Grenzgänger Kaukasus - Studienkolleg zu Berlin
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„Europa ist da,<br />
wo Menschen von Europa reden und schreiben,<br />
wo Menschen Europa malen oder in Stein meißeln.“<br />
- Wolfgang Schmale<br />
<strong>Grenzgänger</strong> <strong>Kaukasus</strong><br />
Wie weit reicht Europa?
Innereurasische Grenze nach Philip Johan von Strahlenberg, 1730<br />
Prolog<br />
Obwohl Europa und Asien im streng geografischen beziehungsweise plattentektonischen<br />
Sinne Teil eines Kontinents – Eurasien – sind, hat es durch den<br />
Wunsch nach Abgren<strong>zu</strong>ng und auf Grund politischer Interessen im Laufe der<br />
letzten Jahrhunderte diverse Versuche der kartographischen Repräsentation einer<br />
innereurasischen Kontinentalgrenze gegeben. Hier abgebildet ist die Grenzziehung<br />
Philip Johan von Strahlenbergs, der 1730 im Auftrag des russischen<br />
Zaren die bis heute in Europa ‚anerkannte‘ Kontinentalgrenze definierte – entlang<br />
des Urals, der Manytsch-Niederung nördlich des <strong>Kaukasus</strong> und durch das<br />
Schwarze Meer. Strahlenbergs Vorschlag einer innereurasischen Grenze wurde<br />
zwar seinerzeit von Geografen und anderen Forschern angenommen, Hauptmotiv<br />
war aber vermutlich weniger ein wissenschaftlicher Anspruch als die russische<br />
Zarenpolitik, deren Ziel die Hinwendung nach Europa war.<br />
Die fortdauernde Unklarheit dieser Grenzdefinition spiegelt sich besonders deutlich<br />
in der Region des Südkaukasus wieder. Wie wird diese Situation in Georgien<br />
und Aserbaidschan wahrgenommen? Auf einer Reise nach Tiflis und Baku sprachen<br />
wir mit Stadtbewohnern und Experten über Werte, Identität, Zugehörigkeit<br />
und Abgren<strong>zu</strong>ng. In diesem Heft zeigen wir Ihnen einen Ausschnitt der individuellen<br />
Grenzdefinitionen unserer Interviewpartner. Hierbei haben wir unseren<br />
Gesprächspartnern keine Indikatoren vorgegeben. Wichtig war uns vor allem,<br />
die subjektive Wahrnehmung der Reichweite von Europa und Asien <strong>zu</strong> erfassen.<br />
Wie haben die jeweiligen Gesprächspartner ihre gefühlte Grenze visualisiert?<br />
<strong>Grenzgänger</strong> <strong>Kaukasus</strong>
Grenzen von 17 Interviewpartnern in der georgischen Hauptstadt Tiflis<br />
Tiflis, Georgien
Alexander Rondeli<br />
„Sometimes Europe looks at us like at<br />
Mongols but we have no other choice<br />
than to fight until the end to become a<br />
part of the European family. Georgia<br />
has no other choice to survive.“<br />
Alexander Rondeli ist Leiter des GFSIS (Georgian Foundation<br />
for Strategic and International Studies), eines der führenden<br />
politikwissenschaftlichen Institute Georgiens. Geboren und<br />
aufgewachsen in Tiflis, wirkte Alexander Rondeli als Professor<br />
unter sowjetischer Herrschaft. Nach der Unabhängigkeit<br />
Georgiens arbeitete er im Außenministerium und an der Universität<br />
Tiflis. Für ihn ist die weitere Hinwendung Georgiens <strong>zu</strong><br />
Europa alternativlos – alles andere führt in seinen Augen <strong>zu</strong>m<br />
geopolitischen Untergang seiner Heimatnation.
Nick Davitashvili<br />
„To use a metaphor: a little child that<br />
likes to get dirty, that’s Georgia. And<br />
I don’t mean this in a bad way, I liked<br />
to get dirty as a child.“<br />
Nick Davitashvili ist Informatiker, Besitzer des einzigen usbekischen<br />
Restaurants in Georgien und Musiker (Sirte) – kur<strong>zu</strong>m,<br />
ein echter Tifliser Kosmopolit. Auf diversen Reisen, wie <strong>zu</strong>m<br />
Beispiel durch Nepal und Indien, festigte sich seine Überzeugung,<br />
dass Georgien eindeutig <strong>zu</strong> Asien gehört. Diese Einschät<strong>zu</strong>ng<br />
begründet er insbesondere durch die eindeutig<br />
asiatischen Einflüsse in der georgischen Musik.
David Turashvili<br />
„We want to be part of Europe be-<br />
cause we have no other solutions, we<br />
have 300 years of experience with<br />
Russia and we still have problems.<br />
The same thing with the USA. And<br />
USA is so far away from our country.<br />
So Europe is the only solution,<br />
but it’s not easy for Georgia. Georgia<br />
is something in between, something<br />
mixed.“<br />
David Turashvili gilt als einer der wichtigsten georgischen<br />
Schriftsteller der Gegenwart. In seinem Bestseller „Die Jeansgeneration“<br />
(der inzwischen auch ins Deutsche übersetzt worden<br />
ist) zeichnet David Turashvili ein bedrückendes Bild junger<br />
Georgier in den 1980er Jahren, die sich kulturell und politisch<br />
nach Westen orientieren. Für ihn repräsentiert die Stadt Tiflis<br />
selbst die Grenze zwischen Asien und Europa.
Lado Vardosanidze<br />
„I’m absolutely sure that a specific<br />
Caucasian culture exists. And we are<br />
neither Europeans, nor Asians. We<br />
are Caucasians.“<br />
Vladimer (Lado) Vardosanidze ist Architekt und Stadtplaner.<br />
Er lehrt an der International Georgian Technical University und<br />
ist der Vorsitzende der Association of Urbanists of Georgia.<br />
Als Kind seiner Stadt beschwört er das kollektive Gedächtnis,<br />
welches Tiflis innewohnt. Für ihn stellt der <strong>Kaukasus</strong> einen eigenständigen<br />
Kulturraum dar. Lado Vardosanidze empfindet<br />
Grenzziehungen als ein rückständiges Phänomen, das allein<br />
in den Köpfen existiert.
Wato Tsereteli<br />
„Geschichtlich war der <strong>Kaukasus</strong> ein<br />
Tor. Es sind Tore zwischen Zivilisationen,<br />
so sehe ich das. Und wir haben<br />
da eine sehr spezielle Rolle. Diese<br />
Rolle ist nicht dominant. Vielleicht ist<br />
es eine passive Rolle, aber trotzdem<br />
haben wir den Schlüssel <strong>zu</strong> diesen<br />
Toren.“<br />
Wato Tsereteli ist Künstler, Fotograf und Kurator. Er studierte<br />
Film in Tiflis und Fotografie im belgischen Antwerpen. Als Initiator<br />
des ersten „Georgian Center of Contemporary Art“ organisiert<br />
er internationale Ausstellungen und Workshops. Mit<br />
der Cumbo Group veranstaltet er alternative Stadtführungen<br />
durch Tiflis. Der Künstler ist für ihn ein aktiver Gestalter seiner<br />
Umwelt. Er sieht die Zukunft des <strong>Kaukasus</strong>‘ in der Bildung<br />
einer ökonomischen und kulturellen Union mit seinen Nachbarregionen.
Kakha Gogolashvili<br />
„Tbilisi is becoming a multicultural<br />
European city like Paris, Vienna,<br />
Moscow etc.“<br />
Kakha Gogolashvili gilt als einer der führenden Politikwissenschaftler<br />
Georgiens. In den 1990er Jahren hat er als Mitarbeiter<br />
des georgischen Außenministeriums an den Verhandlungen<br />
<strong>zu</strong>m Partnerschafts- und Kooperationsabkommen<br />
zwischen der EU und Georgien teilgenommen. Seiner Meinung<br />
nach gehört Georgien nicht nur kulturell, sondern auch<br />
politisch <strong>zu</strong> Europa. Eine EU-Mitgliedschaft seines Heimatlandes<br />
hält er in zwanzig bis dreißig Jahren für möglich.
Lasha Bakradse<br />
„Dieses Gefühl des Nirgendwohin-<br />
Gehörens beschreiben wohl am besten<br />
die Worte des Erzgauners der<br />
georgischen Literatur Kwatschi<br />
Kwatschantiradse aus dem gleichnamigen<br />
Roman von Michael Dschsawachischwili.<br />
Als die Briten die georgische<br />
Hafenstadt Batumi 1920 als<br />
Schutzmacht Georgiens verlassen,<br />
sagt er: ‚Europa ist weggegangen.<br />
Wir sind wieder allein geblieben in<br />
Asien.‘“<br />
Lasha Bakradse ist Direktor des georgischen Literaturmuseums<br />
und Professor für sowjetische Geschichte Georgiens. Er<br />
engagiert sich außerdem im „Soviet Past Research Laboratory“,<br />
für das er unter anderem eine Stadtkarte <strong>zu</strong>m Roten<br />
Terror in Tiflis entworfen hat. Lasha Bakradse ist auch als<br />
Stadtaktivist bekannt, da er sich für die Erhaltung des kulturellen<br />
und architektonischen Erbes von Tiflis einsetzt. Tiflis ist<br />
für ihn ein Beispiel natürlich gewachsener Multikulturalität und<br />
Toleranz, eine einzigartige Stadt, die weder dem Orient, noch<br />
dem Okzident angehört.
Grenzen von 17 Interviewpartnern in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku<br />
Baku, Aserbaidschan
Orkhan Aliyev<br />
„We are not part of Asia or the Midd-<br />
le East. (...) We belong to Europe to<br />
my personal perception but people<br />
are not European yet, we need more<br />
education for it, we still have a Middle<br />
Eastern mindset. (...) We need to<br />
educate people about European identity.“<br />
Orkhan Aliyev hat vor Kurzem sein Studium in London und<br />
Brüssel beendet und arbeitet seitdem bei der Nichtregierungsorganisation<br />
Oxfam in Baku <strong>zu</strong>m Thema Armutsbekämpfung<br />
in Aserbaidschan. Für ihn sind Aserbaidschaner<br />
„Turkic speaking, Russian educated Shii muslims“ und finden<br />
sich somit an der Schnittstelle nicht nur zwischen Asien und<br />
Europa, sondern auch zwischen den regionalen Kulturen und<br />
Traditionen.
Rovshan Rzayev<br />
Rovshan Rzayev ist seit acht Jahren Abgeordneter im aserbaidschanischen<br />
Parlament. Zu Sowjetzeiten war er Richter<br />
am Verwaltungsgericht. Als gebürtiger Bakuer versteht er<br />
Aserbaidschan als ein muslimisches Land auf dem Weg nach<br />
Europa. In seinen Augen ist der größte Reichtum Aserbaidschans<br />
die Freiheit.
Murad Abuzarli<br />
„Unsere Kultur ist asiatisch, europäische<br />
Werte werden aber von der Gesellschaft<br />
immer mehr geachtet, da<br />
es als attraktiv angesehen wird, <strong>zu</strong><br />
Europa <strong>zu</strong> gehören. Nationale Eigenschaften<br />
sollten bei der Annäherung<br />
an Europa aber behalten werden,<br />
denn Uniformität ist langweilig.“<br />
Murad Abuzarli ist ein 17-jähriger Schüler und absolviert gerade<br />
sein Abitur. Die Geschichte Aserbaidschans sieht er als<br />
einen langen Weg <strong>zu</strong>r Freiheit. Für ihn ist es schwer, <strong>zu</strong> beurteilen,<br />
ob Aserbaidschan <strong>zu</strong> Europa gehört oder nicht. In<br />
Aserbaidschan wird das Land selbst häufig als die Grenze<br />
verstanden, da europäische und asiatische Werte hier im Einklang<br />
stehen.
Anar Valiyev<br />
„We‘re going towards a marble<br />
urbanity.“<br />
Anar Valiyev ist Assistant Professor und Dekan der School<br />
of International Affairs der Azerbaijan Diplomatic Academy. Er<br />
studierte Geschichte an der Baku State University, wobei „Public<br />
Policy of Post Soviet Republics“ sein Spezialgebiet darstellt.<br />
Seinen zweiten Abschluss erlangte er in Public Policy<br />
an der School of Public and Environmental Affairs der Indiana<br />
Univerity in Bloomington.
Seymour Javadov<br />
“Why should other countries be interested<br />
in Azerbaijan except for the<br />
oil?”<br />
Seymour Javadov arbeitet als Statistiker für das Caucasus<br />
Research Resource Center in seiner Heimatstadt Baku. Im<br />
Gegensatz <strong>zu</strong> vielen seiner Altersgenossen sieht er die rasanten<br />
Veränderungen Bakus kritisch und zieht sich gerne in die<br />
ruhigeren Außenbezirke <strong>zu</strong>rück. Für Seymour Javadov ist die<br />
Annäherung von Europa und Aserbaidschan vor allem durch<br />
geschäftliche Interessen geprägt.
Rachmann Badalov<br />
„Generell ist der <strong>Kaukasus</strong> nicht Europa.<br />
Unser ganzes Leben ist weit<br />
entfernt vom europäischen, auch<br />
wenn wir uns ständig vergleichen.<br />
Europa ist es gewohnt, nach einem<br />
Gesetz <strong>zu</strong> leben, hier sind wir das<br />
nicht gewohnt – wir verstehen einfach<br />
nicht, was das ist. Wir haben<br />
eine absolut uneuropäische Denkweise.<br />
Aber – wir sind auf dem Weg<br />
dahin.“<br />
Rachmann Badalov wurde im Jahre 1937 geboren und lebt<br />
in Baku. Er ist Doktor der Philosophie, Professor und Autor<br />
von mehreren Büchern und über 400 Artikeln. Er arbeitet im<br />
Institut für Philosophie, Soziologie und Recht der nationalen<br />
Wissenschaftsakademie. Seit Kurzem hat er einen eigenen<br />
Blog, in dem er über aktuelle Themen von Baku und Aserbaidschan<br />
schreibt.
Lala Huseynova<br />
„Here, it’s a mixture between Eastern<br />
traditions and Western ways<br />
of development. As the Soviet Union<br />
disintegrated, there was a transition<br />
period, and I would say we are still<br />
in transition.“<br />
Lala Huseynova ist russischstämmige Bakuerin, die sich bei<br />
der Nichtregierungsorganisation Eurasia Partnership Foundation<br />
für Jugendprojekte in ländlichen Regionen engagiert.<br />
Für Lala Huseynova liegt Aserbaidschan nicht in Europa, unter<br />
anderem wegen der urbanen Entwicklung Bakus, die der<br />
Stadt den Charakter raubt.
Impressum<br />
Unser Projekt „<strong>Grenzgänger</strong> <strong>Kaukasus</strong>“<br />
ist Teil des Jahrgangs 2011/2012 des<br />
<strong>Studienkolleg</strong>s <strong>zu</strong> <strong>Berlin</strong>, einer gemeinsamen<br />
Initiative der Studienstiftung des<br />
deutschen Volkes und der Gemeinnützigen<br />
Hertie-Stiftung in Kooperation mit<br />
dem Wissenschaftskolleg <strong>zu</strong> <strong>Berlin</strong> und<br />
der <strong>Berlin</strong>-Brandenburgischen Akademie<br />
der Wissenschaften.<br />
Schreiben Sie uns:<br />
grenzgaenger.kaukasus@googlemail.com<br />
Joanna Kalicka<br />
Geschichte und Osteuropastudien<br />
Warschau, Polen<br />
Dorothea Külbel<br />
Architektur<br />
Dresden, Deutschland<br />
Claudine Reckmann Bertrán<br />
VWL und Management<br />
Oldenburg, Deutschland<br />
David Rinnert<br />
Public Policy<br />
<strong>Berlin</strong>, Deutschland<br />
Dmitry Shigaev<br />
Politikwissenschaft<br />
Astrachan, Russland<br />
Friedrich Wittenbecher<br />
Humanmedizin<br />
<strong>Berlin</strong>, Deutschland