Editorial Leitgedanken „Meine Sprache versteht man durch die ganze Welt.“ (Joseph Haydn) Die Sprache der Musik hat die Völker der Welt <strong>zu</strong> allen Zeiten über alle Grenzen und Systeme, Länder und Kontinente hinweg miteinander verbunden und den Menschen in tiefer Bedrängnis Trost und ein Gefühl der Verbundenheit und Menschlichkeit gegeben. Flöten aus Röhrenknochen aus Höhlen der Steinzeit (35.000 v. Ch.) belegen das Urbedürfnis der Menschen nach musikalischer Ausdrucksfähigkeit und Verständigung untereinander. Die Trompeten von Jericho bezeugen die Macht der Musik in kriegerischer Auseinanderset<strong>zu</strong>ng wie die Harfe Davids ihre heilende Kraft gegen Depression und Niedergeschlagenheit seines Königs. Die biblisch bezeugte Wirkung der Musik als Medium kultischer Riten findet ihre Entsprechung in allen Kulturen, Kulten und Religionen der Welt. Mehr als uns heute bewusst ist, liegt der Ursprung der Musik also in spiritueller Erfahrung und kultischem Ritus begründet. Im Europa des hohen Mittelalters wurde mit der Unterscheidung zwischen musiqua antiqua und musica nova im 14. Jh. ein Stilwandel bezeichnet, der den Prozess einer allmählichen Lösung aus der liturgischen Gebundenheit hin <strong>zu</strong> einer Verselbständigung bzw. Emanzipation vom religiösen Kultus eingeleitet hat. Diese Entwicklung erreichte einen neuen Höhepunkt in der experimentellen Musik der Wiener Avantgarde <strong>zu</strong> Beginn des 20. Jh. um Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern, Hanns Eisler oder Ernst Krenek und führte 1919 <strong>zu</strong>r neuen Bewertung des Begriffs Neue Musik dieser neuen ästhetischen Bewegung in der Musik durch den Musikjournalisten Paul Bekker. (Es war die Zeit des Expressionismus und der Abstraktion in der bildenden Kunst.) Unmittelbar nach dem Ende des Weltkrieges setzte diese im Nationalsozialismus erstickte Bewegung 1946 mit den Donaueschinger Musiktagen und 1951 mit den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt erste Akzente. Es war dies <strong>zu</strong>gleich der Beginn einer Institutionalisierung: Von nun an veranstalteten Institute bzw. Rundfunkanstalten regelmäßig wiederkehrende Symposien oder Konzertreihen, wie z.B seit 1969 die vom WDR mitgetragenen Wittener Tage Neuer Musik. Die „Säkularisierung der Musik“ hat es in den buddhistischen, hinduistischen oder konfuzianischen Ländern Asiens wie in der islamisch geprägten Hemisphäre nicht gegeben. Vielmehr zeugt die stilistische Besonderheit der Musik jener Völker – wie auch der Stämme und Völker Afrikas u. a. – von der unbeeinflussten Eigenständigkeit ihrer ursprünglichen Kultur. Gleichwohl ist der Austausch und die weltweit wechselseitige Befruchtung wie die gleichzeitige stilistische Vielfalt heute sinnfälliger wie nie <strong>zu</strong>vor. In Amerika wird diese Tendenz repräsentiert durch Einflüsse indianischer Musik in die Neue Musik, in Australien durch die der Aborigines. Als zwei Beispiele für interdisziplinäre und interkulturelle Befruchtung stehen im Festival die beiden Klanginstallationen/Ausstellungen „encounter“ von Hee Sook Kim/Christopher Shultis aus den USA und „swarmlings“ von James Hullick aus Melbourne/Australien. Die ästhetischen Stilmittel und Arbeitsweisen der Schöpfer zeitgenössischer Musik sind heute mindestens so vielfältig wie die der bildenden Künstler und Literaten. Leitgedanke des Brauweiler Festivals STREAMS ist es, verschiedene Strömungen aus der Vielfalt der heutigen Musikwelt auf<strong>zu</strong>zeigen wie die weltweite Offenheit und Grenzüberschreitung in der Musik seit der Mitte des 20. Jahrhunderts: Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mehr noch seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor 20 Jahren ist die Welt enger <strong>zu</strong>sammengerückt. Seitdem sind im Osten unterdrückte Komponisten spiritueller Musik im Westen erst allmählich entdeckt worden, wie die große Sophia Gubaidulina aus Russland oder Arvo Pärt aus Estland. Technischer Fortschritt und Globalisierung – insbesondere die neuen Kommunikationsmedien – haben da<strong>zu</strong> beigetragen, Gegensätze und Unterschiede zwischen Ost und West wie zwischen Völkern und Kulturen <strong>zu</strong> überwinden. Mit der Einladung bekannter Komponisten, Wissenschaftler und Künstler aus den Leidensvölkern des Krieges möchten wir <strong>zu</strong>gleich ein Zeichen der Versöhnung und der gegenseitigen Verständigung setzen. So bedeutende Musikschaffende wie Dimitri Schostakovitsch, Sofia Gubaidulina in Russland oder die Polen Lutoslawski, Penderecki, Baird oder Gorecki sind wie viele andere im Osten <strong>zu</strong>gleich <strong>zu</strong> Symbolfiguren für die Freiheit des Geistes und der Kultur und für die Überwindung von politischen Grenzen und Systemen geworden. Sie haben durch ihr Schaffen wesentlich <strong>zu</strong> einer neuen Spiritualität der Musik beigetragen. Die neue Sakralmusik bzw. Kirchenmusik wird so auch im Vergleich <strong>zu</strong> anderen Veranstaltungen der Neuen Musik einen wesentlichen Teil des Festivals einnehmen. Hier<strong>zu</strong> lädt das Ambiente der historischen Abtei Brauweiler, in der über acht Jahrhunderte hinweg liturgischer Choralgesang und Orgelspiel den Tagesablauf bestimmten, in besonderer Weise ein. Nach den großen Klassikern Bach, Händel und Mozart haben bedeutende Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts (Olivier Messiaen) bis heute nach einer Erneuerung der traditionellen kirchlichen Musik gesucht. Unter den Zeitgenossen gehören vor allem die Polen Penderecki und Gorecki wie der <strong>Köln</strong>er Karlheinz Stockhausen <strong>zu</strong> den großen Protagonisten einer neuen liturgischen Musik des 20. Jh. Seit dem Ende der stalinistischen Diktatur tritt im Raum der orthodoxen Liturgie eine neue Sprache liturgischer Musik hervor, die von der Folklore gespeist und von der spirituellen Musik der Vergangenheit und Gegenwart inspiriert ist. Fünf Organisten und <strong>zu</strong>gleich profilierte Komponisten neuer Kirchenmusik aus allen Regionen Europas stellen ihre neuesten Werke vor. Der Freundeskreis Abtei Brauweiler e. V. versteht diese öffentliche Veranstaltung <strong>zu</strong>gleich als eine Lernwerkstatt der zeitgenössischen Musik nicht nur für seine Mitglieder und interessierte Besucher. Sie richtet sich insbesondere an Studenten, Schüler und interessierte Laien, denen die anwesenden Komponisten und Wissenschaftler durch die Moderation der aufgeführten Werke und durch ergänzende Vorträge einen unmittelbaren Zugang <strong>zu</strong> den neuen Wegen der heutigen Musikschaffenden ebnen möchten. An der Aufarbeitung der entstandenen Wissenslücken zwischen Ost und West im neueren Musikleben hat neben vielen anderen in Osteuropa insbesondere die Akademie der Wissenschaften Weißrusslands in Minsk besonderen Anteil, welche durch deutschsprachige Vorträge von zwei exponierten Wissenschaftlerinnen auf dem Symposium vertreten sein wird 16 profilierte Komponisten aus 10 Ländern und 4 Kontinenten haben ihre Teilnahme am Festival <strong>zu</strong>gesagt und bringen ihre neuesten Werke mit – darunter eine große Zahl an Welturaufführungen, die sie eigens für das Festival geschrieben haben. Sie kommen aus den Ländern Osteuropas wie Russland, Weißrussland, Polen und der Slowakei, andere besonders wichtige Vertreter aus Westeuropa wie Italien, Frankreich und Deutschland, aus den USA, aus Malaysia und Australien. Zur Aufführung kommen fünf Konzerte. Das Eröffnungskonzert spielt das STREAMS Festival Orchester unter Leitung des Dirigenten Christoph Maria Wagner. Für das abschließende Kirchenkonzert konnte das <strong>Collegium</strong> <strong>musicum</strong> der <strong>Universität</strong> <strong>zu</strong> <strong>Köln</strong> unter Leitung von dessen Musikdirektor Michael Ostrzyga gewonnen werden. Einige Komponisten werden ihre Werke in den Gesprächskonzerten selbst spielen. Mit dieser Praxis möchten wir <strong>zu</strong>gleich die alte Tradition wieder beleben, wonach die Komponisten ihre Werke wieder selbst aufführen oder begleiten (wie einst in den Hauskonzerten der Romantiker und sogar in den Kreisen um Arnold Schönberg u. a.), um jedem Werk ein Stück an Originalität und Selbstverständnis seines Schöpfers mit<strong>zu</strong>geben. Falko Steinbach und Alfons W. Biermann (Idee und wissenschaftliche Planung) 2 3