Reifezeit - Residenz am Schärme
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6 Durch Lernen verändern wir also unser Hirn?<br />
Ja, so könnte man das sagen. Die Evolution, die Natur, hat<br />
uns ein Gehirn gegeben, um zu lernen. Das ist unser Auftrag,<br />
wenn nicht gar unser Schicksal. Wir sind Lernmaschinen<br />
– unser ganzes Leben lang. Es gibt keinen Beleg dafür,<br />
dass dieses Lernen und die Potenz des Lernens irgendwann<br />
einfach so aufhört, dass z.B. Alter zwangsläufig mit<br />
schlechten Lernleistungen einhergeht. „Use it, or loose it“<br />
heisst die Devise, d<strong>am</strong>it wir Teile unseres Gehirns nicht verlieren.<br />
„Wenn wir nicht lernen,<br />
wird das Hirn abgebaut.“<br />
Übung macht den Meister?<br />
Genau. Eine wichtige Erkenntnisquelle waren Untersuchungen<br />
bei Musikerinnen und Musikern. Sie haben aufgezeigt,<br />
dass ihr Können linear von der Trainingsdauer abhängig<br />
ist. Je mehr sie trainierten, desto stärker waren auch<br />
die anatomischen Veränderungen im Hirn. Jedes genutzte,<br />
also trainierte Hirngebiet hat sich anatomisch vergrössert,<br />
die Dichte der grauen Substanz hat zugenommen. Ich<br />
denke, dass auch berühmte Musiker, wie zum Beispiel<br />
Beethoven, nicht einfach so ein besonderes Gehirn hatten,<br />
eine besondere Begabung. Viel mehr ist ihr Erfolg darauf<br />
zurück zu führen, dass sie früh mit dem Training begonnen<br />
haben und viele Jahre, nicht selten mehrere Stunden täglich,<br />
geübt haben.<br />
Was passiert, wenn wir mit dem Trainieren aufhören?<br />
Macht man Pause, verringert sich die Dichte der grauen<br />
Substanz im Hirn wieder. Wenn wir nicht lernen, wird das<br />
Hirn abgebaut. Da ist es doch bedenklich, dass nach Statistik<br />
der tägliche Zeitaufwand für Bildung und Lernen ab einem<br />
Alter von 25 Jahren rapid abnimmt. Bei den 25- bis 45-<br />
Jährigen sind es 20 Minuten täglich, bei bis 65-Jährigen nur<br />
noch 7 Minuten und danach sogar bloss 2 Minuten. Je mehr<br />
wir lernen, desto besser können wir Informationen verar-<br />
„Ein automatisiertes<br />
Vor-sich-hin-leben“ ist ungesund.“<br />
beiten. Wir bauen im Verlauf des Lebens ein semantisches<br />
Wissen auf, eine Art Weisheitsnetz, das Informationen auffängt.<br />
Je dichter es ist, desto einfacher bleiben neue Informationen<br />
hängen, ist es grosslöchrig, fallen sie hindurch. Je<br />
weiser wir sind, desto besser können wir Informationen in<br />
dieses semantische Netz einfügen. Wie gesagt: „Use it, or<br />
loose it.” Das ist Plastizität pur. Unser Hirn ist formbar in<br />
jeder Hinsicht. Training formt es, aber auch jegliche Erfahrungen<br />
und Einflüsse.<br />
Was wir erleben, formt unser Hirn also auch?<br />
Das ist die andere Seite der Medaille. Je älter wir werden,<br />
desto mehr unangenehme Lebensereignisse akkumulieren<br />
wir. Probleme, Stress, Belastungen oder Krankheiten lösen<br />
Depression und Stress aus. Sie beeinflussen das Gehirn<br />
ebenfalls und bewirken einen negativ bedingten Abbau.<br />
Entscheidend ist, wie wir mit Schicksalsschlägen umgehen,<br />
wie wir sie verarbeiten. Grundsätzlich gilt, je besser die<br />
psychosozialen Variablen ausfallen, also soziale Interaktion,<br />
Lebenszufriedenheit und Wohlgefühl, desto besser<br />
sind die kognitiven Leistungen.<br />
Die Erkenntnis, dass unser Hirn plastisch ist, scheint einiges<br />
in Bewegung zu setzen?<br />
Ja, ein grundsätzliches Umdenken ist gefragt. Wir müssen<br />
uns anders positionieren im Leben, uns mehr mit Lernen<br />
und Bildung auseinandersetzen, auch im vorangeschrittenen<br />
Alter. Das klassische Lebensbild der mitteleuropäischen<br />
Kultur sieht etwa so aus: Wir gehen zur Schule, zur<br />
Uni, machen die Ausbildung, heiraten, haben Kinder und<br />
bauen ein Haus. Mit 40 haben wir den Zenit erreicht. Dann<br />
holen wir das Fernglas heraus und schauen auf die 65-Jahresgrenze.<br />
Die 25 Jahre, die bis dahin verbleiben, heisst es<br />
dann: Halten! Ja nichts ändern! Das was ich jetzt habe, das<br />
will ich halten. Wir schleichen uns zum Ziel. Und wenn wir<br />
das Ziel durchschritten haben mit 65, dann haben wir es geschafft.<br />
Daran muss sich eine ganze Menge ändern.<br />
Was muss sich ändern?<br />
Wir brauchen die mentale Aktivität bis ins Alter. Unsere aktive<br />
Teilnahme <strong>am</strong> sozialen Geschehen, unser Interesse, unsere<br />
Entdeckerfreude und das Lernen von Neuem halten<br />
uns gesund und unser Hirn leistungsfähig. Dazu gehören<br />
auch körperliche Aktivitäten, emotionale Gelassenheit und<br />
eine positive Grundhaltung. Ein automatisiertes „Vor-sichhin-leben“<br />
ist ungesund, es zerstört den Frontalkortex, den<br />
Teil im Hirn, der für die Aufnahme und Verarbeitung von<br />
Neuem zuständig ist. Die Lebenserwartung bei uns liegt<br />
heute bei über 84 Jahren. Und sie scheint zuzunehmen, in<br />
20 bis 30 Jahren könnte sie bei 100 Jahren liegen. Ich frage<br />
mich bereits heute, was die Leute machen, in den 20 Jahren<br />
nach der Pension mit 65. Passivität hat im Alter nichts zu<br />
suchen. Wir müssen bewusste Tätigkeiten durchführen, bis<br />
ans Lebensende, das verhindert den Abbau.<br />
Der Ausstieg aus dem Berufsleben mit 65 ist also nicht<br />
unbedingt zuträglich?<br />
Nein. Das ist ein Thema, das wir endlich ernst nehmen sollten.<br />
Wir müssen unsere alten Leute zurückholen in die Thematik<br />
des Lebens, wo sie den Frontalkortex, das Stirnhirn,<br />
aktiv nutzen, indem sie immer wieder Neues aufnehmen.<br />
Auch vor dem Hintergrund, dass unsere Bevölkerung immer<br />
älter wird, können wir in Zukunft gar nicht mehr zulassen,<br />
dass hoch, mittel, aber auch niedrig qualifizierte Menschen<br />
nicht mehr zum Gemeinwohl beitragen, einfach nicht<br />
mehr teilnehmen. Wir müssen sie bei uns behalten, wir