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PD Dr. Wolfgang Schrödter 50 Jahre ZeitRaum Jubiläum der ...

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<strong>PD</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Wolfgang</strong> <strong>Schrödter</strong><br />

<strong>50</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>ZeitRaum</strong><br />

<strong>Jubiläum</strong> <strong>der</strong> Erziehungs-, Familien- und Lebensberatung<br />

<strong>der</strong> Evangelischen und Katholischen Kirche in Hagen, 27.10.2010<br />

Zukunft <strong>der</strong> Beratung<br />

Sehr geehrte Festgäste, sehr geehrte Damen und Herren,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

herzlichen Glückwunsch an Sie und Ihre Beratungsstelle zu Ihrem <strong>50</strong>jährigen <strong>Jubiläum</strong>,<br />

herzlichen Dank für die freundliche Einladung, aus diesem Anlass heute zu Ihnen zu<br />

sprechen.<br />

Stichworte zu einer Epoche: die 19<strong>50</strong>er und 1960er<br />

Wenn wir aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Gegenwart einen Moment zurück blicken: was war 1960<br />

für eine „Zeit“, als die hiesige Beratungsstelle gegründet wurde? Wie lauteten Fragen und<br />

Themen und was könnte die Evangelische Kirche damals veranlasst haben, eine<br />

Beratungsstelle zu gründen? Und zwar eine Beratungsstelle, die sich mit Ehe, Partnerschaft,<br />

Familie und Erziehung beschäftigt, speziell mit Problemen, schwierigen Entscheidungssituationen,<br />

Übergängen und Wendepunkten, mit zugespitzten Krisen und Konflikten? Zu<br />

<strong>der</strong>en Bewältigung nun therapeutische Methoden eingesetzt werden, die beispielsweise <strong>der</strong><br />

Psychologie o<strong>der</strong> Pädagogik, <strong>der</strong> Psychoanalyse o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Therapieschulen entstammen?<br />

Man darf vielleicht sagen, dass damit eine neue Form von Seelsorge in <strong>der</strong><br />

Kirche Einzug hielt.<br />

Es liegt auf <strong>der</strong> Hand, dass die gesellschaftliche Situation damals in den 19<strong>50</strong>ern und 60ern<br />

eine an<strong>der</strong>e war als die heutige; aber, es gibt daneben auch eine verblüffende Ähnlichkeit<br />

und Kontinuität <strong>der</strong> Themen. Ein Beispiel aus <strong>der</strong> Familienpolitik: In einer Regierungserklärung,<br />

in <strong>der</strong> er die Notwendigkeit zur Schaffung eines eigenen Familienministeriums<br />

begründete, führte Bundeskanzler Konrad Adenauer am 20. Oktober 1953 im Bundestag<br />

aus:<br />

"Die wachsende Überalterung des deutschen Volkes steigt andauernd“.<br />

Adenauer fragt, wie "durch konstante Zunahmen <strong>der</strong> Geburten <strong>der</strong><br />

Prozentsatz <strong>der</strong> im produktiven Alter stehenden Personen" erhöht werden<br />

könne, um zu dem Schluss zu gelangen: "Helfen kann nur eines: Stärkung<br />

<strong>der</strong> Familie und dadurch Stärkung des Willens zum Kind“. (Das Protokoll des<br />

Bundestages vermerkt „Beifall bei den Regierungsparteien“). 1<br />

Das klingt doch ungeheuer aktuell. Auch heute beschäftigt sich Familienpolitik vorrangig mit<br />

einer zentralen Frage: wie <strong>der</strong> Staat es schaffen könnte, die (gebildete) Frau zum<br />

Kin<strong>der</strong>kriegen zu bewegen.<br />

1 DER SPIEGEL 38/1954


Natürlich sind in <strong>der</strong> frühen Nachkriegszeit die Gründe für die „Problematik“ ganz an<strong>der</strong>e als<br />

heute. Aber schon damals wurde, was die Familienfreundlichkeit <strong>der</strong> Epoche anbelangt,<br />

massive „Zeitgeistkritik“ geübt. Noch einmal Adenauer:<br />

„Die ganze Entwicklung unserer Zeit ist <strong>der</strong> Gründung einer gesunden Familie<br />

abträglich. Es handelt sich dabei nicht nur um ein moralisches Problem; es<br />

wirken viele Umstände zusammen“. 2<br />

Was bedeutet das? Neben drängenden Wohnungs- und finanziellen Problemen machte man<br />

damals noch an<strong>der</strong>e Gründe für die mutmaßliche Krise <strong>der</strong> Familie aus. Der erste<br />

Familienministerminister <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland, Franz-Josef Wuermeling, kritisierte<br />

in diesem Zusammenhang den zeitgenössischen Film sowie Rundfunk und Presse:<br />

„Alle Bemühungen für unsere Familien werden vergebens sein, wenn die<br />

Auffassungen über das wahre Wesen und die Bedeutung von Ehe und Familie<br />

durch die Mittel öffentlicher Meinungsbildung - Film, Rundfunk, Presse -<br />

verwässert und verfälscht werden“.<br />

"Vor allem ist es <strong>der</strong> Film, den wir lei<strong>der</strong> weitgehend für die Zerstörung von<br />

Ehe und Familie mitverantwortlich machen müssen ... Nicht Prü<strong>der</strong>ie und<br />

altjüngferlicher Moralismus, son<strong>der</strong>n das ewig gültige Richtbild von Ehe und<br />

Familie sollen bei <strong>der</strong> Beurteilung maßgebend sein. Im Mittelpunkt vieler<br />

Durchschnittsfilme steht lei<strong>der</strong> das Erotische ...“. 3<br />

Die Ähnlichkeiten zur Gegenwart liegen wie<strong>der</strong>um auf <strong>der</strong> Hand. Bereits in den Fünfzigern<br />

sah man viele psychosoziale Entwicklungen quasi voraus: zum Beispiel die zunehmende<br />

Diversität von Lebensformen, Partnerschafts- und Familienmodellen, heute würden wir in <strong>der</strong><br />

Begriffssprache <strong>der</strong> soziologischen Mo<strong>der</strong>nisierungstheorie von „Pluralisierung und<br />

Individualisierung“ sprechen. Man nahm wahr, wie Orientierungen, Normen und Werte in<br />

punkto Ehe und Familie vielfältiger wurden. Dass die Medien dabei eine nicht zu unterschätzende<br />

Rolle spielen würden, ahnten Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit ebenfalls.<br />

Unübersehbar auch <strong>der</strong> Anstieg <strong>der</strong> Zahl „zerrütteter“ Ehen, wie man sie damals nannte, und<br />

die steigenden Scheidungszahlen – auf <strong>der</strong> Homepage Ihrer Beratungsstelle wird <strong>der</strong><br />

Themenkomplex „Trennung/Scheidung“ gleich auf <strong>der</strong> ersten Seite angesprochen; ein<br />

damals wie heute bedeutsames Thema 4 .<br />

Zunehmende Ehescheidungen führten Anfang <strong>der</strong> 1960er auf gesellschaftlicher und<br />

politischer Ebene zu erheblichen Diskussionen. Eine Weile noch versuchte Politik, dem<br />

„Problem“ sozusagen repressiv bei zu kommen. Folgende Ausführungen dokumentieren eine<br />

solche Linie:<br />

2 Ebenda<br />

3 ebenda<br />

4 Am Rande angemerkt: Es ist wichtig, von „Trennung/Scheidung und Verlust“ zu sprechen. Ehen<br />

werden überwiegend durch Tod gelöst. Fast zwei <strong>Dr</strong>ittel aller Ehelösungen im <strong>Jahre</strong> 2008 sind auf den<br />

Tod eines Partners zurückzuführen, etwa ein <strong>Dr</strong>ittel endet durch Scheidung. Die Zahlen im Einzelnen:<br />

532.762 Ehen wurden in 2008 aufgelöst, darunter 63,9 % durch Tod eines Ehepartners, 36,0 % durch<br />

Scheidung und unter 1 Promille (200 Fälle) durch gerichtliche Aufhebung. Die Tendenz verschiebt sich<br />

Jahr für Jahr in Richtung „Ehelösung durch Scheidung“.<br />

2


Für "Fahnenflüchtige <strong>der</strong> Ehe“, so <strong>der</strong> Bundesfamilienminister Wuermeling<br />

1961 vor dem "Familienbund <strong>der</strong> Deutschen Katholiken" in Bamberg, „wird es<br />

künftig kein Pardon mehr geben. Noch ehe <strong>der</strong> Sommer vorüber ist, soll es<br />

praktisch unmöglich sein, selbst völlig zerrüttete Ehen zu scheiden, wenn<br />

einer <strong>der</strong> Ehepartner wi<strong>der</strong>spricht“. 5<br />

Ganz so kam es dann doch nicht. Die beginnenden 60ger, die Gründungszeit von<br />

„<strong>ZeitRaum</strong>“, waren jedenfalls geprägt vom allmählichen Abschied von jenem traditionellen<br />

Modell, das man gemeinhin als „Hausfrauenehe“ bezeichnet.<br />

Relativ deutlich fiel die Kritik am althergebrachten Rollenmodell in Ehe und Familie im Ersten<br />

Familienbericht (1968) <strong>der</strong> Bundesregierung aus 6 . Dass die Erwerbstätigkeit <strong>der</strong> Frau sowie<br />

höhere Qualifizierungsansprüche bei <strong>der</strong> konstatierten Tendenz in Richtung „demokratischpartnerschaftlich<br />

orientierte Familie“ von Bedeutung sind, hebt <strong>der</strong> Bericht ausdrücklich<br />

hervor (z. B. 49, 58ff.). Bruno Heck, zweiter Familienminister <strong>der</strong> Bundesrepublik, sprach<br />

sich vorsichtig für ein "<strong>Dr</strong>eiphasenmodell" im Leben von Frauen aus: Berufstätigkeit bis zur<br />

Geburt des ersten Kindes, Familienphase, danach Rückkehr zur Erwerbsarbeit. Mehr und<br />

mehr Mütter wurden in dieser Zeit erwerbstätig. Die polemische Diskussion um<br />

"Rabenmütter" und "Schlüsselkin<strong>der</strong>" begleitet den sich anbahnenden Rollenwandel <strong>der</strong><br />

berufstätigen Mutter - eine Debatte, die wie<strong>der</strong>um einseitig zu <strong>der</strong>en Lasten ging.<br />

Wir erkennen erneut ein Stück Gegenwart wie<strong>der</strong>: auch dieses Thema, Familie und<br />

Berufstätigkeit <strong>der</strong> Mutter, beschäftigt die öffentlichen Kontoversen wellenförmig immer<br />

wie<strong>der</strong>, je nach aktueller ökonomischer und zeitgeistiger Lage sehen die Antworten verschieden<br />

aus. Aktuelles Stichwort: „Herdprämie“.<br />

Zugespitzt formuliert: Die sechziger des vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts waren <strong>Jahre</strong> von<br />

Aufklärung und Emanzipation. Aufklärung bedeutete weit mehr und an<strong>der</strong>es als Sexualaufklärung.<br />

Es ging um ein verän<strong>der</strong>tes, neues Selbstverständnis von Frau und Mann, von<br />

<strong>der</strong> Beziehung zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kin<strong>der</strong>, Alt und Jung. Das,<br />

was man in Deutschland unter dem Kürzel „antiautoritäre Erziehung“ rezipiert hat (Neill -<br />

Summerhill) gewann Einfluss auf die Pädagogik und das elterliche Verhalten, die arbeitende<br />

Mutter als zunehmen<strong>der</strong> Regelfall, die Erfindung und Verbreitung sicherer Verhütungsmittel,<br />

und schließlich die sogenannten „68er“ spielten ihre jeweilige Rolle in einem umfassenden<br />

Verän<strong>der</strong>ungsprozess. Mit Kant ausgedrückt: es ging in einem umfassenden Verständnis um<br />

die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit!<br />

Die Entwicklung des Beratungswesens<br />

Die Gründung von Beratungsstellen für Erziehungs-, Ehe und Lebensfragen, gehört in<br />

diesen Zusammenhang - die Erziehungsberatung hat noch einmal eine eigene Geschichte,<br />

soweit sie von den Amerikanern nach den Schrecken des Nationalsozialismus unter<br />

„Umerziehungsgesichtspunkten“ ins Leben gerufen wurde.<br />

5 DER SPIEGEL 16/1961<br />

6 Unmissverständlich heißt es an einer Stelle im Ersten Familienbericht: „Patriarchalischer Anspruch<br />

und Vorrang des Mannes in <strong>der</strong> Familie können … zu einem starken Hin<strong>der</strong>nis für die<br />

Persönlichkeitsentwicklung <strong>der</strong> übrigen Familienmitglie<strong>der</strong> werden“ (1968, <strong>50</strong>).<br />

3


Politik und Gesellschaft verabschieden sich zunehmend von repressiven Lösungen, sie<br />

vertrauen auch nicht mehr allein auf die Propagierung allgemeiner Normen, Leitbil<strong>der</strong> und<br />

Werte, son<strong>der</strong>n setzen auf pädagogische, psychologische und therapeutische „Einzelfallarbeit“,<br />

abstrakt formuliert, auf reflexive kommunikative Praxis. Der beraterische Dialog mit<br />

dem Paar, <strong>der</strong> Familie, mit Alleinerziehenden, mit Angehörigen, die an <strong>der</strong> Erziehung <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> beteiligt sind, nimmt an Bedeutung fürs Gemeinwesen zu. Das neue Leitmotto ließe<br />

sich vielleicht so beschreiben: Die mündige Bürgerin bzw. <strong>der</strong> mündige Bürger gestalten und<br />

verantworten ihr Leben, indem sie sich informieren, bilden, selbstkritisch abwägen und<br />

Verhältnisse kritisch in Frage stellen. Unzufriedenheit und Konflikte in <strong>der</strong> Partnerschaft,<br />

Schwierigkeiten im Umgang mit den Kin<strong>der</strong>n, Schulprobleme und an<strong>der</strong>e Zustände werden<br />

nicht mehr als schicksals- o<strong>der</strong> naturgegeben hingenommen.<br />

Wir sollten noch hinzufügen: Der gesellschaftliche Hintergrund ist seiner Zeit geprägt von<br />

einem anhaltenden Zukunftsoptimismus in punkto <strong>der</strong> Lösbarkeit zentraler sozialer<br />

Grundwi<strong>der</strong>sprüche, zu denen im Kern die Arm-Reich-Spaltung zählt. Schelsky's These vom<br />

„Weg in die nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ drückt den hoffnungsvollen Geist <strong>der</strong> Ära<br />

vielleicht am besten aus – die Hoffnung auf eine Gesellschaft, in <strong>der</strong> die Kluft zwischen arm<br />

und reich tendenziell abnimmt und sich die Bürgergesellschaft irgendwo in <strong>der</strong> Mitte trifft.<br />

Vision und Utopie hatten noch eine reale Gestalt.<br />

Unsere beiden Kirchen haben sich an <strong>der</strong> Entwicklung des Beratungswesens aktiv beteiligt.<br />

Die Ehe- und Paarberatung gehört vielerorts auch heute noch zum Monopolangebot <strong>der</strong><br />

katholischen und evangelischen Kirche. Die Motive und Gründe dafür sind vielschichtig und<br />

regional unterschiedlich. Auf eine kurzen Begriff gebracht: Kirche kam zu <strong>der</strong> Auffassung,<br />

dass die Seelsorge da, wo sie an ihre Grenzen stößt, einer Ergänzung bedurfte. Und zwar<br />

durch Methoden <strong>der</strong> Humanwissenschaften und Psychotherapie im Rahmen eines eigenen<br />

innerkirchlichen institutionellen Gefüges.<br />

Nebenbei gesagt: Das bedeutete für unsere Kirchen eine ebenso spannendes wie<br />

spannungsreiches Abenteuer. Die nunmehr ins kirchliche Selbst eintretenden Professionen<br />

und ihre Wissenschaften galten nämlich nicht zu Unrecht als religions- und kirchenkritisch –<br />

was Kirche als institutionell verfasste Ordnung angelangt. Ich kann mich noch gut erinnern,<br />

wie ich früher auf Pfarrkonventen zum Beispiel nach Freuds Religionskritik und meiner<br />

Meinung dazu gefragt wurde – o<strong>der</strong> danach, ob durch meine Beratung Paare<br />

zusammenbleiben, ich also sozusagen „Trennungen verhin<strong>der</strong>e“.<br />

Institutionelle Beratung in <strong>der</strong> Kirche bedeutete von Anfang an dreierlei: (1) Ratsuchende<br />

können das Angebot unabhängig von Alter, Herkunft, Geschlecht, Lebensform, Status und<br />

Religion in Anspruch nehmen; (2) Beratung geschieht auf <strong>der</strong> Basis von Freiwilligkeit; (3)<br />

Beratung ist strikt vertraulich.<br />

Was erbringt Beratung für die Gesellschaft? Institutionelle Beratung in <strong>der</strong> Kirche leistet<br />

einen Beitrag zur Stiftung sozialen Zusammenhalts und Friedens, zu einem Leben in<br />

Solidarität und Gerechtigkeit. In jedem Beratungsgespräch mit einer Alleinerziehenden,<br />

einem Paar o<strong>der</strong> einer (Teil-)Familie stehen immer auch Gerechtigkeits- und Solidaritätsfragen<br />

zur kritischen Diskussion; zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern,<br />

zwischen Einzelnen und <strong>der</strong> sie umgebenden Gesellschaft - zum Beispiel bei<br />

Konflikten mit Institutionen. Ohne ein Minimum an Solidarität würde kein Kind physisch o<strong>der</strong><br />

psychisch überleben – Solidarität ist im Vergleich mit Freiheit dementsprechend auch <strong>der</strong><br />

historisch ältere Wert.<br />

4


Beratung konnte sich über Jahrzehnte in vergleichsweise loser gesellschaftlicher Einbindung<br />

produktiv entwickeln, nutzte Freiräume zum Experimentieren in Praxis und Theorie. Das<br />

multidisziplinäre Team, eine <strong>der</strong> konstitutiven Säulen institutioneller Beratung, bot eine<br />

hervorragende Basis dafür, sich aktiv auf Neuerung und Wandel in <strong>der</strong> Praxis einzustellen.<br />

Eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung kommt in diesem Rahmen auch den Fachverbänden zu,<br />

insbeson<strong>der</strong>e EKFUL und BKE, sowie dem zentralen Ausbildungsinstitut <strong>der</strong> Evangelischen<br />

Kirche in Berlin, kurz EZI. Die hier geleistete Ausbildungs-, Forschungs- und Konzeptionsentwicklungsarbeit,<br />

die Leistungen im Hinblick auf die Schaffung einer spezifischen<br />

beraterischen Identität, sind kaum hoch genug zu bewerten.<br />

Institutionelle Beratung im Wandel: die Fokussierung auf massive Notlagen<br />

Beim Rückblick auf einige Jahrzehnte des Prozesses <strong>der</strong> Institutionalisierung von Beratung<br />

darf man zunächst noch einmal begründet annehmen: Grundsätzlich sehen Fragen, Krisen<br />

und Problemsituationen, mit denen Ratsuchende die Einrichtungen aufsuchen nicht an<strong>der</strong>s<br />

aus als in den 1970er <strong>Jahre</strong>n. Eifersucht, sexuelle Unzufriedenheit, zunehmende<br />

Sprachlosigkeit in <strong>der</strong> Ehe, Entfremdung des Paares nach <strong>der</strong> Geburt eines Kindes,<br />

Probleme im Umgang mit Alkohol, kindliche Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in <strong>der</strong><br />

Schule o<strong>der</strong> Entwicklungsprobleme in <strong>der</strong> Pubertät sind keine Erfindungen des 21.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts. Aber, die Gewichte haben sich folgenreich verschoben: in Richtung<br />

„allgemeine schwere psychosoziale und sozioökonomische Notlagen“. Situationen, die<br />

einigen sozialen Zündstoff bergen und <strong>der</strong> Gesellschaft in punkto Legitimation sozusagen an<br />

die Substanz gehen. Ich komme sofort auf Beispiele.<br />

In diesem Zusammenhang kommt hinzu, dass die Strukturen <strong>der</strong> Einbindung von Beratung<br />

in gesellschaftliche Systeme, vorrangig das System staatlicher Jugend- und Familienhilfe,<br />

strikter geworden ist. Erwartungen und Anfor<strong>der</strong>ungen seitens lokalem Staat und seiner<br />

Administration, weiterhin des Gesetzgebers und <strong>der</strong> allgemeinen Öffentlichkeit sind präziser<br />

gefasst und lassen vergleichsweise weniger Spielraum als früher.<br />

Die Geschwindigkeit, mit <strong>der</strong> Problemlagen wechseln, mutet imposant an. Zum Beispiel: <strong>der</strong><br />

durch die Pisa-Studie ausgelöste bildungspolitische Schock verschwindet rasch wie<strong>der</strong><br />

zugunsten neuer Themen. Sie heißen Kindesmissbrauch und -misshandlung, Jugend und<br />

Gewalt, AD(H)S, hochstrittige Eltern, Benachteiligung und Ausgrenzung von Migrantenkin<strong>der</strong>n<br />

o<strong>der</strong> die (mutmaßliche) Zunahme sozialer Ängste im Kindes und Jugendalter.<br />

Themen wie Mobbing o<strong>der</strong> Burnout tauchen auf und geraten in den Hintergrund; ein Begriff<br />

wie <strong>der</strong> des Traums hat zurzeit Hochkonjunktur. Dazu kommt die verän<strong>der</strong>te demographische<br />

Struktur: zunehmend suchen ältere Einzelne und Paare Beratung auf, sicherlich<br />

eine anspruchsvolle Zukunftsaufgabe.<br />

Der Zeitdruck wächst, reflektierte Anpassung wird schwierig. Der Elfte Kin<strong>der</strong>- und<br />

Jugendbericht (2002, 83) übt massive Kritik an <strong>der</strong> "Tankermentalität großer freier Träger".<br />

Man erwartet Reaktionsschnelligkeit. Ob die von <strong>der</strong> Kommission angedachte Lösung des<br />

Problems, nämlich freie Zugangschancen für neue Anbieter sozialer Dienste schaffen zu<br />

wollen, tauglich ist, darf bezweifelt werden. Anno 1972 setzte man noch ungehemmter auf<br />

Markt und Konkurrenz, sprich neoliberale Strategien.<br />

Was inhaltliche Gesichtspunkte anbelangt, kann man zugespitzt formulieren: In den 1960ern<br />

hat es Beratung mit den typischen Entwicklungs- und Übergangskrisen in Kindheit, Jugend,<br />

Partnerschaft und Familie zu tun. Zu <strong>der</strong>en Bewältigung entwickelt das Fachfeld ein<br />

differenziertes, im Wesentlichen psychotherapeutisches bzw. paar- und familien-<br />

5


therapeutisches Angebot. Gegen Ende des vergangenen Jahrtausends bekommt Beratung<br />

zunehmend mit den Auswirkungen von Verelendung, prekären sozioökonomischen<br />

Lebenslagen, Kin<strong>der</strong>armut, Flucht, Vertreibung und Migration, häuslicher Gewalt und Ausgrenzung<br />

zu tun.<br />

In <strong>der</strong> Regel ist die „typische Klientel“ einer Erziehungsberatungsstelle von einer<br />

Kombination vieler Belastungen, ungünstiger Verhältnisse (Wohnbedingungen, Schichtarbeit,<br />

mehrere Minijobs, prekäre Beschäftigungsverhältnisse) und Benachteiligungen im<br />

Bildungs- o<strong>der</strong> Gesundheitsbereich betroffen; sowie, natürlich, immer auch unglücklichen<br />

Zufällen – eine schwere Erkrankung zum unglücklichsten Zeitpunkt, ein Unfall o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

plötzliche Verlust eines nahen Menschen zum Beispiel.<br />

Kin<strong>der</strong>armut und strukturelle Benachteiligung betrifft Migrant-/innen in beson<strong>der</strong>er Weise (bei<br />

uns in Höchst in <strong>der</strong> EB 60 % <strong>der</strong> Klient-/innen), aber natürlich auch für deutsche Eltern und<br />

Familien. Im Unterschied zu früheren Zeiten gibt es den Optimismus im Hinblick auf eine<br />

solidarische und gerechte Gesellschaft immer weniger. Konstrukte wie „Risikogesellschaft“<br />

(Beck) o<strong>der</strong> Begriffe wie „Mo<strong>der</strong>nisierungsverlierer“ signalisieren eine verän<strong>der</strong>te zeitgeistige<br />

Stimmung an. Der Machbarkeits- und Fortschrittsglaube weicht mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> einer<br />

Portion Konzeptions- und Hilflosigkeit. Von „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“ jedenfalls<br />

kann keine Rede mehr sein – empirisch nicht und normativ, als Leit- und Zielwert politischen<br />

Handelns, auch nicht.<br />

Einer in Wissenschaft und Politik, zuweilen auch beraterischer Fachwelt, verbreiteten<br />

Skepsis zufolge, sei mit dem Übergang "vom Befehls- zum demokratischen<br />

Verhandlungshaushalt" mit einem Verlust an elterlichem Erziehungswillen und elterlicher<br />

Erziehungskompetenz verbunden. Erziehung werde "eher vermieden und durch eine bloße<br />

Hoffnung auf eine sich von alleine entfaltende Form <strong>der</strong> Selbsterziehung und<br />

Selbstregulation ersetzt" (Zwölfter Kin<strong>der</strong>- und Jugendbericht 2005, 53). Der nachfolgenden<br />

Generation mangele es daher zunehmend an sozialmoralischer Orientierung und<br />

Verhaltenssicherheit. Was hier nüchterne sozialwissenschaftliche Analyse von plumper<br />

Elternschelte auf Talkshowniveau unterscheidet, lässt sich manchmal schwer ausmachen.<br />

Der Befund ist jedenfalls eindeutig: Es verbreitet sich eine ausgeprägte Skepsis in Politik,<br />

Wissenschaft und Öffentlichkeit gegenüber dem, was die private Nische namens Familie in<br />

<strong>der</strong> Gegenwart an sozialisatorischen Leistungen erbringt.<br />

Institutionelle Beratung erhält neue Aufträge und Aufgaben zugeschrieben. Natürlich wäre es<br />

falsch anzunehmen, Beratung sei quasi „ohnmächtiges Opfer“ gesellschaftlicher<br />

Entwicklungen. Das ist natürlich nicht <strong>der</strong> Fall. Dass Migration und Migrationsfolgen, Armut<br />

und Armutsauswirkungen, in <strong>der</strong> Gegenwart für die Beratung zunehmend bedeutsamer<br />

geworden sind, ist eine durchaus gewollte Fokussierung; gerade auch für den Anspruch<br />

einer kirchlichen Einrichtung an sich selbst. In <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland hat heute<br />

jedes vierte Kind einen Migrationshintergrund. Was für die Erziehungsberatung Folgen zeigt.<br />

Unser Träger, <strong>der</strong> Evangelische Regionalverband Frankfurt am Main, hat sehr offensiv das<br />

Thema <strong>der</strong> illegal in <strong>der</strong> Region lebenden Flüchtlinge und Migranten zur Sprache gebracht;<br />

zu einer Zeit, als Viele das Problem und die zugrundeliegenden Tatsachen noch gar nicht<br />

zur Kenntnis nehmen wollten.<br />

Für die Teams bedeutet das unter an<strong>der</strong>em: Der Erwerb interkultureller Kompetenz, die<br />

Beschäftigung von Berater-/innen mit Migrationshintergrund, <strong>der</strong> Einsatz von Dolmetschern.<br />

Vom Willen und Wollen <strong>der</strong> Beratungsstellen und ihrer Träger aber abgesehen: Als<br />

sozusagen „erfolgreich“ institutionalisiertes Angebot bekommt es Beratung zwangsläufig<br />

6


unmittelbar mit den bedrängenden allgemeinen Problemlagen zu tun. Die Alternative<br />

bestünde in einem Rückzug aus dem Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfesystem in geschlossene<br />

soziale Nischen.<br />

Gleichzeitig kommen neue interinstitutionelle Kooperationsstrukuren hinzu o<strong>der</strong> alte<br />

verän<strong>der</strong>n ihr Gewicht. Die meisten Probleme, die sich heute in <strong>der</strong> Beratung stellen, sind<br />

nur durch fachliche Kooperation über die Grenzen von Institutionen hinweg. Beispiele:<br />

Kindeswohlgefährdung (§ 8a - Diagnostik, Risikoabschätzung, Prognose), gerichtsnahe<br />

Beratung auf Anordnung durch Familienrichter (nach § 156 Abs. 1 Satz 4 FamFG 7 ),<br />

Beschützter Umgang, hoch eskalierte Elternbeziehungen, Hilfeplanberatung bei in Aussicht<br />

genommenen Fremdplatzierungen durch des Jugendamt (bke 2009, 14), risikogruppenspezifische<br />

Angebote, Arbeitslosenberatung auf Veranlassung <strong>der</strong> örtlichen<br />

Arbeitsagenturen, Hausbesuche in als beson<strong>der</strong>s benachteiligt bezeichneten Milieus.<br />

Die Wahrnehmung solcher Aufgaben unterliegt ziemlich exakten Konditionierungen.<br />

Beklagt <strong>der</strong> elfte Kin<strong>der</strong>- und Jugendbericht <strong>der</strong> Bundesregierung (2002, 83) noch einen<br />

Mangel an "Leistungspaketen" bzw. "klar definierten Beratungsleitungen" seitens <strong>der</strong> freien<br />

Träger und plädiert für eine "Erhöhung <strong>der</strong> wechselseitigen Verbindlichkeit", so haben sich<br />

die Verhältnisse inzwischen geän<strong>der</strong>t. Etwa für die gerichtsnahen Beratungen: Das auf die<br />

Beschleunigung des Verfahrens im Interesse des Kindeswohls ausgerichtete FamFG legt<br />

dezidiert den Zeitrahmen fest, in dem ein Erstgespräch stattfinden soll; lange Wartezeiten<br />

würden dem Beschleunigungsgedanken zuwi<strong>der</strong> laufen. Logischer Weise muss aus dem<br />

gleichen Grund die Beratungssequenz auf einen überschaubaren Zeitraum arrangiert sein<br />

(bei uns im Projekt in <strong>der</strong> Regel 5 bis 7 Sitzungen); am Ende steht ein Abschlussbericht ans<br />

Gericht und Jugendamt (sowie die Eltern natürlich und die Anwälte).<br />

Wenn die Erziehungs- o<strong>der</strong> Paar- und Lebensberatung also in diesem Kontext mit <strong>der</strong> Justiz<br />

sowie dem Jugendamt kooperiert, muss sie ihre Ressourcen entsprechend einrichten.<br />

Ansonsten ginge <strong>der</strong> vom Gesetzgeber intendierte Effekt. Berater-/innen müssen zudem<br />

akzeptieren, das die Beratung auf gerichtlichen <strong>Dr</strong>uck bzw. Anordnung zustande kommt.<br />

Auch das ist eine Son<strong>der</strong>situation. Kurz: Solche Formen struktureller Kopplung zwischen<br />

Institutionen unterliegen einer eigenen Logik. Sich auf sie einzulassen, bedeutet eine<br />

praktisch und intellektuell interessante Herausfor<strong>der</strong>ung für die Profession <strong>der</strong> Berater-/innen<br />

und die Teams.<br />

Zuweilen drohen sich Grenzen aufzulösen. Etwa zwischen (hoheitlichen) Aufgaben <strong>der</strong><br />

Jugendämter und denjenigen <strong>der</strong> Erziehungsberatungsstellen. In etwas nebulöser Weise<br />

spricht die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung von <strong>der</strong> Übernahme „zusätzlicher<br />

fachdienstlicher Aufgaben“ im Rahmen behördlicher Entscheidungsprozesse; zum Beispiel<br />

<strong>der</strong> eben erwähnten Fremdplatzierungen. O<strong>der</strong>, wenn „Zwangskontexte“ in<br />

„Freiwilligkeitskontexte“ hineinreichen. Neben engagierter Gesellschaftsbeobachtung ist<br />

mehr denn je Sorgfalt im kritischen Nachdenken über die Praxis notwendig.<br />

In den Hintergrund geraten traditionelle Aufgaben <strong>der</strong> Erziehungsberatung im Rahmen des §<br />

28 KJHG, die wir gewohnt sind, mit therapeutischen Mitteln zu erfüllen. Auch die Prävention<br />

zählt dazu. Der Zuschnitt <strong>der</strong> neuen Aufgaben erfor<strong>der</strong>t beraterisch eine stärkere<br />

7 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten <strong>der</strong> freiwilligen Gerichts-<br />

barkeit.<br />

7


pädagogische, teilweise eine aktiv-strategische Orientierung; genuin therapeutische<br />

Leistungen erhalten einen verän<strong>der</strong>ten Stellenwert. Etliche „Fälle“ verlangen ein sorgfältig<br />

durchdachtes Balancieren von direktiver strategischer Intervention und einer eher<br />

verstehend begleitenden Haltung. Viele Fälle, in Ballungsgebieten die meisten, verlangen<br />

eine Kombination von Sozialberatung, Rechtsberatung und klassischer Erziehungsberatung.<br />

Was den Aufbau von Zentren mit verschiedenen Angeboten, einschließlich Familienbildung,<br />

sinnvoll erscheinen lässt.<br />

Zur Konzentration <strong>der</strong> Leistungen institutioneller Erziehungsberatung auf bestimmte Gruppen<br />

und bestimmte Phänomene entwickelt sich parallel im politischen Raum die Diskussion um<br />

die Zuständigkeit des Sozialstaats für Risikogruppen, die zu identifizieren auch die Fachwelt<br />

antritt. Häufig spricht man auch von den „eigentlich Bedürftigen“. Dass hier finanzielle<br />

Erwägungen eine Rolle spielen dürfte klar sein. Der rationale Kern des Ganzen liegt auf <strong>der</strong><br />

Hand: Die Folgen neoliberal verwalteter Globalisierung führen zu erheblichen Verwerfungen<br />

und einer vertieften gesellschaftlichen Spaltung. Man kann gar nicht an<strong>der</strong>s, als Position zu<br />

beziehen. Auch das Gefüge Erziehungs-, Ehe-/Paar- und Lebensberatung, muss sich quasi<br />

entscheiden, für welche „Seite“ <strong>der</strong> Gesellschaft sie sich zuständig sieht. Damit ist eng<br />

verbunden, ob sie weiterhin im Kontext <strong>der</strong> öffentlichen Jugendhilfe angesiedelt sein möchte.<br />

Eine zeitgenössische Primäraufgabe für institutionelle Beratung lautet: Übergänge zu<br />

mo<strong>der</strong>ieren, Anschlüsse her zu stellen - <strong>der</strong> Übergang vom Familiengericht zur Beratungsstelle<br />

beispielsweise, er erfor<strong>der</strong>t Aufträge und Möglichkeiten auszuloten, Sprachen<br />

und Denkweisen unterschiedlicher Akteure zu vermitteln.<br />

Die Stärke von Beratung, von Anfang an interdisziplinär zu arbeiten, stellt für solche<br />

Prozesse <strong>der</strong> Öffnung in Richtung Umweltkopplung eine günstige interne Ressource dar. Der<br />

Prozess aber auch Fragen nach <strong>der</strong> Identität, dem Unterschied, den Spezifika institutioneller<br />

Beratung auf den Plan. Essentials von Beratungspraxis, etwa Fragen <strong>der</strong> Freiwilligkeit und<br />

Schweigepflicht, müssen in einem neuen Anlauf neu diskutiert werden. Wie gesagt: Beratung<br />

kann sich diesem eigendynamischen Prozess nicht entziehen, es sein denn um den Preis<br />

ihrer Deinstitutionalisierung.<br />

Wie schon angedeutet: Die Schaffung von integrierten Zentren repräsentiert wahrscheinlich<br />

die sinnvollste Antwort auf die Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Zeit 8 . Zentren mit hoher Integration<br />

und interner Vernetzung <strong>der</strong> Angebote, fachlichen Kompetenzen und Zuständigkeiten. Zum<br />

Beispiel: Sozialberatung für Flüchtlinge und Migranten, Suchtberatung, Erziehungsberatung.<br />

Eheberatung, Familienbildung – bei uns in Frankfurt-Höchst kommen noch die KITA und die<br />

Gemeinde dazu. Genauere Festlegungen müssen im Kontext <strong>der</strong> regionalen psychosozialen<br />

Versorgung getroffen werden.<br />

Die heikle Frage <strong>der</strong> Autonomie<br />

Freie Träger könnten sich auf den ersten Blick als Gewinner <strong>der</strong> Entwicklung begreifen. "Alle<br />

Leistungen und Einrichtungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe sollen grundsätzlich durch freie<br />

8 „Eltern müssen in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt werden, damit sie ihre Verantwortung<br />

wahrnehmen können. Ziel ist die Schaffung von Einrichtungen mit einem differenzierten Angebot,<br />

welches von Erziehungsberatung, Elternbildung, Gesundheitsberatung, Ernährungsbildung,<br />

Haushaltskursen bis hin zu Sprachkursen für Familien reicht, gemäß dem Prinzip <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von<br />

Eltern und Kin<strong>der</strong>n aus einer Hand. … Niedrigschwellige Angebote unter einem Dach sollen allen<br />

Familien, einschließlich Migrantenfamilien, den Zugang ermöglichen“ (7. Familienbericht, 2006,<br />

Stellungnahme <strong>der</strong> Bundesregierung, XXVIII).<br />

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Träger erbracht bzw. unterhalten werden. Der öffentliche Träger soll als Anbieter nur<br />

auftreten, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist o<strong>der</strong> wenn quantitativ und qualitativ<br />

ausreichende Angebote nicht vorliegen, wozu auch die Gewährleistung eines hinreichend<br />

pluralen Angebotes gehört" (Elfter Kin<strong>der</strong>- und Jugendbericht 2002, 53). Bliebe da nicht die<br />

heikle Frage, wie frei die freien Träger noch handeln können. Die Frage ihrer (relativen)<br />

Autonomie drängt sich geradezu auf; und im selben Atemzug die nach <strong>der</strong> Autonomie <strong>der</strong><br />

Profession <strong>der</strong> Berater-/innen.<br />

Institutionalisierung bedeutet nicht automatisch kontinuierliche Autonomiesteigerung. Wenn<br />

man unter „Autonomie“ etwas naiv die vollständige Selbstregulation aller Belange versteht,<br />

bedeutet <strong>der</strong> Prozess momentan eher einen Verlust. Manche Beobachter sprechen in<br />

diesem Zusammenhang, auf die Berufsgruppe <strong>der</strong> Berater-/innenbezogen, skeptisch von<br />

Tendenzen zu einer Deprofessionalisierung. Dabei spielt das Begriffsverständnis eine Rolle.<br />

Hält man öffentliche Anfor<strong>der</strong>ungen, Erwartungen und Konditionierungen für von außen<br />

einwirkende Zumutungen, wittert mal also rasch Heteronomie, mag eine solche Bewertung<br />

nahe liegen. Denkt man Öffnung und Schließung <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> Institution als<br />

dialektisches Wechselspiel, als Prozess, in dessen Verlauf extern gesetzten Aufgaben<br />

kritisch geprüft und anschließend gegebenenfalls als Selbstverpflichtung übernommen und<br />

ausgestaltet werden, ergeben sich an<strong>der</strong>e Bewertungen.<br />

Wir wollen die Gefahr gesellschaftlicher Vereinnahmung und Instrumentalisierung nicht klein<br />

reden. Beratung lief immer Gefahr, ungewollt einen Beitrag zur Ideologiebildung zu leisten:<br />

Ideologie in <strong>der</strong> Richtung, dass das allgemeine soziale und gesellschaftliche Problem<br />

„eigentlich“ ein privates und individuelles sei. Tendenzen in diese Richtung sind<br />

unübersehbar. Beratung müsste in <strong>der</strong> aktuellen Situation mehr denn je auf sich selbst<br />

angewandt werden: im Sinne von Beratung <strong>der</strong> Beratung, als Praxis des Unterscheidens<br />

zwischen Rat und Tat, als "soziale Möglichkeit des Aufschubs“ von Handlung zugunsten<br />

ausgiebiger Reflexion und Selbstreflexion. Die Frage lautet, ob <strong>der</strong> Beratungsbereich sich<br />

die notwendige Zeit nimmt, o<strong>der</strong> ob er blind und hektisch-hyperaktiv beliebige Positionen<br />

besetzt, <strong>der</strong> Selbstreproduktion halber.<br />

Literatur:<br />

Erster Familienbericht (1968): Die Lage <strong>der</strong> Familien in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland.<br />

Herausgeber: Der Bundesminister für Familie und Jugend. Bad Godesberg.<br />

Elfter Kin<strong>der</strong>- und Jugendbericht (2002): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die<br />

Leistungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe in Deutschland. Herausgeber: Herausgeber: Bundesministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin.<br />

Zwölfter Kin<strong>der</strong>- und Jugendbericht (2005): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und<br />

die Leistungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe in Deutschland. Herausgeber: s.o.<br />

Siebter Familienbericht (2006): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine<br />

lebenslaufbezogene Familienpolitik. Herausgeber s.o.<br />

Priv.- Doz. <strong>Dr</strong>. phil. habil. <strong>Wolfgang</strong> <strong>Schrödter</strong>,<br />

Leiter des Evangelischen Zentrums für Beratung in Höchst<br />

Träger: Evangelischer Regionalverband Frankfurt am Main<br />

Leverkuser Str. 7, 65929 Frankfurt; Tel.: (069) 75 93 67 210<br />

E-Mail: lebensberatung-hoechst@erv-fb1.de;<br />

Web: http://www.beratungszentrum-hoechst.de/<br />

http://www.wolfgangschroedter.de/<br />

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