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Fibromyalgie – endlich ein Ausweg - m&i-Klinikgruppe Enzensberg

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Klaus Klimczyk · Manfred Ruoß · Ingo Haase (Hrsg.)<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>endlich</strong> <strong>ein</strong> <strong>Ausweg</strong><br />

Fachklinik<br />

<strong>Enzensberg</strong>


© m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />

1. Auflage 500 | 9.2006≠<br />

Nachdruck, auch auszugweise, ohne ausdrückliche Genehmigung der Klinik nicht gestattet.<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Vorwort<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

Ingomar Conrad<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

Winfried Häuser<br />

Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

Siegfried Mense<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />

Stefan Lautenbacher<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

H<strong>ein</strong>z-Dieter Basler<br />

Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Wolfgang Hausotter<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

Thorsten Böing<br />

Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

Dirk Kreuzer<br />

Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

Manfred Ruoß und Kerstin Harrabi<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Kognitiv-behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm bei chronischen Schmerzen und<br />

<strong>Fibromyalgie</strong><br />

Oliver Kuhnt und Beatrix Linke<br />

Effekte multimodaler Schmerztherapie bei chronischen Schmerzpatienten unter besonderer<br />

Berücksichtigung der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Ingo Haase, Klaus Klimczyk, Oliver Kuhnt und Manfred Ruoß<br />

Verzeichnis der Autoren<br />

3


Klaus Klimczyk Vorwort<br />

Der Weg ist das Ziel<br />

LAOTSE<br />

Vorwort<br />

Es gibt wohl nur wenige Krankheiten, die so kontrovers diskutiert werden, wie die <strong>Fibromyalgie</strong>.<br />

Ist es <strong>ein</strong>e körperliche oder <strong>ein</strong>e seelische Erkrankung? Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen<br />

diesen Polen: Mal mehr körperlich, mal mehr psychosomatisch. Ebenso breit gefächert<br />

sind die Behandlungsvorschläge. Nachgewiesenermaßen erfolgreich sind ausschließlich<br />

multimodale und interdisziplinäre Behandlungskonzepte.<br />

Das Dilemma der Erkrankung <strong>Fibromyalgie</strong> drückt sich im Schmerz aus. Schmerz hat viele<br />

Facetten, in der deutschen Sprache gibt es jedoch nur <strong>ein</strong> Wort dafür. Die alten Griechen<br />

kannten mindestens fünf Wörter für Schmerz:<br />

• Achos für angstgebundenen Schmerz,<br />

• Algos für mit Kälte verbundenen Schmerz,<br />

• Odyne für Zahnschmerz,<br />

• Ponos, den Schmerz extremer Erschöpfung und<br />

• Kedos, den Schmerz über den Verlust <strong>ein</strong>er geliebten Person.<br />

Die Chinesen sollen sogar über 100 verschiedene Worte für unterschiedliche Schmerzen<br />

kennen!?<br />

Wie würden wohl die <strong>Fibromyalgie</strong>-Kranken der alten Griechen oder der Chinesen ihren<br />

Schmerz ausdrücken? Bemerkenswert dabei ist, dass dieses Krankheitsbild in der Antike<br />

unbekannt war und auch heutzutage in China noch nicht diagnostiziert wird. Ein Phänomen<br />

des spätindustriellen Zeitalters?<br />

Der vorliegenden Band basiert auf Beiträgen für die 3. <strong>Enzensberg</strong>er Schmerztage, die im<br />

November 2004 in Hopfen am See bei Füssen stattfanden. Der Titel der Tagung und des<br />

vorliegenden Tagungsbandes – „<strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>endlich</strong> <strong>ein</strong> <strong>Ausweg</strong>!“ – ist ganz bewusst so<br />

gewählt worden, da es nach Ansicht der Herausgeber für jeden dieser Kranken <strong>ein</strong>en individuellen<br />

(Aus-)Weg gibt. Finden und gehen muss ihn der Kranke selber, wir helfen ihm dabei.<br />

Klaus Klimczyk<br />

4 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> –<br />

<strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

Ingomar Conrad<br />

1. Einleitung: gegenwärtige Schwierigkeiten mit dem Begriff <strong>Fibromyalgie</strong><br />

1.1 Eine kurze Antwort vorweg: Der Beschwerdekomplex "<strong>Fibromyalgie</strong>" ersch<strong>ein</strong>t als<br />

<strong>ein</strong>e Erkrankung des Bewegungssystems<br />

Beschwerden werden von den betroffenen Patientinnen und Patienten (ca. im Verhältnis 6:1)<br />

als körperliche Schmerzen und Schmerzhaftigkeit im Bereich des Bewegungssystems erlebt;<br />

dafür ist auf konservativem Gebiet die Rheumatologie zuständig. Also ließe sich kurz sagen:<br />

der Beschwerdenkomplex <strong>Fibromyalgie</strong> (im Folgenden kurz FM genannt) ist dem Gebiet<br />

Rheumatologie zuzuordnen. Außer Frage steht, dass die betroffenen Patienten fast ausnahmslos<br />

ihre Schmerzen als körperlich im Bereich des Bewegungssystems erleben und<br />

deshalb <strong>ein</strong>e entsprechende Disziplin aufsuchen, die eben die Orthopädie oder die Rheumatologie<br />

ist. Ob die FM jedoch <strong>ein</strong>e rheumatologische Erkrankung im eigentlichen Sinne ist,<br />

das heißt <strong>ein</strong>e Entität darstellt, die diesem Gebiet zuzuordnen ist, steht in der Diskussion.<br />

1.2 Das Verständnis von Schmerz bestimmt das Verständnis der FM<br />

Die Bewertung der Schmerzen als Symptom der FM hängt davon ab, wie wir in unserem<br />

nosologischen Denken die Schmerzen sehen: ob als subjektives psychophysisches Korrelat<br />

<strong>ein</strong>er Organpathologie (incl. <strong>ein</strong>er Functio laesa) oder als Ersch<strong>ein</strong>ung <strong>ein</strong>er Erlebniswelt, in<br />

der der persönlich erlebte Schmerz mehr als nur <strong>ein</strong>e auswechselbare psychophysische Tatsache<br />

ist: Da Ersteres der Fall ist (historisch bedingt durch die naturwissenschaftliche Ausrichtung<br />

der Medizin), untersuchen wir mit „objektiven“ Verfahren, um den Beschwerden bei<br />

der FM als <strong>ein</strong>em krankhaften Geschehen beizukommen, um dieses dann <strong>ein</strong>em Krankheitsbegriff<br />

zuordnen zu können, der <strong>ein</strong>e Entität darstellen würde. Diese „Objektivierung“<br />

stellt in der praktischen Medizin jedoch <strong>ein</strong>en Idealfall dar!<br />

Das Ärztliche Verstehen des Patienten weicht dennoch von dem r<strong>ein</strong>en Objektivismus ab:<br />

Die individuelle Wirklichkeit des Patienten ist maßgeblich für das ärztliche Verstehen. Ärztliche<br />

Diagnostik heißt schlechthin, von dem spezifisch Krankmachenden der <strong>ein</strong>zelnen Person<br />

das prinzipiell Krankmachende zu abstrahieren, die Diagnostik der FM im Besonderen<br />

ist also der Vorgang, dass der Arzt aus dem Verstehen der individuellen Wirklichkeit des Patienten<br />

zum Erkennen des spezifisch Krankmachenden gelangt, welches sich in den Symptomen<br />

der FM äußert. Das muss mehr s<strong>ein</strong> als nur das Erfassen von Symptomen des Be-<br />

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5


Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

wegungssystems auf der phänomenologischen Ebene selbst, ansonsten wäre das „Nur-<br />

Anders-Benennen“ des phänomenologisch Erfassten <strong>ein</strong>e Tautologie.<br />

1.3 Der Begriff <strong>Fibromyalgie</strong> stellt k<strong>ein</strong>e nosologische Entität dar<br />

Die Problematik in der klinischen Anwendung der Kriterien liegt darin begründet, dass der<br />

Begriff FM k<strong>ein</strong>e Entität darstellt, und dass die Fachkollegen des American College of<br />

Rheumatology (ACR), die diese Kriterien formuliert haben, k<strong>ein</strong>en neuen Krankheitsbegriff<br />

haben schaffen wollen, sondern mit der Bezeichnung <strong>ein</strong>e Abgrenzung des Symptomenkomplexes<br />

zum Zwecke wissenschaftlicher Zielsetzungen geprägt haben.<br />

Die Kriterien des ACR von 1990 (1) definieren FM als Muskel-Skelett-Schmerz, der über<br />

mehr als drei Monate andauert, im Körper weitverteilt bis diffus auftritt, das heißt:<br />

• Schmerz im Achsenorgan und<br />

• in mindestens <strong>ein</strong>er Gliedmaße oder<br />

• Schmerz in <strong>ein</strong>er Körperhälfte oder<br />

• Schmerz ober- oder unterhalb der Taille,<br />

nichtentzündlich ist ohne Gelenkbefall vorkommt (röntgenologisch und serologisch k<strong>ein</strong>e<br />

Arthritiszeichen).<br />

Bei der Anwendung dieser Kriterien hat sich der wissenschaftlich und praktisch klinisch<br />

Tätige folgende fünf Probleme zu vergegenwärtigen:<br />

1. Die ACR-Klassifikationskriterien der FM sind finalistischer Natur:<br />

2. Die Art der ACR-Klassifikationskriterien sind k<strong>ein</strong>e diagnostischen Kategorien;<br />

3. der Umfang der Kriterien umfasst nur organische Parameter, <strong>ein</strong>e weiter umfassende<br />

Sichtweise mit Einschluss psychischer und sozialer Faktoren fehlt;<br />

4. sie sind deskriptiv, geben k<strong>ein</strong>e pathogenetischen Hinweise;<br />

5. es bestehen unter den mit diesen Kriterien klassifizierten Patienten heterogene Gruppen<br />

mit unterschiedlichen Problemschwerpunkten und -ursachen.<br />

Der Begriff „<strong>Fibromyalgie</strong>“ kann dazu dienen, <strong>ein</strong>e bessere Verständigung über den Symptomenkomplex<br />

zu ermöglichen, darf aber nicht dazu führen, den Begriff mit <strong>ein</strong>em Krankheitsbegriff<br />

von diagnostischem Wert gleichzusetzen.<br />

Es ist bei dieser Sachlage nicht verwunderlich, dass es zu kontroversen Ansichten um den<br />

Symptomenkomplex FM kommt. Konstruktiver in dieser Kontroverse ist weniger die Diskussion<br />

um die phänomenologischen Symptome der FM, als vielmehr gerade die paradigmatische<br />

Untersuchung, worin diese Kontroversen bestehen. Dazu ist es unumgänglich, die Argumente<br />

der Befürworter und Gegner des Begriffes zu hören.<br />

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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

Die Unzulänglichkeiten des Begriffes „<strong>Fibromyalgie</strong>“ (1) und deren Konsequenzen für die<br />

praktisch klinische Tätigkeit liegen in der mangelnde Konsistenz in der Objektivierbarkeit der<br />

FM durch:<br />

• fehlende Röntgenbefunde<br />

• normale Laborwerte<br />

• unspezifische vegetative Beschwerden<br />

• psychische Auffälligkeiten/Komorbidität; folglich:<br />

• kontroverse Beurteilung in der Bewertung des Krankheitsbildes mit<br />

• negativen Auswirkungen auf die Qualität der Krankenversorgung,<br />

• die „Richtigkeit“ der Begutachtung und die<br />

• Rehabilitationschancen der Betroffenen<br />

2. Aktuelle Statements zur FM<br />

Zur Einstimmung auf die gegenwärtige Aus<strong>ein</strong>andersetzung um den Begriff FM seien <strong>ein</strong>ige<br />

charakteristische Statements von amerikanischen und europäischen Spezialisten genannt,<br />

die die Bandbreite unüberbrückbar sch<strong>ein</strong>ender Gegesätze zeigt. Die Auswahl ist absichtlich<br />

pointiert und spiegelt in ihrer Polarisierung die weit aus<strong>ein</strong>ander liegenden Auffassungen<br />

über die FM wider:<br />

Ehrlich: “The sooner we abandon FM as a diagnosis and treat the very real physical and<br />

psychological Symptoms that characterize chronic pain, the better off we and the patients will<br />

be.” (2)<br />

Houdenhove: "New and integrative sciences will bridge the gap between biological and psychological<br />

factors in FM and further elucidate the impact of 'the Story of the body’." (3)<br />

Goldenberg: "FM patients represent a uniform set of Symptoms and signs." (4)<br />

Wolfe: “FM will always be with us ... regardless of what name the syndrome has". (5)<br />

3. Diagnostische Rahmen für die Symptomatologie der FM<br />

3.1 FM – <strong>ein</strong> diagnostisches oder <strong>ein</strong> Strukturproblem?<br />

Die FM steht geradezu paradigmatisch dafür, dass das Verständnis von Schmerz nur auf der<br />

phänomenologisch-somatischen Ebene des Bewegungssystems nicht „ins Schwarze“ trifft.<br />

Die Diskrepanz zwischen dem subjektiven Erleben der Beschwerden und dem Fehlen korrelierender<br />

Befunde wird eher als <strong>ein</strong> Makel objektiver Erkennungsmöglichkeiten gesehen, als<br />

<strong>ein</strong> „Noch-nicht-Erkanntes“, dessen Enthüllung nur <strong>ein</strong>e Frage der Zeit sei. Innerhalb der<br />

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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

somatisch orientierten Medizin wird diese Diskrepanz nicht hinterfragt als Möglichkeit <strong>ein</strong>er<br />

Auswirkung von Antinomien – speziell als nicht richtig erkennbare Wechselwirkung zwischen<br />

dem Geistig-seelischen und dem Körperlichen innerhalb <strong>ein</strong>es verfälschenden Reduktionismus.<br />

Trotzdem besteht Konsens darin, die betroffenen Patienten in <strong>ein</strong>er ganzheitlichen<br />

Sichtweise, sowohl auf der geistig-seelischen als auch auf der körperlichen Ebene wahrzunehmen<br />

und zu behandeln.<br />

3.2 Der bio-psycho-soziale Rahmen der FM<br />

Die intern fachliche Aus<strong>ein</strong>andersetzung um das Krankheitsbild FM gipfelt in dem Gegensatz,<br />

dass der Begriff FM <strong>ein</strong>erseits kategorisch abgelehnt wird und als Sonderform <strong>ein</strong>er<br />

depressiven oder somatoformen Störung bzw. Somatisierungsstörung gesehen wird und auf<br />

der anderen Seite für die FM die Anerkennung als eigenständiges Krankheitsbild des Bewegungssystems<br />

propagiert wird. Die heuristische Frage dafür lautet:<br />

• Sind die Schmerzen Folge <strong>ein</strong>es noch nicht näher bekannten Prozesses im Bereich der<br />

Muskulatur, der Nerven, oder der zwischen Gelenken und Muskulatur befindlichen<br />

Weichteilen,<br />

• oder sind die Schmerzen in <strong>ein</strong>em anderen Kontext zu sehen und zu beurteilen, der sich<br />

der Zuordnung zu <strong>ein</strong>em bestimmten Fachgebiet entzieht?<br />

Die alternative Antwort kann lauten: Wäre Ersteres der Fall, könnte im bio-psycho-sozialen<br />

Modell das FM-Problem innerhalb der Ebenen der Gewebe und Organsysteme gelöst werden,<br />

wäre das Letztere zutreffend, wäre der diagnostische (und therapeutische) Rahmen mit<br />

entsprechenden Konsequenzen weiter zu fassen (s. Abb 1).<br />

Falsch an dieser Alternative ist jedoch die „Oder“-Verknüpfung: es ist nicht auszuschließen,<br />

dass bei der FM beide Aussagen zutreffen, d. h. dass bei der FM sowohl<br />

• <strong>ein</strong> noch nicht näher bekannter Prozess im Bewegungssystem zu Grunde liegt, und<br />

• außerdem <strong>ein</strong>e über das r<strong>ein</strong> Somatische hinausgehende Problematik besteht.<br />

Bei der aktuellen Erkenntnislage zur FM ergibt sich somit zwingend die Erfordernis <strong>ein</strong>es<br />

entsprechend weit gefassten Rahmens innerhalb der in Abb. 1 gezeigten Strukturhierarchie<br />

zur Diagnostik und Therapie der FM. Der paradigmatische Rahmen der FM ist – notwendig –<br />

<strong>ein</strong> bio-psycho-sozialer.<br />

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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

Organsysteme<br />

Organe<br />

Gewebe<br />

Zellen<br />

Moleküle<br />

Atomare Struktur<br />

Abb. 1: Bio-psycho-soziale Strukturhierarchie nach Engel<br />

4. Diagnostische Kriterien der FM<br />

Für die Klinik der FM sind neben den ACR-Kriterien vegetative Symptome und psychische<br />

Komorbidität richtungweisend.<br />

4.1 Somatisch-phänomenologische Kriterien<br />

Die Kriterien, die den Begriff FM somatisch-phänomenologisch kennzeichnen umfassen sind:<br />

• Tenderness,<br />

• Wide spread pain und<br />

• Chronizität (mehr als drei Monate Persistenz der Beschwerden).<br />

Für die Auswahl der Punkte hat sich <strong>ein</strong> Kompromiss zwischen Praktikabilität der Untersuchung<br />

hinsichtlich zeitlichem Aufwand und Repräsentativität im Rahmen des wide spread<br />

pain gebildet:<br />

Lokalisation der Tender Points:<br />

• Trapezius-Ansatz occipital<br />

• Ligg. transversaria C4/5<br />

• Ansatz M. trapezius<br />

• Ansatz M. levator scap.<br />

Gesellschaft<br />

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Gem<strong>ein</strong>de<br />

Familie<br />

Person<br />

Geist<br />

Seele<br />

Körper<br />

9


Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

• Knorpelgrenze 2. Rippe<br />

• Epicondylus lateralis<br />

• Ursprung Glutaeus medius<br />

• Trochanter major<br />

• Pes anserinus<br />

Lokalisation der Kontrollpunkte:<br />

• Stirnmitte<br />

• Clavicula, lat./mittl. Drittel<br />

• Unterarm 5 cm prox, vom Handgelenk<br />

• Daumennagel<br />

• Thenar- Mitte<br />

• M. biceps femoris<br />

• Tuber calcanei<br />

4.2 Kriterien nach Yunus<br />

Im Vergleich dazu sind die von Yunus (6) vor der Festlegung der ACR empfohlenen Kriterien<br />

interessant, die, wenn die vegetativen Begleitsvmptome ausgeprägt sind, nur fünf positive<br />

tender points forderten:<br />

• Mindestens 5 von 20 positiven tender points und<br />

• generalisierte Schmerzen oder Steifigkeit in 3 verschiedenen Körperregionen und<br />

• mindestens 3 von 10 weiteren Kriterien erfüllt:<br />

1. Modulation der Symptome durch körperliche Aktivität,<br />

2. Modulation der Symptome durch Wetter<strong>ein</strong>flüsse,<br />

3. Modulation der Symptome durch Stress/ Ängstlichkeit,<br />

4. Schlafarmut,<br />

5. allgem<strong>ein</strong>e Müdigkeit/ Erschöpfung,<br />

6. Ängstlichkeit,<br />

7. chronische Kopfschmerzen.<br />

8. irritables Kolon,<br />

9. subjektive Schwellungszustände,<br />

10. Gefühllosigkeit, Taubheitsgefühl<br />

Durch diese Nebenkriterien erweitert sich der diagnostische Blick auf <strong>ein</strong> polysymptomatisches<br />

Beschwerdebild mit vegetativen funktionellen Be<strong>ein</strong>trächtigungen und psychischen<br />

Komorbidität Hier sind baldmöglichst Fragen nach Untergruppen des <strong>Fibromyalgie</strong>syndromes<br />

zu klären und <strong>ein</strong>e klinisch sowie gutachterlich brauchbare Einteilung in Schweregrade<br />

umzusetzen, wie sie von Häusser vorgeschlagen wurde.<br />

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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

4.3 Kriterien nach Müller und Lautenschläger<br />

Die FM-Kriterien nach Müller und Lautenschläger (7) sind als diagnostisches Instrument von<br />

größerer Validität. Empfehlenswert sind sie hinsichtlich der Nebenkriterien. Sie berücksichtigen<br />

im klinischen Bild neben den tender points zusätzlich die begleitenden autonomen Funktionsstörungen<br />

– ähnlich wie schon zuvor von Yunus (6) beschrieben – sowie die psychischen<br />

Störungen.<br />

Von den vegetativen Beschwerden stehen die Schlafstörung und die Müdigkeit im Vordergrund.<br />

Ferner zeigt sich bei den Betroffenen neben der Symptomatik am Bewegungssystem<br />

<strong>ein</strong>e verminderte körperliche Leistungsfähigkeit, wobei die Muskulatur <strong>ein</strong>e schnelle Erschöpfbarkeit<br />

mit langsamer Erholbarkeit aufweist.<br />

Allen diesen vegetativen und funktionellen Störungen ist gem<strong>ein</strong>, dass sie im Einzelnen k<strong>ein</strong>en<br />

Befund darstellen, der diagnostisch wegweisend für die FM wäre; auch stellen diese<br />

Störungen k<strong>ein</strong>e spezifischen Befunde dar; jedoch lassen sie in ihrer Gesamtsicht und in<br />

ihrem Muster bei der FM <strong>ein</strong>e gewisse Regelhaftigkeit erkennen, die für die FM wenn auch<br />

nicht spezifisch, so doch typisch ist. Von den genannten Nebenkriterien sollen mindestens<br />

drei erfüllt s<strong>ein</strong>.<br />

Diagnostische Kriterien der FM sind nach Müller und Lautenschläger (7):<br />

• Spontane Schmerzen in der Muskulatur, im Verlauf von Sehnen und Sehnenansätzen<br />

mit typischer stammnaher Lokalisation, die über mindestens dre Monate in drei verschiedenen<br />

Regionen vorhanden sind<br />

• Druckschmerzhaftigkeit an mindestens der Hälfte der typischen Schmerzpunkte (Druckdolorimetrie<br />

oder digitale Palpation mit ca. 4 kp/cm2 mit sichtbarer Schmerzreaktion)<br />

• begleitende vegetative und funktionelle Symptome incl. Schlafstörungen<br />

• psychopathologische Befunde (Depressivität, Verhaltensauffälligkeiten)<br />

• normale Befunde der gängigen Laboruntersuchungen<br />

Für die Diagnose der <strong>Fibromyalgie</strong> sollen mindestens je drei der folgenden vegetativen<br />

Symptome und funktionellen Störungen nachweisbar s<strong>ein</strong>:<br />

• vegetative Symptome<br />

o kalte Akren (Hände)<br />

o trockener Mund<br />

o Hyperhidrosis (Hände)<br />

o Dermographismus<br />

o orthostatische Beschwerden (lage- und lagewechselabhängiger Schwindel)<br />

o respiratorische Arrhythmie<br />

o Tremor (Hände)<br />

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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

• funktionelle Störungen<br />

o Schlafstörungen<br />

o gastrointestinale Beschwerden (Obstipation, Diarrhöe)<br />

o Globusgefühl<br />

o funktionelle Atembeschwerden<br />

o Par- (Dys-) Ästhesien<br />

o funktionelle kardiale Beschwerden<br />

o Dysurie und/oder Dysmenorrhoe<br />

Es gibt <strong>ein</strong>e Fülle von Einzeluntersuchungen zu speziellen Fragen, die zum Ziel haben, Erkennungsmerkmale<br />

der FM zu identifizieren (8). Dabei ist festzustellen, dass das Bemühen<br />

der Forschung um die FM überwiegend von dem in der somalisch orientierten Forschung<br />

konventionell verankerten Grundgedanken getragen wird, dass die für die Beschwerden <strong>ein</strong><br />

wie auch immer geartetes pathognomonisches Substrat zu finden ist.<br />

Die künftigen Bemühungen müssen darauf abzielen, <strong>ein</strong>e Kombination pathologischer Zeichen<br />

und Vorgänge zu identifizieren, die den Beschwerdekomplex der FM im bio- psychosozialen<br />

Raum reproduzierbar abbilden und hinreichend erklären.<br />

5. Somatisch orientierte Theorien über die Pathogenese der gesteigerten Druckschmerzhaftigkeit<br />

Die aktuellen somatisch orientierten Vorstellungen über die Pathogenese der erhöhten<br />

Druckschmerzhaftigkeit und der ausgebreiteten Schmerzbereiche sind von Weiget et al. (9)<br />

zwei Hauptrichtungen zugeordnet worden:<br />

• Die erste umfasst die Veränderungen auf der humoralen Ebene, die zu erhöhter<br />

Schmerzsensibilität aufgrund erniedrigter Schmerzschwelle führen, wie sie bei chronischen<br />

Überforderungs-Situationen und -zuständen des humanen Stress-Reiz-<br />

Reaktionssystems ablaufen können (linke Hälfte der Abb. 2); hier sind insbesondere die<br />

Achsen der endokrinen Regulationssysteme von Schilddrüse, der Gonaden und der Nebenniere<br />

von Bedeutung, daneben spielen das Wachstumshormon und die Substanz P<br />

<strong>ein</strong>e maßgebliche Rolle.<br />

• Die zweite Ebene beschreibt die morphologisch-zellulären und nerval-humoralen Veränderungen,<br />

wie sie bei den zentralen Sensibilisierungsvorgängen bei neuropathischen<br />

Schmerzen nach entzündlichen oder traumatischen Nervenfunktionsstörungen mit dem<br />

Wind-Up-Phänomen bekannt sind (rechte Hälfte der Abb. 2).<br />

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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

Infections,<br />

Cytokines �<br />

Neuroendocrine<br />

Abnormalities<br />

HPT-<br />

Axis<br />

HPG-<br />

Axis<br />

Emotiotional Trauma,<br />

Stress<br />

Sleep-<br />

Abnormalities<br />

HPA-<br />

Axis<br />

GH-<br />

Axis<br />

LC/NE sympathetic NS NGF �<br />

iCBF Prefrontal Cortex �<br />

iCBF Anterior Cingulate Cortex �<br />

Genetic Susceptability<br />

Muscle Microtrauma<br />

Abkürzungen: HPA = Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-System, HPT = Hypothalamus-Hypophyse-Schilddrüsen-System,<br />

HPG = Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden-System, GH = Wachstumshormon (growth hormone), LC = locus coeruleus, NE =<br />

Noradrenalin (norepinephrine), NGF = Nervenwachstumsfaktor (nerve growth factor), SP = Substanz P, CGRP = calcitoningene-related<br />

peptide, iCBF = intrazerebraler Blutfluss<br />

Abb. 2: Humoral-nervales Pathogenesemodell der vermehrten Schmerzhaftigkeit bei der FM<br />

nach Weigent (9)<br />

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Peripheral NociceptiveTransmission<br />

�<br />

Physical Trauma,<br />

Cytokines �<br />

Altered Collagen<br />

Metabolism at Peripheral<br />

Nerve Endings<br />

SP � SGRP � Dynorphine �<br />

Excitatory<br />

Amino Acids �<br />

Abnormal Pain Thresholds and Generalized Pain<br />

Structural<br />

Defects<br />

Dorsal Horn Spinal<br />

Neuron Excitability �<br />

Nociceptive<br />

Input in Brain �<br />

iCBF Thalamus �<br />

iCBF Caudate Nucleus �<br />

13


Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

Der letztere Teil des Modells (rechte Hälfte von Abb. 3) hat allerdings nur fragliche Bedeutung<br />

für die FM, weil bei ihr per definitionem weder <strong>ein</strong>e Verletzung von Nerven, noch <strong>ein</strong>e<br />

entzündliche Genese der Beschwerden besteht.<br />

Ein aus psychosomatischer Sicht geschaffenes Pathogenesemodell wurde von Egle (10)<br />

formuliert (Abb. 3):<br />

Psychosoziale Prädisposition Biologische Prädisposition<br />

Unsichere Bindung; emotionale Vernach- Temperament: gehemmt, ängstlich<br />

lässigung, Viktimisierung<br />

Versagen im schulischen oder beruflichen Häufige Krankheit, frühe Schmerzerfahrung<br />

Werdegang<br />

Labiles Selbstwertgefühl, Angst, Depression,<br />

Ruhelosigkeit<br />

Störung der Stressverarbeitung, Stressbeantwortung,<br />

sensible Hypervigilanz<br />

(Schmerz, Lärm)<br />

Ausgeprägtes Kontrollverhalten, Hyperaktivität, Perfektionismus, unreife Konfliktbewältigung<br />

Psychosozialer Stressor: familiär, beruflich Biologischer Stressor: Infektion, Trauma,<br />

iatrogene Chronifizierung<br />

Kontrollverlust, Überforderung, narzisstische Krise, Dysfunktion von HPA-/LC-NE-Achse/<br />

deszend. Hemmung, Schmerzzunahme, Erschöpfung, psychovegetative Symptomatik<br />

Ängstlich-hypochondrische Bewertung und Verarbeitung<br />

Körperliche Dekonditionierung, muskuläre Spannung, sozialer Rückzug, negative Affekte,<br />

doctor shopping<br />

Abb. 3: Psychosomatisches Pathogenesemodell der FM nach Egle<br />

In diesem Modell sind die personalen Vorbedingungen aus Entwicklung und Stressverhalten<br />

und die kognitiven Anteile aus der persönlichen Verarbeitung der Krankheit wesentliche zusätzliche<br />

Faktoren für die Entwicklung der Symptomatik, neben den humoral-nervalen Abläufen<br />

auf der somatischen Ebene.<br />

Aus der Entwicklung der letzten Jahre zeichnet sich als Möglichkeit folgende Unterteilung der<br />

FM ab: <strong>ein</strong>e Hauptform stellt <strong>ein</strong>e besondere Form <strong>ein</strong>er chronischen Schmerzerkrankung<br />

mit bevorzugter Symptombildung im Bewegungssystems dar, <strong>ein</strong>e andere Hauptform überlappt<br />

sich weitgehend mit der somatoformen Schmerzstörung.<br />

Andere Möglichkeiten Untergruppen zu schaffen ist naheliegend auf Grund der unterschiedlichen<br />

Ausprägung psychischer Komorbidität, auf Grund des unterschiedlichen Ansprechens<br />

der Patienten auf verschiedene medikamentöse Therapien (Analgetika, Serotonin – Antagonisten,<br />

Antidepressiva), sowie unterschiedlicher Verhaltensweisen bei der Stressverarbeitung.<br />

Für die Praxis und das Begutachtungswesen ist die Einteilung der FM-Patienten in unterschiedliche<br />

Schweregrade <strong>ein</strong> weiteres Nahziel.<br />

14 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

6. Schaffung von Untergruppen und Schweregraden<br />

Untergruppen und Schweregrade zu schaffen ist naheliegend, um den unterschiedlichen<br />

Ausprägungen der Symptomatik und den notwendig entsprechend unterschiedlichen Beurteilungen<br />

gerecht werden zu können, bedarf aber noch weiterer systematischer Forschung und<br />

Konsensbildung.<br />

Die bisher veröffentlichten Vorschläge für Untergruppen und Schweregrade der FM zielen<br />

auf unterschiedliche Aspekte der Erkrankung; u. a. wie folgt dargestellt:<br />

• die Ausprägung der Druckempfindlichkeit, dem Ausmaß der Generalisierung und der<br />

Kombination mit psychischer Komorbidität <strong>ein</strong>schließlich kognitiver Faktoren (bei<br />

Giesecke; 11):<br />

1. Tenderness und wide spread pain,<br />

2. Tenderness,<br />

3. psychische und kognitive Faktoren,<br />

• die durch die Beschwerden verursachten Be<strong>ein</strong>trächtigungen (bei Häuser; 12):<br />

1. Leichtgradiges FMS (K<strong>ein</strong>e Progredienz der Beschwerden und Aktivitätsstörungen,<br />

geringe Aktivitätsstörungen, gutes Ansprechen auf Therapie.<br />

2. Mittelgradiges FMS (Allmähliche Progredienz der Beschwerden und Aktivitätsstörungen,<br />

mittlere Aktivitätsstörungen, partielles Ansprechen auf Therapie,<br />

3. Schwergradiges FMS (Rasche Progredienz der Beschwerden und Aktivitätsstörungen,<br />

ausgeprägte Aktivitätsstörungen, k<strong>ein</strong> Ansprechen auf Therapie):<br />

• die Schwere der konkomitanten Depression (bei Stratz und Müller; 13):<br />

1. <strong>Fibromyalgie</strong> ohne Depression<br />

2. <strong>Fibromyalgie</strong> mit schmerzreaktiven Depressionen<br />

3. <strong>Fibromyalgie</strong> mit endogener depressiver Komponente<br />

4. Somatoforme Schmerzstörung vom <strong>Fibromyalgie</strong>typ<br />

• und auf <strong>ein</strong>e gestörte Stressverarbeitung auf psychobiologischer psychologischer und<br />

biographischer Ebene (bei Egle; 10).<br />

Aus der Zahl und der Art der unterschiedlichen Untergruppen ist erkennbar, dass bei Formulierung<br />

der Untergruppen <strong>ein</strong>e Auswahl stattgefunden hat, die k<strong>ein</strong>e Systematik oder <strong>ein</strong>e<br />

Präferenz <strong>ein</strong>er bestimmten Untergruppe erkennen lässt. Es bedarf weiterer systematischer<br />

Forschung und Konsensbildung, um hier zu <strong>ein</strong>em brauchbaren Ergebnis zu kommen.<br />

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15


Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

7. Das Konzept der „therapeutic domaine“ von Hazemeijer und Rasker – <strong>ein</strong> ernst zu<br />

nehmendes Argument gegen den Begriff FM ?<br />

Außer Zweifel steht, dass das Schmerzverhalten nicht nur die Beschreibung subjektiver<br />

Empfindung darstellt, sondern mit s<strong>ein</strong>en nonverbalen Äußerungen in Mimik, Gestik und<br />

Lautgebung unmittelbar und unbewusst auf den Adressaten (Bezugspersonen, Unfallbeteiligte,<br />

Kameraden etc.) wirkt, nonverbal <strong>ein</strong>e stark appellativ wirkende Botschaft darstellt, deren<br />

Affektgehalt sich der Adressat nicht entziehen kann, wenn er das Maß an Empathiefähigkeit<br />

besitzt, das uns alle in die Wiege gelegt ist.<br />

Schmerzverhalten ist immer kommunikativ, bei FM-Patienten insbesondere stark appellativ,<br />

da diese wegen des Mangels an objektiven Befunden sich unbewusst und/oder aus schlechten<br />

Erfahrungen heraus genötigt fühlen, ihr Schmerzerleben dem Therapeuten durch Augmentierung<br />

des Schmerzverhaltens glaubhaft machen zu müssen. Die Gesamtheit der verbalen<br />

und nonverbalen Äußerungen, sowie die Interaktion mit dem Adressaten nennen wir<br />

Schmerzgestalt.<br />

Die Ausdrucksformen <strong>ein</strong>er Schmerzgestalt b<strong>ein</strong>halten:<br />

1. Äußerung schmerzhafter Empfindung,<br />

2. Äußerung schmerzlicher Befindlichkeit,<br />

3. Signal des Verletzts<strong>ein</strong>s und der Verletzbarkeit.<br />

Dabei sind die Formen des Ausdrucks und deren Ausprägung nicht abhängig von Schmerzursache<br />

oder Schmerzaart, aber charakteristisch für die Persönlichkeit!<br />

Grundsätzlich liegt in der „Schmerz-Kommunikation“ zwischen Patient und Arzt die Möglichkeit<br />

des Missverständnisses und der Fehlattribuierung.<br />

Hazemeijer und Rasker (14) definieren als “therapeutische Domäne”: A therapeutic domain<br />

is a real and heterogenous medical domain, in which people in any form coexist and communicate<br />

(with their thougts, believes and practices, given conditions, laws).<br />

Sie gehen von der Sachlage aus, dass der Gebrauch des Begriffes FM von <strong>ein</strong>er subjektiven<br />

Annahme im Patienten ausgehe, die vom Therapeuten bestätigt wird und/oder umgekehrt,<br />

so dass sich auf der kognitiven Ebene der Bedeutungen <strong>ein</strong> Wechselspiel vollziehe, das in<br />

der „Wirklichkeit“ k<strong>ein</strong>e Entsprechung besitze. Die daraus abgeleitete Folgerung ist, dass der<br />

Begriff FM <strong>ein</strong> logischer Artefakt sei, <strong>ein</strong> auf kognitiver Ebene zustande gekommener Selbstläufer<br />

ohne realen Hintergrund.<br />

Zutreffend ist, dass Bedeutungsunterstellungen im Rahmen von Schmerzerleben <strong>ein</strong>e Rolle<br />

spielen – sie spielen immer und grundsätzlich bei jedem Patienten <strong>ein</strong>e Rolle, der <strong>ein</strong>en<br />

Schmerz erlebt, den er nicht „kennt“, bzw. für den er k<strong>ein</strong>e Erklärung hat. Der Bedeutungsgehalt<br />

verschiebt bzw. erweitert sich je nach Erfahrung und Kenntnis, stellt <strong>ein</strong>en (überle-<br />

16 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

bens-)wichtigen Teil der persönlichen Erfahrung jedes Menschen dar. Die im Rahmen der<br />

kognitiven Prozesse der Schmerzverarbeitung erteilten Bedeutungen können mit der ärztlichen<br />

Erfahrung über<strong>ein</strong>stimmen oder auch nicht; auch hängt die Bedeutung, die dem selbst<br />

erlebten Schmerz im Laufe s<strong>ein</strong>er weiteren Verarbeitung erteilt wird, selbstverständlich ab<br />

vom sozialen Kontext der betroffenen Person und dem kulturellen Kontext der Gesellschaft,<br />

in der der Betroffene lebt. Dieser natürliche Sachverhalt darf aber nicht zu dem Fehlschluss<br />

verleiten, die geistig-logischen Vorgänge der Bedeutungserteilung seien Tautologien oder<br />

Artefakte, wenn ihnen k<strong>ein</strong>e entsprechende "objektivierbare" Anschauung gegenüber gestellt<br />

werden kann (15).<br />

Wir benutzen den Begriff FM als Bezeichnung für <strong>ein</strong>en bestimmten Symptomenkomplex,<br />

der die Ersch<strong>ein</strong>ungsform <strong>ein</strong>es noch nicht genau identifizierten Krankheitsgeschehens bzw.<br />

-zustandes ist. Bis <strong>ein</strong> besseres Verständnis des der FM zugrunde liegenden Krankheitsgeschehens<br />

gewonnen ist, ist die Aufgabe des Therapeuten, wie Ehrlich formuliert: to „treat the<br />

very real physical and psychological Symptoms that characterize chronic pain“ das bedeutet<br />

aber nicht zugleich, dass der Begriff FM abgeschafft werden muss, da wie Wolfe formuliert:<br />

„FM will always be with us ... regardless of what name the syndrome has” (11).<br />

Es ist der Warnung von White (16) zuzustimmen: “Let FM not be another tragic example of<br />

letting ill-informed, malicious logic derail conscientious, methodical attempts to gradually discover<br />

the truth.”<br />

8. <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e rheumatische Erkrankung?<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen, das <strong>Fibromyalgie</strong> mehr als <strong>ein</strong>e rheumatische Erkrankung<br />

ist. Es handelt sich um <strong>ein</strong>e chronische Schmerzstörung, bedingt durch <strong>ein</strong>e mehrschichtige<br />

Störung des Stressreaktions- und Stressverarbeitungssystems mit rheumatisch<br />

ersch<strong>ein</strong>enden Beschwerden, vegetativen Störungen und psychischen Begleiterkrankungen.<br />

Literatur<br />

1. Wolfe F, Smythe HA, Yunus MB, Bennett RM, Bombardier C, Goldenberg DL et al. (1990): The<br />

American College of Rheumatology 1990. Criteria for the classification of fibromyalgia: report of<br />

the multicenter criteria committee. Arthritis Rheum 33: 160-172<br />

2. Ehrlich GE (2003): Symptoms without pathology, Letter to the Editor: Croft, P. Symptopms without<br />

pathology: should we try a little tenderness? [Editorial], Rheumatol 42: 815-817<br />

3. v Houdenhove B (2003): Fibromyalgia: a challange for modern medicine. Clin Rheumatol 22: 1-5<br />

4. Goldenberg DL, Sandhu HS (2002): Fibromyalgia and posttraumatic stress syndrome: another<br />

piece in the biopsychosocial puzzle. Semin.Arthritis Rheum 32: 1-2<br />

5. Wolfe F (2004): From the outside of Plato's cave. Rheumatol43: 112-113<br />

6. Yunus MB (1989): Primary fibromyalgia syndrome: a critical evaluation of recent criteria developments.<br />

Z Rheumatol 48: 217<br />

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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />

7. Müller W, Lautenschläger J (1990): Die generalisierte Tendomyopathie (GTM) – Teil 1: Klinik,<br />

Verlauf und Differentialdiagnose. Z Rheumatol 49: 11-21<br />

8. Pongratz DE, Späth M (1998): Morphologie aspects of fibromyalgia. Z Rheumatol 57, Suppl 2: 47<br />

9. Weigent DA et al. (1998): Current concepts in the pathphysiology of abnormal pain perception in<br />

fibromyalgia. Am J Med Sc 315: 405-412<br />

10. Egle TE, Ecker-Egle ML, Nickel R, v Houdenhove B (2004): <strong>Fibromyalgie</strong> als Störung der zentralen<br />

Schmerz- und Stressverarbeitung – Ein neues biopsychosoziales Krankheitsmodell. Psychther<br />

Psychosom Med Psychol 54: 137-147<br />

11. Giesecke T, Williams DA, Harris RE et al. (2003): Subgrouping of fibromyalgia patients on the<br />

basis of pressure-pain thresholds and psychological factors. Arthritis Rheum 48: 2916-2922<br />

12. Häuser W (2002): Vorschläge für <strong>ein</strong>e Schweregrad<strong>ein</strong>teilung des <strong>Fibromyalgie</strong>syndroms in der<br />

sozialgerichtlichen Begutachtung. Med Sach 98: 207<br />

13. Stratz T, Müller W (2004): Die <strong>Fibromyalgie</strong>. Stuttgart/New York: Georg Thieme (Sonderdruck)<br />

14. Hazemeijer l, Rasker JJ (2003): Fibromyalgia and the therapeutic domaine. A philosophical study<br />

on the origins of fibromyalgia in a specific social setting. Rheumatology 42: 507-515<br />

15. Hattrup D (2002): Die Wirklichkeitsfalle – vom Drama der Wahrheitssuche in Naturwissenschaft<br />

und Philosophie. Freiburg/Basel/Wien: Herder (3. Aufl.)<br />

16. White KP (2004): Fibromyalgia: The Answer Is Blowin’ in The Wind. J Rheumatol 31: 636-639<br />

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Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>syndrom –<br />

<strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

Winfried Häuser<br />

1. FMS im Spannungsfeld von somatischer und psychosomatischer Medizin<br />

Die Ätiologie des <strong>Fibromyalgie</strong>syndroms (FMS) ist zwischen verschiedenen medizinischen<br />

Fachrichtungen und Betroffenen umstritten. Aus psychosomatischer Sicht wird das FMS den<br />

somatoformen Schmerzstörungen bzw. den Somatisierungsstörungen zugeordnet (1). Die<br />

rheumatologisch definierte Krankheitsentität des FMS wird als „iatrogen-artifizielles Syndrom<br />

für <strong>ein</strong>en originär psychosomatischen Symptomkomplex“ bezeichnet (2).<br />

Neurologen und Rheumatologen erkennen inzwischen an, dass manche Patienten, welche<br />

die Klassifikationskriterien <strong>ein</strong>es FMS erfüllen, auch die Kriterien <strong>ein</strong>er anhaltenden somatoformen<br />

Schmerzstörung bzw. Major Depression erfüllen (3, 4). Die „klare Akzentuierung des<br />

Muskelschmerzes in anatomischen Strukturen (Tender points)" (3) bzw. „die Wirbelsäule als<br />

häufiger Ausgangspunkt der Schmerzsymptomatik bei Fehlhaltungen und Fehlformen des<br />

Achsenorgans" (4) sprechen aus neurologischer bzw. rheumatologische Sicht für primär medizinische<br />

Krankheitsfaktoren. Manche Patienten bzw. FMS- Selbsthilfeorganisationen lehnen<br />

das Konzept <strong>ein</strong>er psychosomatischen Erkrankung ab und betonen „organische" Ursachen<br />

wie Stoffwechselstörungen und toxische Umwelt<strong>ein</strong>flüsse. Die meisten Wissenschaftler<br />

und Kliniker stimmen über<strong>ein</strong>, dass die Probleme der Diagnose und nosologischen Einordnung<br />

des FMS und s<strong>ein</strong>er Abgrenzung zu psychischen Störungen auf die unklaren Klassifikationskriterien<br />

der genannten Störungen zurückzuführen sind (2, 3, 5).<br />

2. Probleme bei der Diagnose des FMS sowie der anhaltenden somatoformen<br />

Schmerzstörung bzw. Somatisierungsstörung<br />

Es existieren k<strong>ein</strong>e international gültigen Diagnosekriterien für das FMS. Das FMS wurde<br />

1990 vom American College auf Rheumatology (ACR) definiert (6). Dabei handelt es sich<br />

jedoch um Klassifikationskriterien, welche für wissenschaftliche Zwecke konzipiert wurden,<br />

und nicht um Diagnosekriterien. Die ACR-Kriterien wurden in <strong>ein</strong>er Multizenterstudie entwickelt<br />

und überprüft. Als Kontrollgruppen dienten Patienten mit entzündlich rheumatischen<br />

Erkrankungen und Osteoarthrosen. Die Sensitivität und Spezifität der ACR-Kriterien betrug in<br />

der Abgrenzung zu den genannten Erkrankungen 88 bzw. 81% (6). Die ACR-Kriterien wurden<br />

bisher nicht für Patienten in der Primärversorgung bzw. in nicht- rheumatologischen Settings<br />

validiert. Die ACR-Kriterien wurden von <strong>ein</strong>em US-amerikanischen Expertenkomitee<br />

auch für die klinische Diagnostik als geeignet erachtet (7).<br />

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19


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

In der klinischen Diagnostik des FMS ergeben sich bei der Verwendung der ACR- Kriterien<br />

folgende Probleme:<br />

• Die ACR- Kriterien sind restriktiv: Die Anzahl der definierten Tenderpoints repräsentiert<br />

nur 3% der möglichen Tender Points (7). Die Anzahl und Auswahl der ACR-Tenderpoints<br />

ist zwar ausreichend, um <strong>ein</strong>en „wide spread pain" zu erfassen. Die Abgrenzung zu<br />

muskuloskelettalen Schmerzsyndromen ist jedoch willkürlich. In <strong>ein</strong>er bevölkerungsbasierten<br />

Studie bei deutschen 35- bis 74jährigen Frauen wiesen 22,1% <strong>ein</strong>e Schmerzausdehnung<br />

nach den ACR-Kriterien auf, 12,3% erfüllten auch die ACR-Zeitkriterien und<br />

5.5% wiesen auch mehr als 10 Tenderpoints auf (8).<br />

• Die US-amerikanischen und deutschsprachigen Vorgaben zur Überprüfung der Druckschmerzhaftigkeit<br />

unterscheiden sich: Das ACR empfiehlt <strong>ein</strong>e Druckausübung mit circa<br />

4kp (6), während in deutsprachigen Publikationen häufig <strong>ein</strong>e Druckausübung von 4<br />

kp/cm� (9) empfohlen wird.<br />

• Die Annahmen zur Druckschmerzhaftigkeit sind problematisch: Davon ausgehend, dass<br />

der Druck von 4 kp/cm� beim Gesunden oberhalb und beim FMS-Patienten unterhalb der<br />

Schmerzschwelle liegt, wird bei der Definition <strong>ein</strong>es positiven Tenderpoints nur zwischen<br />

druckschmerzhaft und nicht druckschmerzhaft unterschieden. Bezüglich der Kontinuität<br />

bzw. Diskontinuität der Schmerzschwellen bei Erkrankungen des Bewegungsapparates<br />

liegen jedoch k<strong>ein</strong>e Untersuchungen vor.<br />

• Die Instruktionen zur Druckausübung und zur Bewertung der Reaktion des Untersuchten<br />

sind nicht standardisiert: Während der auszuübende Druck im klinischen Alltag mittels<br />

<strong>ein</strong>es Daumens und in klinischen Studien mittels <strong>ein</strong>es Dolorimeters festgelegt ist, gibt<br />

es k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>heitlichen Angaben über die Instruktionen des Untersuchers an den Probanden,<br />

die Dauer des auszuübenden Drucks sowie die Kriterien der Schmerzhaftigkeit.<br />

• Zur Abgrenzung von regionalen muskuloskelettalen bzw. myofaszialen Schmerzsyndromen<br />

und <strong>ein</strong>em Ganzkörperschmerz bei <strong>ein</strong>em „chronischen benignen Schmerzsyndrom"<br />

wird von deutschen Autoren die Palpation von 5 bilateralen so genannten Kontrollpunkten<br />

empfohlen (10). Patienten, welche die ACR-Kriterien <strong>ein</strong>es FMS erfüllen,<br />

können jedoch auch an sogenannten Kontrollpunkten <strong>ein</strong>e deutlich erniedrigte Druckschwelle<br />

aufweisen. Das Vorhandens<strong>ein</strong> von positiven Kontrollpunkten sollte nicht dazu<br />

verwendet werden, die Diagnose in Frage zu stellen bzw. auf das Vorhandens<strong>ein</strong> von<br />

Aggravation oder <strong>ein</strong>er psychischen Störung zu schließen (7).<br />

• Während US-amerikanische Expertenkommissionen festlegen, dass das FMS k<strong>ein</strong>e<br />

Ausschlussdiagnose ist und diagnostiziert werden kann unabhängig von <strong>ein</strong>er anderen<br />

medizinischen Diagnose (6), wird von deutschen Autoren <strong>ein</strong> sekundäres FMS als Folge<br />

anderer Erkrankungen, z. B. rheumatoide Arthritis, systemischer Lupus erythematodes<br />

oder chronische Hepatitis C unterschieden (10, 11). Bei Nachweis <strong>ein</strong>er internistischen<br />

20 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

Erkrankung, z. B. chronische Hepatitis C oder rheumatoide Arthritis, kann die Unterscheidung<br />

von <strong>ein</strong>em sekundären von <strong>ein</strong>em konkomitanten (zufälliges Zusammentreffen<br />

<strong>ein</strong>es primären FMS und <strong>ein</strong>er Zweiterkrankung) problematisch s<strong>ein</strong>.<br />

Das FMS ist häufig mit vegetativen und psychischen Symptomen assoziiert (6, 12). Zur Unterstützung<br />

der FMS-Diagnose aufgrund der ACR-Kriterien werden im deutschsprachigen<br />

Raum die unten aufgeführten Nebenkriterien benutzt: Mindestens drei Nebenkriterien insgesamt<br />

(vegetative Zeichen, funktionelle Störungen und psychopathologische Symptome) sollen<br />

nachweisbar s<strong>ein</strong> (9):<br />

• Vegetative Zeichen:<br />

- Kalte Akren<br />

- Trockener Mund<br />

- Hyperhidrosis (Hände)<br />

- Ausgeprägter Dermographismus<br />

- Orthostatische Beschwerden<br />

- Respiratorische Arrhythmie<br />

- Tremor<br />

• Funktionelle Störungen:<br />

- Schlafstörungen<br />

- Funktionelle gastrointestinale Beschwerden<br />

- Funktionelle urogenitale Beschwerden<br />

- Funktionelle kardiale und Atembeschwerden<br />

- Dysästhesien<br />

• Psychopathologische Symptome<br />

- Ängstlichkeit<br />

- Nervosität<br />

- Reizbarkeit<br />

- Depressivität<br />

Bei Anwendung der Nebenkriterien bzw. Erweiterung des klinischen Blickes von muskuloskelettalen<br />

Schmerzen auf weitere dysfunktionelle Schmerzsyndromen, auf innere Organe<br />

bezogene und seelische Beschwerden stellt sich die Frage der Abgrenzung des FMS zur<br />

(undifferenzierten) Somatisierungsstörung. Komorbide funktionelle Störungen, insbesondere<br />

Reizdarmsyndrom, chronischer Unterbauchschmerz und episodischer Spannungskopfschmerz,<br />

finden sich in Untersuchungen bei Patienten der Tertiärversorgung in 12% bis 77%<br />

(13). Österreichische Autoren fanden, dass 93% bzw. 10% der Patienten mit der DSM-IV-<br />

Diagnose <strong>ein</strong>er somatoformen Schmerzstörung ebenfalls die Kriterien <strong>ein</strong>er undifferenzierten<br />

Somatisierungsstörung bzw. Somatisierungsstörung erfüllten (14). Auch bezüglich der Diagnose<br />

<strong>ein</strong>er (undifferenzierten) Somatisierungsstörung geben ICD 10 und DSM IV teilweise<br />

unterschiedliche Kriterien vor. An anderer Stelle haben wir vorgeschlagen bei multiplen, ätiologisch<br />

unklaren körperlichen Beschwerden (Synonyme: funktionelle Störungen, somatoforme<br />

Störungen) sowohl die „organmedizinischen" als auch „psychiatrischen" Diagnosen zu<br />

kodieren (13).<br />

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21


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

Die im folgenden aufgeführten Diagnosekriterien der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung<br />

sind ebenfalls unscharf definiert.<br />

Diagnosekriterien der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nach ICD 10 sind:<br />

• Vorherrschendes Beschwerdebild ist <strong>ein</strong> andauernder, schwerer und quälender Schmerz<br />

• Nicht vollständig erklärbar durch <strong>ein</strong>en physiologischen Prozess oder <strong>ein</strong>e körperliche<br />

Störung<br />

• Auftreten in Verbindung mit schwerwiegenden emotionalen Konflikten oder psychosozialen<br />

Problemen<br />

• Beträchtliche medizinische Zuwendung oder medizinischen Betreuung<br />

• Ausschluss: Depressive Störung, Schizophrenie, bekannte psychophysiologische Mechanismen<br />

Spannungskopfschmerz Migräne)<br />

Somatoforme Schmerzstörung nach den Kriterien des Diagnostic and Statistic Manual for<br />

Psychiatrie Diseases IV:<br />

• Schmerzen stehen im Vordergrund des klinischen Bildes<br />

• Schmerzen verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Be<strong>ein</strong>trächtigungen<br />

• Psychischen Faktoren wird <strong>ein</strong>e wichtige Rolle in Entstehung, Exazerberation oder Aufrechterhaltung<br />

beigemessen<br />

• K<strong>ein</strong>e vorgetäuschte Störung oder Simulation<br />

• Der Schmerz kann nicht besser durch <strong>ein</strong>e affektive, Angst- oder psychotische Störung<br />

erklärt werden<br />

In der deutschen ambulanten und stationären medizinischen Versorgung sind die Diagnosekriterien<br />

des ICD-10 zu verwenden, während in psychiatrischen bzw. psychosomatischen<br />

Studien meist die DSM-IV-Kriterien verwendet werden. Die ICD-10-Kriterien sind bezüglich<br />

der Bedeutung psychosozialer Faktoren enger gefasst als die DSM-IV-Kriterien: Während<br />

das ICD-10 „schwerwiegende" psychosoziale Konflikte in zeitlichem Zusammenhang mit<br />

dem Auftreten der Schmerzsymptomatik fordert, setzt das DSM-IV <strong>ein</strong>e „wichtige Rolle" psychischer<br />

Faktoren bei der Entstehung, Exazerberation und Aufrechterhaltung voraus. Da<br />

psychosoziale Faktoren bei vielen chronischen Schmerzsyndromen, z. B. chronischen Rückenschmerzen<br />

<strong>ein</strong>e bedeutende Rolle zumindest in der Chronifizierung haben (15), wäre<br />

die (Zusatz-) Diagnose <strong>ein</strong>er somatoformen Schmerzstörung nach DSM-IV bei chronischen<br />

Schmerzpatienten häufig zu kodieren. Das DSM-IV unterscheidet weiterhin zwischen somatoformen<br />

Schmerzstörungen in Verbindung mit psychischen Faktoren (psychischen Faktoren<br />

wird die Hautrolle für Beginn, Schweregrad, Exazerberation oder Aufrechterhaltung der<br />

Schmerzen beigemessen), in Verbindung mit psychischen als auch medizinischen Krankheitsfaktoren<br />

sowie in Verbindung mit medizinischen Faktoren. In welche der drei genannten<br />

DSM-IV-Kategorien die Patienten in psychiatrischen/psychosomatischen Studien <strong>ein</strong>geordnet<br />

werden, ist meist nicht erwähnt. Die von der Mainzer Arbeitsgruppe (1) vorgeschlagenen<br />

Kriterien zum zeitlichen Zusammenhang zwischen psychosozialen Konflikten und die biographische<br />

bzw. lerntheoretische Begründbarkeit der Symptomlokalisation werden wegen ihrer<br />

22 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

größeren Präzision von unserer Arbeitsgruppe für die Diagnose <strong>ein</strong>er anhaltenden somatoformen<br />

Schmerzstörung verwendet:<br />

• Schmerzen sind das vorherrschende Symptom<br />

• K<strong>ein</strong> die Schmerzsymptomatik erklärende Befund in somatischer Diagnostik laut interdisziplinärer<br />

Fallkonferenz<br />

• Individuell überfordende äußere oder intrapsychische Konfliktsituation in engem zeitlichen<br />

Zusammenhang mit erstmaligem Auftreten bzw. Generalisierung der Schmerzen<br />

• Symptomwahl und -lokalisation sind lerntheoretisch oder psychodynamisch erklärbar<br />

Sowohl DSM-IV als auch ICD-10 fordern den Ausschluss anderer psychischer Störungen mit<br />

dem Leitsymptom Schmerz, insbesondere affektiver Störungen. Bei Verwendung strukturierter<br />

psychiatrischer Interviews wie SKID-I ließen sich jedoch bei 38% (16) bzw. 22% (14) der<br />

Patienten mit der DSM-IV-Diagnose somatoforme Schmerzstörung auch <strong>ein</strong>e affektive Störung<br />

nachweisen. Nur bei 34% (16) bzw. 54% (14) der Patienten mit der DSM-IV-Diagnose<br />

der somatoformen Schmerzstörung ließ sich k<strong>ein</strong>e weitere komorbide psychische Störung<br />

feststellen, so dass der klinische Nutzen der diagnostischen Kategorie von <strong>ein</strong>igen Autoren<br />

in Frage gestellt wird (14).<br />

Der Ausschluss körperlicher Störungen bzw. bekannter psychophysiologischer Mechanismen<br />

– hier werden im ICD-10 der Spannungskopfschmerz und die Migräne genannt – ist<br />

ebenfalls problematisch. Sowohl beim FMS als auch beim chronischen Spannungskopfschmerz<br />

finden sich Hinweise für <strong>ein</strong>e Störung der zentralen Schmerzverarbeitung (2, 17,<br />

18). Da die Bedeutung körperlicher Störungen (z. B. <strong>ein</strong>es chronisch unspezifischen Rückenschmerzes)<br />

in der Ätiologie des FMS durchaus unterschiedlich diskutiert wird, ersch<strong>ein</strong>t<br />

uns das von der Mainzer Arbeitsgruppe vorgeschlagene diagnostische Kriterium <strong>ein</strong>es Ausschlusses<br />

erklärbarer Befunde in <strong>ein</strong>er interdisziplinären Fallkonferenz sinnvoll (1). Mit diesem<br />

Vorgehen ließe die inflationäre Verwendung der Diagnose „somatoforme Schmerzstörung"<br />

insbesondere bei Psychiatern vermeiden (19).<br />

3. Belege für die psychosomatischen Hypothesen<br />

Die meisten Studien berichten über höhere Lebenszeitprävalenzraten für alle Formen der<br />

Viktimisierung in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter, auch wenn die Angaben zur Häufigkeit<br />

körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbauch – auch auf Grund der unterschiedlichen<br />

Erfassungsinstrumente – schwanken (17). Imbierovicz und Egle fanden bei<br />

32% der 38 FMS- Patienten regelmäßige körperliche Misshandlung durch die Eltern und bei<br />

10,5% schwere sexuelle Missbrauchserfahrungen. Der Gesamtbelastungsscore, welcher<br />

weiterhin Erfahrungen von schlechter emotionaler Beziehung zu beiden Eltern, Miterleben<br />

von körperlichen Aus<strong>ein</strong>andersetzungen der Eltern, Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit<br />

der Eltern sowie finanzielle Probleme vor dem Alter von 7 Jahren enthielt, entsprach dem<br />

<strong>ein</strong>er Gruppe mit der Diagnose <strong>ein</strong>er somatoformen Schmerzstörung, welche nicht die FMS-<br />

Kriterien erfüllte und unterschied sich signifikant von <strong>ein</strong>er Gruppe von Patienten mit nozi-<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

23


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

zeptiven bzw. neuropathischen Schmerzsyndromen (20). Belastende Lebensereignisse fanden<br />

sich in <strong>ein</strong>er Studie von Anderberg und Mitarbeiter bei 48 FMS-Patientinnen im Vergleich<br />

zu gleichalten Frauen der allgem<strong>ein</strong>en Bevölkerung nicht nur häufiger in der Jugend<br />

(51% vs. 28%), sondern auch zu Symptombeginn (65% vs. 26%) und im letzten Jahr (51%<br />

vs. 25%) (21). Traumatisierte Patienten wiesen mehr psychische Symptome und funktionelle<br />

Einschränkungen (22, 23) und höhere Inanspruchnahme von Ärzten auf (24). Die meisten<br />

Studien mit standardisierten bzw. strukturieren psychiatrischen Interviews fanden <strong>ein</strong>e bis zu<br />

dreimal höhere Punkt- und Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen bei FMS-Patienten<br />

im Vergleich zu alters- und geschlechtsgematchten Personen aus der allgem<strong>ein</strong>en Bevölkerung<br />

oder Patienten mit rheumatoider Arthritis. So fanden Epst<strong>ein</strong> und Mitarbeiter bei 37<br />

FMS-Patienten der Tertiärversorgung <strong>ein</strong>e Punkt- (Lebenszeit-) Prävalenz der Major Depression<br />

von 22% (68%), der Dysthymie von 10%, der Panikstörung von 7% (16%) und der<br />

<strong>ein</strong>fachen Phobie von 12% (16%) (25). Walker und Mitarbeiter fanden bei 36 FMS-Patienten<br />

der Tertiärversorgung <strong>ein</strong>e Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen von 90% im Vergleich<br />

zu 50% bei rheumatoider Arthritis (23). Bei <strong>ein</strong>em Vergleich von 64 FMS-Patienten<br />

aus der Tertiärversorgung mit 28 Betroffenen, welche wegen ihrer Beschwerden bisher k<strong>ein</strong>e<br />

medizinische Behandlung in Anspruch genommen hatten, und 23 Gesunden, unterschieden<br />

sich FMS-Nichtpatienten in der Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen nicht von den<br />

Gesunden (22). Als weiterer psychosozialer Risikofaktor für die Entstehung <strong>ein</strong>es FMS wurde<br />

<strong>ein</strong> niedriges Selbstwertgefühl verbunden mit dem Bedürfnis nach Anerkennung durch<br />

andere Menschen und damit <strong>ein</strong>hergehenden hohen Anforderungen an sich selbst, geringer<br />

Selbstbehauptung und überaktivem Lebensstil beschrieben (26). Gegen die Annahme, dass<br />

das FMS nur <strong>ein</strong>e Variante affektiver Störungen ist, spricht, dass in allen Studien zur psychischen<br />

Komorbidität nur <strong>ein</strong>e Subgruppe von Patenten die Kriterien <strong>ein</strong>er affektiven Störung<br />

erfüllte.<br />

Auch lässt sich bei Patienten mit Major Depression in der Regel <strong>ein</strong> Hyperkortisolismus<br />

nachweisen, während die meisten Befunde bei dem FMS für <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>geschränkte Stimulierbarkeit<br />

der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse sprechen (17). In Zeitreihenanalysen<br />

konnten Müller und Mitarbeiter nachweisen, dass bei <strong>ein</strong>igen FMS-Patienten <strong>ein</strong>e vermehrte<br />

Depressivität den Schmerzen vorausgeht, während bei anderen Patienten <strong>ein</strong>e<br />

Schmerzunahme zu <strong>ein</strong>er vermehrten Depressivität führt (27). Weiterhin ist die Generalisierbarkeit<br />

vieler Studien zu psychosozialen Risikofaktoren beim FMS durch die niedrigen Fallzahlen<br />

sowie Selektionseffekte (meist Patienten der Tertiärversorgung) <strong>ein</strong>geschränkt.<br />

4. Weitere Risikofaktoren für die Entstehung <strong>ein</strong>es FMS<br />

Ein überwiegen von Frauen beim FMS von 6-8 zu 1 ist in zahlreichen Studien beschrieben<br />

(5, 12, 17). Als Ursachen werden die größere Häufigkeit von sexuellen Traumatisierungen<br />

und affektiven Störungen sowie die vermehrte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen<br />

durch Frauen diskutiert (28). Für die zusätzliche Bedeutung <strong>ein</strong>es Östrogenmangels sprechen<br />

Befunde aus bevölkerungsbasierten Untersuchungen, welche <strong>ein</strong>e größere Häufigkeit<br />

24 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

von FMS bei Frauen in der Menopause bzw. früher Menarche beschrieben haben. Wenige<br />

Schwangerschaften bzw. Geburten sowie niedrige soziale Schicht waren ebenfalls Risikofaktoren<br />

für die Entstehung <strong>ein</strong>es FMS (8).<br />

5. Eigene Untersuchungen<br />

Zur Vermeidung von Selektionseffekten ersch<strong>ein</strong>t die Untersuchung von FMS- Patienten aus<br />

verschiedenen Ebenen der Versorgung sinnvoll Bei Begutachtungen im Rahmen der Sozialgerichtsbarkeit<br />

liegen von den Probanden teilweise umfangreiche Unterlagen von Vorbehandlungen,<br />

auch aus dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich vor, an Hand derer<br />

sich die aktuellen Angaben der Patienten im Rahmen von strukturierten Interviews überprüfen<br />

lassen.<br />

Material und Methoden<br />

Es wurden alle vom Autor im Auftrag des (Landes-)Sozialgerichtes für das Saarland durchgeführten<br />

schmerztherapeutischen und/oder psychosomatischen Gutachten von Januar<br />

1999 bis Juni 2004, in denen die Diagnose <strong>ein</strong>es FMS gestellt wurde, retrospektiv ausgewertet.<br />

Die Begutachtung erfolgte nach den Empfehlungen von schmerz- und psychotherapeutischen<br />

Fachgesellschaften (19) und umfasste u. a. <strong>ein</strong>e schmerztherapeutische Anamnese,<br />

<strong>ein</strong> psychiatrisches Interview anhand der ICD-10 Diagnose Checkliste (29), die Mainzer Biografische<br />

Anamnese für Schmerzpatienten MSBA-S (1) sowie die Auswertung des Deutschen<br />

Schmerzfragebogens DSF (30) und ab Januar 2002 auch des Fragebogens über<br />

traumatische Erlebnisse und Deprivation in der Kindheit CTQ (31).<br />

Als schwerer sexueller Missbrauch wurden Angaben von vaginalen, oralen oder analen Penetrationserfahrungen<br />

definiert. Als schwere körperliche Misshandlungen wurden Angaben<br />

von Schlägen mit harten Gegenständen und/oder äußerlich sichtbaren Verletzungszeichen<br />

definiert. Anhand der Angaben im DSF zur Schulbildung, zum Berufsstatus sowie zum Einkommen<br />

wurde <strong>ein</strong> sozialer Schichtindex errechnet (32). Weitere Daten zur somatischen<br />

Ausschlussdiagnostik, psychiatrischen Vorgeschichte sowie früheren und aktuellen Behandlungen<br />

wurden den Akten des Sozialgerichtes, der Rentenversicherungsträger und der Versorgungsämter<br />

sowie angeforderter Unterlagen aktueller Behandler entnommen. Die Diagnose<br />

des <strong>Fibromyalgie</strong>syndroms wurde anhand der Aktenlage (Ausschluss entzündlichrheumatischer<br />

Erkrankungen und Hypo- bzw. Hyperthyreosen), im Einzelfall selbst durchgeführter<br />

technischer Untersuchungen sowie der Kriterien des American College of Rheumatology<br />

(ACR) gestellt (6). Zusätzlich wurden mindestens drei Nebenkriterien nach Müller und<br />

Lautenschläger für die Diagnose FMS vorausgesetzt (9). Eine Schweregrad<strong>ein</strong>teilung des<br />

FMS erfolgte anhand <strong>ein</strong>er eigenen, für die gutachterliche Beurteilung entwickelten Graduierung<br />

(33) in Analogie zur Schweregrad<strong>ein</strong>teilung entzündlich rheumatischer Erkrankungen in<br />

den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (34). Anhand der Parameter Progre-<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

25


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

dienz der Beschwerden und Aktivitätsstörungen, Ausmaß der Aktivitätsstörungen, Ansprechen<br />

auf Therapiemaßnahmen (physikalische Therapie, medizinische Trainingstherapie,<br />

Antidepressiva, Entspannungsverfahren, Psychotherapie) wurden drei Schweregrade unterschieden.<br />

Als aktive somatische Komorbidität wurden körperliche Erkrankungen definiert,<br />

wegen derer aktuell Medikamente <strong>ein</strong>genommen wurden (35).<br />

Die statistische Analyse der Daten erfolgte mit dem Statistikprogramm Winstat für Excel. Die<br />

Kennwerte wurden bei kategorisierten Variablen als Absolut- bzw. Prozentwerte sowie für<br />

kontinuierliche Variablen als Mittelwerte mit Standardabweichung dargestellt. Gruppenvergleiche<br />

erfolgten bei ordinal bzw. nominalskalierten Variablen mit Chi-Quadrat-Tests.<br />

Ergebnisse<br />

Die Daten von 99 Probanden wurden ausgewertet. 41 Gutachten erfolgten innerhalb <strong>ein</strong>es<br />

Rentenverfahrens, 52 innerhalb <strong>ein</strong>es Verfahrens im Schwerbehindertenrecht sowie 6 innerhalb<br />

<strong>ein</strong>es Verfahrens über die Dauer von Krankentagegeldzahlungen. Soziodemografische<br />

Kennwerte der Probandinnen sind in Tabelle 1 aufgeführt.<br />

26 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

Mittelwert (Standardabweichung)<br />

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absolute Häufigkeit (Prozent)<br />

Geschlecht (Frauenanteil) 86 (86,9)<br />

Alter 50,1 (7,0)<br />

All<strong>ein</strong>lebend 19 (19,2)<br />

Dauer generalisierter Schmerz<br />

in Monaten<br />

Formale Bildung<br />

90,9 (70,9)<br />

K<strong>ein</strong> Schulabschluss 8 (8,1)<br />

Hauptschule 66 (66,7)<br />

Mittlere Reife 18 (18,2)<br />

Abitur 2 (2,0)<br />

Studium 5 (5,0)<br />

Schichtzugehörigkeit<br />

Unterschicht 33 (33,7)<br />

Mittelschicht 60 (61,2)<br />

Oberschicht 5 (5,1)<br />

Erwerbsstatus<br />

Berufstätig 11 (11,2)<br />

Arbeitslos 38 (38,8)<br />

Krankgeschrieben 31 (31,6)<br />

Berentet 16 (16,3)<br />

Hausfrau 2 ( 2,0)<br />

Dauer Arbeitsunfähigkeit in<br />

Monten (n = 41)<br />

Dauer Arbeitslosigkeit in Monaten<br />

(n = 38)<br />

Dauer Sozialgerichtsverfahren<br />

in Monaten<br />

27,6 (17,0)<br />

42,1 (27,6)<br />

20,7 (18,1)<br />

Positive Selbstprognose be-<br />

9 (9,1)<br />

züglich Fortführung oder Wiederaufnahme<br />

der Berufstätigkeit<br />

bzw. Hausarbeit<br />

Tab. 1: Soziodemografische Daten von 99 Probandinnen mit der Diagnose FMS in der Sozialgerichtsbarkeit<br />

27


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

41 Probanden wurden <strong>ein</strong>er leichtgradigen Form, 52 <strong>ein</strong>er mittelschweren Form und 6 <strong>ein</strong>er<br />

schweren Verlaufsform des FMS zugeordnet. Bei 33 Probanden lagen k<strong>ein</strong>e aktive somatische<br />

Komorbidität vor, bei 43 <strong>ein</strong>e, bei 18 zwei und bei 5 mehr als zwei (Maximum sechs)<br />

aktive medizinische Komorbiditäten vor. Vierzehn der Probanden nahmen aktuell k<strong>ein</strong>e Medikamente,<br />

71 nicht steroidale Antirheumatika, 16 schwache und 4 starke Opioide, 63 Antidepressiva<br />

und 18 andere Psychopharmaka (Tranquilizer, Neuroleptika) <strong>ein</strong>. Bei 44 der Probanden<br />

ließen sich psychosoziale Konflikte bzw. Belastungen (Arbeitsplatz, Partnerbeziehungen,<br />

anhaltende finanzielle Probleme, anhaltende fehlende soziale Unterstützung bei<br />

schwieriger Lebenssituation) zum Zeitpunkt der Generalisierung der Schmerzsymptomatik<br />

eruieren. Biografische Belastungsfaktoren sowie die Häufigkeit aktueller bzw. früherer psychischer<br />

Störungen sowie Vorbehandlungen sind in Tabelle 2 aufgeführt.<br />

Absolut Prozent<br />

Emotionale Deprivation in Kindheit 21 21,2<br />

Schwerer sexueller Missbrauch in Kindheit/Erwachsenenalter 8 8,1<br />

Schwere körperliche Gewalterfahrung in Kindheit/Erwachsenenalter<br />

15 15,2<br />

Frühere psychische Störungen 48 48,5<br />

Aktuelle psychische Störung 81 81,8<br />

Aktuelle Diagnose <strong>ein</strong>er depressiven Störung (F 32,33,34,43.2) 58 58,6<br />

Aktuelle Diagnose <strong>ein</strong>er Angststörung (F 40,41,43.2) 14 14,2<br />

Aktuelle Diagnose <strong>ein</strong>er anderen psychischen Störung<br />

(F44,48,55)<br />

7 7,1<br />

Frühere stationäre Psychotherapie 31 31,4<br />

Frühere bzw. aktuelle ambulante psychiatrische Therapie 61 61,6<br />

Frühere bzw. aktuelle ambulante Psychotherapie 33 33,3<br />

Frühere bzw. aktuelle stationäre Schmerztherapie 12 12,1<br />

Frühere bzw. aktuelle ambulante Schmerztherapie 23 23,3<br />

Frühere bzw. aktuelle fachrheumatologische Behandlung 75 75,7<br />

Tab. 2: Häufigkeit biografischer Belastungsfaktoren, früherer und aktueller psychischer Störungen<br />

nach ICD-10 sowie frühere/aktuelle psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen nach ICD-10<br />

Bei 18 Begutachteten ließ sich aktuell k<strong>ein</strong>e psychische Störung nach ICD-10 diagnostizieren.<br />

62 der Probandinnen erfüllten aktuell die Kriterien von <strong>ein</strong>er, 15 von zwei und 4 von drei<br />

psychischen Störungen. 25 Probanden erfüllten die Kriterien <strong>ein</strong>er anhaltenden somatoformen<br />

Schmerzstörung, 38 die <strong>ein</strong>er affektiven Störung, 21 die <strong>ein</strong>er schmerzbedingten reaktiven<br />

Depression und 15 wiesen k<strong>ein</strong>e aktuelle psychische Störung nach ICD-10 auf. Probandinnen<br />

mit biografischen Belastungsfaktoren wiesen signifikant häufiger psychische Störungen<br />

in der Vorgeschichte (Chi� = 12,6; p = 0,05) und <strong>ein</strong>e höhere Zahl aktueller psychischer<br />

28 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

Störungen (Chi� 14,0; p = 0,003) als Probanden ohne biografische Belastungsfaktoren. Biografische<br />

Belastungen fanden sich häufiger bei Probanden mit schweren und mittelschweren<br />

Verlaufsformen (Chi � = 6,0; p = 0,05). Bei der Frage nach der subjektiven Krankheitstheorie<br />

im DSF gaben 47 Probanden <strong>ein</strong>e somatische Krankheitstheorie (körperliche Erkrankung,<br />

Unfall, Operation, körperliche Belastung, Vererbung), drei <strong>ein</strong>e psychogene Krankheitstheorie<br />

(seelische Belastung), drei k<strong>ein</strong>e Erklärung und 46 <strong>ein</strong>e gemischte Krankheitstheorie (sowohl<br />

körperliche als auch seelische Belastungen) an.<br />

6. Fazit – Notwendigkeit der Differenzierung von FMS-Subgruppen<br />

In der vorliegenden Untersuchung konnte bei deutschen Patienten, welche überwiegend in<br />

der primären und sekundären Versorgungsstufe behandelt wurden, die in der Literatur beschriebenen<br />

soziodemographischen (weibliches Geschlecht, niedriger Sozialschichtindex)<br />

und die psychosozialen Risikofaktoren (biografische Belastungsfaktoren, frühere psychische<br />

Störungen, aktuelle psychosoziale Stressoren bzw. zum Zeitpunkt der Generalisierung der<br />

Schmerzsymptomatik) bestätigt werden. 60% der begutachteten Patienten erfüllten die Kriterien<br />

<strong>ein</strong>er anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bzw. <strong>ein</strong>er (somatisierten) affektiven<br />

Störung. Bei 21% der Begutachteten entwickelte sich die psychische Störung in Folge der<br />

generalisierten Schmerzsymptomatik, 15% der Probanden wiesen k<strong>ein</strong>e aktuelle oder frühere<br />

psychische Komorbidität auf. Die Häufigkeit psychischer Störungen ist jedoch nicht spezifisch<br />

für das FMS, sondern <strong>ein</strong> konstitutives Merkmal chronischer Schmerzsyndrome. Psychische<br />

Störungen erhöhen – entweder als Folge biografischer Belastungsfaktoren oder im<br />

Sinne <strong>ein</strong>er komorbiden biologischen Disposition –das Risiko für die Entstehung <strong>ein</strong>es chronischen<br />

Schmerzsyndroms. Umgekehrt können die psychosozialen Belastungen <strong>ein</strong>es chronischen<br />

Schmerzsyndroms vorbestehende Dispositionen <strong>ein</strong>er psychischen Störung aktualisieren<br />

(36).<br />

Zusammenfassend stellen wir fest, dass es nicht gerechtfertigt ist, das FMS pauschal als<br />

somatoforme Schmerzstörung oder somatisierte Depression zu konzeptualisieren. Weibliches<br />

Geschlecht, niedriger sozialer Schichtindex, biografische Belastungen sowie frühere<br />

psychische Störungen sind häufige, jedoch nicht obligate Risikofaktoren für die Entstehung<br />

<strong>ein</strong>es FMS. Ein biopsychosoziales Modell der FMS sowie <strong>ein</strong>e Unterteilung des FMS in Subtypen<br />

ersch<strong>ein</strong>t angebracht. Wir haben an anderer Stelle vorgeschlagen, <strong>ein</strong>e somatoforme<br />

Schmerzstörung vom Typ des FMS, <strong>ein</strong>e somatisierte Depression bzw. Angststörung vom<br />

Typ des FMS, <strong>ein</strong> FMS mit depressiver Anpassungsstörung sowie <strong>ein</strong> FMS ohne psychische<br />

Komorbidität zu unterscheiden (37). Die Unterscheidung der beiden erst genannten Unterformen<br />

ist oft problematisch, da sich bei ICD-10 bzw. DMS-IV-Kodierungen häufig neben der<br />

Diagnose der somatoformen Schmerzstörung depressive und/oder Angststörungen kodiert<br />

werden müssen, um das psychopathologische Bild vollständig abzubilden.<br />

Ähnliche Unterteilungen wurden von anderen Arbeitsgruppen vorgenommen: Zeitreihenanalysen<br />

psychosomatischer Arbeitsgruppen weisen ebenfalls daraufhin, dass die zeitlichen<br />

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29


Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />

Verläufe von Schmerz und Depression unterschiedlich s<strong>ein</strong> können (27). Aufgrund des unterschiedlichen<br />

Ansprechens auf den 5-HT3-Rezeptorantagonist Tropisetron unterscheiden<br />

rheumatologische Autoren zwischen <strong>ein</strong>es FMS vom Typ der „endogenen Depression", vom<br />

Typ der schmerzreaktiven Depression und vom Typ ohne Depression (38). Die Aufgaben<br />

zukünftiger Forschungen sollte darin bestehen, die vorgeschlagene Einteilung des FMS in<br />

Subgruppen in größeren Stichproben aus unterschiedlichen Settings an Hand statistischer<br />

Methoden (Clusteranalyse) und physiologischen Parametern (z. B. Hyper- vs. Hypokortisolismus)<br />

zu unterscheiden und differenzierte Behandlungskonzepte zu entwickeln. Theoriegeleitet<br />

sollten Patienten vom Subtyp der somatoformen Schmerzstörung von <strong>ein</strong>er psychodynamischen<br />

Gruppentherapie (1) und Patienten vom Subtyp der somatisierten affektiven Störung<br />

von der Therapie mit Antidepressiva bzw. <strong>ein</strong>er störungsbezogenen Psychotherapie<br />

profitieren. Nach Subtypen und Schweregrade differenzierte und validierte multimodale sektorenübergreifende<br />

Behandlungskonzepte und ihre Implementierung in die Routineversorgung<br />

sind dringend notwendig, um die bei deutschen FMS-Patienten feststellbare medizinische<br />

Über- und Fehlversorgung <strong>ein</strong>zudämmen.<br />

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Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

Was ist das Besondere am Muskelschmerz? 1<br />

Siegfried Mense<br />

Subjektive unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz sind seit langem bekannt (Tabelle<br />

1). Neben diesen subjektiven Unterschieden wurden in den letzten Jahren immer zahlreichere<br />

objektive Unterschiede (Tabelle 2) entdeckt. Diese objektiven Unterschiede ergaben<br />

sich sowohl in Tierexperimenten als auch in klinischen Studien und betrafen alle denen des<br />

Nervensystems vom Nozizeptor im Muskel bis zum Kortex, wo der Schmerz bewusst wird.<br />

Die derzeitige Situation in der Erforschung und Therapie des Schmerzes ist dadurch gekennzeichnet,<br />

dass immer gleich <strong>ein</strong> Großteil der Kenntnisse, die wir über Schmerzmechanismen<br />

besitzen, aus Untersuchungen des Hautschmerzes kommen. In der Klinik stellt dagegen<br />

der muskuloskelettale Schmerz zahlenmäßig das größere Problem dar, und auch die<br />

Therapie ist in vielen Fällen schwieriger bei Hautschmerz.<br />

Der folgende Aufsatz soll <strong>ein</strong>ige der gesicherten objektiven Unterschiede zwischen Hautund<br />

Muskelschmerz darlegen. Dabei werden nur <strong>ein</strong>ige Stationen des Schmerzweges und<br />

schmerzmodlierenden Mechanismen angesprochen, z. B. Rückenmark, Kortex, deszendierende<br />

Schmerzhemmung).<br />

Schaltung im Rückenmark<br />

Experimente an narkotisierten Ratten haben ergeben, dass die Verschaltung der marklosen<br />

sensorischen (afferenten) Fasern <strong>ein</strong>es Muskelnerven im Rückenmark sich deutlich von der<br />

<strong>ein</strong>es Hautnerven unterscheidet. Viele – aber nicht alle – Fasern dieses Typs sind nozizeptiv,<br />

vermittelten also Schmerzen. Bei elektrischer Reizung der marklosen sensorischen (C-)<br />

Fasern <strong>ein</strong>es Hautnerven (N. suralis) wurden signifikant mehr sensorische Neurone im Rückenmark<br />

erregt als nach Reizung der marklosen Nervenfasern in <strong>ein</strong>em Muskelnerven<br />

(Nerv zum M. gastrocnemius-soleus). Eine mögliche Erklärung für diesen Befund ist, dass<br />

die spinalen Reizeffekte der marklosen Muskelafferenzen stärker durch Impulsaktivität in<br />

markhaltigen Fasern unterdrückt werden als die Effekte der kutanen C-Fasern.<br />

1 Der vorliegende Beitrag „Was ist das Besondere am Muskelschmerz?“ von Siegfried Mense ist zuerst<br />

erschienen in der Zeitschrift „Der Schmerz“, Jahrgang 17, Heft 6/2003, S. 459-463 (5 Abbildungen).<br />

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Springer Science and Business Media.<br />

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Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

Subjektive Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz<br />

Muskelschmerz Hautschmerz<br />

Bei plötzlichem Beginn k<strong>ein</strong> 1. und 2.<br />

Schmerz<br />

schlecht lokalisierbar Gut lokalisierbar<br />

Reisender, krampfender , drückender Charakter<br />

Bei plötzlichem Beginn deutlicher 1. und 2.<br />

Schmerz<br />

Stechender, brennender, schneidender Charakter<br />

Starke Tendenz zur Übertragung K<strong>ein</strong>e Übertragung<br />

Affektiv schlecht zu ertragen Affektiv besser erträglich<br />

Tab. 1: Subjektive Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz<br />

Diese Annahme bestätigte sich in Experimenten, in denen die markhaltigen A-Fasern in der<br />

Hinterwurzel durch Tetrodotoxin (<strong>ein</strong> Nervengift, das <strong>ein</strong>en großen Teil der Na + -Kanäle in<br />

Nervenfasern blockiert [1]) ausgeschaltet wurden. Nach Blockierung der markhaltigen Fasern<br />

wurde das durch marklose Muskelafferenzen hervorgerufene synaptische Potenzial an<br />

der Oberfläche des Rückenmarks signifikant größer [14]. Dieses Potenzial ist <strong>ein</strong> Maß für die<br />

Größe der erregten Zellpopulation. Die Vergrößerung des synaptischen Potenzials nach<br />

Tetrodotoxin war bei marklosen Hautafferenzen nicht vorhanden. Auch wenn der Muskel<br />

schmerzhaft pathologisch verändert ist, werden die Reizeffekte der marklosen Muskelafferenzen<br />

im Rückenmark verstärkt: Im Verlauf <strong>ein</strong>er experimentellen Myositis stieg der Anteil<br />

der durch diese Afferenzen erregten Hinterhornneurone signifikant an [8].<br />

Objektive Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz<br />

Muskelschmerz Hautschmerz<br />

K<strong>ein</strong>e Flexorreflexe bei Schmerzreiz im Muskel<br />

Geringe Reizwirkung der marklosen Muskelafferenzen<br />

auf Rückenmarksneurone<br />

Im Kortex starke Aktivierung des vorderen<br />

Gyrus cinguli<br />

Starke tonische Hemmung durch deszendierende<br />

antinozizeptive Bahnen<br />

Tab. 2: Objektive Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz<br />

Deutliche Flexorreflexe bei schmerzhafter<br />

Reizung der Haut<br />

Starke Reizwirkung der marklosen Hautafferenzen<br />

auf Rückenmarksneurone<br />

Im Kortex schwache Aktivierung des vorderen<br />

Gyrus cinguli<br />

Geringe tonische Hemmung durch deszendierende<br />

antinozizeptive Bahnen<br />

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Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

Schmerzübertragung<br />

Muskelschmerz hat im Gegensatz zum Hautschmerz <strong>ein</strong>e starke Tendenz zur Übertragung,<br />

d. h. die Patienten empfinden die Schmerzen nicht (nur) am Ort der Muskelläsion (z. B. an<br />

<strong>ein</strong>em Triggerpunkt), sondern u. U. in großer Entfernung davon. Ein Beispiel für die Übertragung<br />

der Schmerzen von <strong>ein</strong>em Triggerpunkt im M. soleus in das Gebiet des Sakroiliakalgelenks<br />

ist in Abb. 1 gezeigt. Höchstwahrsch<strong>ein</strong>lich ist die Schmerzübertragung durch Umschaltprozesse<br />

im Rückenmark bedingt, die dazu führen, dass die Schmerzinformation <strong>ein</strong>en<br />

anderen (falschen) Weg nimmt. Subjektiv ist die Umschaltung mit <strong>ein</strong>er Fehllokalisation der<br />

Schmerzquelle verbunden.<br />

Abb.1: Schmerzübertragung von <strong>ein</strong>em Triggerpunkt (TrP3) im M. soleus in das Sakroiliakaigelenkt.<br />

Der TrP erzeugt lokale Schmerzen im M. soleus, die durch Erregung von hier liegenden Nozizeptoren<br />

bedingt sind, und übertragene Schmerzen im Gebiet des Sakroiliakalgelenks, in dem k<strong>ein</strong>e Nozizeptoren<br />

aktiv sind (nach [16]).<br />

In Tierexperimenten kam es innerhalb weniger Stunden (bei der Ratte) zu solchen Umschaltprozessen<br />

im Hinterhorn des Rückenmarks, wenn <strong>ein</strong> peripherer Muskel schmerzhaft<br />

verändert war [7]. In diesem Fall bestand die schmerzhafte Läsion in <strong>ein</strong>er experimentellen<br />

Myositis, die zu <strong>ein</strong>em ständigen Impuls<strong>ein</strong>strom von den Muskelnozizeptoren in das Rückenmark<br />

führte. Das erste Anzeichen für <strong>ein</strong>e spinale Umschaltung war <strong>ein</strong>e Vergrößerung<br />

der Neuronenpopulation, die durch elektrische Reizung des Muskelnerven erregt werden<br />

konnte. Dies bedeutet, dass sich die vom Muskel verursachte Erregung im Rückenmark<br />

ausgebreitet hat. Grundlage für die Erregungsausbreitung im Rückenmark ist wahrsch<strong>ein</strong>lich<br />

die Durchschaltung von ursprünglich „stummen" Synapsen durch die Substanz P, die aus<br />

den ständig erregten marklosen Muskelafferenzen im Rückenmark freigesetzt wird [13] und<br />

die Effektivität dieser Synapsen so stark steigert, dass sie nun durch Aktionspotenziale aus<br />

dem Muskelnerven aktiviert werden, was normalerweise nicht der Fall ist.<br />

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Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

Falls ähnliche Veränderungen auch bei Schmerzpatienten vorkommen, könnten sie die Ausbreitung<br />

und Übertragung von Muskelschmerzen erklären. Der – noch hypothetische – Mechanismus<br />

der Übertragung in das Sakroiliakalgelenk wäre wie folgt (Abb. 2):<br />

Abb. 2: Hypothetische Erklärung für <strong>ein</strong>e Schmerzübertragung, wie sie in Abb.1 dargestellt ist. Die<br />

Hypothese basiert auf der Annahme, dass Hinterhornneurone 2 Typen von funktionellen Verbindungen<br />

mit dem Muskel haben, nämlich 1. Verbindungen mit hoher synaptischer Effektivität, die praktisch<br />

immer im nachgeschalteten Neuron zu Aktionspotenzialen führen (durchgezogene Linien; im Fall des<br />

GS-Muskels führen sie zu den medialen Segmenten L5-S2) und 2. Verbindungen geringer synaptischer<br />

Effektivität, die normalerweise nicht durchgeschaltet sind (gestrichelte Linien). Durch den nozizeptiven<br />

Impuls<strong>ein</strong>strom aus dem TrP werden die ursprünglich ineffektiven Verbindungen durchgeschaltet,<br />

und der Impuls<strong>ein</strong>strom aus dem M. soleus kann benachbarte Zellen erregen, die das<br />

Sakroilikalgelenk sensorisch versorgen (hier im Segment L4 angenommen). Die verbesserte Durchschaltung<br />

wird von SP und CGRP bewirkt, die von den Afferenzen des M. soleus im Rückenmark<br />

freigesetzt werden und zu den benachbarten Synapsen diffundieren.<br />

Normalerweise werden Schmerzen im M. gastrocnemius-soleus (GS) über nozizeptive Neurone<br />

in den Segmenten L5-S2 vermittelt. Nach <strong>ein</strong>er gewissen Zeit breitet sich die durch die<br />

Nozizeptoren des Triggerpunkts bewirkte Erregung im Rückenmark aus. Sobald die Erregung<br />

benachbarte nozizeptive Neurone erreicht, die das Sakroilikalgelenk versorgen (in Abb.<br />

2 im Segment L4 angenommen), empfindet der Patient übertragene Schmerzen in diesem<br />

Gelenk, obwohl das Gewebe hier völlig normal ist und k<strong>ein</strong>e Nozizeptoren erregt sind.<br />

Die Übertragung von Muskelschmerzen ist demnach nichts anderes als <strong>ein</strong>e Fehllokalisation<br />

der Schmerzen, bedingt durch <strong>ein</strong>e läsionsinduzierte Umschaltung im Rückenmark oder anderen<br />

Teilen des ZNS. Die neuronale Grundlage für die Umschaltung ist <strong>ein</strong>e sog. zentrale<br />

Sensibilisierung, d. h. die benachbarten Hinterhornneurone sind durch den nozizeptiven Impuls<strong>ein</strong>strom<br />

aus dem Muskel empfindlicher geworden und reagieren auf Impulsaktivität in<br />

solchen Nerven von denen sie normalerweise nicht oder nur unterschwellig be<strong>ein</strong>flusst wer-<br />

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Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

den (<strong>ein</strong>e Übersicht über die neuronalen Mechanismen der zentralen Sensibilisierung und<br />

der Schmerzübertragung findet sich bei [10, 11, 12, 18]). Wenn der Therapeut den geschilderten<br />

Sachverhalt nicht berücksichtigt, wird eventuell nur das Sakroiliakalgelenk (fehl-<br />

)behandeln. Da die Neurone, die das Gebiet des übertragenen Schmerzes sensorisch versorgen,<br />

<strong>ein</strong>e veränderte Erregbarkeit aufweisen [17], kann man zwar das Schmerzgeschehen<br />

in geringem Maße auch durch Behandlung des Sakroiliakalgelenks be<strong>ein</strong>flussen, aber<br />

<strong>ein</strong>e kausale Therapie ist nur am Triggerpunkt möglich.<br />

Verarbeitung in der Hirnrinde<br />

Messungen der kortikalen Aktivität des Menschen mit bildgebenden Verfahren haben ergeben,<br />

dass bei schmerzhafter Reizung <strong>ein</strong>es Skelettmuskels andere kortikale Gebiete erregt<br />

werden als bei schmerzhafter Reizung der darüberliegenden Haut. Abbildung 3 zeigt das<br />

Ergebnis <strong>ein</strong>er PET (Positronenemissionstomographie)-Messung bei gesunden Versuchspersonen<br />

[15]. Schmerzhaft gereizt wurden entweder der linke M. brachioradialis (elektrische<br />

Reizung) oder die Haut über diesem Muskel (Reizung mit <strong>ein</strong>em Laser). Das Muster der Aktivitätsverteilung<br />

im Kortex zeigt deutliche Unterschiede bei Muskel- und Hautschmerz. Besonders<br />

offensichtlich ist der Unterschied in der Medialansicht der rechten Hemisphäre:<br />

Abb. 3: Durch Muskel- bzw. Hautschmerz aktivierte Kortexareale (grau schattiert). Gemittelte Positronenemissionstomogramme<br />

(PET) von gesunden Versuchspersonen. Obere Reihe: Aktivierungsmuster<br />

bei schmerzhafter Reizung der Haut. Untere Reihe: Muster bei schmerzhafter Reizung des Muskels.<br />

Jeweils von links nach rechts: rechte Hemisphäre von lateral, linke Hemisphäre von lateral, rechte<br />

Hemisphäre von medial, linke Hemisphäre von medial. Gereizt wurde entweder der linke M. brachioradialis<br />

(elektrische Stimulation) oder die darüber liegende Haut (Laserstimulation). Ein deutlicher<br />

Unterschied im Muster der Aktivierung ist in der Medialansicht der rechten Hemisphäre (rechts med.)<br />

erkennbar, wo nur bei Muskelreizung <strong>ein</strong>e starke Aktivierung im vorderen Gyrus cinguli (Pfeil) besteht<br />

(nach [15])<br />

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37


Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

Bei schmerzhafter Reizung des Muskels findet sich <strong>ein</strong>e deutlich stärkere Aktivierung im vorderen<br />

Gyrus cinguli. Der Gyrus cinguli wird mit der affektiv-emotionalen Schmerzkomponente<br />

und der erhöhten Aufmerksamkeit bei Schmerzreizen in Verbindung gebracht. Dieser Befund<br />

würde zu der stärkeren affektiven Betonung von Muskelschmerzen passen (Tabelle 1).<br />

Deszendierende Schmerzhemmung<br />

Ob wir Schmerzen empfinden, hängt nicht nur von der Einwirkung von Schmerzreizen, sondern<br />

auch von der Aktivitätsschmerz hemmender Mechanismen ab. So können Verletzungen<br />

schmerzlos bleiben, wenn die schmerzhemmenden Netzwerke besonders stark aktiv sind,<br />

wie z. B. bei Leistungssportlern während des Wettkampfs. Umgekehrt können auch ohne<br />

schmerzhafte Reizung Schmerzen auftreten, wie z. B. bei vielen Formen von chronischen<br />

Schmerzen, wo k<strong>ein</strong>e Gewebsläsionen nachweisbar sind.<br />

Abb. 4: Schematische Darstellung des deszendierenden schmerzhemmenden Systems (grau schraffiert).<br />

PAG: periaeqäduktale graue Substanz im Mesenzephalon; NRM Nucl. raphe magnus in der<br />

Medulla oblongata, Rgc Nucl. reticularis gigantocellularis; Rmc Nucl. reticularis magnocellularis; Rpgl<br />

Nucl. reticularis paragigantocellularis; Neurotransmitter, die im System verwendet werden: E Enkephalin;<br />

NE Noradrenalin; nicht <strong>ein</strong>gezeichnet: Serotonin als Transmitter, mit dem das deszendierende<br />

System die sensorischen Neurone auf Rückenmarksneurone hemmt [2]. Weiterhin sind der Ort<br />

der experimentellen Kühlung des dorsalen Rückenmarks kaudal der Medulla oblongata sowie die<br />

Ableitstelle der sensorischen Neurone im lumbalen Rückenmark vermerkt (s. Abb. 5)<br />

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Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

Ein besonders wichtiges schmerzhemmendes System stellen die deszendierenden antinozizeptiven<br />

Trakte dar [2, 5]. Die Ursprungsneurone des Systems liegen im Mesenzephalon,<br />

von hier gibt es <strong>ein</strong>e starke Verbindung zur Medulla oblongata mit dem wichtigen Kern Nucl.<br />

raphe magnus (NRM). Von der Medulla oblongata deszendieren multiple Bahnen, die das<br />

ganze Rückenmark entlanglaufen und hier nozizeptive Hinterhornneurone hemmen (Abb. 4).<br />

Abb. 5: Registrierung der Impulsaktivität <strong>ein</strong>es nozizeptiven Neurons im lumbalen Rückenmark, a Bei<br />

intakter deszendierender Hemmung. Das Neuron konnte durch schmerzhaftes Kneifen der subkutanen<br />

Gewebe des Sprunggelenks und durch starke Reizung mit <strong>ein</strong>em mechanischen Reizgerät (4,9<br />

und 7,35 N) erregt werden. Schwache (nicht schmerzhafte) Reize (2,94 N) waren ohne Effekt. b Nach<br />

Unterbrechung der deszendierenden Hemmung durch Rückenmarkskühlung. Wenige Minuten nach<br />

Einschalten der Kühlung (cord cooling) waren die Antworten auf starke Reize vergrößert (7,35 und 4,9<br />

N), und das Neuron reagierte nun auch auf den vorher ineffektiven Reiz (2,9 N; aus [19])<br />

Ein Beispiel für den Einfluss der deszendierenden Hemmung auf <strong>ein</strong> nozizeptives spinales<br />

Neuron zeigt Abb. 5. In diesem Tierexperiment wurde die ständige, aktive Hemmung durch<br />

Kühlung der deszendierenden Trakte ausgeschaltet. Erwartet wurde <strong>ein</strong>e Enthemmung der<br />

Neurone, d. h. <strong>ein</strong>e stärkere Erregung durch extrerne Reize. Der Ort der Kühlung befand<br />

sich zwischen Medulla oblongata und dem Ableitort des Neurons im lumbalen Rückenmark<br />

(Abb. 4). Wie Abb. 5 zeigt, trat nach Unterbrechung der deszendierenden Bahnen die Enthemmung<br />

in extremer Weise auf: Das Neuron reagierte bei intakter deszendierender Hemmung<br />

nur auf starke bis schmerzhafte Reize (Abb. 5a) und verhielt sich somit wie <strong>ein</strong> nozizeptives<br />

Neuron. Nach Blockierung der deszendierenden Hemmbahnen (Abb. 5b) entwickelte<br />

das Neuron <strong>ein</strong>e Ruheaktivität und reagierte auf die mechanischen Reize mit deutlich<br />

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39


Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

stärkeren Aktivitätssteigerungen. Besonders wichtig ist der Befund, dass die Zelle nun auch<br />

durch den schwächsten, nichtschmerzhaften Reiz, erregt wurde (2,94 N). Sensorische Neurone<br />

mit Antrieb von Nozizeptoren der Haut zeigten in denselben Experimenten <strong>ein</strong>e signifikant<br />

geringere Wirkung des deszendierenden Hemmsystems [19]. Überträgt man diese Befunde<br />

– etwas spekulativ – auf den Menschen, würde dies bedeuten, dass allgem<strong>ein</strong> der<br />

Tiefenschmerz stärker deszendierend gehemmt wird als der Hautschmerz.<br />

Neben Serotonin ist Enkephalin – <strong>ein</strong>e körperpereigene Substanz mit morphinähnlicher Wirkung<br />

– <strong>ein</strong>er der wichtigsten Transmitter des deszendierenden schmerzhemmenden Systems<br />

[2]. Unter der Prämisse, dass der Tiefenschmerz stärker durch die deszendierende<br />

Hemmung be<strong>ein</strong>flusst wird, sollten Morphin und verwandte Substanzen Tiefenschmerz stärker<br />

lindern als Hautschmerz. Die Testung <strong>ein</strong>es über �-Rezeptoren wirkenden Opioids (Remifentanil)<br />

bei Versuchspersonen ergab tatsächlich, dass das Analgetikum experimentelle<br />

Muskelschmerzen deutlich stärker dämpfte als Hautschmerzen [4]. Eine mögliche Interpretation<br />

dieser Beobachtung wäre, dass der �-Agonist die deszendierende Hemmung aktiviert<br />

und daher vorwiegend Tiefenschmerzen unterdrückt.<br />

Es ist denkbar, dass <strong>ein</strong>e Fehlfunktion des deszendierenden antinozizeptiven Systems zu<br />

chronischen generalisierten Spontanschmerzen und Hyperalgesie in tiefen Geweben (Muskeln,<br />

Sehnen, Faszien, Gelenken) führen kann, ohne dass dort <strong>ein</strong>e Läsion vorhanden ist.<br />

Solche generalisierten Muskelschmerzen sind das Hauptsymptom bei <strong>Fibromyalgie</strong>patienten.<br />

Eine Fehlfunktion des antinozizeptiven Systems wird daher als <strong>ein</strong>e der möglichen Ursachen<br />

der Schmerzen bei <strong>Fibromyalgie</strong> diskutiert [3, 6, 9].<br />

Fazit für die Praxis<br />

Insgesamt zeigt die hier vorgestellte unvollständige Auswahl von Ergebnissen, dass sich der<br />

Muskelschmerz auf allen Ebenen des Nervensystems deutlich vom Hautschmerz unterscheidet.<br />

Eine Übertragung der Mechanismen des Hautschmerzes auf den Muskelschmerz<br />

ist daher nicht gerechtfertigt. Langfristig wird man noch stärker als bisher die Entwicklung<br />

von Medikamenten forcieren müssen, die speziell gegen Muskelschmerz <strong>ein</strong>gesetzt werden<br />

können.<br />

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Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

Zusammenfassung<br />

Fragestellung. Lässt sich Muskelschmerz <strong>ein</strong>deutig aufgrund objektiver (neurobiologischer)<br />

Unterschiede vom Hautschmerz abgrenzen?<br />

Methodik. Die Ergebnisse stammen teils aus Experimenten an narkotisierten Ratten, teils<br />

aus Untersuchungen an Versuchspersonen oder Patienten mit chronischen Muskelschmerzen.<br />

Ergebnisse. Auf praktisch allen Ebenen des Schmerzweges (angesprochen werden Rückenmark,<br />

Kortex, deszendierende schmerzhemmende Bahnen) bestehen deutliche Unterschiede<br />

in der Verschaltung oder Verarbeitung der nozizeptiven Information vom Muskel<br />

gegenüber der Haut.<br />

Schlussfolgerungen. Wegen der grundlegenden Unterschiede zwischen der Neuroanatomie<br />

und den Mechanismen des Muskel- und Hautschmerzes dürfen Ergebnisse aus Untersuchungen<br />

des Hautschmerzes nicht ohne weiteres auf den Muskelschmerz übertragen werden.<br />

In Zukunft sollten in stärkerem Ausmaß als bisher Medikamente speziell für die Behandlung<br />

von Muskelschmerzen entwickelt werden.<br />

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peptide-like immunoreactivity and fluoride resistant acid phosphatase-activity in relation to<br />

retrogradely labeled cutaneous, muscular and visceral primary sensory neurons in the rat. Neurosci<br />

Lett 74: 3<br />

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41


Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />

14. Steffens H, Eek B, Trudrung R, Mense S (2002): Tetrodotoxin block of A-fibre afferents from skin<br />

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17. Tuveson B. Lindblom U, Fruhstorfer H (2003): Experimental muscle pain provokes long-lasting<br />

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19. Yu X-M, Mense S (1990): Response properties and descending control of rat dorsal horn neurons<br />

with deep receptive fields. Neurosci 39: 823<br />

42 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />

Stefan Lautenbacher<br />

1. Einleitung<br />

Die <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong> chronisches Schmerzsyndrom mit multiplen, teilweise großflächigen<br />

Schmerzarealen in der Muskulatur und im Sehnenapparat sowie mit <strong>ein</strong>er deutlich erhöhten<br />

Druckschmerzhaftigkeit – wird immer wieder in die Nähe anderer Erkrankungen aus dem<br />

somatoformen Störungsspektrum gerückt. Aufgrund von syndromaler Ähnlichkeit und epidimologischen<br />

Überlappungen wären in diesem Zusammenhang das Reizkolon, die Somatisierungsstörung,<br />

die Neurasthenie, die hypochondrische Störung, das chronische Müdigkeitssyndrom,<br />

die Reizblase, das chronische Magen-Darm-Syndrom, die somatisierte Depression,<br />

die somatoforme autonome Funktionsstörung und die Multiple Chemical Sensitivity<br />

zu nennen. Es kann vermutet werden, dass diesen Störungsbildern <strong>ein</strong>e erhöhte Reagibilität<br />

in verschiedenen psychophysiologischen Systemen gem<strong>ein</strong>sam ist. Die <strong>Fibromyalgie</strong> wurde<br />

beispielsweise das Irritable Everything Syndrome genannt. Im Folgenden möchte ich aufzeigen,<br />

dass diese erhöhte Reagibilität offenbar nicht allgem<strong>ein</strong>, sondern spezifisch bei aversiver<br />

Stimmulation bei der <strong>Fibromyalgie</strong> zu bestehen sch<strong>ein</strong>t.<br />

2. Veränderte Schmerzwahrnehmung bei <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Subjektive Indikatoren: Bereits früh nach der vorläufigen Etablierung der Diagnose der<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> konnte nachgewiesen werden, dass Fibromyalgiker unter <strong>ein</strong>er deutlich veränderten<br />

Schmerzsensibilität leiden. So konnten Tunks und Kollegen (1988) bereits nachweisen,<br />

dass <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten nicht nur unter <strong>ein</strong>er deutlich erhöhten Druckschmerzhaftigkeit<br />

an den sogenannten Tender Points leiden, sondern auch deutlich niedrigere Druckschmerzschwellen<br />

an anderen Orten aufweisen. Dieses Ergebnis wurde von Lautenbacher<br />

et al. (1994) bestätigt und insofern erweitert, dass die Autoren auch bei Hitzeschmerzschwellen<br />

<strong>ein</strong>e signifikante Erniedrigung bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten fanden (siehe Abbildung 1).<br />

Kosek et al. (1996) konnten ergänzend demonstrieren, dass vergleichbare Schmerzschwellenunterschiede<br />

für Druck und Hitze wie bei Lautenbacher et al. zwischen Fibromyalgikern<br />

und schmerzfreien Personen sowohl in schmerzbefallenen wie auch in schmerzfreien Arealen<br />

zu finden sind. Die erhöhte Schmerzempfindlichkeit ist also nicht lokal an das Vorhandens<strong>ein</strong><br />

von Schmerzen gebunden. Weder bei Lautenbacher et al. noch bei Kosek et al. waren<br />

vergleichbare Sensibilitätserhöhungen bei nicht schmerzhafter Stimulation für Fibromyalgiker<br />

nachzuweisen.<br />

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Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />

Temperatur °C<br />

48<br />

47<br />

46<br />

45<br />

44<br />

43<br />

42<br />

41<br />

40<br />

Abb. 1: Hitzeschmerzschwellen bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten und Kontrollpersonen an <strong>ein</strong>em Tender<br />

Point (Trapezius-Muskel) und an <strong>ein</strong>em Kontrollpunkt (nach Lautenbacher et al. 1994)<br />

Lautenbacher et al. (1994) berechneten Korrelationen zwischen dem <strong>Fibromyalgie</strong>schmerz<br />

gemessen mit dem McGill-Schmerzfragebogen und der Schmerzempfindlichkeit gemessen<br />

mit den Schmerzschwellen für Druck, Hitze und elektrischen Strom. Insgesamt waren die<br />

Zusammenhänge sehr schwach und nur in Einzelfällen signifikant, so dass angenommen<br />

werden muss, dass zumindest in späteren Stadien des <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndroms erhöhte<br />

Schmerzempfindlichkeit und Spontanschmerz unabhängige Größen geworden sind.<br />

Zentralnervöse Indikatoren: Die erhöhte Schmerzempfindlichkeit wurde oft als Ausdruck <strong>ein</strong>es<br />

aggravierenden Schmerzverhaltens abgetan. Jedoch führen Nachweise mit zentralnervösen<br />

Indikatoren der Schmerzreaktion zu ganz ähnlichen Befunden wie subjektive Messungen.<br />

So konnte Lorenz (1998) zeigen, dass die laser-evozierten Hirnpotentiale, die zentralnervöse<br />

Indikatoren der Schmerzreaktionen sind, bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten deutlich größer<br />

ausfallen als bei gesunden Personen (siehe Abbildung 2). Ein ähnlicher Unterschied fand<br />

sich für akkustisch evozierte Potentiale hingegen nicht. Auch mit bildgebenden Verfahren<br />

konnte nachgewiesen werden, dass Fibromyalgiker bei gleicher Schmerzstimulation in vielen<br />

Teilen des Gehirns <strong>ein</strong>e erhöhte Aktivität im Vergleich zu gesunden Personen aufweisen<br />

(siehe Abbildung 3). Das Schmerznetzwerk im Gehirn wird also bei Fibromyalgikern leichter<br />

angesprochen und ist reagibler. Wie schon ausgeführt zeigte sich auch bei den zentralnervösen<br />

Indikatoren die erhöhte Reagibilität primär bei schmerzhafter Stimulation.<br />

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**<br />

Kontrolle<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>


Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />

Zeit Zeit<br />

Abb. 2: Laser-evozierte (LEP) und akkustisch-evozierte (AEP) Hirnpotentiale bei <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />

Patienten und gesunden Kontrollpersonen (modifiziert nach Lorenz 1998)<br />

Abb. 3: Hirnregionen, die bei gleicher Druckstimulation signifikant stärker bei Fibromyalgikern aktiviert<br />

werden, in „rot“ (fMRI-Analyse). Abkürzung: SI = Somatosensorischer Cortex I, SII = Somatosensorischer<br />

Cortex II, ACC = Anteriorer Cortex cinguli, IPL = Inferiorer Parietal-Lappen, STG = Gyrus temporalis<br />

superior, PCC = Posteriorer Cortex cinguli (nach Gracely et al. 2002)<br />

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<strong>Fibromyalgie</strong><br />

Kontrolle<br />

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Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />

3. Erklärungsansätze für die erhöhte Empfindlichkeit bei aversiven Reizen<br />

Mangelhafte Schmerzhemmung: Lautenbacher und Rollman (1997) und Kosek und Hansson<br />

(1997) konnten wahrsch<strong>ein</strong>lich machen, dass das durch Schmerz auslösbare Schmerzhemmsystem<br />

die sogenannten Diffuse Noxious Inhibitory Controls (DNIC) bei Fibromyalgikern<br />

schlechter zu aktivieren ist als bei gesunden Personen (siehe Abbildung 4). Dieses<br />

Schmerzhemmsystem, das dem Phänomen „Schmerz unterdrückt Schmerz“ zugrunde liegt,<br />

verläuft in <strong>ein</strong>er supraspinalen Schleife über den Hirnstamm und gehört mit monoaminergen<br />

und opioidergen Zwischengliedern zum deszendierenden Schmerzhemmsystem.<br />

Strom (mA)<br />

Schmerzschwellen<br />

(Residuen)<br />

Hitzeschmerz Hitze Baseline<br />

Hemmungsauslösende Reize<br />

<strong>Fibromyalgie</strong><br />

Kontrolle Kontrolle<br />

Abb. 4: Schmerzschwellenunterschiede zwischen den Bedingungen Baseline (ohne Stimulation),<br />

Hitze (noch nicht schmerzhafte Hitzestimulation) und Hitzeschmerz (leicht schmerzhafte Hitzestimulationen)<br />

bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten und Kontrollpersonen. Es wird deutlich, dass die hemmungsauslösende<br />

Stimmulation bei den Kontrollpersonen deutlichere Schmerzschwellenerhöhungen bewirkt als<br />

bei den <strong>Fibromyalgie</strong>Patienten, die Hemmung folglich stärker aktiviert (modifiziert nach Lautenbacher<br />

und Rollman 1997)<br />

Hypervigilanz: Nach dem Hypervigilanz-Konzept neigen Fibromyalgiker dazu, aversive Reize<br />

dauerhaft und rigide mit ihrer Aufmerksamkeit zu fokussieren. Plausibel gemacht werden<br />

konnte diese Annahme durch Befunde, die zeigten, dass Fibromyalgiker nicht nur erniedrigte<br />

46 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />

Schmerzschwellen aufweisen, sondern auch auf laute Töne empfindlicher reagieren<br />

(McDermid et al, 1996). Diese erhöhte Geräuschempfindlichkeit ist den Patienten auch bewusst.<br />

Des weiteren konnte gezeigt werden, dass Fibromyalgiker auch auf schmerzbezogene<br />

Wörter stärker mit <strong>ein</strong>er Aufmerksamkeitszuwendung reagieren bzw. sich von solchen<br />

Wörtern nicht ablenken lassen (Dehghani et al, 2003). Eine starke Fokussierung der Aufmerksamkeit<br />

auf potentiell aversive Reize ist bei Fibromyalgikern also sehr wahrsch<strong>ein</strong>lich.<br />

Psychoendokrine Wahrnehmungsfilter: Stresshormone unterstützen die Aufmerksamkeitslenkung<br />

und helfen unter belastenden Bedingungen die Wahrnehmung aversiver Reize zu<br />

reduzieren. Trotz nicht <strong>ein</strong>heitlicher Datenlage ist zu vermuten, dass Patienten mit <strong>Fibromyalgie</strong><br />

die Stresshormonachse schlechter aktivieren können und auch unter Ruhebedingungen<br />

geringere Mengen von Stresshormonen, speziell von Kortisol ausschütten (siehe z.B.<br />

Griep et al, 1998). In <strong>ein</strong>er ganz neuen Studie konnten wir zeigen, dass die Kortisolreagibilität<br />

(die Suppression von Kortisol nach Dexamethason und das Ansteigen des Kortisolspiegels<br />

nach dem Aufwachen) und die Schmerzempfindlichkeit sowie der spontane <strong>Fibromyalgie</strong>schmerz<br />

substantiell korrelieren (siehe Abbildung 5). Dies sind erste Hinweise, dass die<br />

Hypervigilanz bei Fibromyalgikern nicht nur <strong>ein</strong> kognitives Geschehen ist, sondern dass auch<br />

hormonelle Bedingungen es den Patienten erschweren, aversive Reize frühzeitig in ihrer<br />

Wirkung zu unterdrücken.<br />

Korrelationskoeffizient<br />

0,7<br />

0,6<br />

0,5<br />

0,4<br />

0,3<br />

0,2<br />

0,1<br />

0<br />

Druck - TP Druck - KP Hitze - TP Hitze - KP <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />

Schmerz<br />

Abb. 5: Multiple Korrelationen zwischen der Kortisol-Reagibilität (Suppression durch Dexamethason<br />

(0.5 mg), morg<strong>endlich</strong>er Kortisolanstieg nach dem Erwachen) und den Druck– bzw. Hitzeschmerzschwellen<br />

an <strong>ein</strong>em Tender Point (TP) und an <strong>ein</strong>em Kontrollpunkt (KP) sowie dem spontanen <strong>Fibromyalgie</strong>schmerz<br />

(Lautenbacher et al., unveröffentlichte Daten)<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

47


Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />

4. Fazit<br />

Die Fibromyagie ist also offenbar weniger <strong>ein</strong> Irritable Everything Syndrome, sondern <strong>ein</strong>e<br />

spezifische Funktionsstörung der Wahrnehmungsfilter, die unser zentrales Nervensystem<br />

davor schützen sollen, von aversiven Reizen überschwemmt zu werden. Die Annahme <strong>ein</strong>er<br />

solchen Filterdysfunktion würde auch verständlich machen, dass bei Fibromyalgikern häufig<br />

andere Reizsyndrome wie Reizkolon, Reizblase, Multiple Chemical Sensitivity, etc. vorkommen.<br />

Diese syndromale Überlappung ist daher auch <strong>ein</strong>e Bestätigung der beschriebenen<br />

experimentellen Befunde. Inwieweit solche Filterdysfunktionen reversibel sind, ist bislang<br />

noch ungeklärt.<br />

Literatur<br />

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chronic musculoskeletal pain patients. Pain 105: 37-46<br />

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48 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von<br />

Schmerz?<br />

H<strong>ein</strong>z-Dieter Basler<br />

1. <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong> Syndrom ohne Ätiologie?<br />

Crofford und Clauw (2002) stellten, zehn Jahre nachdem das American College of Rheumatology<br />

die Klassifikationskriterien für <strong>Fibromyalgie</strong> entwickelt hatte, fest, dass unter vielen<br />

Rheumatologen <strong>ein</strong>e erhebliche Frustration bestünde, weil die ätiopathogenetischen Mechanismen<br />

der Erkrankung immer noch nicht bekannt wären. Unser Wissen darüber, mit welchen<br />

Mechanismen die <strong>Fibromyalgie</strong> assoziiert ist, hat sich zwar in den letzten Jahren ständig<br />

erweitert. Eine Assoziation kann allerdings höchstens dazu dienen, Hypothesen über<br />

kausale Mechanismen aufzustellen, <strong>ein</strong> Beweis für kausale Zusammenhänge ist daraus nicht<br />

abzuleiten.<br />

Das Vollbild der <strong>Fibromyalgie</strong> ist sowohl mit somatischen als auch mit psychischen Auffälligkeiten<br />

assoziiert. Auf der somatischen Seite finden wir neben <strong>ein</strong>er Sensitivierung in Bezug<br />

auf Schmerzreize auch Veränderungen im Muskelgewebe und Veränderungen im hormonellen<br />

System. Bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten zeigt sich <strong>ein</strong>e generalisierte Hyperalgesie (Graven-<br />

Nielsen et al., 1999). Wir beobachten s<strong>ein</strong>e vermehrte Sensitivität für thermische, mechanische<br />

und elektrische Reize. Dies legt nahe, dass es beim <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom zu veränderten<br />

zentralnervösen Abläufen in der Schmerzverarbeitung kommt (Flor, 2003). Zu den<br />

wesentlichen zentralnervösen Mechanismen für die Entstehung des <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />

Schmerzes gehören die temporale Summation des Schmerzes (Wind-up) und die zentrale<br />

Sensitivierung (Staud et al., 2001). Hyperalgesie und Allodynie sind die Folge.<br />

Muskelbiopsien zeigten <strong>ein</strong>e Atrophie der Tpy-II-Fasern sowie Veränderungen in mitochondrialen<br />

und tubulären Strukturen (Goldenberg, 1988). Tendenziell zeigte sich <strong>ein</strong>e Typ-I-<br />

Faser Hypertrophie. Lund et al. (1986) konnten mit <strong>ein</strong>er Sauerstoffelektrode in den spezifischen<br />

Tender Points der Patienten <strong>ein</strong>e schlechtere Oxygenierung als in schmerzfreiem<br />

Gewebe feststellen. Dies führt bei den Patienten erheblich schneller als bei Gesunden zur<br />

anaeroben Glykolyse und schließlich zu <strong>ein</strong>er Schmerzsymptomatik, wie sie auch bei Gesunden<br />

nach schwerer, inadäquater körperlicher Anstrengung auftritt. Des weiteren konnte<br />

<strong>ein</strong>e Verarmung an Carnitin aus der Vitamin B Gruppe nachgewiesen werden. Das Problem<br />

ist, dass die meisten dieser Befunde nicht spezifisch für das <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom sind,<br />

sondern auch bei anderen stark chronifizierten Schmerzkrankheiten auftreten. Die Veränderungen<br />

im Muskelgewebe können zudem weitgehend als Zeichen <strong>ein</strong>er Inaktivitätsatrophie<br />

gedeutet werden. Diese Aussage gilt auch für die beobachteten hormonellen Veränderungen,<br />

die sich in <strong>ein</strong>er Störung der zirkadianen Rhythmik des Cortisols, <strong>ein</strong>er Erniedrigung des<br />

Serotonin-Spiegels, <strong>ein</strong>er Erhöhung des Spiegels von Substanz P und <strong>ein</strong>em Mangel an<br />

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49


Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

Wachstumshormonen (STH) darstellen (Ferraccioli et al., 1990). Diese Veränderungen können<br />

am besten interpretiert werden als Hinweis auf <strong>ein</strong>e Dysregulation der Hypothalamus-<br />

Hypophysen-Nebennierenrindenachse, die ebenfalls nicht als spezifisch für die <strong>Fibromyalgie</strong><br />

angesehen werden kann.<br />

Abb. 1: Zentrale Mechanismen bei chronischem Schmerz<br />

Im Vergleich zu Gesunden sind <strong>Fibromyalgie</strong> Patienten psychisch auffällig. Die Übersichtsarbeiten<br />

von Blumenstiel und Eich (2003), Egle et al. (2004) sowie Wolfe und Hawley (1998)<br />

weisen auf erhöhte Prävalenzraten depressiver Verstimmungen und Angststörungen hin. Die<br />

affektive Schmerzbeschreibung dominiert vor der sensorischen, und die Anzahl der berichteten<br />

kritischen Lebensereignisse (z.B. Traumatisierungen, sexueller Missbrauch) ist erhöht.<br />

Einher gehen diese Auffälligkeiten mit <strong>ein</strong>em verminderten Selbstwertgefühl. Jedoch gilt<br />

auch für die psychischen Auffälligkeiten, dass diese nicht spezifisch für die <strong>Fibromyalgie</strong><br />

sind, sondern dass sie sich bei allen Patienten finden lassen, die über lange Zeit unter chronischen<br />

Schmerzen leiden.<br />

Das Fazit der bisherigen Überlegungen besteht darin, dass offenbar die von Crofford und<br />

Clauw berichtete Frustration durch das gegenwärtig vorliegende Wissen immer noch nicht<br />

überwunden werden kann. Die vorgelegten ätiologischen Konzepte leiden alle unter dem<br />

Mangel an empirischer Fundierung. Die Reaktionen der Wissenschaftler auf diesen Sachverhalt<br />

sind unterschiedlich. Einige stellen in Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, die diagnostische<br />

Kategorie <strong>Fibromyalgie</strong> aufrecht zu erhalten (Raspe, 1996). Andere gehen davon aus,<br />

dass die Gruppe der derzeit mit der Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> belegten Patienten heterogen ist<br />

und <strong>ein</strong>e Subgruppenbildung das ätiologische Wissen verbessern könnte. Wieder andere<br />

konzentrieren sich auf die Gem<strong>ein</strong>samkeiten, die <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten mit anderen Patienten<br />

haben, die unter chronischem Schmerz leiden. Für letztere steht nicht die Frage im Vor-<br />

50 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

dergrund, wie es zu den initialen Symptomen kam, sondern die Frage, wie diese Symptome<br />

sich im Prozess der Chronifizierung zu dem Vollbild des <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndroms ausformten.<br />

Zu den letzteren gehören Main und Williams (2002). Sie stellen die These auf, die Bezeichnung<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> diene all<strong>ein</strong> der Deskription <strong>ein</strong>er Symptomatik, habe aber k<strong>ein</strong>e spezifische<br />

ätiologische Bedeutung. Kouyanou et al. (1998) sind überzeugt, dass Patienten, denen<br />

die Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> zugeschrieben wird, am Anfang ihrer Patientenkarriere “medically<br />

unexplained symptoms” aufwiesen. In der Folge wurde dann durch iatrogene Prozesse und<br />

psychische Komorbidität in <strong>ein</strong>em Zusammenwirken von Arzt und Patient gem<strong>ein</strong>sam das<br />

Krankheitsbild gestaltet, welches schließlich als <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom bezeichnet wird.<br />

Die Evidenz über die Prozesse der Chronifizierung wurde vorwiegend durch Studien an Patienten<br />

mit unspezifischem Rückenschmerz gewonnen. Es gilt als gut belegt, dass bei dieser<br />

Patientengruppe sowohl iatrogene Faktoren als auch operante Prozesse sowie spezifische<br />

Kognitionen den Prozess der Chronifizierung begünstigen. Es soll der Frage nachgegangen<br />

werden, ob der Prozess der Chronifizierung sich bei <strong>Fibromyalgie</strong> nicht in ähnlicher Weise<br />

abspielen könnte wie beim Rückenschmerz.<br />

2. Risiken für Chronifizierung<br />

Iatrogene Risiken<br />

Von Kouyanou et al. (1997) wurde in Londoner Schmerzkliniken <strong>ein</strong>e umfangreiche Studie<br />

über den ärztlichen Beitrag zur Chronifizierung durchgeführt. Einbezogen wurden 125 neu<br />

aufgenommene Patienten mit chronischem Schmerz unterschiedlicher Diagnosen mit mindestens<br />

sechs Monaten Dauer, die alle zuvor in der Regelversorgung behandelt worden waren.<br />

Krebspatienten wurden ausgeschlossen. Der iatrogene Beitrag zur Chronifizierung wurde<br />

den folgenden Kategorien zugeordnet:<br />

Überversorgung mit bildgebender Diagnostik und medikamentöser Therapie<br />

Bei 27 % der Stichprobe wurde <strong>ein</strong>e mehrfach wiederholte Untersuchung mit immer aufwändigeren<br />

bildgebenden Verfahren (CT, MRI) durchgeführt, obgleich <strong>ein</strong>e Indikation nicht gegeben<br />

erschien und die Befunde wiederholt negativ waren. 57 % der Patienten hatten mehr<br />

als fünf Behandlungen sequentiell und nicht auf<strong>ein</strong>ander abgestimmt erhalten. Bei 28 % der<br />

Patienten gab es entweder nicht sinnvolle Einnahmeschemata (schmerzkontingent statt zeitkontingent)<br />

oder <strong>ein</strong>e nicht angebrachte Kombination von Schmerzmedikamenten.<br />

Unterversorgung mit Information und Beratung<br />

B<strong>ein</strong>ahe die Hälfte der Patienten hatte bisher k<strong>ein</strong>e plausible Erklärung für ihren Schmerz<br />

bekommen und jeder Vierte berichtete darüber, vom Arzt sei angedeutet worden, dass der<br />

Schmerz nicht glaubhaft sei („pain is in the mind“, „not real“, „imaginative“, „there is nothing<br />

wrong with you“). Es wurde selten deutlich gemacht, dass bildgebende Verfahren den<br />

Schmerz nicht abbilden können und dass <strong>ein</strong> negativer Befund nicht ausschließt, dass der<br />

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51


Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

Schmerz erklärbare Ursachen hat. Als besonders problematisch wurde der Umgang der Ärzte<br />

mit der Bettruhe angesehen. Etwa drei Viertel der Befragten hatte den Rat erhalten, sich<br />

bei vorhandenen Schmerzen zu schonen.<br />

Nichtbeachtung psychischer Komorbidität<br />

Bei 10 % der Patienten wurde <strong>ein</strong>e psychische Komorbidität gefunden, die vorher nicht beachtet<br />

worden war (major depression, bipolar disorder, somatization disorder) und die bisher<br />

<strong>ein</strong>e erfolgreiche Behandlung des Schmerzes verhindert hatte.<br />

nach: Turk, 1999<br />

Wahrnehmung und Bewertung von Symptomen<br />

Suche nach Hilfe<br />

<strong>ein</strong>seitige (nur auf Pathologie bezogene) Diagnostik und Therapie<br />

Enttäuschung<br />

„Doktor -Shopping“<br />

hohe Kosten, invasive Diagnostik und Therapie<br />

Andeutung: Simulant, psychogen, das Alter<br />

Patient resigniert oder verstärkt s<strong>ein</strong> Schmerzverhalten<br />

fortschreitende Chronifizierung<br />

Abb. 2: Chronifizierung durch unfreiwillige Mitwirkung des Arztes<br />

Bereits von Turk (1999) ist beschrieben worden, dass <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>seitig biologisch orientiertes<br />

Krankheitsmodell des Arztes dazu führt, ausschließlich mit Hilfe bildgebender Verfahren<br />

nach <strong>ein</strong>er Pathologie zu suchen, die den Schmerz zu erklären vermag. Zumindest beim<br />

Rückenschmerz ist es so, dass nur in höchstens 10 % der Fälle auf diese Weise <strong>ein</strong>e Erklärung<br />

für den Schmerz gefunden werden kann. Wird dieser negative Befund den Patienten<br />

nicht adäquat erklärt, wird der Patient weiter nach Ursachen für den Schmerz suchen. Es<br />

kommt bei nachfolgend kontaktierten Ärzten zu immer aufwändigeren diagnostischen Prozeduren<br />

und bei erneutem negativem Befund eventuell zu Andeutungen, der Schmerz sei psychogen<br />

oder der Patient <strong>ein</strong> Simulant, was dann auf Seiten des Patienten mit demonstrativem<br />

Schmerzverhalten beantwortet wird. Der Prozess der Chronifizierung setzt sich fort.<br />

Könnten die hier beschriebenen Prozesse nicht auch die Chronifizierung bei <strong>Fibromyalgie</strong><br />

erklären? Viele Patienten berichten im Frühstadium ihrer Symptomatik von <strong>ein</strong>er Odysee bei<br />

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Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

verschiedenen Behandlern und <strong>ein</strong>er großen Unzufriedenheit über die erhaltenen Erklärungen,<br />

bis sie schließlich die Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> erhielten.<br />

Risiken durch operante Prozesse<br />

Das operante Modell beschreibt, wie durch die Folgen individuellen Schmerzverhaltens (z.B.<br />

durch die Zuwendung von Bezugspersonen oder durch die Entlastung von Aufgaben) das<br />

Schmerzverhalten aufrecht erhalten, bzw. verstärkt werden kann (Keefe et al., 1990). Unabhängig<br />

von der Ursache des Schmerzes kann das Schmerzverhalten unter die Kontrolle verstärkender<br />

Umweltbedingungen kommen, wobei sowohl Prozesse der positiven als auch der<br />

negativen Verstärkung hierzu beitragen können. Die Patienten schränken als Folge von<br />

Lernprozessen ihre Aktivitäten immer mehr <strong>ein</strong>; es kommt bei ihnen langfristig zu <strong>ein</strong>em<br />

muskulären Übungsdefizit bis hin zur Muskelinsuffizienz, wodurch das Risiko von Verletzung<br />

und Schmerz ansteigt. Die zuvor beschriebenen Veränderungen, die im Muskelgewebe von<br />

Patienten mit der Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> beobachtet worden sind, könnten durch diese Prozesse<br />

auf dem Hintergrund <strong>ein</strong>er Inaktivitätsatrophie erklärt werden.<br />

Risiken durch inadäquate Kognitionen<br />

Kognitive Modelle erklären den Prozess der Chronifizierung durch die Denk- und Bewertungsmuster<br />

der Betroffenen, mit denen diese auf das Schmerzerleben antworten. Diese<br />

Muster sind wiederum durch übergreifende Krankheitsmodelle be<strong>ein</strong>flusst, z.B. durch die<br />

Überzeugung, alle Schmerzen hätten <strong>ein</strong>e Ursache in körperlicher Pathologie, wohingegen<br />

funktionellen Defiziten eher <strong>ein</strong>e geringe Bedeutung zuzuschreiben sei. Das Fear-Avoidance-Modell<br />

beschäftigt sich insbesondere mit der Einstellung der Betroffenen zur körperlichen<br />

Aktivität. Die kritische Kognition besteht in der Überzeugung, Aktivität sei zu vermeiden,<br />

<strong>ein</strong>e Überzeugung, die gespeist wird durch die Angst, die Aktivität werde schädliche Folgen<br />

haben oder zu mehr Schmerzen führen. Dabei kommt es sowohl zu <strong>ein</strong>er verstärkten Aufmerksamkeitslenkung<br />

auf interozeptive Signale als auch zu deren Überinterpretation, bzw.<br />

Überbewertung (Kronshage et al., 2001). Häufig ist diese Kognition vergesellschaftet mit<br />

<strong>ein</strong>er katastophisierenden Interpretationen der gesamten Krankheitssituation, die in Kombination<br />

mit <strong>ein</strong>er erlebten Hilflosigkeit <strong>ein</strong>er aktiven Mitarbeit in der Therapie entgegen steht<br />

(Vlaeyen und Crombez, 1999; Waddell et al., 1993). Auf der Verhaltensebene führen diese<br />

kognitiven Überzeugungen zu <strong>ein</strong>er fortschreitenden Vermeidung von Aktivität, Bewegung<br />

und Belastung, die wiederum erhebliche körperliche (Mineralveruste des Knochengerüstes,<br />

Verlust der koordinativen Fähigkeiten, Verringerung der Muskelhaltekräfte, Atrophie etc.) wie<br />

auch psychische Konsequenzen nach sich zieht und letztlich in <strong>ein</strong>er Immobilisierung münden<br />

kann. Auch wenn aussagekräftige Studien zu dieser Thematik an Patienten mit der Diagnose<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> noch nicht vorliegen, ersch<strong>ein</strong>t doch die Hypothese plausibel, dass die<br />

Kognitionen der Betroffenen dazu beitragen, das Vollbild der <strong>Fibromyalgie</strong> auszugestalten.<br />

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53


Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

3. Gültigkeit des vorgelegten Konzeptes<br />

Die <strong>Fibromyalgie</strong> ist definiert durch Schmerzen sowohl in der rechten als auch der linken<br />

Körperhälfte, oberhalb und unterhalb der Taille und in den Gliedmaßen sowie durch <strong>ein</strong>e<br />

Schmerzangabe bei mindestens 11 von 18 definierten Tender Points bei Palpation. Unter der<br />

Hypothese, das Vollbild der <strong>Fibromyalgie</strong> entwickele sich erst im Laufe der Chronifizierung<br />

des Schmerzes, müsste die Anzahl der schmerzhaften Tender Points abhängig s<strong>ein</strong> von<br />

dem Ausmaß der Chronifizierung <strong>ein</strong>es Schmerzleidens. Hüppe et al. (2004) überprüften<br />

diese Hypothese an <strong>ein</strong>er Stichprobe von 875 Personen, die bei <strong>ein</strong>er repräsentativen Befragung<br />

der Lübecker Bevölkerung angaben, unter Rückenschmerz zu leiden. Diese Personen<br />

wurden zu <strong>ein</strong>er medizinischen und psychologischen Untersuchung <strong>ein</strong>geladen. Die Anzahl<br />

der aktiven Tender Points wurden nach den Kriterien des American College of Rheumatology<br />

festgestellt. Außerdem wurden die Probanden in Analogie zu dem von von Korff et al.<br />

(1992) vorgeschlagenen Index <strong>ein</strong>em Schweregrad des Rückenschmerzes zugeordnet.<br />

Hierbei wurde die Schmerzintensität und die Funktionsbe<strong>ein</strong>trächtigung berücksichtigt.<br />

Aus Abb. 3 ist zu entnehmen, dass bei der Stichprobe das FMA-Kriterium „11 von 18 Tender<br />

Points positiv“ bei 2,9 % der Personen erfüllt war. Abb. 4 demonstriert, dass die zuvor geäußerten<br />

Erwartungen erfüllt wurden: Die Anzahl der schmerzhaften Tender Points ist abhängig<br />

von dem Schweregrad der Schmerzerkrankung. Die Autoren berichten außerdem, dass<br />

sich die nicht obligaten psychischen Begleitsymptome der <strong>Fibromyalgie</strong> mit zunehmendem<br />

Schweregrad des Rückenschmerzes immer stärker heraus bildeten.<br />

Dieses Ergebnis wird als Beleg dafür angesehen, dass sich die diagnostischen Kriterien der<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> erst im Prozess der Chronifizierung <strong>ein</strong>er Schmerzkrankheit entwickeln. Die<br />

sich hier zeigende zunehmende Hyperalgesie ist zudem vergesellschaftet mit zunehmendem<br />

psychologischen Distress.<br />

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Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

%<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

Schmerzhafte Tender Points<br />

(N = 616: 334 w, 282 m)<br />

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11+<br />

16 w, 2 m<br />

Abb. 3: Prozentualer Anteil der schmerzhaften Tender Points (Hüppe et al., 2004)<br />

Abb. 4: Die Abhängigkeit der Anzahl der schmerzhaften Tender Points von dem Schweregrad des<br />

Rückenschmerzes (Hüppe et al., 2004)<br />

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% Männer<br />

% Frauen<br />

FMA-Kriterium „Tender Points“ positiv bei 2.9 %<br />

(m: 0.07 %, w: 4.8 %)<br />

Schmerzhafte Tender Points<br />

und Rückenschmerz -Schweregrad (N = 867)<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

Anzahl<br />

M mit Konfidenzintervall<br />

Grad 0 Grad I Grad II Grad III<br />

Von-Korff-Index<br />

Kovarianzanalyse mit Alter und Geschlecht als Kovariate : p


Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

4. Fazit<br />

Auch wenn die empirischen Belege für die Erklärung der <strong>Fibromyalgie</strong> durch Prozesse der<br />

Chronifizierung noch nicht ausreichend sind, um die Hypothese als gesichert anzusehen, hat<br />

sie doch <strong>ein</strong>e gewisse Plausibilität. Es ist zu vermuten, dass am Beginn der Patientenkarriere<br />

<strong>ein</strong> ungeklärtes Schmerzbild steht, dass von Kouyanou et al. (1997, 1998) als „medically<br />

unexplained“ bezeichnet wird. Iatrogene Prozesse, operante Konditionierung und maladaptive<br />

Kognitionen tragen dazu bei, dass die Chronifizierung fortschreitet. Es zeigen sich zunehmend<br />

somatische Veränderungen, z.B. Sensitivierungsphänomene, muskuläre Defizite<br />

und hormonelle Dysregulation. Auf das Wind-up Phänomen ist die zunehmende Ausprägung<br />

schmerzhafter Tender Points zurückzuführen. Schließlich treten auch die psychischen Folgen<br />

der Chronifizierung immer mehr in das Blickfeld. Das Vollbild der <strong>Fibromyalgie</strong> ist entstanden.<br />

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56 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />

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57


Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Wolfgang Hausotter<br />

1. Einleitung<br />

Seit Jahren wird besonders von Orthopäden, Rheumatologen und Internisten immer häufiger<br />

die Krankheitsbezeichnung „<strong>Fibromyalgie</strong>“ verwandt und als verm<strong>ein</strong>tlich eigenständige<br />

Krankheitsentität angesehen. Der bis dahin noch weitgehend unbekannte Begriff gewann<br />

damit auch für die Begutachtung an Bedeutung.<br />

Es handelt sich um <strong>ein</strong> ausgesprochen umstrittenes und hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese<br />

weitgehend ungeklärtes Krankheitsbild. Als Gutachter gewinnt man den Eindruck, dass<br />

mit diesem Terminus oft die Hilflosigkeit gegenüber funktionellen Störungen und die Scheu<br />

der behandelnden Ärzte, offen <strong>ein</strong>e mögliche Psychogenese anzusprechen, verdeckt werden<br />

soll. Es besteht jedenfalls <strong>ein</strong>e deutliche Diskrepanz zwischen Art und Ausmaß des geklagten<br />

Beschwerdebildes und dem objektivierbaren Befund.<br />

Manche Ärzte betrachten die <strong>Fibromyalgie</strong> ausdrücklich als körperliche und nicht als psychische<br />

Erkrankung, andere vertreten <strong>ein</strong>e konträre Auffassung und sehen sie als Verlegenheitsdiagnose<br />

an bzw. halten den Begriff für ganz entbehrlich. Die Probleme, die vor diesem<br />

Hintergrund bei der gutachtlichen Beurteilung zu erwarten sind, liegen auf der Hand.<br />

Schmerzsymptome stehen ohnehin in der Symptompräsentation unserer Zeit ganz im Vordergrund,<br />

gefolgt von Müdigkeit und Erschöpfung, wobei bei den anhaltenden somatoformen<br />

Schmerzstörungen nur in 1 bis 5 % der Fälle <strong>ein</strong>e adäquate organische Ursache gefunden<br />

werden konnte.<br />

Terminologie<br />

Der Begriff „<strong>Fibromyalgie</strong>“ oder „<strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom“, in der ICD 10: M 79.0, wurde von<br />

Hench 1976 <strong>ein</strong>geführt und von Yunus et al. ab 1981 diagnostisch weiter definiert. Er ersetzt<br />

die früheren Begriffe „Fibrositis“ (nach Gowers 1904) der angloamerikanischen Literatur und<br />

„generalisierte Tendomyopathie“ (nach Müller 1971), „polytope Insertionstendopathie“ (nach<br />

Mathies 1975) und „Weichteilrheumatismus“ im deutschsprachigen Raum.<br />

Diese Bezeichnungen suggerierten teils pathophysiologische Zusammenhänge, die nicht<br />

bewiesen waren, teils waren sie r<strong>ein</strong> beschreibend. Eine Entzündung, wie die veraltete Bezeichnung<br />

„Fibrositis“ nahe legte, besteht nicht.<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Es wird von <strong>ein</strong>er chronischen generalisierten Schmerzerkrankung ausgegangen,<br />

• die mit <strong>ein</strong>er polytopen Schmerzhaftigkeit des Bewegungsapparates im Sinne des „wide<br />

spread pain“,<br />

• an typischer Stelle lokalisierten Druckschmerzpunkten, den sog. „tender points“, und<br />

• multiplen vegetativen funktionellen Störungen sowie<br />

• psychischen Auffälligkeiten verknüpft ist.<br />

Die <strong>Fibromyalgie</strong> gilt als die zur Zeit schillerndste Diagnose innerhalb der ohnehin wenig objektivierbaren<br />

weichteilrheumatischen Erkrankungen bzw. als ausgesprochen „problematische<br />

Erkrankung“ oder „besonders mysteriöse Störung“.<br />

Davon abzugrenzen – allerdings mit breiten Überschneidungen – ist das „myofasziale<br />

Schmerzsyndrom“. Darunter werden alle Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates verstanden,<br />

die ihren Ursprung außerhalb der Gelenkkapsel und des Periosts haben und die<br />

auch nicht auf <strong>ein</strong>e manifeste Muskelerkrankung im Rahmen <strong>ein</strong>er entzündlichrheumatischen<br />

oder neurologischen Systemerkrankung zurückzuführen sind.<br />

Hier finden sich „trigger points“, die <strong>ein</strong>er palpablen (!) Muskelverhärtung – überwiegend im<br />

Bauch <strong>ein</strong>es Extremitätenmuskels – entsprechen und denen meist <strong>ein</strong>e segmentale, mutmaßlich<br />

durch spinale Reflexmechanismen erzeugte Überkontraktion von Muskelfaserbündeln<br />

zugrunde liegt.<br />

Die „tender points“ der <strong>Fibromyalgie</strong> dagegen sind nicht durch <strong>ein</strong>en abnormen Palpationsbefund<br />

gekennzeichnet.<br />

Hinsichtlich der ICD-10-Klassifikation ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei nicht unbedingt<br />

um eigenständige Krankheiten, sondern um diagnostische Kriterien zur besseren Verständigung<br />

unter<strong>ein</strong>ander handelt (Szasz). Die Tatsache der Vergabe <strong>ein</strong>er ICD-Nummer<br />

wie M 79.0 besagt noch nichts über das Vorliegen <strong>ein</strong>er abgrenzbaren Krankheitsentität.<br />

Beschwerdebild<br />

Neben den ausgedehnten Schmerzen („Schmerzen überall, alles tut weh“), besonders den<br />

obligatorischen Rückenschmerzen, wird <strong>ein</strong>e Fülle weiterer Befindlichkeitsstörungen angegeben.<br />

Dazu gehören vor allem Beschwerden in Armen und B<strong>ein</strong>en, die – verstärkt nach<br />

körperlichen Belastungen, dann manchmal auch erst am nächsten Morgen – insbesondere<br />

an den Muskelansätzen, aber nicht nur dort, auftreten. Ebenso werden Schlafstörungen geklagt,<br />

die mit dem Gefühl <strong>ein</strong>hergehen, morgens nicht ausgeschlafen und erholt zu s<strong>ein</strong><br />

(„non-restorative-sleep“), häufig auch allgem<strong>ein</strong>e Müdigkeit und rasche Erschöpfbarkeit. Ein<br />

enger Zusammenhang mit dem „Chronic Fatigue Syndrom“ wird sehr häufig diskutiert.<br />

Angst, Depressionen, aber vor allem <strong>ein</strong>e Fülle vegetativer und funktioneller Beschwerden<br />

wie Kopfschmerzen, funktionelle Atembeschwerden, respiratorische Arrhythmie, nicht orga-<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

nisch bedingte kardiale Beschwerden, Dysurie, Dysmenorrhoe, Parästhesien, Tremor, Globusgefühl,<br />

Darmstörungen insbesondere im Sinne des „Colon irritabile“, auch kalte Akren<br />

oder Hyperhydrosis überwiegend der Hände, trockener Mund, Dermographismus mit auffallender<br />

Rötung nach Palpation, orthostatische Beschwerden und viele andere mehr werden<br />

oft gleichzeitig geklagt. Gerade dieses weite Spektrum zusätzlicher vegetativer und psychischer<br />

Beschwerden macht die Diagnose so schillernd und erschwert die klare diagnostische<br />

Zuordnung.<br />

2. Diagnostische Kriterien<br />

Die diagnostischen Kriterien des American College of Rheumatology (ACR) 1990 (zitiert<br />

nach Wolfe et al. 1990) sind r<strong>ein</strong> deskriptiv und beschränken sich auf zwei Kardinalsymptome:<br />

ausgebreitet persistierende Schmerzen bzw. Schmerzregionen unter Einschluss der<br />

Wirbelsäule und das Vorliegen von mindestens 11 von 18 definierten „tender points“, d.h.<br />

lokalen subjektiven Druckschmerzpunkten.<br />

Als ausgebreitete Schmerzen („wide spread pain“) werden Schmerzen der ganzen rechten<br />

und/oder linken bzw. oberen und/oder unteren Körperhälfte definiert, wobei <strong>ein</strong>e mindestens<br />

dreimonatige Dauer der Beschwerden gefordert wird. Dazu kommen die vielfältigen, diffusen,<br />

vegetativ geprägten Organbeschwerden unterschiedlicher Art.<br />

Die internationale Festlegung auf <strong>ein</strong>en standardisierten Fingerdruck von 4 kp/cm2 zur<br />

Schmerzauslösung pro Druckpunkt oder die Verwendung <strong>ein</strong>es Dolorimeters sch<strong>ein</strong>t eher<br />

pseudo-objektiv und in der Begutachtungssituation wenig hilfreich. Letztlich sind die Druckpunkte<br />

wenig valide und nicht reliabel und damit diagnostisch nicht weiterführend.<br />

Ein objektivierbares organisches Substrat mit klinischen, radiologischen oder laborchemischen<br />

Normabweichungen existiert bislang nicht.<br />

Grundsätzlich ist die <strong>Fibromyalgie</strong> zunächst <strong>ein</strong>e Ausschlussdiagnose mit <strong>ein</strong>em Negativkatalog<br />

technischer Untersuchungsbefunde. Der Ausschluss <strong>ein</strong>er organisch fassbaren Erkrankung<br />

ist in jedem Fall sorgfältig zu führen. Es ist unzureichend, sich all<strong>ein</strong> auf die subjektiven<br />

Angaben des Betroffenen zu verlassen, ohne <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>gehende umfassende Diagnostik auf<br />

verschiedenen Fachgebieten veranlasst zu haben. Auszuschließen sind vor allem entzündlich-rheumatische<br />

Erkrankungen, Wirbelsäulenprozesse mit radikulärer Symptomatik,<br />

muskuläre Systemerkrankungen, Myositiden oder Kollagenosen.<br />

In der Begutachtungspraxis ersch<strong>ein</strong>en die Probanden allerdings oft überdiagnostiziert und<br />

bringen meist stapelweise Röntgenbilder und Laborbefunde mit, die entweder ohne pathologischen<br />

Befund sind oder die geklagten Beschwerden nicht erklären.<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Primäres oder sekundäres <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom<br />

Es wird <strong>ein</strong> primäres von <strong>ein</strong>em sekundären oder reaktiven <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom unterschieden,<br />

wobei letzteres nach <strong>ein</strong>er definierten körperlichen Grundkrankheit auftritt. Als<br />

Konzept für die gutachtliche Beurteilung ist dies sehr sinnvoll: Die primäre <strong>Fibromyalgie</strong> hat<br />

k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>deutig objektivierbare, klinisch fassbare Ursache.<br />

Die sekundäre oder reaktive Form, die im Arbeitskreis um Müller (1991) nur 10 % des Krankengutes<br />

ausmacht, wird durch definierte organische Erkrankungen wie entzündlichrheumatische<br />

Systemerkrankungen bzw. Kollagenosen wie z.B. den Lupus erythematodes,<br />

andere entzündliche Erkrankungen, Infektionskrankheiten, besonders aber durch virale Infekte<br />

wie Hepatitis C oder auch <strong>ein</strong>e Borreliose, endokrine Störungen, maligne Tumoren,<br />

Muskelerkrankungen wie Myositiden und mitochondriale Myopathien, und andere verursacht.<br />

Auch neurologische Erkrankungen wie z.B. <strong>ein</strong> Morbus Parkinson oder <strong>ein</strong> langsam wachsender<br />

spinaler Tumor können längere Zeit vor der klinischen Manifestation unbestimmte<br />

Schmerzen hervorrufen, die nicht selten als „<strong>Fibromyalgie</strong>“ verkannt werden.<br />

Epidemiologie<br />

Frauen sind wesentlich häufiger betroffen als Männer, sie überwiegen nach Keel im Verhältnis<br />

85 zu 15 %. Die Angaben zur Häufigkeit dieses Beschwerdebildes sind sehr unterschiedlich,<br />

nicht zuletzt bedingt durch die unscharfen Diagnosekriterien. In den USA soll <strong>ein</strong>e<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> bei 2 % der hausärztlich betreuten Patienten, bei 5 % der internistisch und 10–<br />

20 % der in rheumatologischen Fachkliniken behandelten Kranken bestehen (zitiert nach<br />

Uexküll 1996). Es findet sich auch die Angabe, dass etwa 3 % der Bevölkerung davon betroffen<br />

s<strong>ein</strong> sollen (Rohe und Rompe 1995).<br />

In letzter Zeit dominieren weit gefasste Angaben zur Prävalenz von 1–10 %. Bei Frauen zwischen<br />

dem 60. und 80. Lebensjahr wird sie auf 7 % geschätzt. Der Beginn der Erkrankung<br />

liegt meist um das 35. Lebensjahr, der Häufigkeitsgipfel im Zeitraum des Klimakteriums. Ein<br />

Beginn nach dem 60. Lebensjahr wird als selten angesehen.<br />

Körperliche Befunde<br />

Bei der <strong>Fibromyalgie</strong> lassen sich klinisch k<strong>ein</strong>e sicheren, objektivierbaren Befunde erheben,<br />

weder laborchemisch noch radiologisch. Auch EEG, EMG und die übrige neurophysiologische<br />

Diagnostik ergeben im Regelfall k<strong>ein</strong>e Normabweichungen. Die Diagnose stützt sich<br />

ausschließlich auf die oben angeführten subjektiven Beschwerden in ausgedehnten<br />

Schmerzregionen und die definierten subjektiven Druckschmerzpunkte.<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Schmerzhafte Druckpunkte<br />

Diese „tender points“ sind r<strong>ein</strong> empirisch gefundene Bezugspunkte auf der Körperoberfläche.<br />

Sie finden sich bei der digitalen Palpation jeweils bilateral<br />

• kranial und kaudal okzipital (Ansätze der subokzipitalen Muskeln und der Querfortsätze<br />

der HWK 5–7),<br />

• M. trapezius (in Schultermitte),<br />

• M. supraspinatus (oberhalb der Spina scapulae),<br />

• Knorpel-Knochen-Grenze der zweiten Rippe,<br />

• 2 cm distal des Epicondylus lateralis,<br />

• gluteal am oberen äußeren Quadranten,<br />

• am Trochanter major,<br />

• am Knie proximal und medial des Gelenkspaltes,<br />

In der Praxis – vor allem bei der Begutachtung – finden sich aber außerordentlich häufig Patienten<br />

mit <strong>Fibromyalgie</strong>, die nahezu „überall“ Druckschmerz angeben und k<strong>ein</strong>esfalls nur an<br />

den typischen „tender points“. Als Grund dafür wird <strong>ein</strong>e allgem<strong>ein</strong> reduzierte Schmerztoleranz<br />

bzw. erniedrigte Schmerzschwelle diskutiert. Nicht selten allerdings werden bei der Palpation<br />

k<strong>ein</strong>erlei Schmerzen geäußert, sofern der Proband währenddessen abgelenkt wird.<br />

Die Stirnmitte gilt als typischer negativer Kontrollpunkt. In der Begutachtungssituation wird<br />

jedoch oft auch dieser Punkt als druckschmerzhaft angegeben.<br />

Damit wird die praktische Bedeutung dieses Diagnosekriteriums erheblich relativiert – es<br />

wirkt nur sch<strong>ein</strong>bar präzise. Zwar wurden ver<strong>ein</strong>zelt Muskelveränderungen unterschiedlicher<br />

Art beschrieben, auch Störungen der Mikrozirkulation an den Druckpunkten, jedoch handelt<br />

es sich insgesamt um unspezifische und wenig reproduzierbare Einzelbefunde. Manche Experten<br />

sehen als charakteristisch an, dass die Beschwerden häufig in der Freizeit, bei Ablenkung<br />

und im Urlaub besser werden, oft sogar verschwinden, aber dies wird von anderen Autoren<br />

auch wieder in Abrede gestellt.<br />

Subjektive Muskelschwäche<br />

Die subjektive Angabe <strong>ein</strong>er „Schwäche“ der Muskulatur hat sich nicht objektivieren lassen,<br />

sie rührt eher von <strong>ein</strong>er wohl schmerzbedingten submaximalen Willkürinnervation her. Eine<br />

Verringerung der Muskelmasse findet sich nicht. Die Bereitschaft zu körperlichen Leistungen<br />

ist jedoch vermindert, da auch jede Anstrengung belastender als sonst und schließlich sogar<br />

schmerzhaft empfunden wird. In diesem Rahmen ist auch die immer wieder beschriebene<br />

verminderte Ausdauerleistungsfähigkeit zu sehen.<br />

Die Muskulatur erfährt ebenso wenig wie die inneren Organe <strong>ein</strong>e nachweisbare Funktions<strong>ein</strong>schränkung.<br />

Lediglich längere Schonung kann zu <strong>ein</strong>er Inaktivitätsatrophie führen. Der<br />

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klinische Befund ist grundsätzlich bis auf die wenig valide Druckdolenz der „tender points“<br />

unauffällig.<br />

3. Ätiologische Konzepte auf somatischer Basis<br />

Es findet sich <strong>ein</strong>e beträchtliche Zahl von Patienten mit entsprechenden Beschwerden, die<br />

weder bei den Laboruntersuchungen noch radiologisch irgendwelche Normabweichungen<br />

zeigten. Gerade sie klagen häufig am ausgeprägtesten und am hartnäckigsten über Schmerzen,<br />

weshalb psychosomatische Überlegungen frühzeitig in die Betrachtung dieser Varianten<br />

rheumatischer Erkrankungen <strong>ein</strong>bezogen wurden.<br />

Die somatisch orientierten Autoren gehen derzeit davon aus, dass <strong>ein</strong>e zentral-nervös bedingte<br />

Schmerzschwellenstörung, möglicherweise in Kombination mit <strong>ein</strong>er Regulationsstörung<br />

der Muskelspannung, die Ursache der großflächigen Schmerzen bei der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

ist. Biomechanische Faktoren (Über- und Fehlbelastung) in der Körperperipherie, vor allem<br />

im Bereich des Achsenskelettes, sch<strong>ein</strong>en in der Regel am Anfang der Erkrankung zu stehen.<br />

Einer „muskulären Dysbalance“ wird von manchen Autoren <strong>ein</strong>e wesentliche Rolle zugeschrieben.<br />

Pathobiochemisch wird <strong>ein</strong>e Erniedrigung von Serotonin und auch Tryptophan im Serum bei<br />

gleichzeitiger Erhöhung von Substanz P im Liquor und im Serum als gesichert angesehen,<br />

ebenso <strong>ein</strong>e Dysregulation als „Sollwertverstellung“ der Hypothalamus-Hypophysen-<br />

Nebennierenachse im Sinne <strong>ein</strong>er chronischen neuroendokrinen Stressreaktion. Die lokale<br />

Druckdolenz der „tender points“ lässt sich damit jedoch nicht schlüssig erklären.<br />

Die erwähnten Laborveränderungen finden sich aber auch bei Patienten mit chronischen<br />

Kreuzschmerzen, anderen chronischen Schmerzen und bei Depressionen, sind also k<strong>ein</strong>eswegs<br />

spezifisch.<br />

Chronifizierungsprozessen unterschiedlicher Art <strong>ein</strong>schließlich <strong>ein</strong>es „Schmerzgedächtnisses“<br />

kommt dann im weiteren Krankheitsverlauf zweifellos besondere Bedeutung zu. Allerdings<br />

wird von anderer Seite darauf verwiesen, dass ganz ähnliche Befunde mit gestörter<br />

Neurotransmitter-Balance im Serotoninstoffwechsel <strong>ein</strong>schließlich erhöhter Substanz P im<br />

Liquor bei Depressionen gefunden werden, was wiederum die Nähe zu affektiven Störungen<br />

beweisen würde. Psychophysiologische Einzelbefunde wie Störungen des non-REM-<br />

Schlafes wurden mitgeteilt und sind ebenfalls unspezifisch.<br />

Die objektivierbaren somatischen Aspekte dieses Krankheitsbildes sind letztlich sehr begrenzt,<br />

reproduzierbare konsistente anatomische Veränderungen in der Gewebsstruktur sind<br />

bis heute nicht nachgewiesen worden. Veränderungen der neuroendokrinen und endokrinen<br />

Homöostase sind eher als unspezifische Reaktionen zu werten, wie man sie auch bei anderen<br />

schmerzhaften Erkrankungen des Bewegungsapparates findet.<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Immer noch wird nach <strong>ein</strong>er überzeugenden biologischen Ursache in Form <strong>ein</strong>er Stoffwechselstörung,<br />

hormoneller Einflüsse, <strong>ein</strong>es Virusinfektes oder <strong>ein</strong>er Immunstörung gesucht.<br />

Noch unklar ist die pathogenetische Bedeutung von Autoantikörpern gegen Serotonin,<br />

Ganglioside und Phospholipide, die in erhöhtem Maße vorkommen sollen, ebenso Interleukin-2-Erhöhungen,<br />

die mit <strong>ein</strong>em Autoimmunprozess in Zusammenhang gebracht werden.<br />

Auch dazu gibt es gegenteilige M<strong>ein</strong>ungen. Viele, teilweise widersprüchliche Einzelergebnisse<br />

ergaben bisher k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>heitliches Bild. Eine genetische Disposition wird schließlich ebenfalls<br />

diskutiert.<br />

Dagegen ist <strong>ein</strong>e CK-Erhöhung mit der Diagnose <strong>ein</strong>er primären <strong>Fibromyalgie</strong> nicht zu ver<strong>ein</strong>baren<br />

und bedarf weiterer Abklärung.<br />

4. Psychosomatische Erwägungen<br />

Typisch für die <strong>Fibromyalgie</strong> sind ausgeprägte vegetative Begleitsymptome, wobei innere<br />

Organe am Beschwerdebild beteiligt sind, und häufige psychische Auffälligkeiten wie Angst<br />

und Depression. Daher wird sie heute zurecht zu den psychosomatischen Störungen bzw.<br />

den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen (ICD-10 F 45.4) gerechnet.<br />

Die „Pain-prone“-Persönlichkeit<br />

George L. Engel beschrieb 1959 den „pain-prone“-Patienten, d.h. <strong>ein</strong>en Menschen, der die<br />

Bereitschaft aufweist, unter chronischen Schmerzen zu leiden. Nach Engels klinischen Beobachtungen<br />

wiederholten sich bei bestimmten Schmerzpatienten spezifische Erfahrungen<br />

wie belastende Lebenssituationen in der Biografie, die von ihm als Prädiktoren für <strong>ein</strong> späteres<br />

chronisches Schmerzsyndrom gewertet wurden. Ein länger bestehendes Muster von<br />

psychosozialem Stress in der Kindheit, z.B. bei Ehekonflikten der Eltern, wurde als entscheidend<br />

angesehen. Bezüge zum Modell-Lernen und zu Konversionssymptomen bestehen.<br />

Am Vorliegen <strong>ein</strong>er oft recht ausgeprägten vegetativen Begleitsymptomatik mit Beteiligung<br />

anderer Organe und an den häufigen psychischen Auffälligkeiten wie Angst und Depression<br />

bei der <strong>Fibromyalgie</strong> besteht allgem<strong>ein</strong> k<strong>ein</strong> Zweifel. Gerade Depressionen sind außerordentlich<br />

oft damit vergesellschaftet und werden von manchen Ärzten gar als obligat angesehen.<br />

Ähnliches gilt für <strong>ein</strong>e vorbestehende, lang anhaltende psychosoziale Dauerbelastung.<br />

Eine Reihe von Autoren betrachtet sie daher als primär seelische Erkrankung – im Gegensatz<br />

zu den somatisch orientierten Wissenschaftlern, die <strong>ein</strong>en dazu völlig konträren Standpunkt<br />

vertreten.<br />

Tatsächlich erfolgt die Symptomschilderung oft diffus, gleichzeitig aber auch ausufernd übergenau,<br />

besonders bei Darstellung der bisherigen „Patientenkarriere“. Geht man von den or-<br />

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ganisch schlecht begründbaren Schmerzen aus und berücksichtigt man weiter die begleitenden<br />

Befindlichkeitsstörungen wie be<strong>ein</strong>trächtigten und wenig erholsamen Schlaf, Müdigkeit<br />

tagsüber, aber auch diverse weitere Beschwerden wie chronische Kopfschmerzen, funktionelle<br />

Darmbeschwerden und andere, so drängt sich die Ähnlichkeit mit <strong>ein</strong>er somatisierten<br />

oder larvierten Depression bzw. <strong>ein</strong>er Somatisierungsstörung auf. Dies umso mehr, als sich<br />

die definitionsgemäß ausgedehnten Schmerzregionen <strong>ein</strong>em organischen Substrat eben<br />

nicht befriedigend zuordnen lassen. Viele psychiatrisch orientierte Autoren diskutieren das<br />

Beschwerdebild daher als Variante <strong>ein</strong>er depressiven Erkrankung bzw. als Störung aus dem<br />

affektiven Formenkreis.<br />

Dagegen wird <strong>ein</strong>gewandt, dass die Schmerzen bei larvierter Depression im Allgem<strong>ein</strong>en<br />

<strong>ein</strong>e andere Lokalisation aufweisen und eher im Bereich von „Herz, Kopf, Bauch“ empfunden<br />

werden. Von den Betroffenen selbst wird <strong>ein</strong>e seelische Ursache allerdings mehrheitlich abgelehnt.<br />

Psychodynamische Erklärungsmodelle<br />

Nicht zu übersehen ist der auffällig hohe Anteil von Patientinnen, bei denen die subjektiven<br />

Beschwerden zum Zeitpunkt kritischer Lebensereignisse, sog. Schwellensituationen, aufgetreten<br />

sind. Bei der Begutachtung finden sich diese außerordentlich häufig in der Vorgeschichte.<br />

Bedauerlicherweise wird dann meist die erforderliche psychiatrischpsychotherapeutische<br />

Behandlung aufgrund des somatischen Krankheitskonzeptes der behandelnden<br />

Ärzte, welches die Betroffenen bereitwillig übernehmen, nicht veranlasst oder<br />

nicht durchgeführt.<br />

Ebenso kontrovers sind die M<strong>ein</strong>ungen, ob die seelische Störung als Ursache oder als Folge<br />

des chronischen Schmerzsyndroms anzusehen sei. Eine unmittelbare kausale Verknüpfung<br />

von <strong>Fibromyalgie</strong> und Depression gilt als nicht hinreichend belegbar. Auch das Konzept <strong>ein</strong>es<br />

psychovegetativen Spannungszustandes als gem<strong>ein</strong>samer Nenner des bunten Beschwerdebildes<br />

wurde vorgestellt. Von anderer Seite wurde die Symptomatik psychodynamisch<br />

als Konversionsneurose in dem Sinne gedeutet, dass „die Muskeln stellvertretend für<br />

den Patienten schreien“ (Ahrens 1987). Weitere psychodynamische Erklärungsmodelle werden<br />

diskutiert.<br />

Ganz allgem<strong>ein</strong> und besonders bei der Begutachtung muss immer auch <strong>ein</strong> möglicher primärer<br />

oder <strong>ein</strong> noch augenfälligerer sekundärer Krankheitsgewinn berücksichtigt werden mit<br />

Entpflichtung im Alltagsleben, vermehrter Zuwendung durch die Umgebung bis hin zu sozialen<br />

und finanziellen Vorteilen. Das Verhalten des Partners spielt dabei manchmal <strong>ein</strong>e nicht<br />

zu unterschätzende Rolle. Ein betont zuwendendes Verhalten von Bezugspersonen wirkt<br />

deutlich schmerzverstärkend. Wenn Familienangehörige <strong>ein</strong>en Vorteil aus der Erkrankung<br />

erfahren, spricht man von <strong>ein</strong>em tertiären Krankheitsgewinn.<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Nach dem Lernmodell sind Schmerzen, die in ähnlicher Form von <strong>ein</strong>em Mitglied der Primärfamilie<br />

präsentiert wurden, häufig von Bedeutung, aber auch der in der Kindheit erlernte Umgang<br />

mit Schmerzen, der sich wiederum an dem Vorbild der Erwachsenen orientierte.<br />

Eine chronisch gehemmte Aggression kann ebenso <strong>ein</strong>e Rolle spielen wie Selbstüberforderungstendenzen<br />

oder <strong>ein</strong>e Alexithymie. Der Krankheitsverlauf mit s<strong>ein</strong>en Bewältigungsstrategien<br />

weist nicht selten in diese Richtung. Ein allmählicher Beginn ist häufig, selten geht <strong>ein</strong><br />

akutes körperliches oder psychisches Trauma voraus.<br />

Arzt-Patienten-Verhältnis<br />

Neben der oft auch durch die behandelnden Ärzte geförderten somatischen Fixierung besteht<br />

meist <strong>ein</strong>e schwierige Arzt-Patienten-Beziehung. Die Patienten sind prädestiniert zu<br />

häufigem Arztwechsel und suchen dabei Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen auf<br />

(„Koryphäenkiller“), besonders, wenn das somatische Krankheitskonzept des Patienten auch<br />

nur vorsichtig in Frage gestellt wird.<br />

Die Erfordernis, vorhandene, unlösbar ersch<strong>ein</strong>ende Konfliktsituationen aufzudecken, verlangt<br />

Geschick, Fingerspitzengefühl und Zeit seitens des Arztes. Neben der grundsätzlich<br />

notwendigen Bereitschaft des Patienten, sich überhaupt zu öffnen, und der des Arztes, die<br />

Klagen des Patienten vorurteilsfrei zu akzeptieren und nicht anzuzweifeln, bewährt es sich,<br />

verständliche Modelle der psychosomatischen Symptombildung zu verwenden. Nicht selten<br />

hört man in der Begutachtungssituation: „Was hat denn m<strong>ein</strong>e Kindheit mit m<strong>ein</strong>en jetzigen<br />

Schmerzen zu tun?“ Ausgehend von geläufigen Termini wie „Stress“ und „Überforderung“<br />

kann über „innere Anspannung“ bis hin zu „schmerzhafter Verkrampfung der Muskeln“ dem<br />

Patienten <strong>ein</strong> Erklärungsmodell für die Rolle psychischer Komponenten angeboten werden,<br />

was dann den Einstieg in die genauere Konfliktanalyse erleichtert. Auslösende seelische<br />

Faktoren lassen sich am ehesten in weiteren ärztlichen Gesprächen eruieren.<br />

Tatsächlich sind häufige, zunächst unlösbar ersch<strong>ein</strong>ende Konfliktsituationen ausschlaggebend:<br />

psychische und körperliche Überforderung, Angst, mit <strong>ein</strong>er Situation nicht fertig zu<br />

werden, Unzufriedenheit im beruflichen und privaten Bereich, Schwierigkeiten in <strong>ein</strong>er Partnerbeziehung,<br />

Probleme mit <strong>ein</strong>er Person in der Verwandtschaft oder am Arbeitsplatz, unter<br />

denen der Betroffene leidet, Verlustsituationen, Entwurzelung, Schockerlebnisse und Enttäuschungen,<br />

auch solche in der frühen Vorgeschichte.<br />

Gerade Trennungssituationen, Verlust <strong>ein</strong>es Elternteils sowie <strong>ein</strong>e schon in Kindheit und<br />

Jugend auffallende, übermäßige Schmerzwahrnehmung spielen <strong>ein</strong>e Rolle. Die Erhellung<br />

der aktuellen Lebenssituation zum Zeitpunkt des Auftretens der Symptomatik ist dann ganz<br />

entscheidend, um zu <strong>ein</strong>em Verständnis der Funktion des chronischen Schmerzes zu erreichen.<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Damit kommt der Erhebung der biografischen Anamnese besonderer Stellenwert zu. Die<br />

Bedeutung frühkindlicher Traumatisierungen, sexuellen Missbrauchs, körperlicher Misshandlungen<br />

und emotionaler Vernachlässigung für die Entstehung chronischer Schmerzsyndrome<br />

ist allgem<strong>ein</strong> anerkannt. Gerade belastende traumatische Kindheitserfahrungen, mangelnde<br />

Zuwendung oder <strong>ein</strong>e unvollständige Familie, aber auch übermäßig erlebte Strenge gelten<br />

allgem<strong>ein</strong> als Risikofaktoren für chronische Schmerzerkrankungen. Nach sexuellem Missbrauch<br />

in der Kindheit kommt <strong>Fibromyalgie</strong> häufig vor und soll auch schwerwiegender verlaufen<br />

als ohne entsprechendes psychisches Trauma. Ein solcher oder auch <strong>ein</strong>e Gewalterfahrung<br />

wird bei etwa zwei Drittel der Betroffenen gefunden (Conrad).<br />

Persönlichkeitsstruktur<br />

Die Persönlichkeitsstruktur erweist sich oft als zwanghaft und perfektionistisch mit depressiven,<br />

hypochondrischen und hysterischen, aber auch fordernden Zügen, ausgeprägtem<br />

Gerechtigkeitsgefühl, Ehrgeiz, sozialem Engagement sowie gleichzeitig geringem Selbstwertgefühl.<br />

Ein Ambivalenzkonflikt zwischen Fremd- und Selbstbeherrschung <strong>ein</strong>erseits und dienendaufopfernder<br />

Haltung andererseits wird beschrieben (Uexküll 1996). Dieser soll zu <strong>ein</strong>er<br />

chronisch gehemmten Aggressivität führen, die sich wiederum in gesteigertem Muskeltonus<br />

äußert, dem psycho-physiologischen Äquivalent der <strong>Fibromyalgie</strong>.<br />

Allgem<strong>ein</strong> gelten die typischen Persönlichkeitsmerkmale, wie sie auch für andere Patienten<br />

mit psychosomatischen Störungen charakteristisch sind:<br />

• Konfliktleugnung mit Ablehnung anderer Probleme außer den körperlichen Symptomen<br />

• Alexithymie mit der Unfähigkeit, auch unangenehme Gefühle wahrzunehmen<br />

• Perfektionismus mit dem Bestreben, es allen recht machen zu wollen<br />

• Angst vor Abhängigkeit mit <strong>ein</strong>er forcierten Selbstständigkeit<br />

• Unfähigkeit, etwas zu genießen<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten zeichnen sich allerdings durch besonders intensive Klagen hinsichtlich<br />

Intensität, Ausdehnung und Vielfalt der Beschwerden aus.<br />

Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell wird diesem Beschwerdebild möglicherweise am<br />

ehesten gerecht. Da die körperliche Untersuchung k<strong>ein</strong>e verlässlichen reproduzierbaren Befunde<br />

liefert, ist die biografische Anamnese das entscheidende „Untersuchungsinstrument“.<br />

Die <strong>ein</strong>e körperliche Erkrankung suggerierende Bezeichnung „<strong>Fibromyalgie</strong>“ dient den Betroffenen<br />

zur Abwehr der Erfordernis, sich mit seelischen Konflikten aus<strong>ein</strong>andersetzen zu<br />

müssen, aber auch der Familie gegenüber, um „das Gesicht zu wahren“ und seelische Probleme<br />

nicht <strong>ein</strong>gestehen zu müssen. Dementsprechend nehmen sie die Diagnose, der <strong>ein</strong>e<br />

organische Genese zugrunde zu liegen sch<strong>ein</strong>t, bereitwillig auf und empfinden die meist viel<br />

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67


Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

zu spät erfolgende Überweisung zur psychotherapeutischen Behandlung als Kränkung. Eine<br />

Psychotherapie lehnen sie ab und hegen den Verdacht, man glaube ihnen die Schmerzen<br />

nicht.<br />

5. Prognose<br />

Für <strong>ein</strong> chronisches Schmerzsyndrom gelten ganz allgem<strong>ein</strong> als prognostisch günstig:<br />

• hoher Leidensdruck<br />

• hohe Therapiemotivation<br />

• positive Therapieerwartung<br />

• Aufrechterhaltung der Symptome eher durch negative als durch positive Verstärkung,<br />

• vorhandene psychosoziale Perspektiven<br />

• Fehlen <strong>ein</strong>er psychiatrischen Begleiterkrankung<br />

• Akzeptanz der vorgeschlagenen Therapie, des Therapeuten und des vorgesehenen<br />

Konzeptes<br />

• nicht zuletzt <strong>ein</strong> abgeschlossenes Rentenverfahren<br />

Als ungünstige Faktoren gelten:<br />

• Angst vor <strong>ein</strong>er Veränderung<br />

• Resignation<br />

• starke externale Attribuierung<br />

• ausgeprägter primärer, sekundärer und tertiärer Krankheitsgewinn<br />

• Aufrechterhaltung der Störung durch positive Verstärker<br />

• auch schwebendes Rentenverfahren<br />

Bei länger persistierenden Beschwerden besteht oft trotz intensiver interdisziplinärer therapeutischer<br />

Bemühungen – <strong>ein</strong>schließlich stationärer medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen<br />

– die Tendenz, sich nicht mehr in das Arbeitsleben <strong>ein</strong>zugliedern und damit zur Berentung.<br />

Häufig ist dann innerlich der Rückzug aus dem Berufsleben schon vollzogen, berufliche<br />

Perspektiven werden nicht mehr gesehen.<br />

Dies wird oft auch von außen induziert: „M<strong>ein</strong> Hausarzt m<strong>ein</strong>t auch, ich muss die Rente bekommen.“<br />

„Das Arbeitsamt hält mich nicht mehr für vermittelbar.“ Die Zukunftsperspektiven<br />

liegen dann längst im privaten Bereich in der Versorgung der Enkel, im Garten, bei Reisen<br />

etc. Rehabilitationsmaßnahmen werden dann nur als störend empfunden und mit der Gewissheit<br />

angetreten, „es hilft sowieso nichts“.<br />

6. Gutachtliche Beurteilung<br />

Der Gutachter steht im Spannungsfeld zwischen den manchmal aggressiv fordernden und<br />

durch Selbsthilfegruppen darin bestärkten Antragstellern und den fehlenden objektiven Be-<br />

68 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

funden <strong>ein</strong>er wenig fassbaren Erkrankung. Die Betroffenen fühlen sich durch die Erfordernis<br />

der Begutachtung oft als Simulanten bzw. „Rentenjäger“ diskriminiert, zumal sie mit dieser<br />

Einschätzung meist schon vorher konfrontiert wurden. Diese Ansicht beruht darauf, dass bei<br />

den früheren Untersuchungen von den zahlreichen konsultierten Ärzten k<strong>ein</strong>e somatischen<br />

Ursachen gefunden wurden, den Betroffenen aber auch die psychosomatischen Zusammenhänge<br />

nicht aufgezeigt wurden, so dass sie sich häufig mit ihren Beschwerden all<strong>ein</strong> gelassen<br />

fühlen. Gleichzeitig erfolgte meist schon <strong>ein</strong>e langfristige Krankschreibung bei polypragmatischer<br />

und fast stets frustraner Therapie.<br />

Gesetzliche Krankenversicherung<br />

Die Arbeitsunfähigkeit hat sich oft schon lange vor der Begutachtung durch <strong>ein</strong>e Reihe von<br />

Faktoren fixiert. Zunächst verharren die Betroffenen in den alten Verhaltensmustern ungünstiger<br />

Bewegungsabläufe und psychosozialer Belastungen, ohne dass <strong>ein</strong>e adäquate Behandlung<br />

zu Beginn des Beschwerdebildes erfolgt. Die somatische Therapie erweist sich in<br />

aller Regel als wenig hilfreich. Dann kommt es zunehmend zu Inaktivität und Rückzug, wobei<br />

in Frühstadien der Erkrankung gerade das Gegenteil als therapeutisch hilfreich angesehen<br />

wird. Die Folge ist verständlicherweise die Entwicklung von Depressivität, was wiederum die<br />

Rückzugstendenzen verstärkt, woraus <strong>ein</strong>e zunehmende Neurotisierung resultiert.<br />

Wegen großzügiger, meist auf Wunsch des Patienten erfolgender Krankschreibung durch die<br />

behandelnden Ärzte kommt es dann zum Verlust des Arbeitsplatzes, der zwar durch Kranken-<br />

oder Arbeitslosengeld kompensiert wird, jedoch zur Bestätigung der Krankenrolle führt.<br />

Die für den Betroffenen logische Konsequenz kann dann nur noch der Rentenantrag s<strong>ein</strong>.<br />

Die bei Nichtanerkennung folgenden langwierigen Rechtsstreitigkeiten fixieren meist zusätzlich<br />

die subjektiv empfundene Leistungsminderung, worin die Antragsteller oft von verschiedenen<br />

Institutionen, vom Hausarzt, aufgrund der langen Fehlzeiten auch vom Arbeitgeber –<br />

falls noch vorhanden, nicht selten vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen, vom Arbeitsamt<br />

und schließlich vom Rentenberater unterstützt werden. Der Gutachter steht stets<br />

am Ende dieser Entwicklung und stößt auf völliges Unverständnis, wenn er weder <strong>ein</strong>e objektivierbare<br />

organische noch <strong>ein</strong>e schwerwiegende sonstige seelische Störung findet und<br />

die M<strong>ein</strong>ung vertritt, hier liege noch <strong>ein</strong> zeitlich ausreichendes Leistungsvermögen vor.<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Gesetzliche Rentenversicherung<br />

Dem Gutachter im Rentenverfahren, der auf Grund der Aktenlage am ehesten den Überblick<br />

über die vielfältigen Voruntersuchungen – und dadurch nicht selten über die seelischen<br />

Komponenten – hat, wird der Versicherte jedoch meist mit Misstrauen und Vor<strong>ein</strong>genommenheit<br />

begegnen, da nach Rentenantragstellung innerlich oft schon die Weichen in Richtung<br />

des Rückzugs aus dem Arbeitsleben gestellt sind. Die sozialmedizinische Beurteilung<br />

ist daher stets schwierig und muss sich ganz überwiegend auf die subjektiven Beschwerden<br />

des Untersuchten stützen, was unterschiedliche Einschätzungen und <strong>ein</strong>e erhebliche Unschärfe<br />

in der Bewertung erwarten lässt.<br />

Es fehlt die Möglichkeit, die Be<strong>ein</strong>trächtigungen nach Parametern zu bestimmen, die unabhängig<br />

von der subjektiven Darstellung des Betroffenen erfasst werden können.<br />

Gerade weil objektive Organbefunde bei der primären <strong>Fibromyalgie</strong> fehlen, sollte die Beurteilung<br />

nach den Kriterien der funktionellen Störungen bzw. des chronischen Schmerzsyndroms<br />

erfolgen. Ähnlich wie bei anderen somatoformen Störungen bewähren sich auch hier<br />

die Ausführungen von Foerster, wonach bei mehrjährigem Verlauf, kontinuierlicher Chronizität<br />

trotz adäquater ambulanter und stationärer Behandlung und nach gescheiterten Rehabilitationsmaßnahmen<br />

mit der Wiederherstellung der vollen Erwerbstätigkeit nicht mehr zu<br />

rechnen ist. Berücksichtigt werden muss aber auch die nicht selten iatrogen gebahnte Fehlentwicklung<br />

durch frühzeitige und anhaltende Krankschreibung, die die Chronifizierung noch<br />

zusätzlich fördert, besonders, wenn der Betroffene ohnehin schon in <strong>ein</strong>em wenig zufriedenstellenden<br />

Beruf und in unglücklichen Familienverhältnissen lebt.<br />

Auf den Einsatz von psychometrischen Testverfahren oder Beschwerdeskalen sollte in der<br />

Begutachtungssituation verzichtet werden, da das Untersuchungsziel für den Probanden in<br />

der Regel leicht erkennbar ist und <strong>ein</strong>e Verdeutlichungstendenz in diesem Rahmen häufig<br />

ist.<br />

Einschätzung der Leistungsfähigkeit<br />

Nach den sozialmedizinischen Empfehlungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger<br />

ist die Leistungsfähigkeit bei gesicherter <strong>Fibromyalgie</strong> und erheblichem Leidensdruck<br />

oft auf Dauer qualitativ be<strong>ein</strong>trächtigt. Es bestehen funktionelle Leistungs<strong>ein</strong>schränkungen<br />

hinsichtlich körperlicher Schwerarbeit, Zwangshaltung, Akkordarbeit und besonderer<br />

Stressbelastung.<br />

Als Tätigkeitsbereiche, die bei der <strong>Fibromyalgie</strong> nicht oder nur <strong>ein</strong>geschränkt zumutbar sind,<br />

gelten<br />

• wegen der Schwere der Arbeit: unter anderem Bergbau, Ladetätigkeiten mit Be- und<br />

Entladen, Reifenmontage, Maurer, Stahlbetonbauer,<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

• wegen erforderlicher Zwangshaltung: Montagearbeiter, Kraftfahrzeughandwerker, Fliesenleger,<br />

Raumausstatter, Pflegeberufe, auch Stenotypistin und andere,<br />

• auf Grund von Kälte- und Nässe<strong>ein</strong>wirkung: Gartenbau, Straßen- und Tiefbau, Fischer,<br />

Land- und Forstwirtschaft.<br />

Eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten<br />

auf dem allgem<strong>ein</strong>en Arbeitsmarkt bleibt jedoch in der Regel erhalten.<br />

Ein richtunggebendes Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (Az. 2 PJ<br />

2273/98) vom 19.04.00 wertete das Krankheitsbild der <strong>Fibromyalgie</strong> nicht als ausreichend für<br />

die Annahme von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und stellte fest „Eine <strong>Fibromyalgie</strong> führt<br />

zu k<strong>ein</strong>em nur noch untervollschichtigem Leistungsvermögen, da mit ihr k<strong>ein</strong>e erheblichen<br />

Bewegungs<strong>ein</strong>schränkungen im Bereich der Wirbelsäule und Gelenke verbunden sind und<br />

die Schmerzstörung bisher k<strong>ein</strong> gravierendes Ausmaß erreicht hat“. Ausdrücklich wurde<br />

auch darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall k<strong>ein</strong>e schwerwiegende Depressivität,<br />

k<strong>ein</strong> vorzeitiger zerebraler Abbau oder aktuelle Suizidalität vorlag. Da die Krankheit nicht<br />

durch objektive Befunde belegbar sei, sondern sich in erster Linie auf die subjektiven Angaben<br />

<strong>ein</strong>es Patienten stütze, bedürfe es <strong>ein</strong>er äußerst kritischen Würdigung der Fakten. Der<br />

Klägerin sei daher k<strong>ein</strong>e Rente zu gewähren.<br />

Nach den Empfehlungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (Heisel<br />

2003) ist die Attestierung <strong>ein</strong>er Erwerbsminderung bei der <strong>Fibromyalgie</strong> kontraproduktiv, da<br />

sie eher zu <strong>ein</strong>em Krankheitsgewinn mit weiterer psychischer Fixierung führe.<br />

Eine Indizienliste nach Widder und Aschoff, die detailliert auf das außerberufliche Leistungsvermögen<br />

und die Freizeitaktivitäten <strong>ein</strong>geht, ist dabei recht hilfreich und lässt nicht selten<br />

die angegebenen subjektiven Leistungs<strong>ein</strong>schränkungen in <strong>ein</strong>em anderen Licht ersch<strong>ein</strong>en.<br />

Eine Fremdanamnese – mit Einverständnis des Untersuchten – erleichtert oft die Einschätzung<br />

der Alltagskompetenz.<br />

Häuser (2002, 2004) machte Vorschläge zu <strong>ein</strong>er Schweregrad<strong>ein</strong>teilung des <strong>Fibromyalgie</strong>syndroms<br />

und die Bewertung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben: Bei leichtgradigen<br />

Formen seien leichte Tätigkeiten über 6 Stunden täglich zumutbar. Bei mittelschweren Formen<br />

mit psychischer Komorbidität und körperlicher Dekonditionierung sei <strong>ein</strong>e Einschränkung<br />

des Leistungsvermögens auf 3 bis 6 Stunden täglich anzunehmen. Bei progredientem<br />

Krankheitsverlauf und schwerem Verlauf mit bedeutsamen Einschränkungen der Erlebnisund<br />

Gestaltungsfähigkeit sei von <strong>ein</strong>em aufgehobenem Leistungsvermögen auszugehen.<br />

Ein großes Problem stellt die Beantwortung der juristischen Frage dar, ob der zu Begutachtende<br />

„bei Anlegen <strong>ein</strong>es strengen Maßstabes noch in der Lage ist, bei zumutbarer Willensanspannung<br />

<strong>ein</strong>e Tätigkeit ohne Gefährdung der Restgesundheit“ auszuüben und ihm damit<br />

<strong>ein</strong>e berufliche Wieder<strong>ein</strong>gliederung zuzumuten ist. Sie kann letztlich nur unter Berücksichtigung<br />

der gesamten, sehr <strong>ein</strong>gehend erhobenen Vorgeschichte und der Persönlichkeitsstruk-<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

tur im jeweiligen Einzelfall beurteilt werden und bedarf nervenärztlich-psychosomatischer<br />

Kompetenz, wobei es hilfreich ist, „sich detailliert und naiv hinterfragend den momentanen<br />

Tages- und Wochenablauf schildern zu lassen“ (Stärk 1999). Es bleibt dabei stets <strong>ein</strong> gewisser<br />

Ermessensspielraum. Immerhin ist auch sehr wohl zu bedenken, dass die Berentung<br />

weniger <strong>ein</strong>e Entlastung als vielmehr die Grundlage für <strong>ein</strong>e weitere Chronifizierung darstellen<br />

kann.<br />

Grundsätzlich sollte die Begutachtung <strong>ein</strong>es an <strong>Fibromyalgie</strong> Leidenden k<strong>ein</strong>esfalls ausschließlich<br />

durch <strong>ein</strong>en Orthopäden oder Rheumatologen erfolgen, auch nicht durch <strong>ein</strong>en<br />

„Schmerztherapeuten“, sondern grundsätzlich <strong>ein</strong>en Psychiater mit <strong>ein</strong>beziehen.<br />

Schwerbehindertenrecht<br />

Als Behinderung nach dem früheren Schwerbehindertengesetz (SchwbG) – jetzt SGB IX -<br />

wird <strong>ein</strong>e „nicht nur vorübergehende über das altersgemäß-physiologische Maß hinausgehende<br />

Funktions<strong>ein</strong>schränkung“ angesehen, die „auf <strong>ein</strong>em regelwidrigen körperlichen, geistigen<br />

oder seelischen Zustand beruht und <strong>ein</strong>en Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens<br />

10 bedingt“. Der Schwerbehindertenstatus wird dabei erst bei <strong>ein</strong>em Gesamt-GdB von<br />

50 erreicht.<br />

Maßgeblich für die Bewertung sind die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im<br />

sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ in der neuesten Ausgabe<br />

von 2004. Dort wird unter dem Stichpunkt „<strong>Fibromyalgie</strong>syndrom“ festgestellt, dass sich<br />

die Bewertung nach „Art und Ausmaß der jeweiligen Organbeteiligung sowie nach den Auswirkungen<br />

auf den Allgem<strong>ein</strong>zustand“ richtet. Dies ist hier wenig hilfreich, da eben k<strong>ein</strong>e Organbeteiligung<br />

vorliegt und der Allgem<strong>ein</strong>zustand zumindest körperlich nicht be<strong>ein</strong>trächtigt<br />

ist.<br />

Das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom gilt als chronisches Schmerzsyndrom ohne organischen Befund.<br />

Liegen zusätzliche Behinderungen des Stütz- und Bewegungssystems vor, so sind diese<br />

primär zu beurteilen, Entsprechendes gilt für neuropsychiatrische Erkrankungen. Scheiden<br />

solche aus, muss das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom isoliert bewertet werden.<br />

Begutachtungsempfehlungen<br />

Die offiziellen Begutachtungsempfehlungen des Beirates des Bundesministeriums für Arbeit<br />

und Sozialordnung bzw. des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung gehen<br />

davon aus, dass das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen<br />

Literatur nicht als eigenständiges Krankheitsbild zu beurteilen ist. Gutachtlich sei vielmehr<br />

neben <strong>ein</strong>er somatischen Funktions<strong>ein</strong>buße auch die psychische Be<strong>ein</strong>trächtigung wie<br />

chronisch fixierte Schmerzen und Schlafverlust zu berücksichtigen. Bei stärkeren psychi-<br />

72 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

schen Störungen könne – analog den psychovegetativen Störungen – <strong>ein</strong> GdB von 20 gerechtfertigt<br />

s<strong>ein</strong>. Somatische Funktionsbe<strong>ein</strong>trächtigungen seien gegebenenfalls zusätzlich<br />

zu beurteilen. Nachdem k<strong>ein</strong>e spezifischen objektivierbaren organischen Befunde vorliegen,<br />

kann nur <strong>ein</strong>e Bewertung in Analogie zu anderen funktionellen Störungen erfolgen, wobei<br />

chronische, über das übliche Ausmaß hinausgehende Schmerzen – die hinreichend wahrsch<strong>ein</strong>lich<br />

zu machen sind – besonders berücksichtigt werden müssen.<br />

In der Literatur wird für die <strong>Fibromyalgie</strong> all<strong>ein</strong> üblicherweise <strong>ein</strong> GdB von 10–20 empfohlen,<br />

dies entspricht <strong>ein</strong>er leichtgradigen Einschränkung im täglichen Leben. Nachweisbaren stärkeren<br />

Einschränkungen im Alltagsleben kann <strong>ein</strong> GdB von 30–40 zugebilligt werden. Liegen<br />

tatsächlich außergewöhnliche Schmerzen mit der Erfordernis <strong>ein</strong>er adäquaten, schmerztherapeutischen<br />

Behandlung vor, kann in begründeten Ausnahmefällen – aber insgesamt wohl<br />

eher selten – <strong>ein</strong> GdB von 50 erwogen werden. Die Bedeutung der Würdigung des Einzelfalles<br />

kann nicht genug betont werden, wobei gerade auch den durchgeführten Behandlungsmaßnahmen<br />

und der Be<strong>ein</strong>trächtigung im Alltagsleben, letztlich <strong>ein</strong>em nachvollziehbaren<br />

Leidensdruck besondere Bedeutung zukommt.<br />

Gesetzliche Unfallversicherung<br />

Die <strong>Fibromyalgie</strong> als solche stellt hier k<strong>ein</strong> Problem dar, da <strong>ein</strong> Kausalzusammenhang mit<br />

<strong>ein</strong>em Unfall nicht begründbar ist. Gleichwohl werden aber gelegentlich Ansprüche, vor allem<br />

nach <strong>ein</strong>er HWS-Distorsion geltend gemacht, die der Entwicklung <strong>ein</strong>er <strong>Fibromyalgie</strong> vorausgegangen<br />

s<strong>ein</strong> soll. Zu beurteilen ist dann nicht das Krankheitsbild „<strong>Fibromyalgie</strong>“, sondern<br />

die Entstehung <strong>ein</strong>er chronischen Schmerzkrankheit. Die Prinzipien der sozialrechtlichen<br />

Kausallehre sind dabei zu beachten. Der gesicherte Erstschaden im Rahmen <strong>ein</strong>es<br />

Arbeits- oder Wegeunfalls muss vorausgesetzt werden, ebenso das Vorliegen von Bedingungen,<br />

die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Entstehen der Gesundheitsstörung<br />

wesentlich mitgewirkt haben. Auf bereits vor dem Unfall bestehende Schmerzen oder psychische<br />

Auffälligkeiten ist zu achten, wobei das Leistungsverzeichnis der Krankenkasse stets<br />

herangezogen werden sollte. Wichtig ist auch, ob sich die Symptomatik nach dem Unfall<br />

entscheidend geändert hat, schließlich ob <strong>ein</strong>e relevante Persönlichkeitsstörung schon vor<br />

dem Ereignis vorlag. Lässt sich dies ausschließen, so kann auch relevanten psychoreaktiven<br />

Störungen unter sorgfältiger Abwägung unfallunabhängiger Faktoren die Anerkennung als<br />

Unfallfolge zugestanden werden.<br />

Die privaten Unfallversicherungen schließen seelische Unfallfolgen von ihrer Leistungspflicht<br />

grundsätzlich aus.<br />

Haftpflichtversicherung<br />

Die Haftpflicht mit der Frage nach Schadenersatz und Schmerzensgeld nach <strong>ein</strong>er Verletzung<br />

unterliegt dem Zivilrecht und nicht dem Sozialrecht und hier gilt <strong>ein</strong>e andere Kausali-<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

tätsbeurteilung, nämlich die Adäquanztheorie, nach der nur solche Umstände als ursächlich<br />

für den Schadenserfolg gewertet werden, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge<br />

generell geeignet sind, <strong>ein</strong>en Erfolg, d.h. <strong>ein</strong>e entsprechende Schädigung herbeizuführen.<br />

Chronische Schmerzen sind danach zu beurteilen, ob sie „erlebnisadäquat“ sind. Ansonsten<br />

gelten ähnliche Überlegungen wie für die gesetzliche Unfallversicherung.<br />

Private Berufsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (BUZ)<br />

Hier gelten die bekannten Kriterien <strong>ein</strong>er Berufsunfähigkeit im speziellen Fall der privaten<br />

Berufsunfähigkeitsversicherung, die sich von denen im Sozialrecht unterscheiden. Von wesentlicher<br />

Bedeutung ist dabei der ärztliche Nachweis <strong>ein</strong>er Krankheit mit den wissenschaftlichen<br />

Methoden der Medizin, wenn von Seiten des Versicherten <strong>ein</strong> entsprechender Leidenszustand<br />

geltend gemacht wird. Gerade dieser Nachweis wird im Falle der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

nicht zu führen s<strong>ein</strong>, da hier eben k<strong>ein</strong>e nachprüfbaren organmedizinisch fassbaren Veränderungen<br />

vorliegen. Besteht <strong>ein</strong>e relevante seelische Störung, so ist dies entsprechend den<br />

psychiatrischen Erkenntnissen zu begründen und kann dann gegebenenfalls zu <strong>ein</strong>er vollständigen<br />

oder teilweisen Berufsunfähigkeit nach den <strong>ein</strong>schlägigen Kriterien führen. Dabei<br />

ist sehr präzise auf den Beruf abzustellen, mit dem der Versicherte bei Eintritt des Versicherungsfalles<br />

s<strong>ein</strong> Einkommen erzielt hat und der damit die Grundlage s<strong>ein</strong>er Lebensstellung<br />

war. Der geforderte Zeitraum von 6 Monaten ist in diesem Zusammenhang meist als erfüllt<br />

anzusehen. Letztlich kommt es auch hier entscheidend auf psychische Komorbiditäten an,<br />

wenn <strong>ein</strong>e Berufsunfähigkeit anerkannt werden soll.<br />

7. Schlussfolgerung<br />

Berücksichtigt man die ausgesprochen geringfügigen organischen Befunde und die oft im<br />

Einzelfall durchaus bedeutsamen psychopathologischen Zusammenhänge, so kann man die<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> zu Recht als psychosomatische Störung auffassen, was heute – je nach Untersucher<br />

– mehr oder weniger akzeptiert wird.<br />

Der Patient wird durch die Einordnung der <strong>Fibromyalgie</strong> als organische Erkrankung aber<br />

noch weiter in s<strong>ein</strong>er somatischen Fixierung bestärkt. Die dann in großer Zahl erfolgenden<br />

körperlichen Behandlungsmaßnahmen bis hin zu operativen Interventionen erweisen sich<br />

sehr bald als ineffizient und unterstützen den Patienten in s<strong>ein</strong>er Einschätzung, an <strong>ein</strong>er<br />

schweren, „unheilbaren“ Erkrankung zu leiden. Damit verbunden sind auch alle sozialmedizinischen<br />

Konsequenzen von der Krankschreibung bis hin zur vorzeitigen Berentung.<br />

Gerade der Rentengutachter wird häufig mit den iatrogen fixierten, auf der organischen<br />

Schiene festgefahrenen Vorstellungen der Versicherten hinsichtlich <strong>ein</strong>er subjektiven Leistungsinsuffizienz<br />

konfrontiert. Sie sind <strong>ein</strong>er Therapie, die die bio-psycho-sozialen Zusammenhänge<br />

berücksichtigt, nicht mehr zugänglich. Die <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>seitig organische Bedingtheit<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

suggerierende Diagnose „<strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom“, die letztlich auf Deutsch nur „Faser-<br />

Muskel-Schmerz“ bedeutet, ist diesbezüglich ausgesprochen kontraproduktiv.<br />

Die ICD-10 stellt stattdessen für <strong>ein</strong>e diagnostische Klassifizierung den ätiologisch neutralen<br />

Begriff der „anhaltenden somatoformen Schmerzstörung“ (F 45.4) oder auch den der „Somatisierungsstörung“<br />

(F 45.0) zur Verfügung, wodurch k<strong>ein</strong>e – bisher nicht belegbare –Ursache<br />

präjudiziert wird.<br />

Hinter dem Etikett „<strong>Fibromyalgie</strong>“ kann sich <strong>ein</strong> weites Spektrum seelischer Störungen verbergen<br />

und dies ist bei der Begutachtung auch in den meisten Fällen festzustellen. Neben<br />

leichteren Befindlichkeitsstörungen, die früher als „psychovegetatives Syndrom“ bezeichnet<br />

wurden, und gelegentlich auch <strong>ein</strong>em Rentenbegehren findet sich häufig <strong>ein</strong>e somatisierte<br />

Depression im Rückbildungsalter, <strong>ein</strong>e hypochondrische Störung und gar nicht selten auch<br />

<strong>ein</strong>e schwere, <strong>ein</strong>deutig krankheitswertige neurotische Entwicklung, die es sozialmedizinisch<br />

adäquat zu würdigen gilt. Dies ergibt sich aber erst aus <strong>ein</strong>er gezielten psychiatrischen Exploration.<br />

Es ist auch unter dem Aspekt <strong>ein</strong>er chronifizierten Schmerzkrankheit, der ebenfalls<br />

Krankheitswert zugebilligt werden muss, zu explorieren. Diese sozusagen hinter der Bezeichnung<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> stehenden Krankheitsbilder sind für die Begutachtung von Bedeutung<br />

und können sehr wohl zur Annahme <strong>ein</strong>er auch schwerwiegenden rentenrelevanten<br />

Leistungsminderung führen.<br />

Aus sozialmedizinischer Sicht sollte, wie bei anderen funktionellen Störungen, grundsätzlich<br />

versucht werden, möglichst lange <strong>ein</strong>e berufliche Eingliederung anzustreben bzw. aufrechtzuerhalten.<br />

Bei langjährigem Krankheitsverlauf und gescheiterten umfassenden Therapiemaßnahmen<br />

wird letztlich <strong>ein</strong>e Berentung nicht zu vermeiden s<strong>ein</strong>. Es sollte jedoch in jedem<br />

Einzelfall <strong>ein</strong>e kritische Abwägung erfolgen. Das „moderne Leiden“ <strong>Fibromyalgie</strong> darf nicht<br />

kritiklos zur Begründung <strong>ein</strong>es aufgehobenen Leistungsvermögens oder der Erlangung des<br />

Schwerbehindertenstatus benützt werden.<br />

Unter gutachtlichen Aspekten ist die <strong>Fibromyalgie</strong> k<strong>ein</strong>e objektivierbare Krankheit, sondern<br />

nur die Benennung <strong>ein</strong>es subjektiven Beschwerdekomplexes. Entscheidend für die sozialmedizinische<br />

Beurteilung ist die Frage: Was steckt dahinter? Besteht <strong>ein</strong>e relevante körperliche<br />

oder seelische Erkrankung, die das Schmerzsyndrom erklären kann? Davon hängt es<br />

ab, ob <strong>ein</strong>e Leistungsminderung begründet werden kann.<br />

Der Gutachter hat die Verpflichtung zur strikten Neutralität und Objektivität. Er sollte weder<br />

den <strong>ein</strong>seitig ausgerichteten Vorstellungen des Probanden und s<strong>ein</strong>er Selbsthilfegruppen<br />

nachgeben noch in die ebenso <strong>ein</strong>seitig orientierten Vorstellungen mancher Kollegen verfallen,<br />

dass es k<strong>ein</strong>e Leistungsminderung geben darf, wenn Labor und Röntgen unauffällig<br />

sind. Diese Einseitigkeit ist nicht minder gefährlich als die unkritische Anerkennung. Der sozialmedizinische<br />

Gutachter muss sich beide Standpunkte vergegenwärtigen und in jedem<br />

Einzelfall s<strong>ein</strong> Votum kritisch abwägen.<br />

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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Literatur<br />

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12. Häuser W (2004): <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – Psychische Komorbiditäten und Schweregrade innerhalb<br />

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13. Hausotter W (1998): <strong>Fibromyalgie</strong> – Ein entbehrlicher Krankheitsbegriff? Versicherungsmedizin<br />

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14. Hausotter W (2000): Begutachtung der <strong>Fibromyalgie</strong>. Med Sach 96: 132–136<br />

15. Hausotter W (2000): Somatoforme und funktionelle Störungen ohne neurologisches Korrelat. In:<br />

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17. Hausotter W, Weiss T (2002): Moderne Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong> – Therapeutische Möglichkeiten<br />

mit Fallbeispielen. Ars Medici 92: 1068-1070<br />

18. Hausotter W (2004): Begutachtung funktioneller und somatoformer Störungen. München: Urban &<br />

Fischer Elsevier, 2. Aufl.<br />

19. Heisel J (2003): Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems. In: VDR (Hrsg.): Sozialmedizinische<br />

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20. Janssen PL, Schneider W (1995): Psychosomatische Krankheiten. In: Sozialmedizinische Begutachtung<br />

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22. Mathies H (1975): Beitrag zur Klinik psychosomatischer Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates.<br />

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24. Moorahrend U (1998, Hrsg.): Problemdiagnose „<strong>Fibromyalgie</strong>“. Balingen: Spitta<br />

25. Müller W (1971): Der Weichteilrheumatismus: Begriffsbestimmung, Epidemiologie, Ätiopathogenese<br />

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26. Müller W (1991, Hrsg.): Generalisierte Tendomyopathie (<strong>Fibromyalgie</strong>). Darmstadt: St<strong>ein</strong>kopff<br />

76 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

27. Pongratz DE, Späth M (1998): <strong>Fibromyalgie</strong>. Akt Neurol 25: 13–18<br />

28. Rohe K, Rompe G (1995): Krankheiten des Stütz- und Bewegungsapparates. In: Sozialmedizinische<br />

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29. Schulte RM (1999): Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung chronischer Schmerzsyndrome. Med<br />

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30. Szasz T (1991): Diagnoses are not diseases. Lancet 338: 1574-1576<br />

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33. Widder B, Aschoff JC (1995): Somatoforme Störung und Rentenantrag: Erstellen <strong>ein</strong>er Indizienliste<br />

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34. Wolfe F, Smythe HA, Yunus MA et al. (1990): The American College of Rheumatology 1990. Criteria<br />

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Rheum 33: 160<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

77


Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

Thorsten Böing<br />

1. Was ist und was kann Sporttherapie?<br />

Die Sporttherapie gilt – gemessen an anderen Therapieansätzen – als noch relativ junge<br />

Therapieform. Während jedoch viele dieser Ansätze primär <strong>ein</strong>dimensional ausgelegt sind,<br />

findet sich in der Sporttherapie <strong>ein</strong> äußerst komplexer Ansatz mit drei Wirkungsebenen: die<br />

erste Ebene b<strong>ein</strong>haltet <strong>ein</strong>en medizinisch-funktionellen Aspekt mit Schulung der<br />

Koordination, Ausdauer, Kraft und Flexibilität. Die zweite Ebene verfolgt <strong>ein</strong>en pädagogischedukativen<br />

Aspekt: die Schulung des praktischen Patientenverhaltens durch<br />

Informationsweitergabe mit dem Ziel der Eigenverantwortung und der Selbstwirksamkeit im<br />

Sinne <strong>ein</strong>er Verhaltensmodifikation. Die dritte und letzte Ebene zielt auf <strong>ein</strong>en<br />

psychosozialen Aspekt. Die Orientierung an den Bedürfnissen des Patienten, dem Hinführen<br />

zur Bewegung (Radfahren, Wandern, Kegeln, Garten etc.) und zum Sport<br />

(Lifetimesportarten, Golf o.ä.) findet hier ihren Ansatz. Die Sporttherapie verbindet somit alle<br />

wichtigen Faktoren, die in <strong>ein</strong>em anspruchsvollen Behandlungskonzept vorhanden s<strong>ein</strong><br />

sollten und ist insofern geradezu prädestiniert für die praktische Umsetzung der ICF<br />

(International Classification of Functioning, Disability and Health), die im Mai 2001 von der<br />

WHO verabschiedet wurde (Schuntermann, 2002). Die ICF verlangt <strong>ein</strong>en bio-psychosozialen<br />

Ansatz beim therapeutischen Setting, dem die Sporttherapie auf ihrer funktionellen,<br />

pädagogischen und psychosozialen Wirkungsebene Rechnung trägt. Die Durchführung als<br />

Gruppentherapie macht die Sporttherapie vor dem Hintergrund steigender Kosten im<br />

Gesundheitswesen außerdem betriebswirtschaftlich interessant.<br />

1.1 Abgrenzung Bewegungstherapie – Sporttherapie<br />

Die Definition der Bewegungstherapie lautet: „Bewegungstherapie ist ärztlich indizierte und<br />

verordnete Bewegung, die vom Therapeuten geplant und dosiert, gem<strong>ein</strong>sam mit dem Arzt<br />

kontrolliert und mit dem Patienten all<strong>ein</strong>e oder in der Gruppe durchgeführt wird“ (Schüle &<br />

Huber, 2004).<br />

Die Definition der Sporttherapie lautet: „Sporttherapie ist <strong>ein</strong>e bewegungstherapeutische<br />

Maßnahme, die mit den geeigneten Mitteln des Sports gestörte körperliche, psychische und<br />

soziale Funktionen kompensiert, regeneriert, Sekundärschäden vorbeugt und gesundheitlich<br />

orientiertes Verhalten fördert. Sporttherapie beruht auf biologischen Gesetzmäßigkeiten,<br />

bezieht besonders trainingswissenschaftliche, medizinische, pädagogisch-psychologische<br />

sowie soziotherapeutische Elemente mit <strong>ein</strong> und versucht, <strong>ein</strong>e überdauernde<br />

Gesundheitskompetenz herzustellen. Sporttherapie versteht sich in diesem Sinne als<br />

Heilmittel“ (Schüle & Huber, 2004).<br />

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Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

Die Definitionen verdeutlichen die unterschiedlichen Ansätze: zum <strong>ein</strong>en die<br />

Bewegungstherapie, die ihren medizinisch-funktionellen Bereich nicht verläßt und somit<br />

ausschließlich <strong>ein</strong>dimensional wirksam ist. Zum anderen die Sporttherapie mit ihrem<br />

mehrdimensionalen Ansatz. Letzteres veranschaulicht nochmals die folgende Grafik:<br />

Abb. 1: Die Wirkungsebenen der Sporttherapie (Schüle & Huber, 2004)<br />

1.2 Beispiele sporttherapeutischer Behandlungsansätze<br />

Heitkamp (1997) untersuchte Gonarthrosepatienten und verglich drei Versuchsgruppen<br />

mit<strong>ein</strong>ander: <strong>ein</strong>e Heimtrainingsgruppe, <strong>ein</strong>e Gruppe, die mit „klassischer“ Krankengymnastik<br />

behandelt wurde, und <strong>ein</strong>e Gruppe, die <strong>ein</strong> sporttherapeutisches Programm durchlief.<br />

Letztgenannte Gruppe zeigte die besten Ergebnisse bei den Parametern Kraft, Compliance<br />

und Gehfähigkeit. Besonders erwähnenswert ist die nachhaltige Reduktion des Schmerzes,<br />

die noch zwei Jahre nach Ende der Maßnahme festzustellen war. Die optimale Rehabilitation<br />

b<strong>ein</strong>haltet s<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach <strong>ein</strong>e Kombination aus krankengymnastischen und<br />

sporttherapeutischen Maßnahmen.<br />

Horstmann (2000) untersuchte Möglichkeiten und Grenzen der Sporttherapie bei<br />

Coxarthrose- und Hüftendoprothesen-Patienten. Dabei wurden Defizite analysiert, die man<br />

bei dieser Patientengruppe vor und nach <strong>ein</strong>er Rehabilitation feststellen kann. Das sind<br />

Auffälligkeiten im Gangverhalten, in der Kraft, der Kraftausdauer und der kardiopulmonalen<br />

Leistungsfähigkeit. Daraus ergab sich der Untersuchungsansatz, nach bzw. parallel zu<br />

krankengymnastischer Therapie <strong>ein</strong> Trainingsprogramm zu installieren, daß die<br />

Verbesserung dieser Defizite zum Ziel hatte. Das Ergebnis waren<br />

� Verbesserung der Gang- und Bewegungssicherheit,<br />

� Verbesserung des allgem<strong>ein</strong>en Körpergefühls,<br />

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79


Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

� Verbesserung der Kraft und Kraftausdauer,<br />

� Verbesserung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit,<br />

� Verminderung der Schmerzen und Beschwerden.<br />

Durch die sporttherapeutische Intervention ergab sich <strong>ein</strong> deutlicher therapeutischer<br />

Mehrwert der Reha-Maßnahme. Bei Patienten mit chronischem Kreuzschmerz verglich<br />

St<strong>ein</strong>au (1999) sporttherapeutische Interventionsmöglihkeiten mit <strong>ein</strong>em klassisch<br />

physikalisch-rehabilitativen Therapieansatz. Die genauen Therapi<strong>ein</strong>halte zeigt die folgende<br />

Tabelle.<br />

Gruppe „Sporttherapie“ Gruppe „Physikalisch-rehabilitative Therapie“<br />

Anzahl Dauer<br />

(min)<br />

Anzahl Dauer<br />

(min)<br />

Rückenschule 7 45 Einzel-KG 19 20<br />

WS-Gymnastik 15 30 Massage (klassisch) 12 20<br />

Geh-/Lauftraining 12 30 Interferenz-Behandl. 12 20<br />

Entspannungstraining 8 30 Fango 12 20<br />

Wandergruppe 3 90 CO2-Bäder 19 20<br />

Schwimmunterricht 19 20 Schwimmunterricht 19 20<br />

Summe 64 2015 Summe 93 1860<br />

Tab. 1: Gegenüberstellung der Therapi<strong>ein</strong>halte und ihres zeitlichen Umfangs (mod. nach St<strong>ein</strong>au,<br />

1999)<br />

Insgesamt betrachtet waren <strong>ein</strong>zel- und gruppentherapeutische Maßnahmen in ihrem<br />

Outcome ebenbürtig. Betrachtet man jedoch die Summe der Therapieminuten und<br />

berücksichtigt den Unterschied Einzel- vs. Gruppentherapie, zeigen insbesondere diese<br />

betriebswirtschaftlichen Differenzen beider Therapieansätze <strong>ein</strong> deutliches Plus für die<br />

Sporttherapie.<br />

Pahmeier (2000) beobachtete die Bindung an sportliche Aktivität im Anschluß an <strong>ein</strong>e<br />

Rehamaßnahme. Dabei zeigten Patienten, die ihr Sport- und Bewegungsprogramm daheim<br />

nahtlos anschlossen,<br />

� signifikant mehr Zufriedenheit mit der Gesundheit,<br />

� mehr soziale Bindungsintention,<br />

� mehr Unterstützung durch Familie und Freunde,<br />

� mehr sportbezogene Selbstwirksamkeit.<br />

Somit kommt die Autorin zu dem Schluß, daß die Wirkmechanismen sporttherapeutischer<br />

Bewegungsmaßnahmen gerade bei Patienten mit wenig Bewegungserfahrung zum Tragen<br />

kommen, viele dieser Patienten jedoch an ihrem Wohnort <strong>ein</strong>e stärkere Beratung und<br />

Unterstützung benötigten. Eine nachhaltige Modifikation im Sinne <strong>ein</strong>er aktiveren und somit<br />

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Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

eigenverantwortlicheren Lebensweise ist unabdingbar mit <strong>ein</strong>er weiterführenden<br />

wohnortnahen Betreuung verbunden.<br />

Trotz dieses <strong>ein</strong>deutigen Benefits von sporttherapeutischen Interventionsmöglichkeiten<br />

kommt Braumann (2001) zu <strong>ein</strong>em erstaunlichen Ergebnis. Er befragte Mediziner, wie sie die<br />

Bedeutung von Sport und Bewegung als Mittel der Therapie <strong>ein</strong>schätzten:<br />

� 90,6% der Befragten gaben an, daß Sport und Bewegung <strong>ein</strong>en höheren Stellenwert in<br />

der täglichen Praxis haben sollten,<br />

� 84,9% stellten fest, während ihres Studiums zu wenig über die Zusammenhänge von<br />

Bewegung und Erkrankung gehört zu haben,<br />

� nur 49,9% schätzten ihr Wissen in diesem therapeutischen Arbeitsfeld als gut oder sehr<br />

gut <strong>ein</strong>.<br />

2. Überblick aktueller Literatur<br />

Der folgende Literaturüberblick betrachtet diverse Aspekte der Sporttherapie als<br />

Interventionsinstrument bei der Therapie von <strong>Fibromyalgie</strong>patienten. Er will und kann<br />

selbstverständlich nicht den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen. Trotzdem werden<br />

Tendenzen deutlich, die <strong>ein</strong>en evidenzbasierten Ansatz der Sporttherapie zulassen und<br />

somit <strong>ein</strong> geeignetes Instrumentarium zur Behandlung dieser Patientengruppe darstellen.<br />

“The effectiveness of multidisciplinary rehabilitation in the treatment of fibromyalgia: a ran<br />

domized controlled trial” (Lemstra et al. 2005)<br />

� 79 Frauen und Männer wurden in zwei Gruppen a) entweder von <strong>ein</strong>em<br />

interdisziplinären Team oder b) von ihrem Hausarzt medizinisch-therapeutisch betreut.<br />

� Messung nach 6 Wochen Interventionszeitraum, Follow-up nach 15 Monaten.<br />

� Nach 6 Wochen gab es statistisch signifikante Unterschiede in den Parametern<br />

Schmerzintensität, zeitlicher Schmerzumfang, gefühlter Gesundheitszustand und<br />

Depressivität zugunsten der multidisziplinären Interventionsgruppe.<br />

� Allerdings waren diese Ergebnisse nach 15 Monaten nicht mehr festzustellen.<br />

� Betriebswirtschaftlich ist der multidisziplinäre Ansatz insofern zu überdenken.<br />

“Exercise for treating fibromyalgia syndrome“ (Bush et al. 2004)<br />

� Therapeutisch geleitete Aerobic<strong>ein</strong>heiten verbessern die Leistungsfähigkeit und<br />

sch<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>e positive Wirkung auf das Krankheitsbild zu haben.<br />

� Die Verbesserung erfolgt jedoch ohne Definition konkreter Belastungsnormativa.<br />

� Auch stehen Langzeitergebnisse noch aus.<br />

� Insofern k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>deutige Aussage zur Dosis-Wirkung-Beziehung möglich.<br />

� Weitere Studien zu den Themen Kraft und Beweglichkeit sollten folgen.<br />

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81


Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

„Multidisciplinary rehabilitation for fibromyalgia and musculosceletal pain in working age<br />

adults“ (Karjalainen et al. 2004)<br />

� Nach Durchsicht von 1808 Abstracts und 65 Reviews kamen 7 Studien in die engere<br />

Untersuchung.<br />

� K<strong>ein</strong>e Studie genügte die den Ansprüchen <strong>ein</strong>es randomisierten, kontrollierten<br />

Verfahrens.<br />

� Die Analyse ergab <strong>ein</strong>e leichte Evidenz <strong>ein</strong>es multidisziplinären Ansatzes.<br />

� Hochqualitative Studien müssen Nachweis erbringen, dass der ökonomisch aufwendige<br />

Ansatz tatsächlich Nutzen bringt.<br />

“Long-term efficacy in patients with fibromyalgia: a physical exercise-based program and a<br />

cognitive-behavioral approach“ (Redondo et al. 2004)<br />

� Körperliche Aktivität, FIQ, SF 36 u.a. Scores zu Beginn der Behandlung, am Ende, 6<br />

Monate und 1 Jahr danach.<br />

� Beide Interventionsgruppen verbessern sich signifikant in den unterschiedlichen Scores.<br />

� Allerdings nur kurzfristig: <strong>ein</strong> nachhaltiger Effekt ist nicht messbar.<br />

„Entwicklung uns Evaluation <strong>ein</strong>es sporttherapeutischen Programms für <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />

Patienten in der stationären Rehabilitation“ (Abdel Wakel 2003)<br />

� Bewegungsprogramm, Ganzkörperkältetherapie und Bewegungsbad zur positiven<br />

Be<strong>ein</strong>flussung.<br />

� Erfassung zu Beginn, am Ende und 12 Wochen nach Ende der<br />

�<br />

Rehabilitationsmaßnahme.<br />

Gute Ergebnisse bei den Parametern Fitness, Schmerz, Befinden, Angst.<br />

� Aber: zu geringe Teilnehmerzahl (n = 30 während des Reha-Aufenthalts, nur noch 19<br />

beim Follow-up).<br />

� Nach dem Klinikaufenthalt bleiben nur noch wenige Patienten sportlich aktiv.<br />

� Eventuell bessere Nachhaltigkeitseffekte bei <strong>ein</strong>er weiteren sporttherapeutischen<br />

Betreuung, wie sie bereits in den Herzsportgruppen praktiziert wird.<br />

„A successful, long-term exercise programm for women with fibromyalgia syndrome and<br />

chronic fatigue and immune dysfunction syndrome“ (Karper 2003)<br />

� Therapeutisch geleitetes Aktivitätsprogramm (Ausdauer, leichtes Krafttraining) an 5<br />

Tagen pro Woche für jeweils 50 – 70 Minuten.<br />

� Sowohl die 2-Jahres-Gruppe, als auch die 3-Jahres-Gruppe zeigen Verbesserungen in<br />

körperlicher Fitness und psychosozialen Aspekten bzw. im Umgang mit ihren<br />

Krankheitssymptomen.<br />

„Aerobic fitness in fibromyalgia“ (Valim et al. 2003)<br />

� Interventionen in Form von Aerobic- oder Stretchinggruppe.<br />

� Messung zu Anfang, nach 10 und 20 Wochen bezüglich der Parameter körperliche<br />

Leitungsfähigkeit, Beweglichkeit, FIQ, SF 36.<br />

82 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

� Aerobic ist in allen Belangen deutlich überlegen.<br />

� Signifikant schlechte Werte der Stretching-Gruppe bei den Parametern Depression und<br />

„mental health“.<br />

„Six- and 24-month follow-up of pool exercise therapy and education für patients with<br />

fibromyalgia“ (Mannerkorpi et al. 2002)<br />

� Selbstlimitiertes Bewegungsprogramm im Wasser unter therapeutischer Anleitung<br />

� 6-monatiges Schulungsprogramm mit 26 Patienten.<br />

� FIQ, SF 36, 6-minute walk-test.<br />

� Verbesserungen (physisch, psychoszial) selbst 24 Monate nach Eingangsmessung<br />

noch festzustellen.<br />

3. Sporttherapeutische Therapie- und Trainingsinhalte<br />

Legt man die oben zitierte aktuelle Literatur zugrunde, so sch<strong>ein</strong>en leichte sportliche<br />

Aktivitäten zu wirken. Dazu gehören in unserem Behandlungsspektrum:<br />

� Medizinischen Trainingstherapie (MTT)<br />

� Bewegungsbad (Aqua-Fitness, Aqua-Walking)<br />

� therapeutisches Wandern<br />

� Walking, Nordic-Walking<br />

� Gymnastik<br />

In der praktischen Anwendung sollte das subjektive Belastungsempfinden in den meisten<br />

Fällen als „leicht“ bis „mittel“ klassifiziert werden. Allerdings ist bei der Medizinischen<br />

Trainingstherapie <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>deutige Definition der Belastungsnormativa dringend notwendig.<br />

Wenn dem Patienten auf dem Trainingsplan <strong>ein</strong> „Spektrum“ angeboten wird, wie z. B. in<br />

Tabelle 2 dargestellt, so kann das zu sehr unterschiedlichen Varianten in der Umsetzung<br />

führen.<br />

Spektrum Extrem-Variante A Extrem-Variante B<br />

Gewicht (in kg) 27-45 27 45<br />

Wiederholungen 20-30 20 30<br />

Serien 4-6 4 6<br />

Pause (in Sek.) 30-60 60 30<br />

Tab. 2: Exemplarische Bandbreite an Belastungen<br />

Die Gegenüberstellung in Tabelle 2 zeigt, dass bei dieser Bandbreite an Belastungen k<strong>ein</strong>e<br />

<strong>ein</strong>deutige Trainingssteuerung möglich ist. Insofern müssen die Belastungsnormativa <strong>ein</strong>es<br />

Trainings unbedingt <strong>ein</strong>deutiger definiert werden.<br />

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83


Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />

4. Fazit<br />

Insgesamt sollen die sporttherapeutischen Inhalte Spaß machen und gruppendynamische<br />

Prozesse positiv steuern. Zudem ist <strong>ein</strong>e weitere sporttherapeutische Betreuung nach<br />

stationärem Aufenthalt notwendig, will man tatsächlich Nachhaltigkeit erzielen. Aufgrund<br />

ihrer komplexen Wirkungsebenen sch<strong>ein</strong>t die Sporttherapie als Behandlungsmodul bei<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> sehr gut geeignet.<br />

Literatur<br />

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<strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten in der stationären Rehabilitation. Dissertation, Universität Karlsruhe<br />

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Cochrane Database Syst Rev.(2): CD001984. Review<br />

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fibromyalgia syndrome and chronic fatigue and immune dysfunction syndrome. Clin Nurse Spec.<br />

17: 243-248<br />

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treatment of fibromyalgia: a randomized controlled trial. Clin J Pain 21: 166-174<br />

9. Mannerkorpi K, Ahlmen M, Ekdahl C (2002): Six- and 24-month follow-up of pool exercise therapy<br />

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10. Pahmeier I (2000): Bindung an sportliche Aktivität im Anschluß an <strong>ein</strong>e Rehabilitationsmaßnahme.<br />

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11. Redondo JR, Justo CM, Moraleda FV, Velayos YG, Puche JJ, Zubero JR, Hernandez TG, Ortells<br />

LC, Pareja MA (2004): Long-term efficacy of therapy in patients with fibromyalgia: a physical<br />

exercise-based program and a cognitive-behavioral approach. Arthritis Rheum. 51: 184-192<br />

12. Schuntermann, MF (2002): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und<br />

Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Frankfurt/M.: Verband Deutscher<br />

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13. Schüle K, Huber G (2004): Grundlagen der Sporttherapie. München, Jena: Urban & Fischer<br />

14. St<strong>ein</strong>au M (1999): Der Effektivitätsnachweis der sporttherapeutischen Intervention beim<br />

Kreuzschmerz. Dissertation, Deutsche Sporthochschule Köln<br />

15. Ungerer-Röhrich U, Hölter G (2000): Wirkfaktoren der Sporttherapie. Gesundheitssport und<br />

Sporttherapie 16: 185<br />

16. Valim V, Oliveira L, Suda A, Silva L, de Assis M, Barros Neto T, Feldman D, Natour J (2003):<br />

Aerobic fitness effects in fibromyalgia. J Rheumatol. 30: 1060-1069<br />

84 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

Dirk Kreutzer<br />

1. Psycho-physiologische Wirkungen von Klängen und Geräuschen<br />

In der pränatalen Entwicklung des Menschen ist das Gehörorgan das erste funktionsfähige<br />

Sinnesorgan überhaupt. Bereits ab dem siebten Monat reagiert der Fetus auf äußere Reize.<br />

Über die Gebärmutterwand kann er Klänge und Geräusche wahrnehmen und darauf etwa<br />

mit Änderung der Herzfrequenz reagieren (28). Auch erkannten Kinder nach der Geburt Lieder<br />

und Worte wieder, welche die Mutter während der beiden letzten Schwangerschaftsmonate<br />

gesungen bzw. gesprochen hatte. Säuglinge registrieren Veränderungen in Stimme und<br />

Lautfarbe, sie reagieren auf Rhythmus, Zäsuren und Sprachmelodie, sie kommunizieren vor<br />

allem über Laute mit ihrer Mutter (13).<br />

Durch direkte Verbindungen des Ohrs zum limbischen System können starke emotionale<br />

Reaktionen auf akustische Reize ausgelöst werden. Diese Tatsache hängt damit zusammen,<br />

dass das limbische System intensiv mit wohl allen wichtigen neuronalen Kernen in Hypothalamus,<br />

Thalamus und auch der Großhirnrinde verbunden ist, wodurch <strong>ein</strong>e Be<strong>ein</strong>flussung<br />

von zahlreichen neurophysiologischen und funktionellen Prozessen verständlich wird. Dazu<br />

gehören etwa Auswirkungen auf das Wach- und Schlafverhalten, auf Lernprozesse, auf<br />

Schmerzverarbeitung und ganz besonders auch auf die Steuerung von Emotionen aller Art<br />

wie Aggression, Triebverhalten, Wut, Zorn, Unlust, Freude, Glück und Motivation, um nur<br />

<strong>ein</strong>ige Reaktionsmuster aufzuführen. Im limbischen System lassen sich tierexperimentell<br />

nach dem Hören von Musik signifikante Änderungen wichtiger Neurotransmitterpotentiale<br />

(z.B. Noradrenalin, Dopamin, Gaba) nachweisen (21, 25). Damit wird durchaus verständlich,<br />

warum auch beim Menschen auf die Art der <strong>ein</strong>wirkenden Musik <strong>ein</strong> psycho-physiologisches<br />

Biofeedback festzustellen ist. So vermag <strong>ein</strong>e Rhythmusbeschleunigung Reaktionen am<br />

Herz-Kreislaufsystem auszulösen, die exakt den Stressphänomenen wie etwa bei starken<br />

Schmerzen entsprechen. Sogar <strong>ein</strong> Abfall des IgA lässt sich nachweisen (6). Beruhigende,<br />

wenig rhythmusbetonte Musik und Rhythmusverlangsamung dagegen kann alle genannten<br />

Stressreaktionen abmildern oder gar aufheben und analog ist auch <strong>ein</strong> Anstieg des IgA zu<br />

beobachten (6). Bemerkenswert ist auch die Feststellung, dass Stressreaktionen umso intensiver<br />

und lang anhaltender ausfallen, je größer der Lärm und die Rhythmusbeschleunigungen<br />

ausgeprägt sind (9).<br />

Emotional ist bei Musikhörern Fröhlichkeit mit „schnellem Rhythmus und stakkato“, Traurigkeit<br />

mit „langsam und legato“, Ärger mit „schnell und legato“ und Angst mit „langsam und<br />

stakkato“ verknüpft (11). Alle diese Phänomene werden ohne Zweifel in der Werbebranche<br />

sehr erfolgreich <strong>ein</strong>gesetzt. In der praktischen Medizin hingegen wird die Wirkung von Musik<br />

auf kranke Menschen – wenn überhaupt – nur marginal wahrgenommen, obwohl bereits seit<br />

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85


Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

Jahren zahlreiche bemerkenswerte Publikationen und Untersuchungsergebnisse aus unterschiedlichen<br />

medizinischen Fachgebieten vorliegen.<br />

2. Allgem<strong>ein</strong>e Wirkung von Musik auf Menschen<br />

Auf die Vielfalt wissenschaftlicher Untersuchungen zur Wirkung von Musik auf kranke Menschen<br />

kann hier nur schlaglichtartig <strong>ein</strong>gegangen werden. Teilweise be<strong>ein</strong>druckende Ergebnisse<br />

wurden vorwiegend in den Fachbereichen Psychosomatik, Psychiatrie, Neurologie,<br />

Pädiatrie, Geriatrie und vor allem in der Heil-, Sonder- und Sozialpädagogik erarbeitet (8, 12,<br />

15, 16, 21, 24, 29). Auch in der Orthopädie lässt sich der ausgezeichnete Effekt additiver<br />

Musiktherapie belegen. So wiesen Bernatzky und Mitarbeiter (4) in <strong>ein</strong>er randomisierten Studie<br />

bei Rückenschmerzen unterschiedlicher Genese nach, dass durch Musik und ganz besonders<br />

in Kombination mit Entspannungstechniken gegenüber der all<strong>ein</strong>igen konventionellen<br />

medikamentösen und krankengymnastischen Behandlung <strong>ein</strong>e hochsignifikante Reduktion<br />

von Schmerz, Angst, Depression und <strong>ein</strong>e ebenfalls signifikante Verbesserung der Beweglichkeit<br />

erzielt werden konnte. Interessant war dabei, dass die Musik stärker wirksam war<br />

als Entspannungstechniken, dass aber das beste Ergebnis durch deren Kombination zu erreichen<br />

war. Diese Ergebnisse wurden auch von der Arbeitsgruppe um Kullich bestätigt (14).<br />

In der Onkologie hat die Musiktherapie besonders in der Palliativmedizin und bei der Begleitung<br />

von Sterbenden Bedeutung erlangt (17). Nach Verres (30) gehört die Musiktherapie<br />

„geradezu zur Grundversorgung im Palliativbereich“. Stellvertretend für zahlreiche Mitteilungen<br />

über Beobachtungen und M<strong>ein</strong>ungen beim Einsatz der Musiktherapie in der Onkologie<br />

sei auf die Studie von O`Brien (18) aus dem Jahre 1999 hingewiesen. Ihnen liegen ausführliche<br />

Befragungen von 52 Patienten mit unterschiedlichen Tumorentitäten und -stadien<br />

zugrunde. Die hierbei erhaltenen Aussagen zu den positiven Effekten der Musiktherapie hinsichtlich<br />

Entspannung, Angstminderung, Ablenkung, Schmerzreduktion u.a. werden im Wesentlichen<br />

auch von anderen Arbeitsgruppen bestätigt (1, 2, 3, 5, 23, 25).<br />

Besonders überzeugend sind dabei die Ergebnisse, die im Rahmen der Schmerztherapie<br />

durch begleitende Musiktherapie erzielt wurden (2, 25). Eine deutliche Schmerzlinderung,<br />

begleitet von „höherem Optimismuslevel“ konnten Hasenbring und Mitarbeiter (10) nach<br />

Knochenmarktransplantation nachweisen. Tilch und Mitarbeiter (27) bestätigen diese Ergebnisse.<br />

Dabei werden in der myeloaplastischen Phase <strong>ein</strong>e Reduktion von Depression und<br />

Müdigkeit sowie <strong>ein</strong> günstigeres Krankheitsverhalten vermerkt.<br />

Im Rahmen der hervorragenden Wirkung der Musiktherapie bei Stressabbau (16) und Angstlinderung<br />

(12, 15, 16, 19, 21) ist sicher auch zu verstehen, dass die Verträglichkeit von zytostatischer<br />

Chemotherapie deutlich verbessert werden kann, was in der Reduktion von Anxiolytika,<br />

Antiemetika und Sedativa zum Ausdruck kommt (23, 26).<br />

86 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

3. Rezeptive Musiktherapie mit Schmerzpatienten<br />

Die Widerstände auf Seiten der Patienten, in die Musiktherapie zu gehen sind zu Beginn der<br />

Therapie oft sehr hoch. Diese Widerstände werden häufig von Ängsten begleitet, die in Äußerungen<br />

ihren Ausdruck finden wie z.B.: „Ich kann nicht singen, k<strong>ein</strong>e Instrument spielen,<br />

den Ton nicht halten“ etc. Deshalb erfordert der erste Teil der Musiktherapie <strong>ein</strong> niederschwelliges<br />

Angebot, in Form <strong>ein</strong>er rezeptiven Musiktherapie, die Musik und (Tiefen-)<br />

Entspannung kombiniert. Das Konzept der musiktherapeutischen Tiefenentspannung setzt<br />

sich aus sieben so genannten Grundschritten zusammen (7), die im Schmerzzentrum <strong>Enzensberg</strong><br />

modifiziert Anwendung finden:<br />

1. Sensibilisierung auf den Körperkomfort (Liegepositionen)<br />

2. Sensibilisierung auf die Atmung<br />

3. Sensibilisierung auf den Umgang mit Gefühlen, Bildern und Gedanken<br />

4. Sensibilisierung der auditiven Wahrnehmung auf die Musik hin<br />

5. Reorientierung in das Hier und Jetzt<br />

6. Reflexion des Erlebten<br />

7. Rolling back<br />

Im ersten Schritt – Sensibilisierung auf den Körperkomfort – ist der ganze Körper vom Kopf<br />

bis zu den Füßen angesprochen. Wichtig ist darüber hinaus, dass die Patienten während der<br />

Entspannung und auch während der Musik, ihre Haltung verändern dürfen. Im Anschluss<br />

daran folgt die eigentliche Entspannungsphase, in der <strong>ein</strong>e Kombination der PM nach E.<br />

Jakobson und dem Autogenen Training nach H. Schultz zum Einsatz kommen. Den Patienten<br />

begegnen hier vertraute Übungen aus der Schmerztherapie der Klinik. Die Musik kommt<br />

nicht, wie in der Rezeptiven Musiktherapie oder der Musik-Medizin allgem<strong>ein</strong> üblich, von<br />

<strong>ein</strong>er Musik-Konserve (CD oder Musikkassette), sondern wird im Schmerzzentrum <strong>Enzensberg</strong><br />

vom Therapeuten auf unterschiedlichen Instrumenten selbst gespielt.<br />

Nach der Sensibilisierung auf die Atmung im zweiten Schritt, folgt als dritter Schritt die Sensibilisierung<br />

auf den Umgang mit Gefühlen, Bildern und Gedanken, die immer zu Beginn der<br />

Entspannungsphase stattfindet. Es ist wichtig, dass die Patienten jederzeit in der Lage sind,<br />

auf bestimmte Situationen reagieren zu können. Das heißt, das der Patient jederzeit in der<br />

Lage ist auch und gerade in unangenehmen Situationen, in denen unangenehme Gefühle,<br />

Gedanken oder Bilder aufsteigen, zu reagieren. Musik, Klänge und Geräusche sind in der<br />

Lage viele Bilder, Gedanken und Gefühle entstehen zu lassen. Aus diesem Grund wird dies<br />

vor jeder Sitzung angesprochen und darauf hingewiesen, dass jeder entscheiden kann, wie<br />

weit er sich auf Gefühle, Bilder und Gedanken <strong>ein</strong>lassen möchte. Jeder Patient darf zu jeder<br />

Zeit die Augen öffnen und wenn es nötig s<strong>ein</strong> sollte, die Ohren mit den Händen verschließen<br />

oder, wenn es gar nicht anders geht, leise den Raum verlassen, mit der Bedingung im Anschluss<br />

an die Entspannung wieder zu kommen und zu berichten, was vorgefallen ist.<br />

Die sich im vierten Schritt anschließende Sensibilisierung der auditiven Wahrnehmung auf<br />

die Musik hin ist verbunden mit <strong>ein</strong>er Fantasiereise. Der Patient wird gedanklich an <strong>ein</strong>en<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

87


Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

„sicheren Ort“ geführt, wobei die Kreation des Ortes in s<strong>ein</strong>er Beschaffenheit, Atmosphäre<br />

u.s.w. ganz der Vorstellung des Patienten überlassen bleibt. Im Anschluss an die Fantasiereise<br />

beginnt die Musik.<br />

In <strong>ein</strong>em kombinierten Training von Entspannung und Imagination sehen Rehfisch und Basler<br />

(20) folgende Vorteile:<br />

� Die Entspannung wird vertieft.<br />

� Über die Entspannung hinausgehend werden positive Emotionen erlebt.<br />

� Es kommt zu größerer Abwechslung in der Entspannung.<br />

� Imaginative Bilder verstärken die Schmerzablenkung in der Entspannung.<br />

� Spezielle physiologische Prozesse, wie z. B. Erwärmung oder Kühlung erkrankter Körperteile,<br />

werden unterstützt.<br />

� Eine imaginative Transformation des Schmerzerlebens wird möglich.<br />

� Die Motivation zur Krankheitsbewältigung wird gestärkt.<br />

Die positiven Wirkungen der Kombination aus Entspannung, Imagination und Musik lassen<br />

sich unmittelbar beobachten. Der gesamte Muskeltonus bei den Patienten verändert sich.<br />

Die Muskulatur wird weicher und die Atmung wird ruhiger und flacher. Es entsteht <strong>ein</strong>e absolute<br />

Ruhe im Raum. Von den Patienten wird im Anschluss an die Entspannung immer wieder<br />

beschrieben, wie leicht sie sich gefühlt haben oder dass sie sich gefühlt hätten, als ob sie<br />

schweben würden. Diese Schwebezustände werden immer wieder mit den Klängen des<br />

<strong>ein</strong>gesetzten Monochords 1 in Verbindung gebracht.<br />

In <strong>ein</strong>er Studie von Rittner und Fachner (22) wurde die Wirkung <strong>ein</strong>es Ganzkörpermonochords<br />

2 untersucht. Bei diesem Monochordtyp legt sich der Patient auf den Klangkörper.<br />

Dieser Vergleich mit dem r<strong>ein</strong>en Monochordspiel ist zwar <strong>ein</strong>geschränkt, doch die beobachteten<br />

o.g. Phänomene treten grundsätzlich auch hier auf, nur vermutlich etwas stärker. In<br />

dieser Studie wurde die Wirkung an zwei Probanden mit Hilfe des EEG-Brainmapping, untersucht.<br />

Hierbei wurde deutlich, dass das Monochordspiel unterschiedliche Trancezustände<br />

hervorruft, zum <strong>ein</strong>en bei dem männlichen Probanden <strong>ein</strong>e ergotrope 3 , zum anderen bei der<br />

weiblichen Probandin trophotrope Trance.<br />

1 Das ursprüngliche Monochord besteht aus <strong>ein</strong>em Resonanzkasten, über dessen ganze Länge <strong>ein</strong>e Saite zwischen<br />

zwei festen Stegen gespannt ist. In der heutigen Zeit wird das Monochord mit 13 oder mehr Saiten gebaut.<br />

Die Saiten sind alle auf <strong>ein</strong>en Ton gestimmt. Durch <strong>ein</strong>e gleichmäßige Spielweise entsteht <strong>ein</strong> schwebender<br />

Grundton mit s<strong>ein</strong>en natürlichen Obertönen.<br />

2 Ganzkörpermonochord: Ein relativ neues Instrument. Der Patient liegt auf dem Resonanzkörper und nimmt so<br />

die Schwingungen der Klänge über den ganzen Körper wahr. Die Saiten des Instruments sind auf der Unterseite<br />

des Liegemonochords angebracht und werden vom Therapeuten gespielt.<br />

3 Die Ergototropie (griech. ergon: Werk, Arbeit) bezeichnet <strong>ein</strong>e Funktionslage des Nervensystems, die für den<br />

Organismus anregend wirkt. Es kommt dabei zu <strong>ein</strong>er Aktivierung des sympathiko-adrenalen Systems. Sie stellt<br />

das Gegenteil der Throphotropie dar. Dabei wird vor allem das Herz-Kreislauf-System aktiviert und das Glykogen<br />

aus der Leber mobilisiert. Die Verdauungstätigkeit wird herabgesetzt. Die Ergototropie bewirkt <strong>ein</strong>e Erhöhung<br />

viszero-motorischer und psychomotorischer Impulse. Mit <strong>ein</strong>er Bereitstellung des Organismus zu motorischen<br />

und bestimmten viszeralen Aktionen geht <strong>ein</strong>e Erhöhung der psychischen Wachheit (Vigilanz) <strong>ein</strong>her.<br />

88 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

4. Aktive Musiktherapie mit Schmerzpatienten<br />

Die Begegnung mit der aktiven Musiktherapie ist für die meisten Patienten zu Beginn sehr<br />

schwierig, oft noch schwieriger als mit der rezeptiven Musiktherapie. Es kommen hier viele<br />

schlechte Erfahrungen zusammen. Durch Schule, Kindergarten oder auch das Elternhaus<br />

sind viele Menschen negativ mit dem Medium Musik in Berührung gekommen. Es gilt daher,<br />

<strong>ein</strong>e Therapie-Atmosphäre zu schaffen, die Menschen dazu anregt, Musik in Ruhe neu zu<br />

entdecken, Instrumente auszuprobieren, die Wirkung von Rhythmus zu spüren, sich mit <strong>ein</strong>em<br />

oft fremden Medium ganz neu zu erleben.<br />

Aktive Musiktherapie beginnt deshalb immer mit <strong>ein</strong>er Einstimmungsphase, zu der das Vorstellen<br />

und Auswählen der Instrumente gehört. Bei der Auswahl sollen die Patienten darauf<br />

achten, dass das gewählte Instrument ihren ästhetischen, klanglichen oder anderen individuellen<br />

Vorlieben entspricht. Danach bekommen die Patienten Zeit, sich mit dem Instrument<br />

vertraut zu machen.<br />

Im Anschluss an die notwenige Einstimmungsphase, kommen Spielformen, wie z. B. die<br />

Rhythmuspyramide, oder anderen Rhythmusspiele zum Einsatz. Das Instrumentarium besteht<br />

aus Trommeln (Djembés, Rahmentrommeln, kl<strong>ein</strong>en Percussionsinstrumenten, Stabspielen<br />

wie Balafon und Schlitztrommel, und <strong>ein</strong>er Steeldrum.)<br />

Bei der Rhythmuspyramide beginnt <strong>ein</strong> Spieler mit <strong>ein</strong>em leicht nach zu vollziehenden<br />

Rhythmus, dieser Rhythmus wird vom Nachbar Spieler entweder zur rechten oder zu linken<br />

Seite (wird vorher verabredet) aufgegriffen, so das immer <strong>ein</strong> Mitspieler hinzukommt. Wenn<br />

alle spielen, besteht dann die Möglichkeit, zu variieren. Das heißt Rhythmen können erfunden<br />

werden, Töne können hinzugefügt werden, Melodien können erfunden werden, alles<br />

was zu dem Grundrhythmus passt, ist hier möglich. Das Spiel findet dann <strong>ein</strong> Ende, wenn<br />

der erste Spieler aufhört. Ab diesem Zeitpunkt, steigt <strong>ein</strong> Spieler nach dem anderen aus.<br />

Wichtig ist, dass immer nur <strong>ein</strong> Spieler nach dem anderen aussteigt. Dies ist <strong>ein</strong>e sehr leichte<br />

Spielform, die aber umso mehr Freude bereitet, weil man beim Ein- und Ausstieg, jedes<br />

Instrument für sich wahrnimmt.<br />

Diese Spielform wird von den meisten Patienten gut angenommen, spätestens beim zweiten<br />

Durchgang, beginnen viele von den Teilnehmern zu improvisieren, das heißt sie erfinden<br />

neue Rhythmen, die zu dem Grundrhythmus passen, oder sie bauen ihre Spielräume auf<br />

den Instrumenten mit größerem Tonumfang aus.<br />

In den im Anschluss an die Rhythmusspiele gegeben Rückmeldungen, wird deutlich, wie<br />

Rhythmus in <strong>ein</strong>zigartiger Weise geeignet ist, das Schmerzerleben positiv zu be<strong>ein</strong>flussen.<br />

Rückmeldungen wie: „Ich habe m<strong>ein</strong>e Schmerzen gar nicht mehr gespürt, oder, „m<strong>ein</strong><br />

Schmerzlevel war vor der Sitzung auf 7 und ist nun auf 5“, können dies beispielhaft belegen.<br />

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89


Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

5. Integrative Therapie als konzeptioneller Rahmen<br />

Die Musiktherapie in der Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> b<strong>ein</strong>haltet sowohl rezeptive als auch aktive<br />

Musiktherapie. Sie ist funktional ausgerichtet. Musiktherapie soll Psychotherapie nicht ersetzen,<br />

kann diese aber <strong>ein</strong>drucksvoll ergänzen.<br />

Die Hauptwirkung der Musiktherapie in der interdisziplinären Schmerztherapie liegt in der<br />

Entspannung und der damit verbundenen Schmerzreduktion. Wichtige Voraussetzung für die<br />

entspannende Wirkung von Musik oder Musiktherapie ist <strong>ein</strong>e positive Einstellung zum Medium.<br />

Wenn Musik als angenehm erlebt wird, das heißt durch aktives spielerisches musizieren<br />

oder singen und hören, findet im Gehirn <strong>ein</strong>e Harmonisierung und Synchronisation der in<br />

den verschiedenen Regionen liegenden neuronalen Aktivitätsmuster statt.<br />

Konzeptioneller Rahmen der Musiktherapie in der Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> ist die Integrative<br />

Therapie, die sich um Integration verschiedener kreativer, verbaler und nonverbaler Ansätze<br />

(Musiktherapie, Bewegungstherapie u.a.) bemüht. Ein zentraler Begriff ist der Leib, er ist der<br />

Ort an dem alles Erlebte gespeichert ist, der erlebte und der sich selbst erlebende Körper.<br />

Das Menschenbild der Integrativen Therapie betont die existentielle Bezogenheit des Menschen<br />

auf s<strong>ein</strong>en Mitmenschen: Jeder Mensch steht in fundamentaler Beziehung (Korrespondenz-Antwortfähigkeit,<br />

Verantwortung, und Bezogenheit) mit der Welt und s<strong>ein</strong>en Mitmenschen.<br />

So ist <strong>ein</strong> Ich ohne das Du nicht denkbar, und das Ich kann sich nur in Beziehung<br />

zum Du entwickeln.<br />

Ein weiterer wichtiger Begriff der Integrativen Therapie ist die Intersubjektivität. Beziehung<br />

spielt sich immer zwischen zwei Subjekten statt (Bezogens<strong>ein</strong> des Menschen auf den Anderen).<br />

Intersubjektivität ist somit Ziel jeder Beziehung, auch der therapeutischen. Im Vordergrund<br />

steht deshalb immer die tragfähige empathische Beziehung zwischen dem Patienten/Klienten<br />

und dem (Musik-) Therapeuten.<br />

Literatur<br />

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with a Breast-Cancer Patient. The arts in Psychotherapy 23: 207-223<br />

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bei chronischen Rückenschmerzen. 8. Wiss. Tagg. der Österr. Schmerzges., Abstr. 23<br />

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90 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

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(Hrsg.): Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie. Stuttgart: Thieme-Verlag, S. 55-81<br />

10. Hasenbring M, Schulz-Kindermann F, Hennings U, Florian M, Linhart D, Ramm G, Zander AR<br />

(1999): The efficacy of relaxation/imagery, music therapy and psychological support for pain relief<br />

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23:166<br />

11. Juslin PN (2001): Cue Utilization in Communication of Emotion in Music Performance: Relating<br />

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12. Kächele H, Oerter U, Scheytt-Hölzer N, Schmidt HU (2003): Musiktherapie in der deutschen Psychosomatik.<br />

Psychotherapeut 3: 155-165<br />

13. Klemm G (1987): Untersuchungen über den Zusammenhang musikalischer und sprachlicher<br />

Wahrnehmungsfähigkeit. Dissertation, Universität Frankfurt/M.<br />

14. Kullich W, Wendtner F, Likar R, Hesse HP, Bernatzky G (2001): Therapeutische Anwendung von<br />

Musik und Entspannungsanleitung bei schmerzhaften Wirbelsäulenerkrankungen. 9. Jahrestagung<br />

der Österr. Schmerzges. Abstr., S. 26<br />

15. Mac Donald RAR, Ashley EA, Davies JB, Serpell MG, Murray JL, Rogers K, Millar K (1999): The<br />

Anxiolytic and Pain Reducing Effects of Music on Post-Operative Analgesia In: Pratt RR, Grocke<br />

DE (Ed.:) Music Medicine 3. Music Medicine and Music Therapy: Expanding Horizons. Faculty of<br />

Music, The University of Melbourne, Parkville, Victoria. S. 12-18<br />

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durch Musikhören. Dtsch. Med. Wschr. 120: 745-752<br />

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Frankfurt/M.: Fischer Verlag<br />

18. O´Brien EK (1999): Cancer Patients´ Evaluation of a Music Therapy Programm in a Public Adult<br />

Hospital In: Pratt RR, Grocke DE (Ed): Music Medicine 3. Music Medicine and Music Therapy: Expanding<br />

Horizons. Faculty of Music, The University of Melbourne, Parkville, Victoria. S. 285-300<br />

19. Palakanis KC, De Nobile JW, Sweeney WB, Blankenship CL (1994): Effect of Music Therapy on<br />

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21. Ries R (1998): Musik als Medizin. Gezielt <strong>ein</strong>gesetzte Musik kann Angst und Schmerzen lindern.<br />

Einblick 3: 21-21<br />

22. Rittner S, Fachner J (2004): „Klang und Trance im EEG, tranceiduzierende Klänge. Musiktherapeutische<br />

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durch Musik? „Aktuelle Onkologie“: Praktische Onkologie Nr. 14<br />

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in der Medizin. Basel: Editiones Roche, Mayr Miesbach Verlag. S. 231-236<br />

25. Spintge R (2001): Musik in Anaesthesie und Schmerztherapie. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed<br />

Schmerzther 35: 254-261<br />

26. Standley JM (1992): Clinical applications of music and chemotherapy: the effects on nausea and<br />

emesis. Music Therapy Perspectives 10: 27-35<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

91


Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />

27. Tilch S, Haffa-Schmidt U, Wandt H, Kappauf H, Schäfer K, Birkmann J, Gallmeier WM (1999):<br />

Supportive Music therapy improves mood state in patients undergoing myeloablative chemotherapy.<br />

Bone Marrow Transplantation 23: 170<br />

28. Tomatis A (Hrsg.) (1999): Der Klang des Lebens. Hamburg: Rowoldt TBV<br />

29. Van Dreest H (1997): Heilen mit Musik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag<br />

30. Verres R (1999): Zukunftsmusik: Wie kann die Musiktherapie in der Onkologie gestärkt werden?<br />

Musiktherapeutische Umschau 20: 396-400<br />

92 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi<br />

1. Überblick<br />

Entspannungsverfahren sind häufig verwendete Techniken der psychologischen Schmerzbehandlung,<br />

die in der Regel gem<strong>ein</strong>sam mit anderen Methoden <strong>ein</strong>gesetzt werden. Das<br />

Erlernen <strong>ein</strong>er Entspannungstechnik ist üblicherweise <strong>ein</strong> Modul in <strong>ein</strong>em psychoedukativen<br />

Gruppenprogramm zur Schulung und Behandlung von chronischen Schmerzpatienten (z. B.<br />

Kröner-Herwig & Basler, 1998).<br />

Auch im Schmerzbewältigungsprogramm, das im Schmerzzentrum der Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />

alle Patienten durchlaufen, bildet die Vermittlung von Entspannungsfertigkeiten <strong>ein</strong>en<br />

integralen Bestandteil. Mit Entspannung lassen sich für die Schmerzbehandlung günstige<br />

Effekte erzielen. Dies gilt für „klassische“ Entspannungsmethoden, Imagination und Biofeedback<br />

gleichermaßen. Diese Effekte sind:<br />

1. Entspannungszustände gehen mit physiologischen Reaktionen <strong>ein</strong>her (Reduktion des<br />

Muskeltonus, Reduktion von Herzrate und Blutdruck, vegetative Umschaltung, Änderung<br />

der Hirnstromaktivität etc.), die sowohl <strong>ein</strong>er kurzfristigen physiologischen Erregung<br />

(Stressreaktion) als auch den langfristigen Auswirkungen der Schmerzen (Myogelosen,<br />

Verkürzung der Muskulatur etc.) entgegenwirken. Entspannung wirkt physiologisch antagonistisch<br />

zur Reaktion des Körpers auf Stress bzw. Schmerz.<br />

2. Der subjektiv erlebte Zustand von Ruhe, Schläfrigkeit, Wärme und Wohlbefinden wirkt<br />

antagonistisch zum Erleben von Schmerz. Entspannung aktiviert auch auf physiologischer<br />

Ebene schmerzhemmende Mechanismen (Auslösung positiver Emotionen)<br />

3. Entspannung erzeugt <strong>ein</strong>en schmerzablenkenden Bewussts<strong>ein</strong>szustand. Auch dies führt<br />

– physiologisch – zu <strong>ein</strong>er Verstärkung hemmender Mechanismen.<br />

4. Hat <strong>ein</strong> Patient <strong>ein</strong> Entspannungsverfahren erlernt, so erlebt er sich selbst dem Schmerz<br />

gegenüber nicht mehr hilflos ausgeliefert. Er erfährt <strong>ein</strong>e Steigerung s<strong>ein</strong>er Selbstwirksamkeitsüberzeugungen.<br />

Diese Wirkung ist <strong>ein</strong> generelles Ziel <strong>ein</strong>er optimierten<br />

Schmerzbewältigung, die auf <strong>ein</strong>e Verbesserung der Selbstmanagementfähigkeiten abzielt.<br />

5. Entspannung führt zu <strong>ein</strong>em verbesserten Körperempfinden. Die gestörte Wahrnehmung<br />

bzw. Interpretation von Körpersignalen ist für Schmerzpatienten <strong>ein</strong> generelles Problem.<br />

Entspannung kann hier zu <strong>ein</strong>er neuen Balance führen.<br />

6. Das Erlernen von Entspannung hilft <strong>ein</strong>em Patienten besser zu erkennen, in welchen<br />

Situationen er körperliche Stressreaktionen zeigt.<br />

7. Entspannung ermöglicht <strong>ein</strong>en veränderten Umgang mit Belastungen. Entspannung kann<br />

daher als <strong>ein</strong> Baust<strong>ein</strong> allgem<strong>ein</strong>er Stressbewältigungstechniken <strong>ein</strong>gesetzt werden.<br />

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93


Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

8. Klassische Entspannungsverfahren sind kostengünstig und im Vergleich zu Medikamenten<br />

und invasiven Verfahren nahezu nebenwirkungsfrei. Es gibt nur sehr wenige Kontraindikationen.<br />

Zusammenfassend gilt, dass sich über das Erlernen <strong>ein</strong>er Entspannungstechnik sehr günstige<br />

physiologische, kognitive und behaviorale Veränderungen erzielen lassen, die allerdings<br />

<strong>ein</strong> systematisches Training erfordern. Es gibt <strong>ein</strong>e Vielzahl von Entspannungstechniken. Die<br />

wichtigsten, die im Rahmen psychologischer Schmerzbehandlung <strong>ein</strong>gesetzt werden, sind:<br />

� Progressive Muskelrelaxation (PMR)<br />

� Biofeedback<br />

� Hypnose<br />

� Imaginative Techniken<br />

� Autogenes Training (AT)<br />

Andere Ansätze (z. B. Atementspannung) greifen Elemente dieser „klassischen“ Techniken<br />

auf und stellen meist k<strong>ein</strong>e eigenständigen Verfahren dar. Aus dem asiatischen Kulturraum<br />

stammende Techniken (Yoga, Tai Chi, Qui Gong) sollen hier nicht weiter vertieft werden.<br />

Für jede Form von Entspannung gilt, dass <strong>ein</strong>e längere Einübungszeit bis zu ihrer Beherrschung<br />

nötig ist. Anhaltende Erfolge erfordern von den Patienten Ausdauer und kontinuierliche<br />

Mitarbeit.<br />

Prinzipiell eignen sich Entspannungsverfahren zur Basisbehandlung bei <strong>ein</strong>er Vielzahl von<br />

Beschwerden wie Dysfunktionen im Magen-Darm Bereich, Hypertonie, vegetativer Dystonie,<br />

Schlafstörungen, chronischer Schmerz etc. Fast jeder Schmerzpatient kann von solchen<br />

Verfahren profitieren. Die besten Erfolge werden bei Patienten mit vielen vegetativen Beschwerden<br />

und starken Schmerzen beschrieben. Ganz entscheidend ist für uns aber noch<br />

folgender Aspekt bei der Vermittlung von Entspannungstechniken: Entspannung sollte präventiv<br />

<strong>ein</strong>gesetzt werden. Das heißt Patienten sollen lernen, in Phasen relativen Wohlbefindens<br />

mehr für sich zu tun und regelmäßig zu entspannen. Entspannung ist nur bedingt geeignet,<br />

um Schmerzattacken zu beherrschen. Dieser präventive Aspekt gilt insbesondere bei<br />

Migräne, Kopfschmerzen vom Spannungstyp, <strong>Fibromyalgie</strong> und Rückenschmerzen.<br />

Wie bereits erwähnt, gibt es Kontraindikationen bzw. problematische Störungen für Entspannungsverfahren.<br />

Es sollte allerdings in jedem Einzelfall erst nach <strong>ein</strong>em explorativen Gespräch<br />

und der direkten Beobachtung des Patienten bei <strong>ein</strong>er Übung entschieden werden,<br />

ob mit Entspannung gearbeitet werden kann. Zu problematischen Bedingungen gehören:<br />

� Hypotonie. Der Blutdruck kann während der Entspannung weiter sinken, dies kann in<br />

<strong>ein</strong>e Krise führen, Komplikationen lassen sich aber meist durch sorgfältige Rücknahme<br />

der Entspannung vermeiden.<br />

� Bei Panik- und Angstpatienten kann Entspannung wegen des subjektiv erlebten Kontrollverlusts<br />

zu <strong>ein</strong>er Symptomverstärkung führen. Dies insbesondere, wenn Übungen in der<br />

Gruppe durchgeführt werden. Dem lässt sich entgegenwirken, indem man dem Patienten<br />

94 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

<strong>ein</strong> möglichst hohes Maß an Kontrolle lässt, <strong>ein</strong>e tragfähige Beziehung etabliert und Sicherheit<br />

vermittelt.<br />

� Die Selbstbeobachtung von Atem- und Herztätigkeit, die bei Entspannungsübungen auftritt<br />

oder gefördert wird, kann zu Komplikationen führen. Hier gilt, was bereits zu Angstund<br />

Panikstörungen gesagt wurde.<br />

� Beim Vorliegen <strong>ein</strong>er Psychose kann Entspannung zu <strong>ein</strong>er Exacerbation psychotischer<br />

Symptome führen.<br />

� Starke akute Schmerzen behindern das Erlernen von Entspannung.<br />

Es gibt verschiedene Begleitersch<strong>ein</strong>ungen der Entspannung, die in der Regel Hinweise darauf<br />

sind, dass der erwünschte Prozess der Umschaltung von <strong>ein</strong>er ergotrophen auf <strong>ein</strong>e tropotrophe<br />

Reaktionslage <strong>ein</strong>geleitet wurde. Dazu gehören:<br />

� Zuckungen von Muskelgruppen<br />

� Speichelfluss<br />

� Innere Unruhe, Bilder, Gedanken<br />

� Veränderte Körperwahrnehmungen (Leichtigkeit, Schwere, Schweben)<br />

� Schweissausbrüche, Wärmeempfindungen<br />

Bei der Einübung von Entspannung sollten diese Ersch<strong>ein</strong>ungen mit dem Patienten besprochen<br />

werden. Bei beängstigenden Phänomenen (z. B. negative Gedanken, Unruhe,<br />

Schweissausbrüche) ist es wichtig, Stabilität und Sicherheit in der Übungssituation zu vermitteln<br />

und den vorübergehenden Charakter dieser Ersch<strong>ein</strong>ungen plausibel zu machen.<br />

2. Klassische Entspannungsverfahren<br />

Wir rechnen dazu die Progressive Muskelrelaxation (PMR), die Anfang des letzten Jahrhunderts<br />

von Jacobson (1996) in den USA entwickelt wurde und das Autogene Training (AT),<br />

das ungefähr im selben Zeitraum in Deutschland von Schultz (1979) <strong>ein</strong>geführt wurde.<br />

2.1 Progressive Muskelrelaxation<br />

Bei der PMR besteht das Vorgehen in <strong>ein</strong>er sukzessiven Anspannung und anschließenden<br />

bewussten Entspannung der Muskulatur. Dabei werden nach<strong>ein</strong>ander und fortschreitend<br />

(„progressiv“) Muskelgruppen über den gesamten Körper angesprochen. Das von Jacobson<br />

ursprünglich propagierte Verfahren (100 bis 200 Einzelsitzungen) wird heute aus Praktikabilitätsgründen<br />

nicht mehr <strong>ein</strong>gesetzt. Wiederentdeckt wurde die Technik von der Verhaltenstherapie<br />

seit den 50er Jahren. Heute <strong>ein</strong>gesetzte Übungen gehen auf Bernst<strong>ein</strong> und Borkovec<br />

(z.B. Bernst<strong>ein</strong> und Borkovec, 2000) zurück, die sich für die Praxis der Schmerzbehandlung<br />

bestens bewährt haben. Die schrittweise Anspannung und Entspannung verschiedener<br />

Muskelgruppen sollte in <strong>ein</strong>er Langversion folgende Elemente enthalten:<br />

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Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

� Rechte Hand zur Faust ballen<br />

� Rechten Oberarm im Ellbogen abwinkeln, mit geöffneter Hand<br />

� Linke Hand zur Faust ballen<br />

� Linken Oberarm im Ellbogen abwinkeln, mit geöffneter Hand<br />

� Stirn in Falten legen<br />

� Lippen/Mund spitzen<br />

� Kiefermuskulatur, leicht auf die Zähne beißen<br />

� Schultern nach hinten ziehen<br />

� Rücken anspannen<br />

� Bauchmuskulatur anspannen<br />

� Rechten Oberschenkel anspannen<br />

� Rechten Fuß anspannen, die Zehen krümmen<br />

� Gesäß anspannen<br />

� Linken Oberschenkel anspannen<br />

� Linken Fuß anspannen, Zehen krümmen<br />

Auf <strong>ein</strong>e Anspannungsphase (5 bis 7 Sekunden) folgt jeweils <strong>ein</strong>e Entspannungsphase (20<br />

bis 30 Sekunden). Die Übung kann sitzend (Vorraussetzung: bequemer Stuhl) oder liegend<br />

(Voraussetzung: Entspannungsliege oder Matte) durchgeführt werden. Zur Einleitung der<br />

Übung ist es hilfreich, den Patienten <strong>ein</strong>zustimmen: Entspannte Haltung im Sitzen oder Liegen,<br />

Kopf in angenehmer Position, regelmäßige Bauchatmung, Schließen der Augen, Ruhesuggestion,<br />

positive Selbstinstruktion. Zur Unterstützung kann <strong>ein</strong>e leise Entspannungsmusik<br />

benutzt werden.<br />

Im Regelfall kann sich der Patient nach ca. 10 bis 12 Sitzungen schnell und tief entspannen.<br />

Dies ist die Zahl der Übungs<strong>ein</strong>heiten, die wir innerhalb unseres Schmerzbewältigungsprogramms<br />

anstreben. Wichtig ersch<strong>ein</strong>t uns, dass neben <strong>ein</strong>er kompletten Langversion, in der<br />

sehr differenziert die verschiedenen Muskelgruppen angesprochen werden, den Patienten<br />

auch <strong>ein</strong>e Kurzversion vermittelt wird. In <strong>ein</strong>er solchen Kurzversion werden beispielsweise<br />

nur vier Übungsschritte (beide Hände und Arme, Kopf und Hals, Oberkörper, Gesäß und<br />

beide B<strong>ein</strong>e) absolviert. Während die Durchführung der Langversion ca. 25 bis 30 Minuten<br />

benötigt kann die Kurzversion in knapp 10 Minuten durchgeführt werden.<br />

Speziell für Schmerzpatienten ist es wichtig, auf folgende Punkte zu achten und die Patienten<br />

explizit zu instruieren:<br />

� Muskeln nur leicht anspannen, so dass der Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung<br />

gerade noch gut wahrgenommen wird. Dies sensibilisiert für die bessere<br />

Wahrnehmung des eigenen Körpers.<br />

� Muskeln, die schmerzhaft sind, werden nur leicht angespannt, ganz ausgelassen oder<br />

nur in der Vorstellung angespannt.<br />

� Auch während der Anspannung ruhig und gleichmäßig weiteratmen.<br />

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Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

� Zu Beginn des Trainings werden manchmal vorhandene Schmerzen und Unruhe stärker<br />

erlebt.<br />

� Patienten motivieren, regelmäßig zu üben; Effekte werden erst nach <strong>ein</strong>iger Zeit stabil.<br />

� Entspannung aus dem therapeutischen Setting lösen und in den Alltag transferieren.<br />

PMR ist das mit großem Abstand am besten evaluierte Entspannungsverfahren und im Prinzip<br />

bei allen Schmerzzuständen wirksam. Es gibt über 200 Studien, die die Wirksamkeit belegen<br />

(Rehfisch und Basler, 2004). Dies ist für uns <strong>ein</strong> wesentliches Argument, bei der Vermittlung<br />

von Entspannung schwerpunktmäßig mit PMR zu arbeiten.<br />

2.2 Autogenes Training<br />

Beim Autogenen Training (AT) werden schrittweise die Vorstellungen von Schwere und<br />

Wärme <strong>ein</strong>geübt. In der Praxis wird zwischen Grundübungen (Schwere, Wärme), speziellen<br />

Organübungen ( Herz-/Pulsübung, Atemübung, Bauchraumübung, Kopfübung bzw. Stirnkühle)<br />

und der Oberstufe unterschieden. Der Therapeut vermittelt dem Patienten, autosuggestive<br />

Formeln, um körperliche Effekte zu erzielen. Begonnen wird mit der Ruhetönung, die k<strong>ein</strong><br />

eigenständiger Übungsteil ist (wie z. B. die Schwereübung), sondern <strong>ein</strong>e Zielstellung, <strong>ein</strong>e<br />

Einstimmung oder <strong>ein</strong>e „Überschrift“ zur Gesamtübung, die nach <strong>ein</strong>iger Übungszeit erst zur<br />

Wirkung kommt.<br />

Bei der Schwereübung geht es um das subjektive Erleben von Muskelentspannung. Mit Hilfe<br />

der Wärmeübung wird Einfluss auf die Gefäßregulierung (Gefäßweitstellung, Nachlassen<br />

des Sympathikusimpulses) genommen. Die speziellen Organübungen können je nach Beschwerden<br />

des Patienten <strong>ein</strong>gesetzt werden. Zum Beispiel wird bei Kopfschmerz und Migräne<br />

die Kopfübung <strong>ein</strong>gesetzt, bei Bauchbeschwerden die Bauchraumübung. Es ist aber auch<br />

möglich, die speziellen Organübungen komplett zu vermitteln. Bei kontinuierlichem Training<br />

benötigt man durchschnittlich vier Monate, um die Teilübungen der Unterstufe zu beherrschen.<br />

In der folgenden Zeit kommt es darauf an, die psychophysische Umschaltung durch<br />

weiteres regelmäßiges Trainieren immer mehr zu automatisieren und dadurch die Zeit bis<br />

zum Eintritt der Gesamtentspannung zu verkürzen. Die Formeln werden zusammengefasst<br />

und weiter verkürzt. Nach <strong>ein</strong>em halben Jahr genügen oft schon die Vorstellung der Worte:<br />

Ruhe, Schwere, Wärme, Puls und Atmung ruhig, Bauch warm, Stirn kühl (bzw. Kopf bleibt<br />

leicht und frei). Die Oberstufe des Autogenen Trainings entspricht Imaginationsübungen,<br />

welche auf <strong>ein</strong>em tiefenpsychologischen Konzept basieren.<br />

Bisher gilt, dass es wenige kontrollierte Therapiestudien mit Schmerzpatienten gibt, das Wissen<br />

über die Wirksamkeit des AT bei der Behandlung chronischer Schmerzen also gering ist.<br />

Hat <strong>ein</strong> Schmerzpatient (prämorbid) allerdings fundierte Erfahrungen im Umgang mit AT und<br />

kann er damit gute Entspannungseffekte erzielen, so sollte er dieses Verfahren beibehalten.<br />

Ansonsten gilt, dass PMR als Erstverfahren dem AT vorzuziehen ist. Dies nicht nur wegen<br />

der besseren empirischen Absicherung der Effizienz sondern auch aus r<strong>ein</strong> pragmatischen<br />

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Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

Gründen: PMR lässt sich üblicherweise in <strong>ein</strong>em kürzeren Zeitrahmen als AT erlernen. Viele<br />

Schmerzpatienten haben mit Autosuggestionen und der notwendigen Konzentration beim AT<br />

Probleme. Auch die Patienten, die Entspannung als etwas Unnötiges bewerten, haben<br />

Schwierigkeiten mit dem AT. Für diese ist das Erlernen der PMR leichter, da sie hier in <strong>ein</strong>em<br />

gewissen Maß aktiv s<strong>ein</strong> können (Anspannung - Entspannung von Muskelgruppen).<br />

2.3 Imaginative Techniken<br />

Bei Imaginativen Techniken wird mit Vorstellungen meist bildhafter Art gearbeitet. Ein Zustand<br />

von Entspanntheit ist Vorraussetzung für die Arbeit mit Imaginationen. Innere Bilder<br />

oder Imaginationen treten im Alltag spontan im entspannten Zustand auf („Tagträume“). Sie<br />

können durch Meditation, spezifische Übungen oder Hypnose gezielt induziert werden. Wir<br />

verfügen als Menschen über die Fähigkeit, spontan aus uns heraus selbständig Imaginationen<br />

zu aktivieren.<br />

In der Psychotherapie haben sich imaginative Techniken als eigenständige Therapieformen<br />

(Achterberg, 1987; Reddemann, 2002) etabliert. In der psychologischen Schmerztherapie<br />

lassen sich Imaginationen als Therapieelemente in eigenständigen Übungen („Fantasiereisen“),<br />

als schmerztransformierende Imaginationen oder zur Vertiefung von Entspannung und<br />

Ablenkung <strong>ein</strong>setzen. Wir unterscheiden:<br />

1. Ruhebilder im Rahmen von PMR zur Vertiefung der Entspannung<br />

2. Fantasiereisen als Entspannungs- und Ablenkungsübung<br />

3. Schmerzverarbeitende Imaginationen<br />

Unter schmerverarbeitenden Imaginationen sind schmerzfokussierende Imaginationen („stellen<br />

sie sich ihren Schmerz als intensive, grell leuchtenden Farbe vor, stellen sie sich vor, wie<br />

diese Farbe immer kräftiger wird“) und schmerzdefokussierende Imaginationen („ihre Aufmerksamkeit<br />

richtet sich jetzt auf die Vorstellung <strong>ein</strong>es kühlen Bergsees“) zu verstehen. Es<br />

können schmerzinkompatible Imaginationen (z. B. angenehme Naturbilder) und schmerztransformierende<br />

Imaginationen („ihr Schmerz verblasst“) durch Autosuggestion oder durch<br />

Instruktion aktiviert und zur besseren Schmerzbewältigung therapeutisch genutzt werden.<br />

Grundsätzlich sollten Patienten mit chronischen Schmerzen lernen, positive Vorstellungsbilder<br />

verstärkt zu aktivieren. Sinnvoll ist auch immer <strong>ein</strong> kombiniertes Training von Entspannung<br />

und Imagination. Imagination hat dabei verschiedene Wirkungen:<br />

� Entspannung wird vertieft<br />

� Positive Emotionen werden aktiviert, diese wirken schmerzhemmend<br />

� Schmerzablenkung in der Entspannung wird verstärkt<br />

� Physiologische Vorgänge (z. B. Tonusreduktion, Erwärmung) werden unterstützt<br />

� Imaginative Transformation des Schmerzerlebens wird möglich<br />

Imaginative Übungen, die den Schmerz (de)fokussieren und transformieren, ermöglichen<br />

dem Patienten <strong>ein</strong>e Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit dem Schmerzerleben und verstärken Überzeu-<br />

98 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

gungen der Kontrollierbarkeit des Schmerzes und damit der Selbstwirksamkeit. Imaginative<br />

Techniken haben in der psychologischen Schmerztherapie als ergänzende Verfahren <strong>ein</strong>en<br />

wichtigen Stellenwert.<br />

2.4 Biofeedback<br />

Biofeedback ist definiert als <strong>ein</strong> Vorgang, bei dem <strong>ein</strong>e Person lernt, physiologische Prozesse<br />

zu be<strong>ein</strong>flussen. Dies betrifft sowohl solche Prozesse, die üblicherweise nicht unter willentlicher<br />

Kontrolle stehen (z. B. Körpertemperatur, Hautleitfähigkeit), als auch solche physiologischen<br />

Prozesse, die üblicherweise bewusst zu regulieren sind (z. B. Muskelspannung),<br />

bei denen jedoch die Regulation zusammengebrochen ist (sogenannte funktionelle Störungen).<br />

Bei jeder Form von Biofeedback sind drei Operationen zu unterscheiden:<br />

1. Erfassen und verstärken biologischer Responses/Prozesse<br />

2. Umwandlung der bioelektrischen Signale, meist in visuelle oder akustische Form<br />

3. Unmittelbares („Echtzeit“) Feedback des Funktionszustandes des gemessenen<br />

physiologischen Systems<br />

Von vielen Autoren (Rief & Birbaumer, 2000) wird Biofeedback als sehr effektive Intervention<br />

bei chronischen Schmerzsyndromen empfohlen. K<strong>ein</strong>e endgültige Klarheit besteht über die<br />

Wirkmechanismen. Man kann zwei Rahmentheorien unterscheiden (Kröner-Herwig, 2004).<br />

Ein theoretischer Ansatz nimmt primär physiologische Wirkmechanismen an, der andere<br />

geht von primär kognitiven Wirkmechanismen aus.<br />

Bei physiologischen Wirkmechanismen wird unterschieden zwischen <strong>ein</strong>em physiologischen<br />

Spezifitätsmodell (der Proband erwirbt die Fähigkeit der physiologischen Selbstkontrolle über<br />

die spezifische rückgemeldete, pathophysiologisch relevante Funktion wie beispielsweise<br />

Muskeltonus oder Herzrate) und <strong>ein</strong>em unspezifischen physiologischen Wirkmodell (der<br />

physiologische Effekt ist genereller Art und wird auf dem Weg <strong>ein</strong>er allgem<strong>ein</strong>en Entspannung<br />

erreicht).<br />

Bei kognitiven Erklärungsansätzen werden ebenfalls zwei mögliche Wirkmechanismen diskutiert.<br />

Man kann annehmen, dass die Feedbackintervention beim Probanden wichtige Einstellungs-<br />

und Erwartungsänderungen bewirkt. Der Proband erkennt, dass er s<strong>ein</strong>e Symptome<br />

verändern kann und erfährt dadurch <strong>ein</strong>e Steigerung s<strong>ein</strong>er Selbstwirksamkeitsüberzeugungen.<br />

Für das konkrete Vorgehen bedeutet dies, so mit <strong>ein</strong>em Patienten zu arbeiten, dass<br />

dieser möglichst viel Erfolg und Kontrolle erlebt. Der zweite kognitive Erklärungsansatz postuliert<br />

<strong>ein</strong>e Verbesserung der Interozeption durch Biofeedback, also <strong>ein</strong>er Veränderung der<br />

Körper- und Selbstwahrnehmung. Es ergeben sich damit vier mögliche Wirkmechanismen:<br />

� Veränderung spezifischer pathophysiologischer Funktionszustände<br />

� Aufbau <strong>ein</strong>er spezifischen oder allgem<strong>ein</strong>en Entspannungskompetenz<br />

� Steigerung von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen<br />

� Verbesserung der Interozeption<br />

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Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

Bei der Behandlung von Schmerzpatienten mit Biofeedback lassen sich drei biologische Maße<br />

bevorzugt nutzen: Muskelspannung, Hautwiderstand/Hautleitfähigkeit, Hauttemperatur.<br />

Diese Parameter stellen die „Arbeitspferde“ des Biofeedback dar.<br />

Die Muskelspannung (EMG, Elektromyogramm, Einheit: Micro Volt) lässt sich messen, indem<br />

kl<strong>ein</strong>e elektrochemische Veränderungen bei der Kontraktion der Muskeln registriert<br />

werden. Durch die Rückmeldung dieses Maßes kann die funktionale Steuerung verschiedener<br />

Muskelgruppen gezielt trainiert werden. Ein erstes Ziel ist immer die Tonusreduktion in<br />

dysfunktional angespannten Muskeln. Der Hautwiderstand ist Ausdruck der elektrischen Aktivität<br />

der Haut (Einheit: Micro Siemens), die ihrerseits direkt assoziiert ist mit Arousal. Dieses<br />

Maß ändert sich abhängig von der Schweißdrüsenaktivität, die direkt von der Aktivität<br />

des sympathischen Zweigs des autonomen Nervensystems bestimmt wird. Es treten direkte<br />

und schnelle Reaktionen auf psychosoziale Stimuli auf! Patienten können durch diese Reaktionen<br />

(und deren Rückmeldung) lernen, dass schnelle und intensive physiologische Reaktionen<br />

in belastenden Situationen – tatsächlich meist bei der bloßen mentalen Vorstellung<br />

solcher Ereignisse – auftreten. Die Hauttemperatur ist <strong>ein</strong>e sich langsam ändernde Größe,<br />

langsam im Kontrast zum Hautwiderstand. Die Erhöhung der peripheren Temperatur geht<br />

<strong>ein</strong>her mit dem Rückgang sympathischer Erregung. Temperaturerhöhung ist <strong>ein</strong> Zeichen<br />

allgem<strong>ein</strong>er Entspannung. Seit Sargent, Green und Walters (1972) ist bekannt, dass die<br />

spontane Beendigung von Migräne von <strong>ein</strong>er Erwärmung der Hände begleitet ist. Hauttemperaturfeedback<br />

gilt seither als Methode der Migränebehandlung. Diese Technik kann aber<br />

auch allgem<strong>ein</strong> zur Stressregulation <strong>ein</strong>gesetzt werden.<br />

Für Biofeedbackinterventionen gibt es drei hauptsächliche Strategien. Man kann das Verfahren<br />

als Hauptintervention oder als Therapiemodul in der multimodalen Schmerztherapie <strong>ein</strong>setzen.<br />

In diesem Fall wird über mehrere Wochen <strong>ein</strong> Feedbacktraining mit mehreren Sitzungen<br />

pro Woche durchgeführt. Dies bedeutet beispielsweise für Patienten mit Kopfschmerzen<br />

vom Spannungstyp, dass mit der Rückmeldung des Frontalis-EMG oder des<br />

EMG der Nacken- und Schultermuskulatur gearbeitet wird. Die zweite Strategie wird als unterstützende<br />

edukative Intervention bezeichnet. Dabei werden Patienten Zusammenhänge<br />

zwischen psychologischen und physiologischen Vorgängen vermittelt. Es gelingt damit auch<br />

<strong>ein</strong> „objektiver“ Beweis der Entspannung bzw. der Störung der Entspannung. Dies führt bei<br />

vielen Patienten, die <strong>ein</strong>e „Psychologisierung“ ihrer Funktionsstörung zunächst ablehnen, zu<br />

<strong>ein</strong>er Akzeptanz des Verfahrens und zu mehr Offenheit gegenüber psychologischen Methoden<br />

insgesamt. Diese Patienten vermögen auf diesem Weg auch ihr somatisch ausgerichtetes<br />

Störungsmodell zu revidieren.<br />

100 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />

Literatur<br />

1. Achterberg J (1987): Die heilende Kraft der Imagination. Bern: Scherz<br />

2. Basler H-D, Kröner-Herwig B (Hrsg.) (1998): Psychologische Therapie bei Kopf- und Rückenschmerzen.<br />

München: Quintessenz<br />

3. Bernst<strong>ein</strong> DA, Borkovec TD (2000): Entspannungs-Training. Handbuch der Progressiven Muskelentspannung.<br />

München: Pfeiffer<br />

4. Jacobson E (1996): Entspannung als Therapie. Progressive Relaxation in Theorie und Praxis.<br />

München: Pfeiffer<br />

5. König W, di Pol G, Schaeffer G (1983): Autogenes Training – Ein Grundriss. Jena: VEB Gustav<br />

Fischer<br />

6. Kröner-Herwig B (2004): Biofeedback. In: Basler HD, Franz C, Kröner-Herwig B, Rehfisch HP<br />

(Hrsg.): Psychologische Schmerztherapie. Heidelberg: Springer, S. 551-565<br />

7. Reddemann L (2002): Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta<br />

8. Rehfisch HP, Basler H-D (2004): Entspannung und Imagination. In: Basler H-D, Franz C, Kröner-<br />

Herwig B & Rehfisch HP (Hrsg.): Psychologische Schmerztherapie. Heidelberg: Springer<br />

9. Rief W, Birnaumer N (Hrsg.) (2000): Biofeedbacktherapie. Stuttgart: Schattauer<br />

10. Sargent JD, Green EE, Walters ED (1972): The use of autogenic training in a pilot study of migraine<br />

and tension headaches. Headache 12: 120-124<br />

11. Schultz IH (1979): Das autogene Training. Stuttgart: Thieme<br />

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Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />

Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm bei chronischen<br />

Schmerzen und <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Oliver Kuhnt, Beatrix Linke<br />

Das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom (FMS) ist <strong>ein</strong>e chronische Erkrankung, die durch ausgedehnte<br />

starke Schmerzen in der Muskulatur sowie <strong>ein</strong>e erhöhte Druckempfindlichkeit an den Sehnenansätzen<br />

(sog. „Tender-Points“) charakterisiert ist. Darüber hinaus berichten die <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten<br />

<strong>ein</strong>e große Bandbreite von psychovegetativen und affektiven Begleitsymptomen<br />

wie chronische Müdigkeit/Erschöpfung (78,2 %), Schlafstörungen (75,6 %), (Morgen-<br />

) Steifheit (76,2 %), Depression und Angst (44,9 %), Symptome <strong>ein</strong>es Colon Irritabile (35,7<br />

%) u.a. (vgl. die Übersicht bei Turk 2004). Zusätzlich werden häufig kognitive Einbußen wie<br />

Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen beklagt. Nach bisherigem Wissensstand ist das<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>syndrom hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese nicht <strong>ein</strong>deutig geklärt (vgl.<br />

Blumenstiel, Bieber und Eich, 2004).<br />

Die <strong>Fibromyalgie</strong> ist k<strong>ein</strong>e seltene Krankheit. Die Prävalenz wird nach Conrad (2003) auf ca.<br />

3% geschätzt, auf Deutschland bezogen wären dies etwa 2,4 Millionen Betroffene. Die<br />

Mehrzahl der <strong>Fibromyalgie</strong>kranken sind Frauen, das Verhältnis von Männern zu Frauen beträgt<br />

ungefähr 1:9. Es zeigt sich <strong>ein</strong> Altersgipfel im mittleren Lebensalter, aber auch Kinder<br />

und Senioren können betroffen s<strong>ein</strong>. <strong>Fibromyalgie</strong> sch<strong>ein</strong>t sich zunehmend zu <strong>ein</strong>em Problem<br />

für die sozialen Sicherungssysteme zu entwickeln. Blumenstiel et al. erwähnen Hinweise<br />

auf <strong>ein</strong>e „Diagnoseepidemie“ (S. 440), die regional sehr unterschiedlich ausgeprägt sei. Für<br />

das Gesundheitswesen und die Gesellschaft verursacht <strong>Fibromyalgie</strong> hohe Kosten, zum <strong>ein</strong>en<br />

direkt durch die medizinische Versorgung, zum anderen indirekt durch Arbeitsausfall und<br />

vorzeitige Berentung (hinsichtlich der epidemiologischen Angaben vgl. Übersicht bei Blumenstiel<br />

et al., 2004).<br />

Patienten mit <strong>Fibromyalgie</strong> leiden oft seit vielen Jahren unter Schmerzen. Dies hat Be<strong>ein</strong>trächtigungen<br />

auf verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens zur Folge (z. B. die<br />

Entwicklung <strong>ein</strong>es Circulus Vitiosus: Schmerz – Schonung – Dekonditionierung des muskulären<br />

und Herz-Kreislauf-Systems – verminderte Ausdauerleistungsfähigkeit – funktionelle Defizite<br />

– Überlastung anatomischer Strukturen � Verstärkung der Schmerzen). Es entstehen<br />

aufgrund der schmerzbedingten Be<strong>ein</strong>trächtigungen ungünstige Veränderungen im sozialen<br />

Umfeld wie Partnerschaftsprobleme, sozialer Rückzug, berufliche Schwierigkeiten oder gar<br />

der Verlust des Arbeitsplatzes. <strong>Fibromyalgie</strong> zählt damit zu den chronischen Schmerzsyndromen.<br />

Hier stellen multimodale Therapieprogramme heute die Methode der Wahl dar. An<br />

speziell für <strong>Fibromyalgie</strong>patienten entwickelten Programmen gibt es nur wenige, deren Wirksamkeit<br />

empirisch untermauert werden konnte (vgl. Blumenstiel et al., 2004; Häuser, Hutschenreuter<br />

und Vaterrodt, 2003).<br />

102 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />

Multimodale Therapie heißt allgem<strong>ein</strong> interdisziplinäres Zusammenwirken von Ärzten, Physiotherapeuten,<br />

Psychologen, Kreativtherapeuten, Pflegern und Sozialpädagogen mit dem<br />

Ziel, dem Kranken neben der allgem<strong>ein</strong>en Schmerzreduktion die aktive Bewältigung s<strong>ein</strong>er<br />

verbleibenden Schmerzen zu ermöglichen und ihn bei der R<strong>ein</strong>tegration in s<strong>ein</strong>en Beruf und<br />

s<strong>ein</strong> soziales Umfeld zu unterstützen.<br />

Im unserem multimodalem Therapiekonzept spielt die psychologische Behandlung – kognitiv-behaviorale<br />

Einzel- und Gruppentherapie – <strong>ein</strong>e zentrale Rolle. Jeder chronische<br />

Schmerzpatient nimmt daran teil.<br />

Obwohl Studien (Blumenstiel & Eich, 2003) sich dafür aussprechen, dass Veränderungen bei<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten langsamer <strong>ein</strong>treten als bei anderen an chronischen Schmerzen erkrankten<br />

Menschen, ist hervorzuheben, dass wir bisher k<strong>ein</strong> spezifisches Therapieprogramm<br />

nur für <strong>Fibromyalgie</strong>patienten anbieten. Hier spielen folgende Gründe <strong>ein</strong>e Rolle:<br />

� Heterogenität des hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese ungeklärten Krankheitsbildes<br />

� Fehlen von empirisch belegten effektiven Therapien bei <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom<br />

� Austausch mit „weniger“ stark betroffenen Patienten zeigt positiven Effekt (hoch chronifizierte<br />

Patienten können von den Ideen anderer Patienten profitieren und erhalten durch<br />

die Mitteilung eigener Erfahrungen Unterstützung)<br />

� Distanzierung von der Sonderrolle <strong>Fibromyalgie</strong>-Patient („Ich bin <strong>ein</strong> ganz besonders<br />

schwerer Fall“)<br />

� Auswirkungen der Schmerzen auf das alltägliche Leben sind bei verschiedenen<br />

Schmerzsyndromen dennoch ähnlich<br />

� Organisatorische Gründe<br />

Die kognitiv-behaviorale Therapie des chronischen Schmerzes basiert auf <strong>ein</strong>em multidimensionalen<br />

Schmerzverständnis, in dem sensorische, affektive und kognitive Aspekte der<br />

Schmerzerfahrung gleichermaßen berücksichtigt werden.<br />

Allgem<strong>ein</strong>es Therapieziel ist die Verbesserung der Lebensqualität, ohne Schmerzfreiheit zu<br />

versprechen. Die therapeutischen Interventionen umfassen folgende Bereiche:<br />

� Veränderung des somatischen Krankheitsmodells der Patienten zu <strong>ein</strong>er biopsychosozialen<br />

Sichtweise<br />

� Verbesserung der Fähigkeit zum Selbstmanagement der Schmerzerkrankung (positive<br />

Be<strong>ein</strong>flussung des Schmerzerlebens durch Entspannung, Imagination, Ablenkung, Genuss,<br />

Aufbau von Aktivitäten u.s.w.).<br />

� Änderung von Kognitionen, Einstellungen, Steigerung der Selbstwirksamkeit (Erwerb<br />

<strong>ein</strong>er neuen Sichtweise der eigenen Person im Umgang mit den Schmerzen)<br />

Unser kognitiv-behaviorales Gruppenprogramm besteht aus acht 90minütigen und vier<br />

60minütigen Therapie<strong>ein</strong>heiten sowie dem Genusstraining (gem<strong>ein</strong>sames Kochen in der<br />

Gruppe). Diese psychologische Gruppentherapie ist über <strong>ein</strong>en Zeitraum von drei Wochen<br />

fest in den Therapieablauf integriert. Pro Gruppe können acht bis maximal zehn Patienten<br />

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103


Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />

teilnehmen. Die psychologische Gruppentherapie findet am Beginn des meist vier- bis<br />

sechswöchigen Aufenthalts statt. Eine entsprechende Struktur hat sich bewährt, um den Patienten<br />

während der verbleibenden Tage des Aufenthalts die Möglichkeit zur selbständigen<br />

Umsetzung des Gelernten im Stationsalltag zu geben.<br />

Inhalte des Programms sind u.a.: Wissensvermittlung über chronischen Schmerz, Erlernen<br />

<strong>ein</strong>er Entspannungsmethode (Progressive Muskelrelaxation), Zusammenhang von Stress-<br />

Muskelverspannung-Schmerz, Auslöser von Schmerz (Verhaltensanalyse), Aufmerksamkeitslenkung,<br />

Gedanken und Schmerz, Genusstraining und operante Aspekte von Schmerz.<br />

Um <strong>ein</strong>e Linderung der Schmerzsymptomatik erreichen zu können, ist in jedem Fall <strong>ein</strong>e<br />

ausführliche Aufklärung des Patienten über mögliche Ursachen, Abläufe im Körper, den Verlauf,<br />

Prognosen und Möglichkeiten des Umgangs mit der Erkrankung wichtig. Zwei Themen<br />

aus dem Gruppenprogramm ist bei der Behandlung der <strong>Fibromyalgie</strong> <strong>ein</strong>e hohe Bedeutung<br />

beizumessen. Hierbei handelt es sich um die Punkte „Ablenkung“ und „Operante Faktoren“.<br />

Während der Gruppensitzung zum Thema „Ablenkung“ geht es um die Lenkung unserer<br />

Aufmerksamkeit. Als Vorstellungshilfe wird das Modell des „Aufmerksamkeitssch<strong>ein</strong>werfers“<br />

<strong>ein</strong>geführt.<br />

Abb. 1: Aufmerksamkeitssch<strong>ein</strong>werfer<br />

104 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />

Das Licht <strong>ein</strong>es Sch<strong>ein</strong>werfers kann auf verschiedene Aspekte der äußeren (und inneren)<br />

Welt gerichtet werden. Wir können mit unseren Sinnen wahrnehmen, d.h. sehen, hören, riechen,<br />

schmecken, tasten; wir können uns auf die Fantasie oder Schmerz konzentrieren. Jeweils<br />

das, was im Sch<strong>ein</strong>werferlicht steht, wird intensiv wahrgenommen. Anderes tritt in den<br />

Hintergrund und liegt im Schatten der bewussten Wahrnehmung. Voraussetzung hierfür ist<br />

die Beweglichkeit des Sch<strong>ein</strong>werfers. Bei lange Zeit anhaltenden Schmerzen besteht <strong>ein</strong>e<br />

erhebliche Gefahr, dass der Sch<strong>ein</strong>werfer in dieser Position „festrostet“ und dadurch ausschließlich<br />

der Schmerz hell beleuchtet (d.h. intensiv wahrgenommen) wird und alles andere<br />

in den Hintergrund gerät. Patienten berichten, dass der Schmerz im Mittelpunkt ihres Lebens<br />

steht, dass sie Dinge, die früher Freude bereitet haben, aufgegeben haben und der Situation<br />

hilflos ausgeliefert sind. In der Folge werden die Menschen durch die Konzentration auf den<br />

Schmerz immer sensibler für dessen Wahrnehmung. Bzgl. FM wird in <strong>ein</strong>er Informationsbroschüre<br />

der Deutschen <strong>Fibromyalgie</strong>-Ver<strong>ein</strong>igung (2001) in besonderem Maße auf die erheblich<br />

erniedrigte Schmerzschwelle sowie die u.a. durch das Vermeidungsverhalten verminderte<br />

Muskelkraft und Ausdauer hingewiesen.<br />

Das Bild des Sch<strong>ein</strong>werfers fördert bei vielen Patienten das Erkennen eigener Möglichkeiten<br />

der Be<strong>ein</strong>flussung der Symptomatik. Als Ziel wird erarbeitet, den Sch<strong>ein</strong>werfer wieder in Bewegung<br />

zu bringen und auf angenehme Dinge zu richten. In Kl<strong>ein</strong>gruppen werden Ideen der<br />

Schmerzbewältigung ausgetauscht (z. B. Fotografieren, mit den Enkeln spielen, Haustiere,<br />

Spaziergänge in der Natur, Freunde treffen und Kaffee trinken gehen) und später in der Gesamtgruppe<br />

gesammelt und diskutiert.<br />

Die Patienten erhalten die Aufgabe, im Stationsalltag <strong>ein</strong>, zwei oder mehrere neue Möglichkeiten<br />

der Ablenkung auszuprobieren und für sich herauszufinden, was bei unterschiedlich<br />

starken Schmerzen am besten hilft. Häufig wird ihnen die Wirkung der Aufmerksamkeitslenkung<br />

auch bei der Teilnahme an unserem reichhaltigen Therapie- und Veranstaltungsangebot<br />

deutlich (z. B. kreatives Malen, Tanzen, Musizieren, therapeutisch begleiteter Abendausflug<br />

mit Mitpatienten, handwerkliches Gestalten in der Ergotherapie). Die bisher aufgeführten<br />

Möglichkeiten der Aufmerksamkeitslenkung zählen zur Untergruppe der äußeren Ablenkung,<br />

d.h. sie sind nach außen gerichtet bzw. für ihre Umsetzung sind Hilfsmittel von außen nötig.<br />

Die Reduktion des Dauerstresses, in dem sich <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten häufig befinden, kann<br />

auch über <strong>ein</strong>e Form der inneren Ablenkung – die Phantasiereisen – erreicht werden. Blumenstiel<br />

und Eich (2003) weisen darauf hin, dass bei der Anwendung von Imaginationsverfahren<br />

darauf geachtet werden sollte, dass der Inhalt der Imagination angenehm ist. In dieser<br />

Hinsicht hat sich für uns die Orientierung an von Luise Reddemann (2002) speziell für die<br />

Stabilisierung von Traumaopfern zusammengestellten Imaginationsübungen (z. B. sicherer<br />

Ort) bewährt.<br />

Das Thema „Operante Faktoren des Schmerzes“ wird mit der Vorstellung von der guten Fee,<br />

die die Patienten von ihren Schmerzen befreit, <strong>ein</strong>geführt. Die Patienten setzten sich mit<br />

Fragen wie: Welche Folgen hätte sofortige Schmerzfreiheit?, Welche Veränderungen gäbe<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

105


Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />

es in den verschiedenen Bereichen Ihres Lebens?, Was wäre erwünscht?, Gibt es auch unerwünschte<br />

Veränderungen? aus<strong>ein</strong>ander. Dieses sensible Thema behandeln wir i. d. R.<br />

gegen Ende des Gruppenprogramms, da hierfür <strong>ein</strong>e vertrauensvolle Gruppenatmosphäre<br />

essentiell ist. Gem<strong>ein</strong>sam mit den Patienten wird erarbeitet, dass Schmerzen zwar <strong>ein</strong> erhebliches<br />

Leiden verursachen, jedoch auch mit positiven Konsequenzen für den daran Erkrankten<br />

verbunden s<strong>ein</strong> können. Viele Patienten haben z. B. Schwierigkeiten, n<strong>ein</strong> zu sagen<br />

und sich adäquat abzugrenzen. Krankheit kann <strong>ein</strong> Signal für Überforderung s<strong>ein</strong> und dem<br />

Betroffenen helfen, sich durchzusetzen (z. B. Aufgabenverteilung in Familie, Beruf). Der<br />

Schmerz hilft häufig, etwas durchzusetzen, was sich Menschen sonst nicht erlauben würden.<br />

Im Krankheitsverlauf kann sich <strong>ein</strong> solcher Mechanismus verselbständigen und verschlimmern.<br />

Es kommt zu <strong>ein</strong>er operanten Verstärkung. Zu häufig von unseren Patienten genannten<br />

operanten Faktoren gehören z. B. Schmerz als Signal für Überforderung, die Wahrnehmung<br />

von sich selbst/ von eigenen Bedürfnissen, sich <strong>ein</strong>e Auszeit/ Pausen gönnen, Zuwendung/<br />

Aufmerksamkeit aus der Umgebung erhalten, weniger „muss“/„soll“ etc. Manchmal<br />

erkennen die Patienten sogar, dass sie sich ohne Schmerz in unserer schnelllebigen Zeit im<br />

Berufsleben behaupten bzw. <strong>ein</strong>en Job suchen zu müssten oder k<strong>ein</strong>e Rente mehr zu erhalten<br />

würden. Genannte Faktoren legen nahe, dass die Biografie (nach Egle et. al, 2003 bei<br />

FM z. B. emotional instabile Beziehungen, Gewalterfahrungen, Missbrauch) entsprechende<br />

Verhaltensmuster und Kognitionen (z. B. nicht n<strong>ein</strong> sagen können, sich selbst nicht spüren,<br />

sich durchbeißen). Bei FM-Patienten ist das Leben oft durch Arbeit, Leistung und <strong>ein</strong>en allgem<strong>ein</strong><br />

perfektionistischen Persönlichkeitsstil geprägt. Böck (2003) beschreibt die typische<br />

Persönlichkeitsstruktur von FM-Patienten als „hyperaktiv, hyperperfekt, sehr leistungsmotiviert,<br />

ausgesprochen harmoniebedürftig, sozial überangepasst und nicht selten [als] in Helfer-Syndrom-Berufen<br />

tätig“. Sind den Patienten entsprechende Zusammenhänge bewusst,<br />

können alternative Möglichkeiten der Problemlösung und des Umgangs gesucht werden.<br />

Übergeordnetes Ziel ist, dass die Patienten erkennen, dass in der Krankheit <strong>ein</strong>e Chance auf<br />

positive Veränderungen liegen kann.<br />

Zum Thema operante Faktoren zählen noch zwei weitere Punkte: Zum <strong>ein</strong>en wird von uns<br />

Schmerzverhalten systematisch nicht beachtet und „schmerzkompatibles Verhalten [wird]<br />

systematisch verstärkt in der Absicht, die „gesunden“ Anteile der Person zu erweitern und ihr<br />

mehr Lebensfreude zu ermöglichen“ (Basler, Kröner-Herwig, 1998). Zum anderen haben wir<br />

festgestellt, dass unsere Patienten häufig erst dann <strong>ein</strong>e lange <strong>ein</strong>seitige Körperhaltung ändern,<br />

wenn der Schmerz entsprechend stark ist. Sie halten durch und beißen die Zähne zusammen.<br />

Deshalb sind in unseren <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halbstündigen Gruppensitzungen neben Entspannungsübungen<br />

auch regelmäßige Bewegungspausen (ca fünf Minuten) <strong>ein</strong>geplant. Häufig<br />

machen die Patienten die Erfahrung, dass sie so – also durch <strong>ein</strong> regelmäßiges und schmerzunabhängiges<br />

Verändern der Körperposition – schwere Verspannungen und Schmerzen<br />

lindern oder sogar verhindern können. Es wird den Patienten deutlich, dass selbst kl<strong>ein</strong>e<br />

Veränderungen, die <strong>ein</strong>es geringen zeitlichen Aufwands bedürfen, zu <strong>ein</strong>er Verbesserung<br />

ihrer Gesamtsituation beitragen können.<br />

106 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />

Neben der Teilnahme an der kognitiv-behavioralen Schmerzbewältigungsgruppe wird jeder<br />

Patient von <strong>ein</strong>em Schmerzpsychologen <strong>ein</strong>zeln betreut. Darauf soll an dieser Stelle nur kurz<br />

<strong>ein</strong>gegangen werden. In der Einzeltherapie werden neben der Abklärung von Schmerzchronifizierungsfaktoren<br />

wie bspw. Depression oder Angststörungen Inhalte des Gruppenprogramms<br />

individuell vertieft. Darüber hinaus werden fokale psychotherapeutische Interventionen<br />

mit dem Ziel durchgeführt, Ressourcen auszubauen und destruktive Bewältigungsmuster<br />

zu verändern.<br />

Bei den <strong>Fibromyalgie</strong>patienten mit häufig gestörter Propriozeption hat sich bei uns der Einsatz<br />

von Biofeedback (siehe auch Beitrag von Harrabi & Ruoß) bewährt, um die bewusste,<br />

adäquate Wahrnehmung körperlicher Vorgänge zu trainieren, das Einleiten von Entspannung<br />

und die Selbstkontrolle körperlicher Prozesse zu fördern. Auch kann mit Hilfe von Körpertherapie<br />

(z. B. Funktionelle Entspannung nach Marianne Fuchs) die Körperwahrnehmung<br />

gefördert werden.<br />

Den Abschluss des Workshops bildet neben <strong>ein</strong>er Genussübung <strong>ein</strong> Austausch der<br />

schmerztherapeutischen Erfahrungen der Workshopteilnehmer. Die Frage nach der Länge<br />

des Aufenthalts und der Zukunftsprognose wird diskutiert. Hierzu merken Blumenstiel und<br />

Eich (2003) an, dass für <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten <strong>ein</strong> stationärer Aufenthalt über <strong>ein</strong>en Zeitraum<br />

von vier bis zwölf Wochen für das Erreichen anhaltender Erfolge zu kurz s<strong>ein</strong> könnte.<br />

Als Alternative zu <strong>ein</strong>er das Gesundheitssystem stark belasteten halbjährigen Aufenthaltsdauer<br />

schlagen sie <strong>ein</strong>e „Auffrischungstherapie“ nach ca. <strong>ein</strong>em Jahr vor. Aus unserer Sicht<br />

können wir dies bestätigen und <strong>ein</strong>em solchen Vorschlag zustimmen. Zur Stabilisierung der<br />

bei uns erreichten Erfolge erweist sich häufig <strong>ein</strong>e längerfristige professionelle Begleitung als<br />

sinnvoll, und wir empfehlen den Patienten <strong>ein</strong>e weiterführende ambulante Psychotherapie.<br />

Literatur<br />

1. Basler HD, Kröner-Herwig B (1998): Psychologische Therapie bei Kopf- und Rückenschmerzen.<br />

München: Quintessenz, 2. Auflage<br />

2. Blumenstiel K, Bieber C, Eich W (2004): <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom. In: Basler HD, Franz C, Kröner-<br />

Herwig B, Rehfisch HP (Hrsg.): Psychologische Schmerztherapie. Berlin: Springer, 5.Aufl.: S. 439-<br />

450<br />

3. Blumenstiel K, Eich W (2003): Psychosomatische Aspekte in Diagnostik und Therapie der <strong>Fibromyalgie</strong>.<br />

Der Schmerz 6: 399-404<br />

4. Böck C (2003): Das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom. Faktum oder Fiktion? Extracta orthopaedica, Ausgabe<br />

10: 8-13<br />

5. Conrad I (2003): Diagnose und Klinik der <strong>Fibromyalgie</strong>. Der Schmerz 17: 464-474<br />

6. Egle U, Ecker-Egle M-L, Nickel R, v. Houdenhove B (2004): <strong>Fibromyalgie</strong> als Störung der zentralen<br />

Schmerz- und Stressverarbeitung – Ein neues biopsychosoziales Krankheitsmodell. Psychother<br />

Psych Med 54: 137-147.<br />

7. Häuser W, Hutschenreuter U, Vaterrodt T (2003): <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom. Fundierte Begutachtung<br />

aus schmerztherapeutischer Sicht. NeuroTransmitter 2: 56-62<br />

8. Informationsbroschüre der Deutschen <strong>Fibromyalgie</strong>-Ver<strong>ein</strong>igung (DFV) e. V. (2001), 1. Aufl.<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

107


Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />

9. Reddemann L (2002): Imagination als heilsame Kraft – Zur Behandlung von Traumafolgen mit<br />

ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart: Pfeffer bei Klett-Cotta, 6. Aufl.<br />

10. Turk DC (2004): Fibromyalgia: A Patient-Orientated Perspecitve. In: Dworkin RH, Breitbart WS<br />

(Eds.): Psychosocial Aspects of Pain: A Handbook for Health Care Providers. Seattle: IASP Press,<br />

pp. 309-338<br />

108 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

Effekte multimodaler Schmerztherapie bei chronischen Schmerzpatienten<br />

unter besonderer Berücksichtigung der <strong>Fibromyalgie</strong><br />

Ingo Haase, Klaus Klimczyk, Oliver Kuhnt, Manfred Ruoß<br />

1. Hintergrund und Fragestellung<br />

Das interdisziplinäre Schmerzzentrum an der m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> behandelt seit<br />

1999 Patienten mit chronischen Schmerzen (Chronifizierungsstadium II oder III nach Gerbershagen)<br />

im Rahmen <strong>ein</strong>es stationären Programms. Wesentliches Kennzeichen ist <strong>ein</strong>e<br />

multimodale interdisziplinäre Behandlung durch Ärzte, Psychologen und Therapeuten verschiedenster<br />

Fachrichtungen. Das Behandlungsteam setzt sich wie folgt zusammen:<br />

� Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen (Orthopädie, Anästhesie, Physikalische und<br />

Rehabilitative Medizin)<br />

� kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierte Psychologen<br />

� Physiotherapeuten unterschiedlicher Spezialisierung<br />

� Masseure<br />

� Ergotherapeut<br />

� Musiktherapeut, Tanztherapeut<br />

� spezialisiertes Pflegeteam<br />

� Sozial- und Rehaberater<br />

� Kreativtrainer<br />

Wichtigste Behandlungsziele sind die Reduzierung der Schmerzen, die Erhöhung der Lebensqualität<br />

und die aktive Bewältigung verbleibender Schmerzen. Verschiedene therapeutische<br />

Möglichkeiten stehen zur Verfügung:<br />

� Aufklärung und Beratung über die individuelle Erkrankung, <strong>ein</strong>schl. Differenzierung somatischer<br />

und psychosomatischer Anteile<br />

� Injektionstherapie in größter Bandbreite (Triggerpunkte, TLA, interventionell)<br />

� medikamentöse Schmerztherapie<br />

� psychologische Einzeltherapie (individuelle Analyse psychosozialer Faktoren der<br />

Schmerzchronifizierung, Initiierung <strong>ein</strong>er psychologischen Therapie)<br />

� psychologische Gruppentherapie zur Schmerzbewältigung (Wissensvermittlung, Entspannung,<br />

Stressbewältigung, Verhaltensanalyse etc.)<br />

� aktivierende physikalische Therapie wie insbesondere spezialisierte Krankengymnastik,<br />

Massage, Ergotherapie und medizinische Trainingstherapie<br />

� Musiktherapie, Tanztherapie<br />

� Genuss-, Kreativ- und Terraintraining<br />

� therapeutisch begleiteter Freizeit und Abendausflug<br />

� alternative Verfahren wie Akupunktur, Chirotherapie, Arlen, Schröpfen u.s.w.<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

109


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

Besondere Behandlungsschwerpunkte des Interdisziplinären Schmerzzentrums sind chronische<br />

Wirbelsäulenschmerzsyndrome nach Bandscheiben- und sonstigen Wirbelsäulenoperationen,<br />

aber auch anderer Ursachen. In den letzten Jahren wurden zudem immer wieder –<br />

und mit steigender Tendenz – Patienten mit der Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> behandelt, die als<br />

besonders schwer therapierbar gelten.<br />

<strong>Fibromyalgie</strong> oder Faser-Muskel-Schmerz (FM) ist <strong>ein</strong>e chronische, nicht-entzündliche Erkrankung,<br />

die durch ausgedehnte starke Schmerzen in der Muskulatur und den Sehnenansätzen<br />

sowie erhöhte Empfindlichkeit an bestimmten Schmerzdruckpunkten (sog. „Tender-<br />

Points“) charakterisiert und nach bisherigem Wissensstand nicht <strong>ein</strong>deutig psychisch bedingt<br />

ist. Menschen, die an dieser Erkrankung leiden, berichten oft auch über Schlafstörungen,<br />

Müdigkeit, Morgensteifigkeit, Symptome <strong>ein</strong>es Colon Irritabile und zahlreiche andere Symptome.<br />

Zu Definition, Ursachen und Behandlungsansätzen der <strong>Fibromyalgie</strong> vergleiche neben<br />

der <strong>ein</strong>schlägigen Literatur [1 – 26] auch die anderen Beiträge in diesem Band.<br />

Mit der vorliegenden Untersuchung sollten Antworten auf die Frage gefunden werden, welchen<br />

mittelfristigen Effekt die hier dargestellte stationäre Behandlung bei Schmerzpatienten<br />

mit und ohne <strong>Fibromyalgie</strong> erzielen kann.<br />

2. Methodik<br />

Es wurde <strong>ein</strong>e Sekundäranalyse <strong>ein</strong>er Verlaufsbeobachtung mit drei Messzeitpunkten von<br />

ehemaligen Patienten des Schmerzzentrums durchgeführt. Zwischen Oktober 2002 und<br />

März 2003 wurden 181 im Schmerzzentrum behandelte Patienten, darunter 17 Patienten mit<br />

der Haupt- oder Nebendiagnose <strong>Fibromyalgie</strong>, vor Aufnahme, bei Entlassung sowie sechs<br />

Monate nach Entlassung mit dem Schmerzfragebogen der Deutschen Gesellschaft zum Studium<br />

des Schmerzes (DGSS) schriftlich befragt (Prä-Post-Design ohne Vergleichsgruppe).<br />

Wesentliche Zielgrößen waren Schmerzintensität, Be<strong>ein</strong>trächtigung durch Schmerzen, Depression<br />

und verschiedene Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Diese<br />

Zielgrößen wurden durch die folgenden Messinstrumente – die alle im DGSS-Fragebogen für<br />

Schmerzpatienten enthalten sind – operationalisiert:<br />

� Schmerzstärke: Numerische Ratingskalen [27]<br />

� Be<strong>ein</strong>trächtigung durch Schmerzen: Pain Disability Index – PDI [28]<br />

� Depression: Allgem<strong>ein</strong>e Depressions Skala – ADS [29]<br />

� Aspekte der Lebensqualität: SF-36 – Fragebogen zum Gesundheitszustand [30]<br />

Von der Analyse ausgeschlossen wurden Patienten mit <strong>ein</strong>er Aufenthaltsdauer von weniger<br />

als 16 Tagen oder ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Bei Wiederholungsaufenthalten<br />

im Beobachtungszeitraum wurde jeweils nur der erste Aufenthalt berücksichtigt.<br />

Aufgrund des explorativen Charakters der Untersuchung und der geringen Zahl der <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten<br />

wird auf die Darstellung von Signifikanzen verzichtet. Zur besseren Ver-<br />

110 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

gleichbarkeit der Therapieerfolge bei den Patienten in stationärer Schmerztherapie mit und<br />

ohne <strong>Fibromyalgie</strong> wurden statt dessen die sog. Effektstärken herangezogen. Effektstärken<br />

sind deskriptive, dimensionslose Kennwerte, die im Fall <strong>ein</strong>es Mittelwertvergleichs die Mittelwertdifferenz<br />

in Standardabweichungs<strong>ein</strong>heiten ausdrücken [31]. In der vorliegenden Analyse<br />

wurde für die beiden Untersuchungsgruppen hinsichtlich der interessierenden Variablen<br />

jeweils die Prä-Post-Effektstärke unter Verwendung der Standardabweichung des Gesamtkollektivs<br />

bei Aufnahme errechnet.<br />

3. Ergebnisse<br />

Sechs Monate nach Entlassung aus der stationären Schmerzbehandlung antworteten 124<br />

Patienten (Rücklaufquote: 69%), darunter 9 <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten. Die <strong>Fibromyalgie</strong> Patientinnen<br />

waren alle weiblichen Geschlechts. Höchster Schulabschluss war bis auf <strong>ein</strong>e Ausnahme<br />

der Hauptschulabschluss. In der Gruppe der sonstigen chronischen Schmerzpatienten<br />

waren Männer und Frauen annährend gleich stark vertreten und 34% wiesen <strong>ein</strong>en höheren<br />

als den Hauptschulabschluss auf. K<strong>ein</strong>e auffälligen Unterschiede zwischen beiden<br />

Gruppen zeigten sich hinsichtlich Alter und Dauer der Schmerzproblematik (s. Tab. 1).<br />

Chron. Schmerz (N = 115) <strong>Fibromyalgie</strong> (N = 9)<br />

Geschlecht 59/115 (51%) Frauen 9/9 Frauen<br />

Alter 52,2 Jahre (20 – 79) 55,6 Jahre (43 – 63)<br />

Schulabschluss bis Hauptschule: 73/111 (66%) bis Hauptschule: 8/9<br />

Schmerzdauer 8,2 Jahre (SD = 9,1) 7,8 Jahre (SD = 9,3)<br />

Tab. 1: Patientenchrakteristika<br />

Die Schmerzstärke wird im verwendeten DGSS-Fragebogen durch 11-stufige numerische<br />

Ratingskalen erfasst. Nach Jensen et al. [27] ist das arithmetische Mittel aus den Angaben<br />

zu „geringstem“ und „durchschnittlichem“ Schmerz das valideste Maß für den aktuellen<br />

Durchschnittsschmerz <strong>ein</strong>es Patienten. So definiert ergibt sich für das untersuchte Kollektiv<br />

<strong>ein</strong> deutlicher Rückgang der Schmerzintensität, der allerdings für die <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten<br />

etwas geringer ausfällt (s. Abb. 1).<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

111


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

Intensität (max. = 10)<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

6,9<br />

6,1<br />

5,9<br />

4,4<br />

vorher (T1) Entlassung<br />

(T2)<br />

Abb. 1: Schmerzstärke (Mittelwert aus den Patientenangaben zu durchschnittlichem und geringstem<br />

Schmerz, bezogen auf die jeweils letzten vier Wochen)<br />

Im Vergleich mit dem Zeitpunkt vor Aufnahme wiesen die Hälfte (58/112) der sonstigen<br />

Schmerz-Patienten und immerhin drei von neun <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten auch nach sechs<br />

Monaten noch <strong>ein</strong>e als klinisch bedeutsam geltende Reduktion ihrer Schmerzstärke [35] um<br />

mindestens 30% auf (s. Abb. 2).<br />

100%<br />

80%<br />

60%<br />

40%<br />

20%<br />

0%<br />

25 2<br />

29<br />

58<br />

Abb. 2: Bewertung der Veränderung der Schmerzstärke (sechs Monate nach Entlassung)<br />

112 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

5,5<br />

4,4<br />

nach 6 Mon.<br />

(T3)<br />

chron. Schmerz <strong>Fibromyalgie</strong><br />

4<br />

3<br />

<strong>Fibromyalgie</strong><br />

chron. Schmerz<br />

unverändert oder<br />

verschlechtert<br />

mäßig reduziert (5%<br />

- 30%)<br />

klinisch relevant<br />

reduziert (>30%)


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

Mit der Reduktion der Schmerzstärke <strong>ein</strong>her geht <strong>ein</strong>e Verminderung der Be<strong>ein</strong>trächtigung<br />

durch die Schmerzen im alltäglichen Leben. Der durchschnittliche Summenscore des Pain<br />

Disability Index (PDI), der das Ausmaß der Be<strong>ein</strong>trächtigung durch die Schmerzen im alltäglichen<br />

Leben auf <strong>ein</strong>er Skala von 0 bis 70 abbildet, verringerte sich nachhaltig, bei den<br />

<strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten allerdings nur geringfügig (s. Abb. 3).<br />

Max. = 70<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

47,3<br />

41,5<br />

43,9<br />

31,9<br />

vorher (T1) nach 6 Mon. (T3)<br />

Abb. 3: Be<strong>ein</strong>trächtigung durch den Schmerz, gemessen mit dem PDI (0 = k<strong>ein</strong>e Be<strong>ein</strong>trächtigung)<br />

Bekannt bei chronischen Schmerzpatienten ist die häufige Komorbidität im psychischen Bereich,<br />

insbesondere das Vorkommen von depressiven Störungen. Unter Verwendung der<br />

Allgem<strong>ein</strong>en Depressionsskala (ADS) bestand bei zwei Drittel des Gesamtkollektivs bei Aufnahme<br />

<strong>ein</strong> Verdacht auf <strong>ein</strong>e ernsthafte depressive Störung. Dieser Anteil konnte im Laufe<br />

der stationären Behandlung bei der Gruppe ohne <strong>Fibromyalgie</strong> auf <strong>ein</strong> Drittel reduziert werden;<br />

die neun <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten wurden sogar alle ohne Depressionsverdacht entlassen.<br />

Auffällig ist, dass dieser Erfolg der stationären Behandlung im Nachbeobachtungszeitraum<br />

nicht stabil blieb: nach sechs Montaen war der ADS-Score in bei acht von neun Patienten<br />

mit <strong>Fibromyalgie</strong> wieder auffällig erhöht (s. Abb. 4).<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

<strong>Fibromyalgie</strong><br />

chron. Schmerz<br />

113


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

%<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

78<br />

65<br />

Abb. 4: Verdacht auf depressive Störung (ADS-Score > 23 Punkte)<br />

0<br />

35<br />

vorher (T1) Entlassung<br />

(T2)<br />

Als Instrument zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität unterscheidet der<br />

SF-36 acht Subskalen. Im Unterschied zu den bisher betrachteten Kenngrößen bedeutet im<br />

SF-36 <strong>ein</strong> höherer Wert auch <strong>ein</strong>e bessere Lebensqualität. Die Abbildungen 5 und 6 stellen<br />

die Ergebnisse für die Subskalen „körperliche Funktionsfähigkeit“ und „soziale Funktionsfähigkeit“<br />

dar. In beiden Summenskalen können deutliche Fortschritte ausgemacht werden, die<br />

im sozialen Bereich für die <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten etwas schwächer ausfallen.<br />

Chronische Schmerzpatienten ohne <strong>Fibromyalgie</strong> erreichen – bezogen auf den Zeitpunkt<br />

sechs Monate nach Entlassung – mit <strong>ein</strong>er Ausnahme mittlere bis große Effekte in den betrachteten<br />

Zielgrößen (Abb. 7 und 8). Lediglich in der Subskala „emotionale Rollenfunktion“<br />

des SF-36 ist <strong>ein</strong> nur kl<strong>ein</strong>er Effekt zu verzeichnen. Bei den <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten zeigen<br />

sich in der numerischen Schmerz-Ratingskala, der Depressionsskala und vier Subskalen des<br />

SF-36 ähnlich gute Effekte. Deutlich schlechter schneiden sie hinsichtlich der „Be<strong>ein</strong>trächtigung<br />

durch die Schmerzen“, der „sozialen Funktionsfähigkeit“ und insbesondere der „körperlichen<br />

Rollenfunktion“ ab.<br />

114 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

67<br />

49<br />

nach 6 Mon.<br />

(T3)<br />

<strong>Fibromyalgie</strong><br />

chron. Schmerz


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

Max. = 100<br />

Abb. 5: SF-36-Subskala „körperlichen Funktionsfähigkeit“ (100 = maximale Funktionsfähigkeit)<br />

Max. = 100<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

40,9<br />

20,7<br />

41,2<br />

33,3<br />

Abb. 6: SF-36-Subskala „soziale Funktionsfähigkeit“ (100 = maximale Funktionsfähigkeit)<br />

57<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

51,1<br />

31,7<br />

vorher (T1) nach 6 Mon. (T3)<br />

42,2<br />

vorher (T1) nach 6 Mon. (T3)<br />

<strong>Fibromyalgie</strong><br />

chron. Schmerz<br />

<strong>Fibromyalgie</strong><br />

chron. Schmerz<br />

115


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

116 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum


I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />

4. Zusammenfassung und Diskussion<br />

Ziel unserer explorativen Pilotstudie war es, die Effektivität der Behandlung an <strong>ein</strong>em interdisziplinären<br />

und multimodal ausgerichteten Schmerzzentrum zu untersuchen, in dem auch<br />

Patienten mit <strong>Fibromyalgie</strong> behandelt werden. Dazu wurden 122 Patienten vor Aufnahme,<br />

bei Entlassung und nach sechs Monaten schriftlich befragt.<br />

Die Ergebnisse zeigen, das <strong>ein</strong>e interdisziplinäre und multimodale Schmerzbehandlung, wie<br />

sie in der m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> angeboten wird, nachhaltig wirksam ist. Es deutet sich<br />

an, dass dies in den unmittelbar krankheitsbezogenen Dimensionen auch für Schmerzpatienten<br />

mit der Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> gilt. <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten sch<strong>ein</strong>en dagegen weniger im<br />

Bereich der Be<strong>ein</strong>trächtigungen von Aktivität und Teilhabe zu profitieren. Wichtig ist, an dieser<br />

Stelle anzumerken, dass die Ergebnisse der <strong>Fibromyalgie</strong>-Gruppe aufgrund der geringen<br />

Fallzahl lediglich als Tendenzen interpretiert werden sollten. Hier bedarf es weiterer Studien,<br />

die die Effekte spezieller Schmerzbehandlung für diese Patientengruppe untersuchen. Ebenfalls<br />

ist weiter zu prüfen, von welchen Therapiebaust<strong>ein</strong>en <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten am meisten<br />

profitieren und inwieweit sich die erzielten stationären Behandlungseffekte durch <strong>ein</strong> adäquates<br />

Weiterbehandlungskonzept stabilisieren oder sogar noch verbessern lassen.<br />

Bisher vorliegende Arbeiten über die Be<strong>ein</strong>flussung des Schmerzbildes [1 – 26] beschreiben<br />

neben der Wirksamkeit <strong>ein</strong>iger pharmakologischer Präparate vornehmlich die Effektivität<br />

körperlicher Bewegung. Erfolgversprechend sind nachgewiesenerweise psychologische Therapiemaßnahmen<br />

und Entspannungsverfahren. Ein adäquates Behandlungskonzept muss<br />

demnach auf <strong>ein</strong>em multimodalen Therapieansatz basieren, wie er idealtypisch insbesondere<br />

stationär realisiert werden kann. Arzt, Physio- bzw. Bewegungstherapeut, Psychologe,<br />

andere Mitbehandler und Patient müssen jeweils <strong>ein</strong>e aktive Rolle in der <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />

Bewältigung spielen. Zielführend ist <strong>ein</strong> bio-psycho-soziales Krankheitsmodell (im Unterschied<br />

zum primär bio-medizinischen Krankheitsmodell in der fachspezifischen kurativen<br />

Versorgung).<br />

Die Behandlung der <strong>Fibromyalgie</strong> erfordert somit <strong>ein</strong> umfassendes Behandlungskonzept, das<br />

das interdisziplinäre Zusammenwirken verschiedener medizinischer Fachgebiete mit dem<br />

Ziel b<strong>ein</strong>haltet, dem Kranken neben der allgem<strong>ein</strong>en Schmerzreduktion die aktive Bewältigung<br />

s<strong>ein</strong>er verbleibenden Schmerzen zu ermöglichen und ihn bei der R<strong>ein</strong>tegration in s<strong>ein</strong>en<br />

Beruf und s<strong>ein</strong> soziales Umfeld zu unterstützen. Dies geschieht multidimensional (Ganzheitsansatz),<br />

wobei insbesondere das Erkennen und Vermeiden von Auslöse- und<br />

Verstärkermechanismen erarbeitet werden sollen. Die m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> erarbeitet<br />

zur Zeit <strong>ein</strong> entsprechendes Konzept, mit dem den besonderen Anforderungen an die Therapie<br />

der <strong>Fibromyalgie</strong> Rechung getragen werden soll.<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

117


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Verzeichnis der Autoren<br />

Verzeichnis der Autoren<br />

H<strong>ein</strong>z-Dieter Basler, Prof. Dr. phil. Dr. med. habil.<br />

Institut für Medizinische Psychologie<br />

Universität Marburg<br />

basler@mailer.uni-marburg.de<br />

Thorsten Böing, Dipl.-Sportl., Sporttherapeut DVGS<br />

Abt. Sporttherapie<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />

thorsten.bo<strong>ein</strong>g@fachklinik-enzensberg.de<br />

Ingomar Conrad, Dr. med.<br />

Schmerzambulanz<br />

Medizinische Hochschule Hannover<br />

conrad.ingomar@mh-hannover.de<br />

Ingo Haase, Dr. phil.<br />

Forschung und Qualitätssicherung<br />

m&i-<strong>Klinikgruppe</strong> <strong>Enzensberg</strong><br />

ingo.haase@enzensberg.de<br />

Winfried Häuser, Dr. med.<br />

Zentrum für Schmerztherapie<br />

Klinikum Saarbrücken gGmbH<br />

whaeuser@klinikum-saarbruecken.de<br />

Kerstin Harrabi, Dipl.-Psych.<br />

Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />

kerstin.harrabi@fachklinik-enzensberg.de<br />

Wolfgang Hausotter, Dr. med.<br />

Facharzt für Neurologie und Pschiatrie<br />

Sonthofen<br />

Wolfgang.Hausotter@t-online.de<br />

Klaus Klimczyk, Dr. med.<br />

Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />

klaus.klimczyk@fachklinik-enzensberg.de<br />

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Verzeichnis der Autoren<br />

Oliver Kuhnt, Dr. phil., Dipl.-Psych.<br />

Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />

oliver.kuhnt@fachklinik-enzensberg.de<br />

Dirk Kreuzer, Dipl.-Kulturpäd./Musiktherapeut<br />

Musiktherapeutische Praxis<br />

Immenstadt<br />

mtpraxis@musiktherapy.net<br />

Stefan Lautenbacher, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych.<br />

Psychologische Psychologie<br />

Universität Bamberg<br />

Stefan.Lautenbacher@ppp.uni-bamberg.de<br />

Beatrix Linke, Dipl.-Psych.<br />

Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />

beatrix.linke@fachklinik-enzensberg.de<br />

Siegfried Mense, Prof. Dr. med.<br />

Institut für Anatomie und Zellbiologie<br />

Universität Heidelberg<br />

mense@urz.uni-heidelberg.de<br />

Manfred Ruoß, Priv.-Doz. Dr. phil., Dipl.-Psych.<br />

Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />

m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />

manfred.ruoss@fachklinik-enzensberg.de<br />

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121


Fachklinik<br />

<strong>Enzensberg</strong><br />

Höhenstraße 56<br />

87629 Hopfen am See/Füssen<br />

Telefon 08362-12-0<br />

Telefax 08362-12-3070<br />

info@fachklinik-enzensberg.de<br />

www.fachklinik-enzensberg.de<br />

Kostenloses Service-Telefon: 08 00-718 19 11

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