ist es liebe nur, und es ist nicht liebe, ist<br />
es leben bloß!<br />
kaliber 357: stahl, in form gegossen, der würde gibt dem<br />
geknechteten und erlösung dem unfreien<br />
UND WEIL ICH NICHTS WEIß DAVON, WER ICH BIN, UND AUCH DAS NUR<br />
SAGEN KANN, WAS MIR GEBÜHRT, WIRD MIR SELBST NIEMALS DAS GEHÖREN,<br />
WAS LÄNGER DAUERT ALS EINEN AUGENBLICK!!!<br />
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