Zu Paul Celans Gedicht DR¨UBEN aus der Sammlung Der Sand ...
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UNIVERSITÄT ZÜRICH PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT<br />
Deutsches Seminar Dr. Peter Schny<strong>der</strong><br />
<strong>Zu</strong> <strong>Paul</strong> <strong>Celans</strong> <strong>Gedicht</strong> DRÜBEN<br />
<strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Sammlung</strong><br />
<strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen<br />
EIN KOMMENTAR<br />
Arbeit zum Proseminar Lyrik des 20. Jhs. im WS 04/05<br />
von<br />
Timon Georg BOEHM<br />
Adresse: Witikonerstrasse 333, 8053 Zürich<br />
Tel. 043/535 54 65 Email: don timon@orangemail.ch<br />
Zürich, im April 2005
Es sind die Bemühungen dessen, <strong>der</strong>, überflogen von Sternen, die Menschenwerk<br />
sind, <strong>der</strong>, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und<br />
damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht,<br />
wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend. 1<br />
1 [Celan, 2000a], S. 186. Im folgenden werden die zitierten Werke in den Fussnoten mit<br />
dem Namen des Autors und dem Erscheinungsdatum <strong>der</strong> verwendeten Ausgabe angegeben.<br />
1
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Einleitung 3<br />
2 Annäherung 5<br />
2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
2.2 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />
3 Deutungsversuche 11<br />
3.1 Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
3.2 Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
3.3 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
3.4 Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
4 Abschliessende Bemerkungen 15<br />
2
1 Einleitung<br />
Als <strong>Paul</strong> Celan kurz vor Weihnachten 1947 als Flüchtling <strong>aus</strong> Bukarest in<br />
Wien eintraf, führte er nicht viel mehr als einige seiner Manuskripte bei sich.<br />
In Wien angekommen bemühte er sich sogleich um <strong>der</strong>en Publikation. Im<br />
Februar 1948 erschien in <strong>der</strong> Zeitschrift <strong>Der</strong> Plan eine Auswahl von 17 <strong>Gedicht</strong>en<br />
unter dem Titel <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen. Nach einigen fehlgeschlagenen<br />
Versuchen gelang im September 1948, durch Vermittlung des Malerfreundes<br />
Edgar Jené, die Publikation einer grösseren Anzahl von <strong>Gedicht</strong>en<br />
in Buchform: Im kleinen und unbekannten Wiener Verlag A. Sexl erschien <strong>der</strong><br />
Band <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen. <strong>Gedicht</strong>e. Mit 2 Originallithographien von<br />
Edgar Jené. Die Endfassung von diesem ersten Lyrikband <strong>Celans</strong> bestand<br />
<strong>aus</strong> drei Zyklen: An den Toren (17 <strong>Gedicht</strong>e), Mohn und Gedächtnis<br />
(30 <strong>Gedicht</strong>e) sowie <strong>der</strong> Todesfuge. 2 Celan zog den Band allerdings<br />
gleich nach seiner Erscheinung (von Paris <strong>aus</strong>) zurück – <strong>aus</strong> Enttäuschung<br />
und Verärgerung über die vielen sinnentstellenden Druckfehler.<br />
Das Eingangsgedicht zum Zyklus An den Toren, und damit zum gesamten<br />
Band, heisst Drüben. Ich will im folgenden versuchen, dieses <strong>Gedicht</strong><br />
zu deuten, wobei sich <strong>der</strong> Blick oft auch auf die Bezüge zu <strong>Celans</strong> Denken<br />
und Werk, soweit es mir bekannt ist, richtet. (Man muss sich allerdings <strong>der</strong><br />
methodologischen Gefahren dieses Vorgehens bewusst sein: die Subsumtion<br />
des ‘Beson<strong>der</strong>en’ gerade dieses <strong>Gedicht</strong>s unter das ‘Allgemeine’ in <strong>Celans</strong><br />
Dichtung ist noch keine Deutung, bestenfalls ist sie ein Kommentar.)<br />
Gemäss den Angaben von Liska 3 ist das <strong>Gedicht</strong> Drüben 1940 entstanden.<br />
Eine frühe Abschrift findet sich im Manuskript von 1944, 4 wo Drüben<br />
zugleich <strong>der</strong> Titel eines <strong>der</strong> Zyklen ist. Auf die Entstehungsgeschichte soll im<br />
weiteren nicht eingegangen werden. Dieser Verzicht ist einerseits in <strong>der</strong> notwendigen<br />
Beschränkung des Umfangs <strong>der</strong> Untersuchung, an<strong>der</strong>erseits auch im<br />
Fehlen von Dokumentationsmaterial begründet. Abgesehen von <strong>der</strong> kurzen<br />
Interpretation von Liska 5 und verstreuten Hinweisen in <strong>der</strong> Sekundärliteratur<br />
liessen sich keine Kommentare finden, die sich <strong>aus</strong>führlich mit dem <strong>Gedicht</strong><br />
2 Die definitive Auswahl <strong>der</strong> <strong>Gedicht</strong>e und <strong>der</strong>en Einteilung in Zyklen wurde mehrmals<br />
geän<strong>der</strong>t. Erste <strong>Gedicht</strong>e zu <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen entstanden bereits 1940 in<br />
Czernowitz, nur sechs davon in Wien. Schon 1946 (in Bukarest) bestand eine <strong>Sammlung</strong><br />
von <strong>Gedicht</strong>en unter dem Titel ‘<strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen’ [Lohr, 2003a].<br />
3 [Liska, 1993], S. 87.<br />
4 [Lohr, 2003b]<br />
5 [Liska, 1993], S. 87f.<br />
3
Drüben beschäftigt hätten. Die Interpretation von Liska ist in meinen Augen<br />
bei weitem nicht erschöpfend, da sie im wesentlichen nur den Aspekt des<br />
Todes hervorhebt.<br />
Heidegger hat bemerkt, dass je<strong>der</strong> grosse Dichter nur <strong>aus</strong> einem einzigen<br />
<strong>Gedicht</strong> dichte. Für Celan mag dies <strong>der</strong> Holoc<strong>aus</strong>t gewesen sein. Sein<br />
Werk ist die sprachliche Verarbeitung dieses Unsäglichen, Unsagbaren, <strong>der</strong><br />
Versuch dem Grauen dichterisch beizukommen, es metaphorisch zu fassen.<br />
Nach diesem Datum 6 kann es für die Menschen – Überlebende, Nachkommen,<br />
Aussenstehende (gibt es überhaupt Aussenstehende?) keine Unschuld<br />
mehr geben. Diese Überlebensschuld teilte Celan mit vielen Juden, die ihrem<br />
Todesurteil nur durch Glück entgingen. Die Dichtung bekam für ihn den<br />
Sinn, die Erinnerung, das Andenken, das Eingedenk–sein an die Opfer aufrechtzuerhalten.<br />
“Die Toten – sie betteln noch” heisst es im <strong>Gedicht</strong> an den<br />
verehrten Franz von Assisi. 7<br />
Deshalb <strong>der</strong> Titel <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen. Man liest im gleichnamigen<br />
<strong>Gedicht</strong> des Bandes: ‘Schimmelgrün ist das H<strong>aus</strong> des Vergessens.’ Ein<br />
‘enthaupteter Spielmann’ malt ‘im <strong>Sand</strong> deine Braue. Du füllst hier die Urnen<br />
und speisest dein Herz.’ 8 In den Urnen wird die Asche <strong>der</strong> Toten aufbewahrt,<br />
doch ist dieses Totengedenken flüchtig und <strong>der</strong> ständigen Gefahr des Vergessens<br />
<strong>aus</strong>gesetzt. <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> – eine Metamorphose von Asche in <strong>Gedicht</strong>e(?) –<br />
hat keine Form, ist kein Haltbares, kein Aufhaltbares. Er kann nur zerinnen<br />
wie Zeit.<br />
Die in dieser Arbeit erwähnten Zitate sollen weniger als Belege denn als<br />
Hinweise aufgefasst werden. Auch methodologisch ist das Zitieren nicht unproblematisch,<br />
denn es geschieht leicht, “dass ganz falsche Vorstellungen mit<br />
einzelnen Sätzen eines Schriftstellers verbunden werden, wenn man die Sätze<br />
<strong>aus</strong> ihrem ursprünglichen <strong>Zu</strong>sammenhang her<strong>aus</strong>gerissen nun als Belege o<strong>der</strong><br />
Beweisstellen einem an<strong>der</strong>n <strong>Zu</strong>sammenhang einverleibt . . . ” 9<br />
Die bei Suhrkamp abgedruckte Fassung von Drüben – ein Abdruck nach<br />
<strong>Celans</strong> Handexemplar von <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen – lautet: 10<br />
6<strong>Der</strong> Begriff Datum hat für Celan beson<strong>der</strong>e Bedeutung. Siehe dazu seine Meridian<br />
Rede [Celan, 2000a], S. 187-202.<br />
7 [Celan, 2000b], S. 108.<br />
8 [Celan, 2000a], S. 46.<br />
9Schleiermacher, 2. Akademierede (1829). Zitiert <strong>aus</strong>: Peter Szondi, Höl<strong>der</strong>lin-Studien,<br />
Insel Verlag, 1967.<br />
10 [Celan, 2000a], S. 11.<br />
4
DRÜBEN<br />
Erst jenseits <strong>der</strong> Kastanien ist die Welt.<br />
Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen<br />
und irgendwer steht auf dahier . . .<br />
Den will er über die Kastanien tragen:<br />
≫Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!<br />
Erst jenseits <strong>der</strong> Kastanien ist die Welt . . . ≪<br />
Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun,<br />
dann halt ich ihn, dann muss er sich verwehren:<br />
ihm legt mein Ruf sich ums Gelenk!<br />
Den Wind hör ich in vielen Nächten wie<strong>der</strong>kehren:<br />
≫Bei mir flammt Ferne, bei dir ist es eng . . . ≪<br />
Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun.<br />
Doch wenn die Nacht auch heut sich nicht erhellt<br />
und wie<strong>der</strong>kommt <strong>der</strong> Wind im Wolkenwagen:<br />
≫Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!≪<br />
Und will ihn über die Kastanien tragen –<br />
dann halt, dann halt ich ihn nicht hier . . .<br />
Erst jenseits <strong>der</strong> Kastanien ist die Welt.<br />
2 Annäherung<br />
Wir versuchen uns dem <strong>Gedicht</strong> durch einen kurzen diachronischen Überblick<br />
anzunähern (2.1). Paragraph (2.2) setzt sich dann mit sprachlichen und begrifflichen<br />
Aspekten <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>. Die eigentliche Deutung des <strong>Gedicht</strong>es (die<br />
an vielen Stellen den Charakter eines Kommentars hat) erfolgt in Kapitel 3.<br />
2.1 Überblick<br />
“Erst jenseits <strong>der</strong> Kastanien ist die Welt”. Diese sprachliche Schwelle gilt es<br />
zu überschreiten, um in das <strong>Gedicht</strong> einsteigen zu können. Man muss den<br />
Satz gewissermassen wie eine Hürde nehmen und annehmen, um sich auf das<br />
5
Weitere einzulassen. In <strong>der</strong> ersten überlieferten Fassung, dem Manuskript<br />
von 1944, ist <strong>der</strong> erste Vers noch nicht von den folgenden abgesetzt. Celan<br />
hat diese Glie<strong>der</strong>ung also später vorgenommen, vielleicht um dem Vers<br />
stärkeres Gewicht zu verleihen, vielleicht auch um ihn gewissermassen als<br />
Untertitel einzusetzen. 11 ‘Die Kastanien’ markieren die Grenze zu einer an<strong>der</strong>en<br />
Welt, wobei <strong>der</strong> bestimmte Artikel ‘die Welt’ impliziert, dass dieser<br />
Welt ein höherer Wirklichkeitsgrad zukommt als <strong>der</strong>, die wir gemeinhin als<br />
‘unsere’ Welt bezeichnen. ‘Jenseits’ im Gebrauch als Präposition evoziert das<br />
Bild ‘des Jenseits’ als Ort, als Gegenwelt. Es lässt sich daher vermuten, dass<br />
die Welt, von <strong>der</strong> die Rede ist, in einem Verhältnis zu dem Jenseits, zum<br />
Tod steht. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass Kastanienbäume<br />
häufig auf Friedhöfen zu finden sind. Ob diese Lesart schlüssig ist, lässt sich<br />
zu diesem Zeitpunkt noch nicht beantworten. Die Kastanien(bäume) selbst<br />
sind nicht das Jenseits, allenfalls die Pforte dazu, die Tore (An den Toren?).<br />
Das oben angesprochene Verhältnis mag uns paradox erscheinen, insofern<br />
als Bäume oft als Symbole des Lebens wahrgenommen werden; 12 in <strong>Celans</strong><br />
Dichtung aber, wo Leben und Tod ein unheimliches Nebeneinan<strong>der</strong> bilden,<br />
können solche Assoziationen auch unterlaufen werden.<br />
Die Feststellung “Erst jenseits <strong>der</strong> Kastanien ist die Welt” wie<strong>der</strong>holt<br />
sich zweimal: am Ende <strong>der</strong> zweiten Stophe – wo es sich als Zitat des Windes<br />
erweist – und als Schlussvers. Dazwischen liegen drei Strophen mit je fünf,<br />
sechs und wie<strong>der</strong>um fünf Zeilen. Augenfällig ist <strong>der</strong> symmetrische Aufbau<br />
um die Mittelzeilen V9 und V10. Die erste Strophe (V2–V6) zeichnet das<br />
traumartige und raum(er)füllende Bild eines Windes, <strong>der</strong> nachts im Wolkenwagen<br />
vom Jenseitigen ins Diesseitige zieht (wenn man annimmt, dass die<br />
Erzählstimme des <strong>Gedicht</strong>es im Diesseitigen angesiedelt ist). Auffallend ist<br />
die Alliteration Welt, Wind, Wolkenwagen (letzteres ist <strong>der</strong> einzige Neologismus<br />
im <strong>Gedicht</strong>), die eine Verbindung zwischen drüben und hier herstellt;<br />
jedoch erscheint diese Verbindung nur windgestaltig, also wage, flüchtig, nicht<br />
greifbar.<br />
<strong>Der</strong> Wind lockt mit Engelsüss und rotem Fingerhut. Die beiden Pflanzennamen<br />
wirken zunächst als Namen, auch ohne dass man ein Wissen um ihre<br />
Eigenschaften hat. Gerade weil ihre Wirkung dem Leser unbekannt ist, deuten<br />
sie umsomehr auf ein Fremdes, Geheimnisvolles, eine ihnen innewohnende<br />
11Celan hat oft den Text erst konzpiert und ihn nachträglich durch Leerzeilen und<br />
Zeilenumbrüche geglie<strong>der</strong>t.<br />
12Eine Ausnahme sind z. B. Zypressen, welche in den Cevennen die Grabstätten <strong>der</strong><br />
Hugenotten markieren.<br />
6
magische Kraft. (Auf die spezifische Bedeutung und Wirkung wird in Paragraph<br />
2.2 eingegangen.) Die Fügung “Bei mir . . . bei mir!” unterstreicht die<br />
Eindringlichkeit <strong>der</strong> Windesstimme und gibt zugleich lautmalerisch das An–<br />
und Abschwellen ihres Heulens wie<strong>der</strong>. Auch an einer spätern Stelle lockt <strong>der</strong><br />
Wind, dort mit “Bei mir flammt Ferne, bei dir ist es eng . . . ”. Die metrische<br />
Einheit ‘Ferne bei dir ist es eng’ ist ein Choriambus (lang-kurz-kurz-lang)<br />
und bewirkt eine rhythmische Lockerung des sonst streng jambischen Metrums<br />
– inhaltlich korrespondierend mit <strong>der</strong> Aufhebung <strong>der</strong> Gebundenheit<br />
an diese Welt im Moment da die Windesstimme spricht.<br />
Wer o<strong>der</strong> was spricht <strong>aus</strong>serdem im <strong>Gedicht</strong>? In V7 vergleicht sich das lyrische<br />
Ich mit einem Heimchen. Dieses Ich spricht in <strong>der</strong> dritten Person über<br />
einen ‘irgendwer’ (‘den’, ‘ihn’, ‘er’, ‘ihm’), während <strong>der</strong> Wind diesen ‘irgendwer’<br />
mit Du anspricht (“bei dir ist es eng . . . ” (V11)). In <strong>der</strong> Interpretation<br />
von Liska 13 werden die Rollen so verteilt, dass dem Heimchen ein ‘bewusstes<br />
Ich’ und dem ‘irgendwer’ ein ‘fremdes Ich’ entspricht. Diese psychoanalytische<br />
Deutung (Ich–Es) ist durch<strong>aus</strong> pl<strong>aus</strong>ibel, wenn sie auch bei weitem nicht die<br />
Mannigfaltigkeit <strong>der</strong> ineinan<strong>der</strong> verwobenen Sprech– und Bewusstseinsebenen<br />
<strong>aus</strong>zuschöpfen vermag. Unter an<strong>der</strong>em steht das Heimchen wohl auch in<br />
einem Verhältnis zum Wesen des Dichters, das Zirpen zu seiner Stimme, die<br />
ein zartes, zerbrechliches Sprechen ist, welches unvermittelt abbrechen und<br />
verstummen kann.<br />
In <strong>der</strong> psychoanalytischen Lesart würde nun das bewusste Ich das unbewusste<br />
Ich zu halten versuchen, und es daran hin<strong>der</strong>n, den Verheissungen<br />
des Windes zu folgen. <strong>Der</strong> Wind im Wolkenwagen weckt das Bild einer<br />
Traumerscheinung, die den Schlafenden heimsucht (s. 3.2). <strong>Der</strong> folgende Vers<br />
“ihm legt mein Ruf sich ums Gelenk!” ist ein verzweifelter Ausruf, in dem<br />
das <strong>Gedicht</strong> kulminiert. Das rufende Wort des Dichters, <strong>Celans</strong>, ist immer<br />
auch ein Aufruf, ein Nachruf für jemanden. (Hier ist die psychoanalytische<br />
Deutung erschöpft.) <strong>Der</strong> Ruf des Dichters ist stets mit Andenken und Totengedenken<br />
verbunden (s. Kap. 1). Nach dieser – gleichzeitig strukturellen<br />
Mitte und Symmetrieachse des <strong>Gedicht</strong>es (V9) – folgt eine Rückwendung zu<br />
einem besinnlichen, leisen Ton (V10): “Den Wind hör ich in vielen Nächten<br />
wie<strong>der</strong>kehren” . . .<br />
In Vers 13 “Doch wenn die Nacht auch heut sich nicht erhellt” klingt dann<br />
eine Resignation auf, die wie ein dunkler Orgelpunkt durch <strong>Celans</strong> gesamte<br />
Dichtung tönt. Die Nacht, die sich nicht erhellt deutet auf eine undurch-<br />
13 [Liska, 1993], S. 87f.<br />
7
dringliche irdische Finsternis, die nur durch ein (das?) Jenseits überwunden<br />
werden kann.<br />
Auf den ersten Blick erscheint und erklingt Drüben dem unbefangenen<br />
Leser aber wie ein ‘poetisches’ <strong>Gedicht</strong>, das von einer grossen Musikalität<br />
und Rhythmizität geprägt ist. Die Musik des Windes, des Windspiels, <strong>der</strong><br />
Windharfe ist hörbar. Auch durch den vollständigen Satzbau, durch die Spiegelsymmetrie<br />
<strong>der</strong> Versfolge, dem Vorhandensein von Endreimen und Parallelismen<br />
ist es formal weit weg von <strong>Celans</strong> späteren Dichtungen, die durch<br />
Hermetik und verknappte Form gekennzeichnet sind. Hier ist das <strong>Gedicht</strong><br />
<strong>aus</strong> einer Fülle von poetisierenden Bil<strong>der</strong>n gebaut: ‘ein Wind im Wolkenwagen’,<br />
Engelsüss, Fingerhut, ‘wie ein Heimchen zirpen’ . . . – traumähnliche,<br />
märchenhafte Ausdrücke, die an die Kin<strong>der</strong>sprache erinnern. So auch die<br />
für Kin<strong>der</strong>lie<strong>der</strong> typische Repetition in (V17) “dann halt, dann halt ich ihn<br />
nicht hier . . . ”. 14 Die Anlehnungen an die Kin<strong>der</strong>sprache sind aber nicht bloss<br />
ein Wie<strong>der</strong>aufgreifen <strong>der</strong> frühen Natur– und Liebeslyrik <strong>Celans</strong> (mit <strong>der</strong> damaligen<br />
Poetisierung und Romantisierung statt Infragestellung <strong>der</strong> Welt, 15<br />
son<strong>der</strong>n ein Rückgriff auf den Raum <strong>der</strong> Kindheit, den man wie<strong>der</strong>gewinnen<br />
muss, um über die Welt sprechen zu können. Kindheit bedeutet denn auch<br />
Unschuld, Neubeginn, Menschenwürde. Trotz all dem ist Drüben – wie wir<br />
in Kapitel 3 sehen werden – nicht ein konventionelles romantisches <strong>Gedicht</strong>.<br />
2.2 Sprache<br />
Wir wollen nun das in Drüben verwendete Wortmaterial genauer untersuchen.<br />
Unter an<strong>der</strong>em ist zu bestimmen, welches die Schlüsselwörter sind,<br />
und welche Bedeutung ihnen im Rahmen von <strong>Celans</strong> Gesamtwerk zukommt.<br />
Dabei muss immer im Auge behalten werden, dass jedes Wort seine Einzigartigkeit<br />
im <strong>Gedicht</strong> behält. <strong>Der</strong> Wind ist <strong>der</strong> Wind dieses <strong>Gedicht</strong>es, die<br />
Nacht ist die Nacht dieses <strong>Gedicht</strong>es.<br />
Gemäss <strong>der</strong> Wortkonkordanz von Neumann 16 sind die in <strong>Celans</strong> <strong>Gedicht</strong>en<br />
am häufigsten vorkommenden Wörter (alleinstehend o<strong>der</strong> in Verbindungen):<br />
Nacht, Welt, Wind und Ferne. 17 Diese Schlüsselwörter finden sich auch in<br />
14Das erste ‘dann halt’ in dem Vers könnte jedoch auch gelesen werden im Sinne von<br />
‘wenn es eben so ist’.<br />
15 [Emmerich, 1999].<br />
16 [Neumann, 1969].<br />
17Allerdings berücksichtigt die Konkordanz nur Wörter <strong>aus</strong> den <strong>Sammlung</strong>en Mohn und<br />
8
Drüben wie<strong>der</strong>, als ‘Nacht’, ‘nachts’, ‘Nächten’ (je einmal), ‘Welt’ (dreimal),<br />
‘Wind’ (dreimal), ‘Ferne’ (einmal). Dagegen sind ‘Wolkenwagen’, ‘Fingerhut’,<br />
‘Engelsüss’, ‘zirpen’, ‘Heimchen’, ‘wie<strong>der</strong>kehren’ und ‘erhellen’ Ausdrücke,<br />
die <strong>aus</strong>schliesslich in Drüben vorkommen. Das Wort ‘Kastanien’<br />
findet sich <strong>aus</strong>serdem einmal in <strong>der</strong> <strong>Sammlung</strong> Mohn und Gedächtnis.<br />
Wir beschränken unsere Erläuterung auf die untenstehenden Begriffe.<br />
Kastanien: Kastanienbäume sind, wie schon erwähnt, häufig auf Friedhöfen<br />
zu finden. Genau gesprochen stehen Kastanien als Pars pro Toto für<br />
den Kastanienbaum, und dieser wie<strong>der</strong>um als Metonymie für den Friedhof.<br />
Falls diese Deutung zutreffen sollte, erweisen sich ‘die Kastanien’ als Grenze,<br />
als Tor zur Totenwelt, dem Jenseits. Dies könnte auch einen <strong>Zu</strong>sammenhang<br />
zum Titel des Zyklus (An den Toren) herstellen. Bollack vermutet, dass<br />
die Endsilbe von Kastanien eine Assoziation zu einem fernen Land herstellen<br />
soll (wie etwa Transsylvanien, Transnistrien). 18 Seine Assoziation ist jedoch<br />
reichlich spekulativ, umso mehr als die Kastanien selbst ja nicht das jenseitige<br />
Gebiet, son<strong>der</strong>n das Tor dazu darstellen. Für die Assoziation Kastanien–<br />
Transnistrien gäbe es aber einen geographisch–biographischen Bezug: Transnistrien<br />
ist die Region jenseits des Flusses Dnjestr, wohin <strong>Celans</strong> Eltern von<br />
den Nazis deportiert und im Arbeitslager ermordet wurden. 19<br />
Engelsüss: Gemäss einem Pflanzenlexikon eine Farnart, <strong>der</strong>en Wurzel<br />
einen süsslichen Geschmack aufweist (auch als Süssholz bekannt). Es wird<br />
als Heilmittel, u. a. gegen Asthma, verwendet. Nach dem Volksglauben wurde<br />
es als Mittel gegen Schlaganfall von Engeln zur Erde gebracht. Hier drängt<br />
sich die Korrespondenz Jenseits–Gott, Wind–Engel, irgendwer–Mensch auf.<br />
Doch ist <strong>der</strong> Engel, üblicherweise ein Bote Gottes, <strong>der</strong> den Menschen Hilfe<br />
bringen soll, hier eine trügerische Gestalt: Liksa identifiziert den Engel mit<br />
dem Tod selbst. Damit tut sich ein weiterer Horizont des <strong>Gedicht</strong>es auf: Welt<br />
als Scheinwelt, als Betrug, als Ort, wo niemandem zu trauen ist.<br />
Roter Fingerhut: Ähnliches gilt für den roten Fingerhut. Alle Arten sind<br />
stark giftig und führen in einer Überdosis zum Tod durch Herzstillstand. In<br />
kleinerer Dosierung jedoch wird roter Fingerhut als Herzheilmittel verwendet.<br />
<strong>Der</strong> Glaube an die magische Kraft und die Macht von Heilpflanzen rührt von<br />
Gedächtnis, Von Schwelle zu Schwelle, Sprachgitter, Niemandsrose und Atemwende.<br />
18 [Bollack, 2000].<br />
19 Heute gibt es eine von keinem Staat <strong>der</strong> Welt anerkannte Transnistrische Republik –<br />
nur zu bezeichnend für <strong>Celans</strong> frühere Staatenlosigkeit, Nicht–zugehörigkeit, sein Abseits–<br />
stehen.<br />
9
ihrer Fähigkeit her, dem Menschen Heil wie auch Tod bringen zu könnnen.<br />
Ferner wurde Fingerhut auch als Abwehrpflanze gegen ungebetene Personen<br />
vor die H<strong>aus</strong>türe gestellt.<br />
Das Entlehnen von Fachwörtern <strong>aus</strong> Botanik, Zoologie, aber auch Geologie<br />
u. ä. ist typisch für <strong>Celans</strong> Dichtung. Dahinter steht einerseits ein fachliches<br />
Interesse an diesen Gebieten, 20 an<strong>der</strong>erseits aber auch die Suche nach<br />
neuem Wortmaterial, um den Radius <strong>der</strong> eigenen Begrifflickeit zu erweitern.<br />
Allerdings sollen die neu eingeführten Begriffe nicht bei ihrer Primärsemantik<br />
bleiben, son<strong>der</strong>n eine eigene bildliche Kraft entwickeln. Auch ohne tieferes<br />
botanisches Verständnis weckt Engelsüss als Name die Assoziation von einer<br />
Pflanze, die auf den Menschen eine bestimmte, vielleicht tödliche, vielleicht<br />
lebensspendende Wirkung hat. “[Celan] kam es . . . auf die Beschwörungskraft<br />
sprachlicher Bil<strong>der</strong> und Klänge einer eigenen Phantasiewelt” an. 21<br />
Heimchen: Auch dieser Begriff ist genuin an bestimmte biologische Fakten<br />
geknüpft, wächst im <strong>Gedicht</strong> aber darüber hin<strong>aus</strong>. Bei männlichen H<strong>aus</strong>grillen<br />
hat das Zirpen die Funktion eines Markierungs–, Lock– und Paarungsrufes,<br />
eine Eigenschaft, die im <strong>Gedicht</strong> einen Paarungswunsch mit dem Tod<br />
bedeuten könnte. An<strong>der</strong>erseits weckt <strong>der</strong> Begriff Heimchen bestimmte Assoziationen<br />
wie Heim– und Schutzbedürftigkeit, Ausgliefertsein. Wie in 2.1<br />
angetönt, kann das Heimchen auch eine Metonymie für den Dichter und sein<br />
Singen sein. Im Dialog Phaidros von Platon findet sich die folgende Stelle<br />
über Zikaden: “Es geht aber die Sage, dass diese da [die Zikaden] einst<br />
Menschen, und zwar von denen gewesen seien, welche lebten, ehe noch die<br />
Musen geboren waren. Als aber die Musen geboren wurden und <strong>der</strong> Gesang<br />
zum Vorschein kam, da wurden also etliche von den damals Lebenden <strong>der</strong>gestalt<br />
aufgeregt, dass sie singend Essen und Trinken vergassen und auch das<br />
Herannahen des Sterbens nicht inne wurden. Aus diesen entsteht hierauf das<br />
Geschlecht <strong>der</strong> Zikaden, welches von den Musen das als Geschenk empfing,<br />
von Geburt an keinerlei Nahrung zu bedürfen, son<strong>der</strong>n ohne zu essen und oh-<br />
20 Als Schüler im Staatsgymansium von Czernowitz interessiert sich Celan neben Sprachen<br />
vor allem für beschreibende Pflanzen– und Tierkunde [Emmerich, 1999]. Es war sein<br />
ursprünglicher Wunsch, Naturwissenschaften zu studieren. Vor diesem Hintergrund stellt<br />
sich allerdings die Frage, ob man aufgrund von solchen, obwohl historisch einwandfrei belegten<br />
Fakten, ein <strong>Gedicht</strong> deuten kann und darf. Ich bin <strong>der</strong> Ansicht, dass die Biographie<br />
Teil des Werkes ist, und nicht das Werk Teil <strong>der</strong> Biographie. Biographische Angaben sind<br />
vielleicht wie Kerzen: sie beleuchten punktuell, sie sind notwendig, aber nicht hinreichend,<br />
um die zu beleuchtende Stelle vollständig zu erhellen.<br />
21 [Buck, 1993b].<br />
10
ne zu trinken sogleich zu singen.” 22 Es soll hier nicht gefragt werden, ob Celan<br />
diese Stelle gekannt hat o<strong>der</strong> nicht. Tatsache ist, dass Drüben wie auch <strong>der</strong><br />
Phaidros da-stehen, und <strong>der</strong> kotextuelle Bezug, bzw. die Einordnung in die<br />
Tradition möglich ist.<br />
3 Deutungsversuche<br />
3.1 Transzendenz<br />
Bis anhin haben wir im <strong>Zu</strong>sammenhang mit dem Begriff ‘drüben’ meist von<br />
dem Jenseitigen als dem Jenseits gesprochen, und dabei angenommen, dass es<br />
sich bei ‘drüben’ um eine Metapher für die Totenwelt handelt. Man kann dieses<br />
‘Jenseits’ jedoch auch in seiner ursprünglichen Bedeutung verstehen, auf<br />
die das Adverb ‘jenseits’ hinweist. In dieser Bedeutung bezeichnet Jenseits<br />
den Gegenort zum Diesseits. Da im <strong>Gedicht</strong> von einer Grenzüberschreitung<br />
durch den Wind die Rede ist, gelangen wir somit in das Bedeutungsumfeld<br />
des Wortes ‘Transzendenz’ (lat. transcen<strong>der</strong>e = hinüberschreiten).<br />
Anlässe zu Grenzüberschreitungen hatte Celan viele. Allen voran, dass<br />
die Welt mit ihrer menschenverachtenden Gr<strong>aus</strong>amkeit keine wahre Welt sein<br />
kann. <strong>Zu</strong> dieser Einsicht geführt wurde Celan durch den Holoc<strong>aus</strong>t (s. Kap 1).<br />
Wenn es nach diesem Datum dennoch so etwas wie Hoffnung geben sollte,<br />
so ist sie nicht hier zu suchen, son<strong>der</strong>n in einer an<strong>der</strong>en Welt, die ein verbindliches<br />
Sein gewährleisten sollte, in <strong>der</strong> Sinn vielleicht möglich wäre. Jede<br />
Hoffnung ist also stets auf ein Jenseits gerichtet. Jedoch ist das Jenseits nicht<br />
einfach sanfte Erlösung, willkommener Heilsort, son<strong>der</strong>n ebenso problembehaftet<br />
und unheimlich wie das Diesseits. Im <strong>Gedicht</strong> versucht ja das lyrische<br />
Ich, den ‘ihn’ – wenigstens zunächst – vom Gang ins Jenseits abzuhalten.<br />
<strong>Der</strong> Ausgangspunkt, <strong>der</strong> Anstoss für <strong>Celans</strong> dichterische Arbeit liegt immer<br />
im Diesseits, im konkreten Wirklichkeitsbezug. Er schrieb an den Freund<br />
Erich Einhorn: “Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz<br />
zu tun gehabt hätte – ich bin, Du siehst es, Realist auf meine Weise”. 23<br />
Buck schreibt dazu: 24 “Mithin transzendiert Celan die alltägliche Wirklichkeit<br />
radikal.” Durch das <strong>Gedicht</strong>eschreiben schafft er sich eine eigene Wirklichkeit.<br />
In <strong>Celans</strong> Worten: er entwirft sich Wirklichkeit. Welchen Bezug die-<br />
22 [Platon], 259B.<br />
23 [Emmerich, 1999].<br />
24 [Buck, 1993a].<br />
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se beiden Welten zueinan<strong>der</strong> haben, tritt in <strong>der</strong> Bremer Ansprache deutlich<br />
zu Tage: 25 “Es sind die Bemühungen dessen, <strong>der</strong> . . . zeltlos . . . und damit auf<br />
das unheimlichste im Freien, mit dem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund<br />
und Wirklichkeit suchend.” Das Wort Grenzüberschreitung beschreibt<br />
den Übergang von <strong>der</strong> alltäglichen, an Wunden krankenden Wirklichkeit zu<br />
einer entworfenen Wirklichkeit.<br />
<strong>Der</strong> Versuch von Transzendenz geschieht im <strong>Gedicht</strong>eschreiben, und er<br />
geschieht auch im <strong>Gedicht</strong> Drüben, wo <strong>der</strong> Wind jemanden mit sich ins Jenseits<br />
entführen will. Freilich bleibt <strong>der</strong> Vollzug dieser Wunschvorstellung für<br />
einen Menschen unerfüllt, unerfüllbar – <strong>aus</strong>ser durch Selbstaufgabe (s. 3.3)<br />
o<strong>der</strong> Selbstmord (s. 3.4, 4). Nur eine gewaltige und zugleich un–fassbare Instanz<br />
wie <strong>der</strong> Wind kann diese Grenze überschreiten.<br />
3.2 Traum<br />
Während seines rund halbjährigen Aufenthaltes in Wien (Weihnachten 1947<br />
– Sommer 1948) begegnete Celan dem avantgardistisch–surrealitischen Maler<br />
Edgar Jené, in dessen Atelier er zeitweise auch wohnte. <strong>Der</strong> Essay ‘Edgar Jené<br />
und <strong>der</strong> Traum vom Traume’ 26 setzt sich mit dessen Bil<strong>der</strong>n <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>. Vor<br />
allem aber ist er ein “programmatisches Manifest in eigener Sache”. 27 Celan<br />
erzählt darin, wie er eine ‘Bresche in die Wände <strong>der</strong> Wirklichkeit schlug’,<br />
von <strong>der</strong> er ‘arg belogen’ wurde. <strong>Zu</strong>gleich wendet er sich – im Gespräch mit<br />
einem fiktiven Freund – gegen die Ansicht, dass durch die ‘vernunftsmässige<br />
Läuterung unseres unbewussten Seelenlebens . . . diesem Leben sein Sinn’<br />
gegeben werden kann. Die Poesie wie auch die Malerei entstünden vielmehr<br />
<strong>aus</strong> <strong>der</strong> ‘Tiefsee <strong>der</strong> Seele’, <strong>aus</strong> einem Akt des ‘Zwiesprache–Haltens mit finsteren<br />
Quellen’. Obwohl dieser Text rund acht Jahre später als das <strong>Gedicht</strong><br />
Drüben entstand, ist er aufschlussreich für dessen Deutung – umsomehr als<br />
beiden, dem Essay und dem <strong>Gedicht</strong>, eine exemplarische und werkübergreifende<br />
Stellung zukommt.<br />
Einerseits lässt sich hier an den vorangehenden Paragraphen anknüpfen,<br />
wo die Überwindung und Überschreitung <strong>der</strong> ‘realen’ Wirklichkeit thematisiert<br />
wurden. Die Wunde (das ‘arg belogen’) und das Suchen nach einer eigenen<br />
Form von Wirklichkeit. <strong>Der</strong> Traum von Traum will auch heissen: Das<br />
Hoffen auf eine Gegenwelt. Im <strong>Gedicht</strong> ist eine Zwiesprache zwischen dem<br />
25 [Celan, 2000a], S. 186.<br />
26 [Celan, 2000a], S. 155–165.<br />
27 [Emmerich, 1999], S. 80.<br />
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‘irgendwer’ und dem Wind (als finsterer Quelle) angedeutet. (Finster deutet<br />
hier nicht <strong>aus</strong>schliesslich auf den Tod, son<strong>der</strong>n auf das Geheimnisvolle, das<br />
Ungeklärte des Daseins überhaupt.)<br />
An<strong>der</strong>erseits kommt im Essay auch <strong>der</strong> Vorgang des Träumens – in allen<br />
seinen möglichen Ausbildungen: Tagtraum, Nachtraum . . . – zur Sprache:<br />
“Wie sollte nun das Neue als auch Reine entstehen? Aus den entferntesten<br />
Bezirken des Geistes mögen Worte und Gestalten kommen, Bil<strong>der</strong> und<br />
Gebärden, traumhaft verschleiert und traumhaft entschleiert, und wenn sie<br />
einan<strong>der</strong> begegnen in ihrem rasenden Lauf und <strong>der</strong> Funken des Wun<strong>der</strong>baren<br />
geboren wird, da Fremdes Fremdesten vermählt wird, blicke ich <strong>der</strong> neuen<br />
Helligkeit in Auge.” 28 Wie in Paragraph 2.1 schon angedeutet, erinnert uns<br />
die Bildlichkeit (ein Wind im Wolkenwagen usf.) an Traumbil<strong>der</strong>. Im Traum<br />
eröffet sich dem Träumenden eine an<strong>der</strong>e Welt, ein Drüben.<br />
<strong>Der</strong> Essay gibt auch einen Hinweis, <strong>der</strong> zu einer weiteren Deutung des<br />
Begriffes ‘Kastanien’ führen könnte: “Hol dir lieber ein paar Augen <strong>aus</strong> dem<br />
Grund deiner Seele und setze sie dir auf die Brust: dann erfährst du, was sich<br />
hier ereignet!” 29 Kl<strong>aus</strong> Manger folgend – und sich auf dünnes Eis begebend<br />
– könnte man Kastanien auch als Metapher für blinde, abgestumpfte Augen<br />
deuten. “Plötzlich erscheinen Kastanien als gebrochene Augen.” 30 Augen –<br />
in ihrer optischen Funktion – sehen, dass ein Baum ein Baum, ein Tisch ein<br />
Tisch ist, sie sehen das Vor<strong>der</strong>gründige, übersehen aber das dahinter– und<br />
zugrunde–Liegende. Das Auge, das Sehen als Urmoment <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />
nimmt nicht nur bei Celan einen beson<strong>der</strong>en Platz ein, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Literatur<br />
insgesamt schon seit <strong>der</strong> Antike: Die Figur des blinden Sehers, (z. B.<br />
Tiresias in Sophokles Antigonae) verköpert das wahre Sehen (im Gegensatz<br />
etwa zum nicht–blinden, aber ver–blendeten Kreon).<br />
3.3 Theologie<br />
Inwiefern hat die Grenzüberschreitung in Drüben einen religiösen Aspekt?<br />
Könnte die Welt jenseits <strong>der</strong> Kastanien einen Raum Gottes darstellen, den<br />
zu betreten den Menschen unmöglich ist, respektive immer verwehrt bleiben<br />
wird? Diesen Fragen würde diejenige nach <strong>der</strong> religiösen Tradition <strong>Celans</strong><br />
vorangehen, bzw. ob er in einer solchen steht o<strong>der</strong> in eine solche eingeordnet<br />
28 [Celan, 2000a], S. 157f.<br />
29 [Celan, 2000a], S. 155.<br />
30 [Manger, 1989], S. 443.<br />
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werden kann. Naheliegen<strong>der</strong>weise denkt man an die jüdisch–kabbalistische<br />
Tradition, doch würde dies zu belegen den Rahmen dieser Arbeit sprengen.<br />
Eine Deutung von Drüben als Klage über die Gottesferne scheint jedoch<br />
möglich. Weissenberger spricht von <strong>Celans</strong> “Überzeugung von <strong>der</strong> menschlichen<br />
Gottferne, die auf <strong>der</strong> kosmogonischen Deutung des menschlichen Abfalls<br />
<strong>aus</strong> einer ursprünglichen Gottnähe auf die Stufe <strong>der</strong> Erdhaftigkeit beruht<br />
und für Celan wegen des fehlenden göttlichen Eingreifens nicht mehr<br />
rückgängig zu machen ist.” 31<br />
Dieser Konflikt ist nur eine an<strong>der</strong>e Ausprägung und Manifestation des in<br />
Paragraph 3.1 erwähnten Spannungsfeldes zwischen ‘wirklichkeitswund und<br />
Wirklichkeit suchend’. Die ‘reale’ Wirklichkeit bedeutet Wunde, Geschlagen–<br />
sein, die entworfene Wirklichkeit aber Selbstaufgabe. Denn sie zu erreichen<br />
ist einem irdischen Wesen nicht möglich. Weissenberger nennt dies wird den<br />
Wi<strong>der</strong>spruch zwischen ‘tellurischer Verhaftung’ und ‘kosmischem Selbstverlust’<br />
des Menschen. Dieser Wi<strong>der</strong>spruch lässt sich aber nicht damit auflösen,<br />
indem man Celan unterstellt, dass er das irdische Dasein negiert. <strong>Der</strong> konkrete<br />
Wirklichkeitsbezug als Ausgangspunkt <strong>der</strong> Dichtung bleibt auch hier<br />
bestehen: “Dieses Weltbild eines existentiellen Dualismus findet seine poetische<br />
Entsprechung in einer bis zur letzten Konsequenz <strong>aus</strong>gearbeiteten tellurischen<br />
Bildlichkeit als Ausdruck <strong>der</strong> Ausgangsstufe des mystischen Prozesses.”<br />
32<br />
3.4 Tod<br />
Die Verlockungen, die vom Wind <strong>aus</strong>gesprochen werden: “Bei mir ist Engelsüss<br />
und roter Fingerhut bei mir!”(V5) und “Bei mir flammt Ferne, bei<br />
dir ist es eng . . . ” (V11) sind tödlicher Natur. Auch Vers 9 “ihm legt mein<br />
Ruf sich ums Gelenk!” birgt eine Spannung zwischen Lebens– und Todssphäre.<br />
Das ‘Gelenk’, an sich etwas Knöchernes, nicht Fleischliches, könnte<br />
zum Arm eines Skelettes gehören, um das sich <strong>der</strong> Ruf wie ein Kettenring<br />
legt. Dies deutet darauf hin, dass <strong>der</strong> ‘irgendwer’ (dem das Gelenk zuzuordnen<br />
ist) schon im Hier als Totengestalt wandelt. Totengestalt könnte jedoch<br />
auch dem Wind zukommen, <strong>der</strong> als ein Totengeist o<strong>der</strong> als Tod selbst den<br />
Angesprochenen entführen will.<br />
Die Verlockung, die <strong>aus</strong> dem Jenseits spricht, hat nicht bloss einladenden,<br />
31 [Weissenberger, 1989], S. 1318.<br />
32 [Weissenberger, 1989], S. 1318.<br />
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son<strong>der</strong>n zwingenden Charakter. Sie wurde zu einem bestimmenden Einfluss<br />
von <strong>Celans</strong> Leben; die ‘Verschattung’ über seinem Dasein war übermächtig.<br />
“<strong>Der</strong> Mensch <strong>Paul</strong> Celan ist ihr, nicht ohne Gegenwehr, zum Opfer gefallen:”<br />
33 Celan ertränkte sich 1970 in <strong>der</strong> Seine. Sicher wäre es übertrieben,<br />
Drüben als Ankündigungsgedicht seines Selbstmordes zu lesen, einige gedankliche<br />
Spuren dazu lassen sich aber nicht von <strong>der</strong> Hand weisen.<br />
Im Tod liegt auch die Möglichkeit zu einer Vereinigung mit den Juden,<br />
die durch die Nationalsozialisten ermordet wurden. Hier geht, indirekt, die<br />
Judenvernichtung in das <strong>Gedicht</strong> ein. Letztlich ist es <strong>der</strong> Tod allein, <strong>der</strong><br />
Schuld – Täterschuld und Überlebensschuld (s. Kap. 1) – tilgen kann; Schuld,<br />
die das menschliche Dasein überhaupt konstituiert.<br />
4 Abschliessende Bemerkungen<br />
Als Eingangsgedicht zu <strong>Celans</strong> erstem Lyrikband <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen<br />
und aufgrund seiner Thematik nimmt Drüben die Stellung eines Proömiums<br />
ein, das <strong>Celans</strong> späterem Werk vorgreift. Diese ‘Programmatik’ wurde<br />
anhand des Essays ‘Edgar Jené und <strong>der</strong> Traum vom Traume’ deutlich.<br />
Das <strong>Gedicht</strong> Drüben spricht nicht über eine äussere Welt, beschreibt<br />
nicht einen Aussenraum o<strong>der</strong> ein Panorama, so wie es vom lyrischen Ich<br />
gesehen wird (wie etwa bei <strong>der</strong> Naturlyrik o<strong>der</strong> beim Naturalismus). Ebensowenig<br />
kehrt es die Innen– o<strong>der</strong> Gefühlswelt des Sprechenden nach <strong>aus</strong>sen<br />
(wie in Romantik o<strong>der</strong> Expressionismus). Seine Art und sein Ort sind, trotz<br />
Einhaltung formaler Konventionen, und trotz klanglich–bildlicher Anlehnung<br />
an die Romantik jenseits von Gattungen und Epochen.<br />
Die vier Deutungsrichtungen: Transzendenz, Traum, Theologie und Tod<br />
sind ebensowenig erschöpfend wie sich gegenseitig <strong>aus</strong>schliessend. Vielmehr<br />
lassen sich Querbezüge herstellen, wie z. B. die Parallelität von ‘wirklichkeitswund<br />
und Wirklichkeit suchend’ zu ‘irdischer Verhaftung und kosmischer<br />
Selbstauflösung’. Das <strong>Gedicht</strong> ist auch eine Selbstbehauptung zwischen<br />
diesen Polaritäten, ein Kampf, <strong>der</strong> mit einer eigenen Bildlichkeit <strong>der</strong> immanenten<br />
Transzendenez <strong>aus</strong>getragen wird. 34<br />
Für die vier vorgeschlagenen Deutungsrichtungen spielt <strong>der</strong> (bei Celan<br />
zentrale) Begriff ‘Nacht’ die Rolle einer haltenden Fläche, eines Hintergrundes.<br />
Nacht kann für die Dunkelheit des menschlichen Daseins stehen (3.1),<br />
33 [Buck, 1993b].<br />
34 [Weissenberger, 1989], S. 1314.<br />
15
für ein Traumumfeld (3.2), für irdisches Dunkel (in dem bestimmten Sinn<br />
von 3.3) wie auch für Tod (3.4). Nacht ist aber auch ein Oppositum zur<br />
Betriebsamkeit des Tages, dessen mechanischen Abläufen, ein Oppositum in<br />
dem sich ein Raum für die Poesie als ‘das An<strong>der</strong>e’ öffnet.<br />
Literatur<br />
[Bollack, 2000] Jean Bollack: <strong>Paul</strong> Celan, Poetik <strong>der</strong> Fremdheit. Zsolnay<br />
Verlag, Wien, 2000.<br />
[Buck, 1993a] Theo Buck: Celan und Frankreich, Celan Studien. Bd. V.<br />
Rimbaud, Aachen, 1993.<br />
[Buck, 1993b] Theo Buck: Muttersprache Mör<strong>der</strong>sprache, Celan Studien.<br />
Bd. I. Rimbaud, Aachen, 1993.<br />
[Celan, 2000a] <strong>Paul</strong> Celan: Gesammelte Werke, <strong>Gedicht</strong>e, Prosa, Reden.<br />
Bd. III. Hrsg. Beda Allemann u. Stefan Reichert, Suhrkamp, Frankfurt<br />
a. M., 2000.<br />
[Celan, 2000b] <strong>Paul</strong> Celan: Gesammelte Werke, <strong>Gedicht</strong>e. Bd. I. Hrsg. Beda<br />
Allemann u. Stefan Reichert, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2000.<br />
[Emmerich, 1999] Wolfgang Emmerich: <strong>Paul</strong> Celan. Rowohlt Taschenbuch<br />
Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1999.<br />
[Liska, 1993] Vivian Liska: Die Nacht <strong>der</strong> Hymnen, <strong>Paul</strong> <strong>Celans</strong> <strong>Gedicht</strong>e<br />
1938–1944. Europäische Hochschulschriften, Bd. 1369, Peter Lang AG,<br />
Europäischer Verlag <strong>der</strong> Wissenschaften, Bern, 1993.<br />
[Lohr, 2003a] <strong>Paul</strong> Celan: <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> <strong>aus</strong> den Urnen, Mohn und Gedächtnis.<br />
Historisch–kritische Ausgabe. Hrsg. Andreas Lohr, Bd. 2/3, Teil 2 (Apparat),<br />
Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2003.<br />
[Lohr, 2003b] <strong>Paul</strong> Celan: Frühe <strong>Gedicht</strong>e. Historisch–kritische Ausgabe.<br />
Hrsg. Andreas Lohr, Bd. 1, Teil 1 (Text), Suhrkamp, Frankfurt a. M.,<br />
2003.<br />
[Manger, 1989] Kl<strong>aus</strong> Manger: Todestango im Zeitgehöft, <strong>Zu</strong>r Bedeutung des<br />
Todes in <strong>der</strong> Dichtung <strong>Paul</strong> <strong>Celans</strong>. In: <strong>Der</strong> Tod in Dichtung, Philosophie<br />
und Kunst. Hrsg. H. H. Jansen. Steinkopff Verlag, Darmstadt, 1989.<br />
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[Neumann, 1969] Peter Horst Neumann: Wort–Konkordanz zur Lyrik <strong>Paul</strong><br />
<strong>Celans</strong>. Wilhelm Finke Verlag, München, 1969.<br />
[Platon] Platon, Sämtliche Werke. Zweiter Band, Verlag Lambert Schnei<strong>der</strong>,<br />
Heidelberg.<br />
[Weissenberger, 1989] Kl<strong>aus</strong> Weissenberger: <strong>Paul</strong> <strong>Celans</strong> hermetische Dichtung<br />
– immanente Transzendenz eines extremen Wirklichkeitsbezugs. In:<br />
Die Österreichisch Literatur. Ihr Profil von <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>wende bis zur<br />
Gegenwart (1880 – 1980), Teil 2. Hrsg. H. Zeman. Akademische Drucksu.<br />
Verlagsanstalt, Graz, 1989.<br />
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