Fibromyalgie â endlich ein Ausweg - m&i-Klinikgruppe Enzensberg
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Klaus Klimczyk · Manfred Ruoß · Ingo Haase (Hrsg.)<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>endlich</strong> <strong>ein</strong> <strong>Ausweg</strong><br />
Fachklinik<br />
<strong>Enzensberg</strong>
© m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />
1. Auflage 500 | 9.2006≠<br />
Nachdruck, auch auszugweise, ohne ausdrückliche Genehmigung der Klinik nicht gestattet.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Vorwort<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
Ingomar Conrad<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
Winfried Häuser<br />
Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
Siegfried Mense<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />
Stefan Lautenbacher<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
H<strong>ein</strong>z-Dieter Basler<br />
Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Wolfgang Hausotter<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
Thorsten Böing<br />
Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
Dirk Kreuzer<br />
Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
Manfred Ruoß und Kerstin Harrabi<br />
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Inhaltsverzeichnis<br />
Kognitiv-behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm bei chronischen Schmerzen und<br />
<strong>Fibromyalgie</strong><br />
Oliver Kuhnt und Beatrix Linke<br />
Effekte multimodaler Schmerztherapie bei chronischen Schmerzpatienten unter besonderer<br />
Berücksichtigung der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Ingo Haase, Klaus Klimczyk, Oliver Kuhnt und Manfred Ruoß<br />
Verzeichnis der Autoren<br />
3
Klaus Klimczyk Vorwort<br />
Der Weg ist das Ziel<br />
LAOTSE<br />
Vorwort<br />
Es gibt wohl nur wenige Krankheiten, die so kontrovers diskutiert werden, wie die <strong>Fibromyalgie</strong>.<br />
Ist es <strong>ein</strong>e körperliche oder <strong>ein</strong>e seelische Erkrankung? Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen<br />
diesen Polen: Mal mehr körperlich, mal mehr psychosomatisch. Ebenso breit gefächert<br />
sind die Behandlungsvorschläge. Nachgewiesenermaßen erfolgreich sind ausschließlich<br />
multimodale und interdisziplinäre Behandlungskonzepte.<br />
Das Dilemma der Erkrankung <strong>Fibromyalgie</strong> drückt sich im Schmerz aus. Schmerz hat viele<br />
Facetten, in der deutschen Sprache gibt es jedoch nur <strong>ein</strong> Wort dafür. Die alten Griechen<br />
kannten mindestens fünf Wörter für Schmerz:<br />
• Achos für angstgebundenen Schmerz,<br />
• Algos für mit Kälte verbundenen Schmerz,<br />
• Odyne für Zahnschmerz,<br />
• Ponos, den Schmerz extremer Erschöpfung und<br />
• Kedos, den Schmerz über den Verlust <strong>ein</strong>er geliebten Person.<br />
Die Chinesen sollen sogar über 100 verschiedene Worte für unterschiedliche Schmerzen<br />
kennen!?<br />
Wie würden wohl die <strong>Fibromyalgie</strong>-Kranken der alten Griechen oder der Chinesen ihren<br />
Schmerz ausdrücken? Bemerkenswert dabei ist, dass dieses Krankheitsbild in der Antike<br />
unbekannt war und auch heutzutage in China noch nicht diagnostiziert wird. Ein Phänomen<br />
des spätindustriellen Zeitalters?<br />
Der vorliegenden Band basiert auf Beiträgen für die 3. <strong>Enzensberg</strong>er Schmerztage, die im<br />
November 2004 in Hopfen am See bei Füssen stattfanden. Der Titel der Tagung und des<br />
vorliegenden Tagungsbandes – „<strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>endlich</strong> <strong>ein</strong> <strong>Ausweg</strong>!“ – ist ganz bewusst so<br />
gewählt worden, da es nach Ansicht der Herausgeber für jeden dieser Kranken <strong>ein</strong>en individuellen<br />
(Aus-)Weg gibt. Finden und gehen muss ihn der Kranke selber, wir helfen ihm dabei.<br />
Klaus Klimczyk<br />
4 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> –<br />
<strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
Ingomar Conrad<br />
1. Einleitung: gegenwärtige Schwierigkeiten mit dem Begriff <strong>Fibromyalgie</strong><br />
1.1 Eine kurze Antwort vorweg: Der Beschwerdekomplex "<strong>Fibromyalgie</strong>" ersch<strong>ein</strong>t als<br />
<strong>ein</strong>e Erkrankung des Bewegungssystems<br />
Beschwerden werden von den betroffenen Patientinnen und Patienten (ca. im Verhältnis 6:1)<br />
als körperliche Schmerzen und Schmerzhaftigkeit im Bereich des Bewegungssystems erlebt;<br />
dafür ist auf konservativem Gebiet die Rheumatologie zuständig. Also ließe sich kurz sagen:<br />
der Beschwerdenkomplex <strong>Fibromyalgie</strong> (im Folgenden kurz FM genannt) ist dem Gebiet<br />
Rheumatologie zuzuordnen. Außer Frage steht, dass die betroffenen Patienten fast ausnahmslos<br />
ihre Schmerzen als körperlich im Bereich des Bewegungssystems erleben und<br />
deshalb <strong>ein</strong>e entsprechende Disziplin aufsuchen, die eben die Orthopädie oder die Rheumatologie<br />
ist. Ob die FM jedoch <strong>ein</strong>e rheumatologische Erkrankung im eigentlichen Sinne ist,<br />
das heißt <strong>ein</strong>e Entität darstellt, die diesem Gebiet zuzuordnen ist, steht in der Diskussion.<br />
1.2 Das Verständnis von Schmerz bestimmt das Verständnis der FM<br />
Die Bewertung der Schmerzen als Symptom der FM hängt davon ab, wie wir in unserem<br />
nosologischen Denken die Schmerzen sehen: ob als subjektives psychophysisches Korrelat<br />
<strong>ein</strong>er Organpathologie (incl. <strong>ein</strong>er Functio laesa) oder als Ersch<strong>ein</strong>ung <strong>ein</strong>er Erlebniswelt, in<br />
der der persönlich erlebte Schmerz mehr als nur <strong>ein</strong>e auswechselbare psychophysische Tatsache<br />
ist: Da Ersteres der Fall ist (historisch bedingt durch die naturwissenschaftliche Ausrichtung<br />
der Medizin), untersuchen wir mit „objektiven“ Verfahren, um den Beschwerden bei<br />
der FM als <strong>ein</strong>em krankhaften Geschehen beizukommen, um dieses dann <strong>ein</strong>em Krankheitsbegriff<br />
zuordnen zu können, der <strong>ein</strong>e Entität darstellen würde. Diese „Objektivierung“<br />
stellt in der praktischen Medizin jedoch <strong>ein</strong>en Idealfall dar!<br />
Das Ärztliche Verstehen des Patienten weicht dennoch von dem r<strong>ein</strong>en Objektivismus ab:<br />
Die individuelle Wirklichkeit des Patienten ist maßgeblich für das ärztliche Verstehen. Ärztliche<br />
Diagnostik heißt schlechthin, von dem spezifisch Krankmachenden der <strong>ein</strong>zelnen Person<br />
das prinzipiell Krankmachende zu abstrahieren, die Diagnostik der FM im Besonderen<br />
ist also der Vorgang, dass der Arzt aus dem Verstehen der individuellen Wirklichkeit des Patienten<br />
zum Erkennen des spezifisch Krankmachenden gelangt, welches sich in den Symptomen<br />
der FM äußert. Das muss mehr s<strong>ein</strong> als nur das Erfassen von Symptomen des Be-<br />
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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
wegungssystems auf der phänomenologischen Ebene selbst, ansonsten wäre das „Nur-<br />
Anders-Benennen“ des phänomenologisch Erfassten <strong>ein</strong>e Tautologie.<br />
1.3 Der Begriff <strong>Fibromyalgie</strong> stellt k<strong>ein</strong>e nosologische Entität dar<br />
Die Problematik in der klinischen Anwendung der Kriterien liegt darin begründet, dass der<br />
Begriff FM k<strong>ein</strong>e Entität darstellt, und dass die Fachkollegen des American College of<br />
Rheumatology (ACR), die diese Kriterien formuliert haben, k<strong>ein</strong>en neuen Krankheitsbegriff<br />
haben schaffen wollen, sondern mit der Bezeichnung <strong>ein</strong>e Abgrenzung des Symptomenkomplexes<br />
zum Zwecke wissenschaftlicher Zielsetzungen geprägt haben.<br />
Die Kriterien des ACR von 1990 (1) definieren FM als Muskel-Skelett-Schmerz, der über<br />
mehr als drei Monate andauert, im Körper weitverteilt bis diffus auftritt, das heißt:<br />
• Schmerz im Achsenorgan und<br />
• in mindestens <strong>ein</strong>er Gliedmaße oder<br />
• Schmerz in <strong>ein</strong>er Körperhälfte oder<br />
• Schmerz ober- oder unterhalb der Taille,<br />
nichtentzündlich ist ohne Gelenkbefall vorkommt (röntgenologisch und serologisch k<strong>ein</strong>e<br />
Arthritiszeichen).<br />
Bei der Anwendung dieser Kriterien hat sich der wissenschaftlich und praktisch klinisch<br />
Tätige folgende fünf Probleme zu vergegenwärtigen:<br />
1. Die ACR-Klassifikationskriterien der FM sind finalistischer Natur:<br />
2. Die Art der ACR-Klassifikationskriterien sind k<strong>ein</strong>e diagnostischen Kategorien;<br />
3. der Umfang der Kriterien umfasst nur organische Parameter, <strong>ein</strong>e weiter umfassende<br />
Sichtweise mit Einschluss psychischer und sozialer Faktoren fehlt;<br />
4. sie sind deskriptiv, geben k<strong>ein</strong>e pathogenetischen Hinweise;<br />
5. es bestehen unter den mit diesen Kriterien klassifizierten Patienten heterogene Gruppen<br />
mit unterschiedlichen Problemschwerpunkten und -ursachen.<br />
Der Begriff „<strong>Fibromyalgie</strong>“ kann dazu dienen, <strong>ein</strong>e bessere Verständigung über den Symptomenkomplex<br />
zu ermöglichen, darf aber nicht dazu führen, den Begriff mit <strong>ein</strong>em Krankheitsbegriff<br />
von diagnostischem Wert gleichzusetzen.<br />
Es ist bei dieser Sachlage nicht verwunderlich, dass es zu kontroversen Ansichten um den<br />
Symptomenkomplex FM kommt. Konstruktiver in dieser Kontroverse ist weniger die Diskussion<br />
um die phänomenologischen Symptome der FM, als vielmehr gerade die paradigmatische<br />
Untersuchung, worin diese Kontroversen bestehen. Dazu ist es unumgänglich, die Argumente<br />
der Befürworter und Gegner des Begriffes zu hören.<br />
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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
Die Unzulänglichkeiten des Begriffes „<strong>Fibromyalgie</strong>“ (1) und deren Konsequenzen für die<br />
praktisch klinische Tätigkeit liegen in der mangelnde Konsistenz in der Objektivierbarkeit der<br />
FM durch:<br />
• fehlende Röntgenbefunde<br />
• normale Laborwerte<br />
• unspezifische vegetative Beschwerden<br />
• psychische Auffälligkeiten/Komorbidität; folglich:<br />
• kontroverse Beurteilung in der Bewertung des Krankheitsbildes mit<br />
• negativen Auswirkungen auf die Qualität der Krankenversorgung,<br />
• die „Richtigkeit“ der Begutachtung und die<br />
• Rehabilitationschancen der Betroffenen<br />
2. Aktuelle Statements zur FM<br />
Zur Einstimmung auf die gegenwärtige Aus<strong>ein</strong>andersetzung um den Begriff FM seien <strong>ein</strong>ige<br />
charakteristische Statements von amerikanischen und europäischen Spezialisten genannt,<br />
die die Bandbreite unüberbrückbar sch<strong>ein</strong>ender Gegesätze zeigt. Die Auswahl ist absichtlich<br />
pointiert und spiegelt in ihrer Polarisierung die weit aus<strong>ein</strong>ander liegenden Auffassungen<br />
über die FM wider:<br />
Ehrlich: “The sooner we abandon FM as a diagnosis and treat the very real physical and<br />
psychological Symptoms that characterize chronic pain, the better off we and the patients will<br />
be.” (2)<br />
Houdenhove: "New and integrative sciences will bridge the gap between biological and psychological<br />
factors in FM and further elucidate the impact of 'the Story of the body’." (3)<br />
Goldenberg: "FM patients represent a uniform set of Symptoms and signs." (4)<br />
Wolfe: “FM will always be with us ... regardless of what name the syndrome has". (5)<br />
3. Diagnostische Rahmen für die Symptomatologie der FM<br />
3.1 FM – <strong>ein</strong> diagnostisches oder <strong>ein</strong> Strukturproblem?<br />
Die FM steht geradezu paradigmatisch dafür, dass das Verständnis von Schmerz nur auf der<br />
phänomenologisch-somatischen Ebene des Bewegungssystems nicht „ins Schwarze“ trifft.<br />
Die Diskrepanz zwischen dem subjektiven Erleben der Beschwerden und dem Fehlen korrelierender<br />
Befunde wird eher als <strong>ein</strong> Makel objektiver Erkennungsmöglichkeiten gesehen, als<br />
<strong>ein</strong> „Noch-nicht-Erkanntes“, dessen Enthüllung nur <strong>ein</strong>e Frage der Zeit sei. Innerhalb der<br />
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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
somatisch orientierten Medizin wird diese Diskrepanz nicht hinterfragt als Möglichkeit <strong>ein</strong>er<br />
Auswirkung von Antinomien – speziell als nicht richtig erkennbare Wechselwirkung zwischen<br />
dem Geistig-seelischen und dem Körperlichen innerhalb <strong>ein</strong>es verfälschenden Reduktionismus.<br />
Trotzdem besteht Konsens darin, die betroffenen Patienten in <strong>ein</strong>er ganzheitlichen<br />
Sichtweise, sowohl auf der geistig-seelischen als auch auf der körperlichen Ebene wahrzunehmen<br />
und zu behandeln.<br />
3.2 Der bio-psycho-soziale Rahmen der FM<br />
Die intern fachliche Aus<strong>ein</strong>andersetzung um das Krankheitsbild FM gipfelt in dem Gegensatz,<br />
dass der Begriff FM <strong>ein</strong>erseits kategorisch abgelehnt wird und als Sonderform <strong>ein</strong>er<br />
depressiven oder somatoformen Störung bzw. Somatisierungsstörung gesehen wird und auf<br />
der anderen Seite für die FM die Anerkennung als eigenständiges Krankheitsbild des Bewegungssystems<br />
propagiert wird. Die heuristische Frage dafür lautet:<br />
• Sind die Schmerzen Folge <strong>ein</strong>es noch nicht näher bekannten Prozesses im Bereich der<br />
Muskulatur, der Nerven, oder der zwischen Gelenken und Muskulatur befindlichen<br />
Weichteilen,<br />
• oder sind die Schmerzen in <strong>ein</strong>em anderen Kontext zu sehen und zu beurteilen, der sich<br />
der Zuordnung zu <strong>ein</strong>em bestimmten Fachgebiet entzieht?<br />
Die alternative Antwort kann lauten: Wäre Ersteres der Fall, könnte im bio-psycho-sozialen<br />
Modell das FM-Problem innerhalb der Ebenen der Gewebe und Organsysteme gelöst werden,<br />
wäre das Letztere zutreffend, wäre der diagnostische (und therapeutische) Rahmen mit<br />
entsprechenden Konsequenzen weiter zu fassen (s. Abb 1).<br />
Falsch an dieser Alternative ist jedoch die „Oder“-Verknüpfung: es ist nicht auszuschließen,<br />
dass bei der FM beide Aussagen zutreffen, d. h. dass bei der FM sowohl<br />
• <strong>ein</strong> noch nicht näher bekannter Prozess im Bewegungssystem zu Grunde liegt, und<br />
• außerdem <strong>ein</strong>e über das r<strong>ein</strong> Somatische hinausgehende Problematik besteht.<br />
Bei der aktuellen Erkenntnislage zur FM ergibt sich somit zwingend die Erfordernis <strong>ein</strong>es<br />
entsprechend weit gefassten Rahmens innerhalb der in Abb. 1 gezeigten Strukturhierarchie<br />
zur Diagnostik und Therapie der FM. Der paradigmatische Rahmen der FM ist – notwendig –<br />
<strong>ein</strong> bio-psycho-sozialer.<br />
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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
Organsysteme<br />
Organe<br />
Gewebe<br />
Zellen<br />
Moleküle<br />
Atomare Struktur<br />
Abb. 1: Bio-psycho-soziale Strukturhierarchie nach Engel<br />
4. Diagnostische Kriterien der FM<br />
Für die Klinik der FM sind neben den ACR-Kriterien vegetative Symptome und psychische<br />
Komorbidität richtungweisend.<br />
4.1 Somatisch-phänomenologische Kriterien<br />
Die Kriterien, die den Begriff FM somatisch-phänomenologisch kennzeichnen umfassen sind:<br />
• Tenderness,<br />
• Wide spread pain und<br />
• Chronizität (mehr als drei Monate Persistenz der Beschwerden).<br />
Für die Auswahl der Punkte hat sich <strong>ein</strong> Kompromiss zwischen Praktikabilität der Untersuchung<br />
hinsichtlich zeitlichem Aufwand und Repräsentativität im Rahmen des wide spread<br />
pain gebildet:<br />
Lokalisation der Tender Points:<br />
• Trapezius-Ansatz occipital<br />
• Ligg. transversaria C4/5<br />
• Ansatz M. trapezius<br />
• Ansatz M. levator scap.<br />
Gesellschaft<br />
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Gem<strong>ein</strong>de<br />
Familie<br />
Person<br />
Geist<br />
Seele<br />
Körper<br />
9
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• Knorpelgrenze 2. Rippe<br />
• Epicondylus lateralis<br />
• Ursprung Glutaeus medius<br />
• Trochanter major<br />
• Pes anserinus<br />
Lokalisation der Kontrollpunkte:<br />
• Stirnmitte<br />
• Clavicula, lat./mittl. Drittel<br />
• Unterarm 5 cm prox, vom Handgelenk<br />
• Daumennagel<br />
• Thenar- Mitte<br />
• M. biceps femoris<br />
• Tuber calcanei<br />
4.2 Kriterien nach Yunus<br />
Im Vergleich dazu sind die von Yunus (6) vor der Festlegung der ACR empfohlenen Kriterien<br />
interessant, die, wenn die vegetativen Begleitsvmptome ausgeprägt sind, nur fünf positive<br />
tender points forderten:<br />
• Mindestens 5 von 20 positiven tender points und<br />
• generalisierte Schmerzen oder Steifigkeit in 3 verschiedenen Körperregionen und<br />
• mindestens 3 von 10 weiteren Kriterien erfüllt:<br />
1. Modulation der Symptome durch körperliche Aktivität,<br />
2. Modulation der Symptome durch Wetter<strong>ein</strong>flüsse,<br />
3. Modulation der Symptome durch Stress/ Ängstlichkeit,<br />
4. Schlafarmut,<br />
5. allgem<strong>ein</strong>e Müdigkeit/ Erschöpfung,<br />
6. Ängstlichkeit,<br />
7. chronische Kopfschmerzen.<br />
8. irritables Kolon,<br />
9. subjektive Schwellungszustände,<br />
10. Gefühllosigkeit, Taubheitsgefühl<br />
Durch diese Nebenkriterien erweitert sich der diagnostische Blick auf <strong>ein</strong> polysymptomatisches<br />
Beschwerdebild mit vegetativen funktionellen Be<strong>ein</strong>trächtigungen und psychischen<br />
Komorbidität Hier sind baldmöglichst Fragen nach Untergruppen des <strong>Fibromyalgie</strong>syndromes<br />
zu klären und <strong>ein</strong>e klinisch sowie gutachterlich brauchbare Einteilung in Schweregrade<br />
umzusetzen, wie sie von Häusser vorgeschlagen wurde.<br />
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4.3 Kriterien nach Müller und Lautenschläger<br />
Die FM-Kriterien nach Müller und Lautenschläger (7) sind als diagnostisches Instrument von<br />
größerer Validität. Empfehlenswert sind sie hinsichtlich der Nebenkriterien. Sie berücksichtigen<br />
im klinischen Bild neben den tender points zusätzlich die begleitenden autonomen Funktionsstörungen<br />
– ähnlich wie schon zuvor von Yunus (6) beschrieben – sowie die psychischen<br />
Störungen.<br />
Von den vegetativen Beschwerden stehen die Schlafstörung und die Müdigkeit im Vordergrund.<br />
Ferner zeigt sich bei den Betroffenen neben der Symptomatik am Bewegungssystem<br />
<strong>ein</strong>e verminderte körperliche Leistungsfähigkeit, wobei die Muskulatur <strong>ein</strong>e schnelle Erschöpfbarkeit<br />
mit langsamer Erholbarkeit aufweist.<br />
Allen diesen vegetativen und funktionellen Störungen ist gem<strong>ein</strong>, dass sie im Einzelnen k<strong>ein</strong>en<br />
Befund darstellen, der diagnostisch wegweisend für die FM wäre; auch stellen diese<br />
Störungen k<strong>ein</strong>e spezifischen Befunde dar; jedoch lassen sie in ihrer Gesamtsicht und in<br />
ihrem Muster bei der FM <strong>ein</strong>e gewisse Regelhaftigkeit erkennen, die für die FM wenn auch<br />
nicht spezifisch, so doch typisch ist. Von den genannten Nebenkriterien sollen mindestens<br />
drei erfüllt s<strong>ein</strong>.<br />
Diagnostische Kriterien der FM sind nach Müller und Lautenschläger (7):<br />
• Spontane Schmerzen in der Muskulatur, im Verlauf von Sehnen und Sehnenansätzen<br />
mit typischer stammnaher Lokalisation, die über mindestens dre Monate in drei verschiedenen<br />
Regionen vorhanden sind<br />
• Druckschmerzhaftigkeit an mindestens der Hälfte der typischen Schmerzpunkte (Druckdolorimetrie<br />
oder digitale Palpation mit ca. 4 kp/cm2 mit sichtbarer Schmerzreaktion)<br />
• begleitende vegetative und funktionelle Symptome incl. Schlafstörungen<br />
• psychopathologische Befunde (Depressivität, Verhaltensauffälligkeiten)<br />
• normale Befunde der gängigen Laboruntersuchungen<br />
Für die Diagnose der <strong>Fibromyalgie</strong> sollen mindestens je drei der folgenden vegetativen<br />
Symptome und funktionellen Störungen nachweisbar s<strong>ein</strong>:<br />
• vegetative Symptome<br />
o kalte Akren (Hände)<br />
o trockener Mund<br />
o Hyperhidrosis (Hände)<br />
o Dermographismus<br />
o orthostatische Beschwerden (lage- und lagewechselabhängiger Schwindel)<br />
o respiratorische Arrhythmie<br />
o Tremor (Hände)<br />
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• funktionelle Störungen<br />
o Schlafstörungen<br />
o gastrointestinale Beschwerden (Obstipation, Diarrhöe)<br />
o Globusgefühl<br />
o funktionelle Atembeschwerden<br />
o Par- (Dys-) Ästhesien<br />
o funktionelle kardiale Beschwerden<br />
o Dysurie und/oder Dysmenorrhoe<br />
Es gibt <strong>ein</strong>e Fülle von Einzeluntersuchungen zu speziellen Fragen, die zum Ziel haben, Erkennungsmerkmale<br />
der FM zu identifizieren (8). Dabei ist festzustellen, dass das Bemühen<br />
der Forschung um die FM überwiegend von dem in der somalisch orientierten Forschung<br />
konventionell verankerten Grundgedanken getragen wird, dass die für die Beschwerden <strong>ein</strong><br />
wie auch immer geartetes pathognomonisches Substrat zu finden ist.<br />
Die künftigen Bemühungen müssen darauf abzielen, <strong>ein</strong>e Kombination pathologischer Zeichen<br />
und Vorgänge zu identifizieren, die den Beschwerdekomplex der FM im bio- psychosozialen<br />
Raum reproduzierbar abbilden und hinreichend erklären.<br />
5. Somatisch orientierte Theorien über die Pathogenese der gesteigerten Druckschmerzhaftigkeit<br />
Die aktuellen somatisch orientierten Vorstellungen über die Pathogenese der erhöhten<br />
Druckschmerzhaftigkeit und der ausgebreiteten Schmerzbereiche sind von Weiget et al. (9)<br />
zwei Hauptrichtungen zugeordnet worden:<br />
• Die erste umfasst die Veränderungen auf der humoralen Ebene, die zu erhöhter<br />
Schmerzsensibilität aufgrund erniedrigter Schmerzschwelle führen, wie sie bei chronischen<br />
Überforderungs-Situationen und -zuständen des humanen Stress-Reiz-<br />
Reaktionssystems ablaufen können (linke Hälfte der Abb. 2); hier sind insbesondere die<br />
Achsen der endokrinen Regulationssysteme von Schilddrüse, der Gonaden und der Nebenniere<br />
von Bedeutung, daneben spielen das Wachstumshormon und die Substanz P<br />
<strong>ein</strong>e maßgebliche Rolle.<br />
• Die zweite Ebene beschreibt die morphologisch-zellulären und nerval-humoralen Veränderungen,<br />
wie sie bei den zentralen Sensibilisierungsvorgängen bei neuropathischen<br />
Schmerzen nach entzündlichen oder traumatischen Nervenfunktionsstörungen mit dem<br />
Wind-Up-Phänomen bekannt sind (rechte Hälfte der Abb. 2).<br />
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Infections,<br />
Cytokines �<br />
Neuroendocrine<br />
Abnormalities<br />
HPT-<br />
Axis<br />
HPG-<br />
Axis<br />
Emotiotional Trauma,<br />
Stress<br />
Sleep-<br />
Abnormalities<br />
HPA-<br />
Axis<br />
GH-<br />
Axis<br />
LC/NE sympathetic NS NGF �<br />
iCBF Prefrontal Cortex �<br />
iCBF Anterior Cingulate Cortex �<br />
Genetic Susceptability<br />
Muscle Microtrauma<br />
Abkürzungen: HPA = Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-System, HPT = Hypothalamus-Hypophyse-Schilddrüsen-System,<br />
HPG = Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden-System, GH = Wachstumshormon (growth hormone), LC = locus coeruleus, NE =<br />
Noradrenalin (norepinephrine), NGF = Nervenwachstumsfaktor (nerve growth factor), SP = Substanz P, CGRP = calcitoningene-related<br />
peptide, iCBF = intrazerebraler Blutfluss<br />
Abb. 2: Humoral-nervales Pathogenesemodell der vermehrten Schmerzhaftigkeit bei der FM<br />
nach Weigent (9)<br />
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Peripheral NociceptiveTransmission<br />
�<br />
Physical Trauma,<br />
Cytokines �<br />
Altered Collagen<br />
Metabolism at Peripheral<br />
Nerve Endings<br />
SP � SGRP � Dynorphine �<br />
Excitatory<br />
Amino Acids �<br />
Abnormal Pain Thresholds and Generalized Pain<br />
Structural<br />
Defects<br />
Dorsal Horn Spinal<br />
Neuron Excitability �<br />
Nociceptive<br />
Input in Brain �<br />
iCBF Thalamus �<br />
iCBF Caudate Nucleus �<br />
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Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
Der letztere Teil des Modells (rechte Hälfte von Abb. 3) hat allerdings nur fragliche Bedeutung<br />
für die FM, weil bei ihr per definitionem weder <strong>ein</strong>e Verletzung von Nerven, noch <strong>ein</strong>e<br />
entzündliche Genese der Beschwerden besteht.<br />
Ein aus psychosomatischer Sicht geschaffenes Pathogenesemodell wurde von Egle (10)<br />
formuliert (Abb. 3):<br />
Psychosoziale Prädisposition Biologische Prädisposition<br />
Unsichere Bindung; emotionale Vernach- Temperament: gehemmt, ängstlich<br />
lässigung, Viktimisierung<br />
Versagen im schulischen oder beruflichen Häufige Krankheit, frühe Schmerzerfahrung<br />
Werdegang<br />
Labiles Selbstwertgefühl, Angst, Depression,<br />
Ruhelosigkeit<br />
Störung der Stressverarbeitung, Stressbeantwortung,<br />
sensible Hypervigilanz<br />
(Schmerz, Lärm)<br />
Ausgeprägtes Kontrollverhalten, Hyperaktivität, Perfektionismus, unreife Konfliktbewältigung<br />
Psychosozialer Stressor: familiär, beruflich Biologischer Stressor: Infektion, Trauma,<br />
iatrogene Chronifizierung<br />
Kontrollverlust, Überforderung, narzisstische Krise, Dysfunktion von HPA-/LC-NE-Achse/<br />
deszend. Hemmung, Schmerzzunahme, Erschöpfung, psychovegetative Symptomatik<br />
Ängstlich-hypochondrische Bewertung und Verarbeitung<br />
Körperliche Dekonditionierung, muskuläre Spannung, sozialer Rückzug, negative Affekte,<br />
doctor shopping<br />
Abb. 3: Psychosomatisches Pathogenesemodell der FM nach Egle<br />
In diesem Modell sind die personalen Vorbedingungen aus Entwicklung und Stressverhalten<br />
und die kognitiven Anteile aus der persönlichen Verarbeitung der Krankheit wesentliche zusätzliche<br />
Faktoren für die Entwicklung der Symptomatik, neben den humoral-nervalen Abläufen<br />
auf der somatischen Ebene.<br />
Aus der Entwicklung der letzten Jahre zeichnet sich als Möglichkeit folgende Unterteilung der<br />
FM ab: <strong>ein</strong>e Hauptform stellt <strong>ein</strong>e besondere Form <strong>ein</strong>er chronischen Schmerzerkrankung<br />
mit bevorzugter Symptombildung im Bewegungssystems dar, <strong>ein</strong>e andere Hauptform überlappt<br />
sich weitgehend mit der somatoformen Schmerzstörung.<br />
Andere Möglichkeiten Untergruppen zu schaffen ist naheliegend auf Grund der unterschiedlichen<br />
Ausprägung psychischer Komorbidität, auf Grund des unterschiedlichen Ansprechens<br />
der Patienten auf verschiedene medikamentöse Therapien (Analgetika, Serotonin – Antagonisten,<br />
Antidepressiva), sowie unterschiedlicher Verhaltensweisen bei der Stressverarbeitung.<br />
Für die Praxis und das Begutachtungswesen ist die Einteilung der FM-Patienten in unterschiedliche<br />
Schweregrade <strong>ein</strong> weiteres Nahziel.<br />
14 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
6. Schaffung von Untergruppen und Schweregraden<br />
Untergruppen und Schweregrade zu schaffen ist naheliegend, um den unterschiedlichen<br />
Ausprägungen der Symptomatik und den notwendig entsprechend unterschiedlichen Beurteilungen<br />
gerecht werden zu können, bedarf aber noch weiterer systematischer Forschung und<br />
Konsensbildung.<br />
Die bisher veröffentlichten Vorschläge für Untergruppen und Schweregrade der FM zielen<br />
auf unterschiedliche Aspekte der Erkrankung; u. a. wie folgt dargestellt:<br />
• die Ausprägung der Druckempfindlichkeit, dem Ausmaß der Generalisierung und der<br />
Kombination mit psychischer Komorbidität <strong>ein</strong>schließlich kognitiver Faktoren (bei<br />
Giesecke; 11):<br />
1. Tenderness und wide spread pain,<br />
2. Tenderness,<br />
3. psychische und kognitive Faktoren,<br />
• die durch die Beschwerden verursachten Be<strong>ein</strong>trächtigungen (bei Häuser; 12):<br />
1. Leichtgradiges FMS (K<strong>ein</strong>e Progredienz der Beschwerden und Aktivitätsstörungen,<br />
geringe Aktivitätsstörungen, gutes Ansprechen auf Therapie.<br />
2. Mittelgradiges FMS (Allmähliche Progredienz der Beschwerden und Aktivitätsstörungen,<br />
mittlere Aktivitätsstörungen, partielles Ansprechen auf Therapie,<br />
3. Schwergradiges FMS (Rasche Progredienz der Beschwerden und Aktivitätsstörungen,<br />
ausgeprägte Aktivitätsstörungen, k<strong>ein</strong> Ansprechen auf Therapie):<br />
• die Schwere der konkomitanten Depression (bei Stratz und Müller; 13):<br />
1. <strong>Fibromyalgie</strong> ohne Depression<br />
2. <strong>Fibromyalgie</strong> mit schmerzreaktiven Depressionen<br />
3. <strong>Fibromyalgie</strong> mit endogener depressiver Komponente<br />
4. Somatoforme Schmerzstörung vom <strong>Fibromyalgie</strong>typ<br />
• und auf <strong>ein</strong>e gestörte Stressverarbeitung auf psychobiologischer psychologischer und<br />
biographischer Ebene (bei Egle; 10).<br />
Aus der Zahl und der Art der unterschiedlichen Untergruppen ist erkennbar, dass bei Formulierung<br />
der Untergruppen <strong>ein</strong>e Auswahl stattgefunden hat, die k<strong>ein</strong>e Systematik oder <strong>ein</strong>e<br />
Präferenz <strong>ein</strong>er bestimmten Untergruppe erkennen lässt. Es bedarf weiterer systematischer<br />
Forschung und Konsensbildung, um hier zu <strong>ein</strong>em brauchbaren Ergebnis zu kommen.<br />
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15
Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
7. Das Konzept der „therapeutic domaine“ von Hazemeijer und Rasker – <strong>ein</strong> ernst zu<br />
nehmendes Argument gegen den Begriff FM ?<br />
Außer Zweifel steht, dass das Schmerzverhalten nicht nur die Beschreibung subjektiver<br />
Empfindung darstellt, sondern mit s<strong>ein</strong>en nonverbalen Äußerungen in Mimik, Gestik und<br />
Lautgebung unmittelbar und unbewusst auf den Adressaten (Bezugspersonen, Unfallbeteiligte,<br />
Kameraden etc.) wirkt, nonverbal <strong>ein</strong>e stark appellativ wirkende Botschaft darstellt, deren<br />
Affektgehalt sich der Adressat nicht entziehen kann, wenn er das Maß an Empathiefähigkeit<br />
besitzt, das uns alle in die Wiege gelegt ist.<br />
Schmerzverhalten ist immer kommunikativ, bei FM-Patienten insbesondere stark appellativ,<br />
da diese wegen des Mangels an objektiven Befunden sich unbewusst und/oder aus schlechten<br />
Erfahrungen heraus genötigt fühlen, ihr Schmerzerleben dem Therapeuten durch Augmentierung<br />
des Schmerzverhaltens glaubhaft machen zu müssen. Die Gesamtheit der verbalen<br />
und nonverbalen Äußerungen, sowie die Interaktion mit dem Adressaten nennen wir<br />
Schmerzgestalt.<br />
Die Ausdrucksformen <strong>ein</strong>er Schmerzgestalt b<strong>ein</strong>halten:<br />
1. Äußerung schmerzhafter Empfindung,<br />
2. Äußerung schmerzlicher Befindlichkeit,<br />
3. Signal des Verletzts<strong>ein</strong>s und der Verletzbarkeit.<br />
Dabei sind die Formen des Ausdrucks und deren Ausprägung nicht abhängig von Schmerzursache<br />
oder Schmerzaart, aber charakteristisch für die Persönlichkeit!<br />
Grundsätzlich liegt in der „Schmerz-Kommunikation“ zwischen Patient und Arzt die Möglichkeit<br />
des Missverständnisses und der Fehlattribuierung.<br />
Hazemeijer und Rasker (14) definieren als “therapeutische Domäne”: A therapeutic domain<br />
is a real and heterogenous medical domain, in which people in any form coexist and communicate<br />
(with their thougts, believes and practices, given conditions, laws).<br />
Sie gehen von der Sachlage aus, dass der Gebrauch des Begriffes FM von <strong>ein</strong>er subjektiven<br />
Annahme im Patienten ausgehe, die vom Therapeuten bestätigt wird und/oder umgekehrt,<br />
so dass sich auf der kognitiven Ebene der Bedeutungen <strong>ein</strong> Wechselspiel vollziehe, das in<br />
der „Wirklichkeit“ k<strong>ein</strong>e Entsprechung besitze. Die daraus abgeleitete Folgerung ist, dass der<br />
Begriff FM <strong>ein</strong> logischer Artefakt sei, <strong>ein</strong> auf kognitiver Ebene zustande gekommener Selbstläufer<br />
ohne realen Hintergrund.<br />
Zutreffend ist, dass Bedeutungsunterstellungen im Rahmen von Schmerzerleben <strong>ein</strong>e Rolle<br />
spielen – sie spielen immer und grundsätzlich bei jedem Patienten <strong>ein</strong>e Rolle, der <strong>ein</strong>en<br />
Schmerz erlebt, den er nicht „kennt“, bzw. für den er k<strong>ein</strong>e Erklärung hat. Der Bedeutungsgehalt<br />
verschiebt bzw. erweitert sich je nach Erfahrung und Kenntnis, stellt <strong>ein</strong>en (überle-<br />
16 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
bens-)wichtigen Teil der persönlichen Erfahrung jedes Menschen dar. Die im Rahmen der<br />
kognitiven Prozesse der Schmerzverarbeitung erteilten Bedeutungen können mit der ärztlichen<br />
Erfahrung über<strong>ein</strong>stimmen oder auch nicht; auch hängt die Bedeutung, die dem selbst<br />
erlebten Schmerz im Laufe s<strong>ein</strong>er weiteren Verarbeitung erteilt wird, selbstverständlich ab<br />
vom sozialen Kontext der betroffenen Person und dem kulturellen Kontext der Gesellschaft,<br />
in der der Betroffene lebt. Dieser natürliche Sachverhalt darf aber nicht zu dem Fehlschluss<br />
verleiten, die geistig-logischen Vorgänge der Bedeutungserteilung seien Tautologien oder<br />
Artefakte, wenn ihnen k<strong>ein</strong>e entsprechende "objektivierbare" Anschauung gegenüber gestellt<br />
werden kann (15).<br />
Wir benutzen den Begriff FM als Bezeichnung für <strong>ein</strong>en bestimmten Symptomenkomplex,<br />
der die Ersch<strong>ein</strong>ungsform <strong>ein</strong>es noch nicht genau identifizierten Krankheitsgeschehens bzw.<br />
-zustandes ist. Bis <strong>ein</strong> besseres Verständnis des der FM zugrunde liegenden Krankheitsgeschehens<br />
gewonnen ist, ist die Aufgabe des Therapeuten, wie Ehrlich formuliert: to „treat the<br />
very real physical and psychological Symptoms that characterize chronic pain“ das bedeutet<br />
aber nicht zugleich, dass der Begriff FM abgeschafft werden muss, da wie Wolfe formuliert:<br />
„FM will always be with us ... regardless of what name the syndrome has” (11).<br />
Es ist der Warnung von White (16) zuzustimmen: “Let FM not be another tragic example of<br />
letting ill-informed, malicious logic derail conscientious, methodical attempts to gradually discover<br />
the truth.”<br />
8. <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e rheumatische Erkrankung?<br />
Zusammenfassend lässt sich feststellen, das <strong>Fibromyalgie</strong> mehr als <strong>ein</strong>e rheumatische Erkrankung<br />
ist. Es handelt sich um <strong>ein</strong>e chronische Schmerzstörung, bedingt durch <strong>ein</strong>e mehrschichtige<br />
Störung des Stressreaktions- und Stressverarbeitungssystems mit rheumatisch<br />
ersch<strong>ein</strong>enden Beschwerden, vegetativen Störungen und psychischen Begleiterkrankungen.<br />
Literatur<br />
1. Wolfe F, Smythe HA, Yunus MB, Bennett RM, Bombardier C, Goldenberg DL et al. (1990): The<br />
American College of Rheumatology 1990. Criteria for the classification of fibromyalgia: report of<br />
the multicenter criteria committee. Arthritis Rheum 33: 160-172<br />
2. Ehrlich GE (2003): Symptoms without pathology, Letter to the Editor: Croft, P. Symptopms without<br />
pathology: should we try a little tenderness? [Editorial], Rheumatol 42: 815-817<br />
3. v Houdenhove B (2003): Fibromyalgia: a challange for modern medicine. Clin Rheumatol 22: 1-5<br />
4. Goldenberg DL, Sandhu HS (2002): Fibromyalgia and posttraumatic stress syndrome: another<br />
piece in the biopsychosocial puzzle. Semin.Arthritis Rheum 32: 1-2<br />
5. Wolfe F (2004): From the outside of Plato's cave. Rheumatol43: 112-113<br />
6. Yunus MB (1989): Primary fibromyalgia syndrome: a critical evaluation of recent criteria developments.<br />
Z Rheumatol 48: 217<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
17
Ingomar Conrad <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong>e Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis?<br />
7. Müller W, Lautenschläger J (1990): Die generalisierte Tendomyopathie (GTM) – Teil 1: Klinik,<br />
Verlauf und Differentialdiagnose. Z Rheumatol 49: 11-21<br />
8. Pongratz DE, Späth M (1998): Morphologie aspects of fibromyalgia. Z Rheumatol 57, Suppl 2: 47<br />
9. Weigent DA et al. (1998): Current concepts in the pathphysiology of abnormal pain perception in<br />
fibromyalgia. Am J Med Sc 315: 405-412<br />
10. Egle TE, Ecker-Egle ML, Nickel R, v Houdenhove B (2004): <strong>Fibromyalgie</strong> als Störung der zentralen<br />
Schmerz- und Stressverarbeitung – Ein neues biopsychosoziales Krankheitsmodell. Psychther<br />
Psychosom Med Psychol 54: 137-147<br />
11. Giesecke T, Williams DA, Harris RE et al. (2003): Subgrouping of fibromyalgia patients on the<br />
basis of pressure-pain thresholds and psychological factors. Arthritis Rheum 48: 2916-2922<br />
12. Häuser W (2002): Vorschläge für <strong>ein</strong>e Schweregrad<strong>ein</strong>teilung des <strong>Fibromyalgie</strong>syndroms in der<br />
sozialgerichtlichen Begutachtung. Med Sach 98: 207<br />
13. Stratz T, Müller W (2004): Die <strong>Fibromyalgie</strong>. Stuttgart/New York: Georg Thieme (Sonderdruck)<br />
14. Hazemeijer l, Rasker JJ (2003): Fibromyalgia and the therapeutic domaine. A philosophical study<br />
on the origins of fibromyalgia in a specific social setting. Rheumatology 42: 507-515<br />
15. Hattrup D (2002): Die Wirklichkeitsfalle – vom Drama der Wahrheitssuche in Naturwissenschaft<br />
und Philosophie. Freiburg/Basel/Wien: Herder (3. Aufl.)<br />
16. White KP (2004): Fibromyalgia: The Answer Is Blowin’ in The Wind. J Rheumatol 31: 636-639<br />
18 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>syndrom –<br />
<strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
Winfried Häuser<br />
1. FMS im Spannungsfeld von somatischer und psychosomatischer Medizin<br />
Die Ätiologie des <strong>Fibromyalgie</strong>syndroms (FMS) ist zwischen verschiedenen medizinischen<br />
Fachrichtungen und Betroffenen umstritten. Aus psychosomatischer Sicht wird das FMS den<br />
somatoformen Schmerzstörungen bzw. den Somatisierungsstörungen zugeordnet (1). Die<br />
rheumatologisch definierte Krankheitsentität des FMS wird als „iatrogen-artifizielles Syndrom<br />
für <strong>ein</strong>en originär psychosomatischen Symptomkomplex“ bezeichnet (2).<br />
Neurologen und Rheumatologen erkennen inzwischen an, dass manche Patienten, welche<br />
die Klassifikationskriterien <strong>ein</strong>es FMS erfüllen, auch die Kriterien <strong>ein</strong>er anhaltenden somatoformen<br />
Schmerzstörung bzw. Major Depression erfüllen (3, 4). Die „klare Akzentuierung des<br />
Muskelschmerzes in anatomischen Strukturen (Tender points)" (3) bzw. „die Wirbelsäule als<br />
häufiger Ausgangspunkt der Schmerzsymptomatik bei Fehlhaltungen und Fehlformen des<br />
Achsenorgans" (4) sprechen aus neurologischer bzw. rheumatologische Sicht für primär medizinische<br />
Krankheitsfaktoren. Manche Patienten bzw. FMS- Selbsthilfeorganisationen lehnen<br />
das Konzept <strong>ein</strong>er psychosomatischen Erkrankung ab und betonen „organische" Ursachen<br />
wie Stoffwechselstörungen und toxische Umwelt<strong>ein</strong>flüsse. Die meisten Wissenschaftler<br />
und Kliniker stimmen über<strong>ein</strong>, dass die Probleme der Diagnose und nosologischen Einordnung<br />
des FMS und s<strong>ein</strong>er Abgrenzung zu psychischen Störungen auf die unklaren Klassifikationskriterien<br />
der genannten Störungen zurückzuführen sind (2, 3, 5).<br />
2. Probleme bei der Diagnose des FMS sowie der anhaltenden somatoformen<br />
Schmerzstörung bzw. Somatisierungsstörung<br />
Es existieren k<strong>ein</strong>e international gültigen Diagnosekriterien für das FMS. Das FMS wurde<br />
1990 vom American College auf Rheumatology (ACR) definiert (6). Dabei handelt es sich<br />
jedoch um Klassifikationskriterien, welche für wissenschaftliche Zwecke konzipiert wurden,<br />
und nicht um Diagnosekriterien. Die ACR-Kriterien wurden in <strong>ein</strong>er Multizenterstudie entwickelt<br />
und überprüft. Als Kontrollgruppen dienten Patienten mit entzündlich rheumatischen<br />
Erkrankungen und Osteoarthrosen. Die Sensitivität und Spezifität der ACR-Kriterien betrug in<br />
der Abgrenzung zu den genannten Erkrankungen 88 bzw. 81% (6). Die ACR-Kriterien wurden<br />
bisher nicht für Patienten in der Primärversorgung bzw. in nicht- rheumatologischen Settings<br />
validiert. Die ACR-Kriterien wurden von <strong>ein</strong>em US-amerikanischen Expertenkomitee<br />
auch für die klinische Diagnostik als geeignet erachtet (7).<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
19
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
In der klinischen Diagnostik des FMS ergeben sich bei der Verwendung der ACR- Kriterien<br />
folgende Probleme:<br />
• Die ACR- Kriterien sind restriktiv: Die Anzahl der definierten Tenderpoints repräsentiert<br />
nur 3% der möglichen Tender Points (7). Die Anzahl und Auswahl der ACR-Tenderpoints<br />
ist zwar ausreichend, um <strong>ein</strong>en „wide spread pain" zu erfassen. Die Abgrenzung zu<br />
muskuloskelettalen Schmerzsyndromen ist jedoch willkürlich. In <strong>ein</strong>er bevölkerungsbasierten<br />
Studie bei deutschen 35- bis 74jährigen Frauen wiesen 22,1% <strong>ein</strong>e Schmerzausdehnung<br />
nach den ACR-Kriterien auf, 12,3% erfüllten auch die ACR-Zeitkriterien und<br />
5.5% wiesen auch mehr als 10 Tenderpoints auf (8).<br />
• Die US-amerikanischen und deutschsprachigen Vorgaben zur Überprüfung der Druckschmerzhaftigkeit<br />
unterscheiden sich: Das ACR empfiehlt <strong>ein</strong>e Druckausübung mit circa<br />
4kp (6), während in deutsprachigen Publikationen häufig <strong>ein</strong>e Druckausübung von 4<br />
kp/cm� (9) empfohlen wird.<br />
• Die Annahmen zur Druckschmerzhaftigkeit sind problematisch: Davon ausgehend, dass<br />
der Druck von 4 kp/cm� beim Gesunden oberhalb und beim FMS-Patienten unterhalb der<br />
Schmerzschwelle liegt, wird bei der Definition <strong>ein</strong>es positiven Tenderpoints nur zwischen<br />
druckschmerzhaft und nicht druckschmerzhaft unterschieden. Bezüglich der Kontinuität<br />
bzw. Diskontinuität der Schmerzschwellen bei Erkrankungen des Bewegungsapparates<br />
liegen jedoch k<strong>ein</strong>e Untersuchungen vor.<br />
• Die Instruktionen zur Druckausübung und zur Bewertung der Reaktion des Untersuchten<br />
sind nicht standardisiert: Während der auszuübende Druck im klinischen Alltag mittels<br />
<strong>ein</strong>es Daumens und in klinischen Studien mittels <strong>ein</strong>es Dolorimeters festgelegt ist, gibt<br />
es k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>heitlichen Angaben über die Instruktionen des Untersuchers an den Probanden,<br />
die Dauer des auszuübenden Drucks sowie die Kriterien der Schmerzhaftigkeit.<br />
• Zur Abgrenzung von regionalen muskuloskelettalen bzw. myofaszialen Schmerzsyndromen<br />
und <strong>ein</strong>em Ganzkörperschmerz bei <strong>ein</strong>em „chronischen benignen Schmerzsyndrom"<br />
wird von deutschen Autoren die Palpation von 5 bilateralen so genannten Kontrollpunkten<br />
empfohlen (10). Patienten, welche die ACR-Kriterien <strong>ein</strong>es FMS erfüllen,<br />
können jedoch auch an sogenannten Kontrollpunkten <strong>ein</strong>e deutlich erniedrigte Druckschwelle<br />
aufweisen. Das Vorhandens<strong>ein</strong> von positiven Kontrollpunkten sollte nicht dazu<br />
verwendet werden, die Diagnose in Frage zu stellen bzw. auf das Vorhandens<strong>ein</strong> von<br />
Aggravation oder <strong>ein</strong>er psychischen Störung zu schließen (7).<br />
• Während US-amerikanische Expertenkommissionen festlegen, dass das FMS k<strong>ein</strong>e<br />
Ausschlussdiagnose ist und diagnostiziert werden kann unabhängig von <strong>ein</strong>er anderen<br />
medizinischen Diagnose (6), wird von deutschen Autoren <strong>ein</strong> sekundäres FMS als Folge<br />
anderer Erkrankungen, z. B. rheumatoide Arthritis, systemischer Lupus erythematodes<br />
oder chronische Hepatitis C unterschieden (10, 11). Bei Nachweis <strong>ein</strong>er internistischen<br />
20 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
Erkrankung, z. B. chronische Hepatitis C oder rheumatoide Arthritis, kann die Unterscheidung<br />
von <strong>ein</strong>em sekundären von <strong>ein</strong>em konkomitanten (zufälliges Zusammentreffen<br />
<strong>ein</strong>es primären FMS und <strong>ein</strong>er Zweiterkrankung) problematisch s<strong>ein</strong>.<br />
Das FMS ist häufig mit vegetativen und psychischen Symptomen assoziiert (6, 12). Zur Unterstützung<br />
der FMS-Diagnose aufgrund der ACR-Kriterien werden im deutschsprachigen<br />
Raum die unten aufgeführten Nebenkriterien benutzt: Mindestens drei Nebenkriterien insgesamt<br />
(vegetative Zeichen, funktionelle Störungen und psychopathologische Symptome) sollen<br />
nachweisbar s<strong>ein</strong> (9):<br />
• Vegetative Zeichen:<br />
- Kalte Akren<br />
- Trockener Mund<br />
- Hyperhidrosis (Hände)<br />
- Ausgeprägter Dermographismus<br />
- Orthostatische Beschwerden<br />
- Respiratorische Arrhythmie<br />
- Tremor<br />
• Funktionelle Störungen:<br />
- Schlafstörungen<br />
- Funktionelle gastrointestinale Beschwerden<br />
- Funktionelle urogenitale Beschwerden<br />
- Funktionelle kardiale und Atembeschwerden<br />
- Dysästhesien<br />
• Psychopathologische Symptome<br />
- Ängstlichkeit<br />
- Nervosität<br />
- Reizbarkeit<br />
- Depressivität<br />
Bei Anwendung der Nebenkriterien bzw. Erweiterung des klinischen Blickes von muskuloskelettalen<br />
Schmerzen auf weitere dysfunktionelle Schmerzsyndromen, auf innere Organe<br />
bezogene und seelische Beschwerden stellt sich die Frage der Abgrenzung des FMS zur<br />
(undifferenzierten) Somatisierungsstörung. Komorbide funktionelle Störungen, insbesondere<br />
Reizdarmsyndrom, chronischer Unterbauchschmerz und episodischer Spannungskopfschmerz,<br />
finden sich in Untersuchungen bei Patienten der Tertiärversorgung in 12% bis 77%<br />
(13). Österreichische Autoren fanden, dass 93% bzw. 10% der Patienten mit der DSM-IV-<br />
Diagnose <strong>ein</strong>er somatoformen Schmerzstörung ebenfalls die Kriterien <strong>ein</strong>er undifferenzierten<br />
Somatisierungsstörung bzw. Somatisierungsstörung erfüllten (14). Auch bezüglich der Diagnose<br />
<strong>ein</strong>er (undifferenzierten) Somatisierungsstörung geben ICD 10 und DSM IV teilweise<br />
unterschiedliche Kriterien vor. An anderer Stelle haben wir vorgeschlagen bei multiplen, ätiologisch<br />
unklaren körperlichen Beschwerden (Synonyme: funktionelle Störungen, somatoforme<br />
Störungen) sowohl die „organmedizinischen" als auch „psychiatrischen" Diagnosen zu<br />
kodieren (13).<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
21
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
Die im folgenden aufgeführten Diagnosekriterien der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung<br />
sind ebenfalls unscharf definiert.<br />
Diagnosekriterien der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nach ICD 10 sind:<br />
• Vorherrschendes Beschwerdebild ist <strong>ein</strong> andauernder, schwerer und quälender Schmerz<br />
• Nicht vollständig erklärbar durch <strong>ein</strong>en physiologischen Prozess oder <strong>ein</strong>e körperliche<br />
Störung<br />
• Auftreten in Verbindung mit schwerwiegenden emotionalen Konflikten oder psychosozialen<br />
Problemen<br />
• Beträchtliche medizinische Zuwendung oder medizinischen Betreuung<br />
• Ausschluss: Depressive Störung, Schizophrenie, bekannte psychophysiologische Mechanismen<br />
Spannungskopfschmerz Migräne)<br />
Somatoforme Schmerzstörung nach den Kriterien des Diagnostic and Statistic Manual for<br />
Psychiatrie Diseases IV:<br />
• Schmerzen stehen im Vordergrund des klinischen Bildes<br />
• Schmerzen verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Be<strong>ein</strong>trächtigungen<br />
• Psychischen Faktoren wird <strong>ein</strong>e wichtige Rolle in Entstehung, Exazerberation oder Aufrechterhaltung<br />
beigemessen<br />
• K<strong>ein</strong>e vorgetäuschte Störung oder Simulation<br />
• Der Schmerz kann nicht besser durch <strong>ein</strong>e affektive, Angst- oder psychotische Störung<br />
erklärt werden<br />
In der deutschen ambulanten und stationären medizinischen Versorgung sind die Diagnosekriterien<br />
des ICD-10 zu verwenden, während in psychiatrischen bzw. psychosomatischen<br />
Studien meist die DSM-IV-Kriterien verwendet werden. Die ICD-10-Kriterien sind bezüglich<br />
der Bedeutung psychosozialer Faktoren enger gefasst als die DSM-IV-Kriterien: Während<br />
das ICD-10 „schwerwiegende" psychosoziale Konflikte in zeitlichem Zusammenhang mit<br />
dem Auftreten der Schmerzsymptomatik fordert, setzt das DSM-IV <strong>ein</strong>e „wichtige Rolle" psychischer<br />
Faktoren bei der Entstehung, Exazerberation und Aufrechterhaltung voraus. Da<br />
psychosoziale Faktoren bei vielen chronischen Schmerzsyndromen, z. B. chronischen Rückenschmerzen<br />
<strong>ein</strong>e bedeutende Rolle zumindest in der Chronifizierung haben (15), wäre<br />
die (Zusatz-) Diagnose <strong>ein</strong>er somatoformen Schmerzstörung nach DSM-IV bei chronischen<br />
Schmerzpatienten häufig zu kodieren. Das DSM-IV unterscheidet weiterhin zwischen somatoformen<br />
Schmerzstörungen in Verbindung mit psychischen Faktoren (psychischen Faktoren<br />
wird die Hautrolle für Beginn, Schweregrad, Exazerberation oder Aufrechterhaltung der<br />
Schmerzen beigemessen), in Verbindung mit psychischen als auch medizinischen Krankheitsfaktoren<br />
sowie in Verbindung mit medizinischen Faktoren. In welche der drei genannten<br />
DSM-IV-Kategorien die Patienten in psychiatrischen/psychosomatischen Studien <strong>ein</strong>geordnet<br />
werden, ist meist nicht erwähnt. Die von der Mainzer Arbeitsgruppe (1) vorgeschlagenen<br />
Kriterien zum zeitlichen Zusammenhang zwischen psychosozialen Konflikten und die biographische<br />
bzw. lerntheoretische Begründbarkeit der Symptomlokalisation werden wegen ihrer<br />
22 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
größeren Präzision von unserer Arbeitsgruppe für die Diagnose <strong>ein</strong>er anhaltenden somatoformen<br />
Schmerzstörung verwendet:<br />
• Schmerzen sind das vorherrschende Symptom<br />
• K<strong>ein</strong> die Schmerzsymptomatik erklärende Befund in somatischer Diagnostik laut interdisziplinärer<br />
Fallkonferenz<br />
• Individuell überfordende äußere oder intrapsychische Konfliktsituation in engem zeitlichen<br />
Zusammenhang mit erstmaligem Auftreten bzw. Generalisierung der Schmerzen<br />
• Symptomwahl und -lokalisation sind lerntheoretisch oder psychodynamisch erklärbar<br />
Sowohl DSM-IV als auch ICD-10 fordern den Ausschluss anderer psychischer Störungen mit<br />
dem Leitsymptom Schmerz, insbesondere affektiver Störungen. Bei Verwendung strukturierter<br />
psychiatrischer Interviews wie SKID-I ließen sich jedoch bei 38% (16) bzw. 22% (14) der<br />
Patienten mit der DSM-IV-Diagnose somatoforme Schmerzstörung auch <strong>ein</strong>e affektive Störung<br />
nachweisen. Nur bei 34% (16) bzw. 54% (14) der Patienten mit der DSM-IV-Diagnose<br />
der somatoformen Schmerzstörung ließ sich k<strong>ein</strong>e weitere komorbide psychische Störung<br />
feststellen, so dass der klinische Nutzen der diagnostischen Kategorie von <strong>ein</strong>igen Autoren<br />
in Frage gestellt wird (14).<br />
Der Ausschluss körperlicher Störungen bzw. bekannter psychophysiologischer Mechanismen<br />
– hier werden im ICD-10 der Spannungskopfschmerz und die Migräne genannt – ist<br />
ebenfalls problematisch. Sowohl beim FMS als auch beim chronischen Spannungskopfschmerz<br />
finden sich Hinweise für <strong>ein</strong>e Störung der zentralen Schmerzverarbeitung (2, 17,<br />
18). Da die Bedeutung körperlicher Störungen (z. B. <strong>ein</strong>es chronisch unspezifischen Rückenschmerzes)<br />
in der Ätiologie des FMS durchaus unterschiedlich diskutiert wird, ersch<strong>ein</strong>t<br />
uns das von der Mainzer Arbeitsgruppe vorgeschlagene diagnostische Kriterium <strong>ein</strong>es Ausschlusses<br />
erklärbarer Befunde in <strong>ein</strong>er interdisziplinären Fallkonferenz sinnvoll (1). Mit diesem<br />
Vorgehen ließe die inflationäre Verwendung der Diagnose „somatoforme Schmerzstörung"<br />
insbesondere bei Psychiatern vermeiden (19).<br />
3. Belege für die psychosomatischen Hypothesen<br />
Die meisten Studien berichten über höhere Lebenszeitprävalenzraten für alle Formen der<br />
Viktimisierung in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter, auch wenn die Angaben zur Häufigkeit<br />
körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbauch – auch auf Grund der unterschiedlichen<br />
Erfassungsinstrumente – schwanken (17). Imbierovicz und Egle fanden bei<br />
32% der 38 FMS- Patienten regelmäßige körperliche Misshandlung durch die Eltern und bei<br />
10,5% schwere sexuelle Missbrauchserfahrungen. Der Gesamtbelastungsscore, welcher<br />
weiterhin Erfahrungen von schlechter emotionaler Beziehung zu beiden Eltern, Miterleben<br />
von körperlichen Aus<strong>ein</strong>andersetzungen der Eltern, Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit<br />
der Eltern sowie finanzielle Probleme vor dem Alter von 7 Jahren enthielt, entsprach dem<br />
<strong>ein</strong>er Gruppe mit der Diagnose <strong>ein</strong>er somatoformen Schmerzstörung, welche nicht die FMS-<br />
Kriterien erfüllte und unterschied sich signifikant von <strong>ein</strong>er Gruppe von Patienten mit nozi-<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
23
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
zeptiven bzw. neuropathischen Schmerzsyndromen (20). Belastende Lebensereignisse fanden<br />
sich in <strong>ein</strong>er Studie von Anderberg und Mitarbeiter bei 48 FMS-Patientinnen im Vergleich<br />
zu gleichalten Frauen der allgem<strong>ein</strong>en Bevölkerung nicht nur häufiger in der Jugend<br />
(51% vs. 28%), sondern auch zu Symptombeginn (65% vs. 26%) und im letzten Jahr (51%<br />
vs. 25%) (21). Traumatisierte Patienten wiesen mehr psychische Symptome und funktionelle<br />
Einschränkungen (22, 23) und höhere Inanspruchnahme von Ärzten auf (24). Die meisten<br />
Studien mit standardisierten bzw. strukturieren psychiatrischen Interviews fanden <strong>ein</strong>e bis zu<br />
dreimal höhere Punkt- und Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen bei FMS-Patienten<br />
im Vergleich zu alters- und geschlechtsgematchten Personen aus der allgem<strong>ein</strong>en Bevölkerung<br />
oder Patienten mit rheumatoider Arthritis. So fanden Epst<strong>ein</strong> und Mitarbeiter bei 37<br />
FMS-Patienten der Tertiärversorgung <strong>ein</strong>e Punkt- (Lebenszeit-) Prävalenz der Major Depression<br />
von 22% (68%), der Dysthymie von 10%, der Panikstörung von 7% (16%) und der<br />
<strong>ein</strong>fachen Phobie von 12% (16%) (25). Walker und Mitarbeiter fanden bei 36 FMS-Patienten<br />
der Tertiärversorgung <strong>ein</strong>e Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen von 90% im Vergleich<br />
zu 50% bei rheumatoider Arthritis (23). Bei <strong>ein</strong>em Vergleich von 64 FMS-Patienten<br />
aus der Tertiärversorgung mit 28 Betroffenen, welche wegen ihrer Beschwerden bisher k<strong>ein</strong>e<br />
medizinische Behandlung in Anspruch genommen hatten, und 23 Gesunden, unterschieden<br />
sich FMS-Nichtpatienten in der Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen nicht von den<br />
Gesunden (22). Als weiterer psychosozialer Risikofaktor für die Entstehung <strong>ein</strong>es FMS wurde<br />
<strong>ein</strong> niedriges Selbstwertgefühl verbunden mit dem Bedürfnis nach Anerkennung durch<br />
andere Menschen und damit <strong>ein</strong>hergehenden hohen Anforderungen an sich selbst, geringer<br />
Selbstbehauptung und überaktivem Lebensstil beschrieben (26). Gegen die Annahme, dass<br />
das FMS nur <strong>ein</strong>e Variante affektiver Störungen ist, spricht, dass in allen Studien zur psychischen<br />
Komorbidität nur <strong>ein</strong>e Subgruppe von Patenten die Kriterien <strong>ein</strong>er affektiven Störung<br />
erfüllte.<br />
Auch lässt sich bei Patienten mit Major Depression in der Regel <strong>ein</strong> Hyperkortisolismus<br />
nachweisen, während die meisten Befunde bei dem FMS für <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>geschränkte Stimulierbarkeit<br />
der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse sprechen (17). In Zeitreihenanalysen<br />
konnten Müller und Mitarbeiter nachweisen, dass bei <strong>ein</strong>igen FMS-Patienten <strong>ein</strong>e vermehrte<br />
Depressivität den Schmerzen vorausgeht, während bei anderen Patienten <strong>ein</strong>e<br />
Schmerzunahme zu <strong>ein</strong>er vermehrten Depressivität führt (27). Weiterhin ist die Generalisierbarkeit<br />
vieler Studien zu psychosozialen Risikofaktoren beim FMS durch die niedrigen Fallzahlen<br />
sowie Selektionseffekte (meist Patienten der Tertiärversorgung) <strong>ein</strong>geschränkt.<br />
4. Weitere Risikofaktoren für die Entstehung <strong>ein</strong>es FMS<br />
Ein überwiegen von Frauen beim FMS von 6-8 zu 1 ist in zahlreichen Studien beschrieben<br />
(5, 12, 17). Als Ursachen werden die größere Häufigkeit von sexuellen Traumatisierungen<br />
und affektiven Störungen sowie die vermehrte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen<br />
durch Frauen diskutiert (28). Für die zusätzliche Bedeutung <strong>ein</strong>es Östrogenmangels sprechen<br />
Befunde aus bevölkerungsbasierten Untersuchungen, welche <strong>ein</strong>e größere Häufigkeit<br />
24 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
von FMS bei Frauen in der Menopause bzw. früher Menarche beschrieben haben. Wenige<br />
Schwangerschaften bzw. Geburten sowie niedrige soziale Schicht waren ebenfalls Risikofaktoren<br />
für die Entstehung <strong>ein</strong>es FMS (8).<br />
5. Eigene Untersuchungen<br />
Zur Vermeidung von Selektionseffekten ersch<strong>ein</strong>t die Untersuchung von FMS- Patienten aus<br />
verschiedenen Ebenen der Versorgung sinnvoll Bei Begutachtungen im Rahmen der Sozialgerichtsbarkeit<br />
liegen von den Probanden teilweise umfangreiche Unterlagen von Vorbehandlungen,<br />
auch aus dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich vor, an Hand derer<br />
sich die aktuellen Angaben der Patienten im Rahmen von strukturierten Interviews überprüfen<br />
lassen.<br />
Material und Methoden<br />
Es wurden alle vom Autor im Auftrag des (Landes-)Sozialgerichtes für das Saarland durchgeführten<br />
schmerztherapeutischen und/oder psychosomatischen Gutachten von Januar<br />
1999 bis Juni 2004, in denen die Diagnose <strong>ein</strong>es FMS gestellt wurde, retrospektiv ausgewertet.<br />
Die Begutachtung erfolgte nach den Empfehlungen von schmerz- und psychotherapeutischen<br />
Fachgesellschaften (19) und umfasste u. a. <strong>ein</strong>e schmerztherapeutische Anamnese,<br />
<strong>ein</strong> psychiatrisches Interview anhand der ICD-10 Diagnose Checkliste (29), die Mainzer Biografische<br />
Anamnese für Schmerzpatienten MSBA-S (1) sowie die Auswertung des Deutschen<br />
Schmerzfragebogens DSF (30) und ab Januar 2002 auch des Fragebogens über<br />
traumatische Erlebnisse und Deprivation in der Kindheit CTQ (31).<br />
Als schwerer sexueller Missbrauch wurden Angaben von vaginalen, oralen oder analen Penetrationserfahrungen<br />
definiert. Als schwere körperliche Misshandlungen wurden Angaben<br />
von Schlägen mit harten Gegenständen und/oder äußerlich sichtbaren Verletzungszeichen<br />
definiert. Anhand der Angaben im DSF zur Schulbildung, zum Berufsstatus sowie zum Einkommen<br />
wurde <strong>ein</strong> sozialer Schichtindex errechnet (32). Weitere Daten zur somatischen<br />
Ausschlussdiagnostik, psychiatrischen Vorgeschichte sowie früheren und aktuellen Behandlungen<br />
wurden den Akten des Sozialgerichtes, der Rentenversicherungsträger und der Versorgungsämter<br />
sowie angeforderter Unterlagen aktueller Behandler entnommen. Die Diagnose<br />
des <strong>Fibromyalgie</strong>syndroms wurde anhand der Aktenlage (Ausschluss entzündlichrheumatischer<br />
Erkrankungen und Hypo- bzw. Hyperthyreosen), im Einzelfall selbst durchgeführter<br />
technischer Untersuchungen sowie der Kriterien des American College of Rheumatology<br />
(ACR) gestellt (6). Zusätzlich wurden mindestens drei Nebenkriterien nach Müller und<br />
Lautenschläger für die Diagnose FMS vorausgesetzt (9). Eine Schweregrad<strong>ein</strong>teilung des<br />
FMS erfolgte anhand <strong>ein</strong>er eigenen, für die gutachterliche Beurteilung entwickelten Graduierung<br />
(33) in Analogie zur Schweregrad<strong>ein</strong>teilung entzündlich rheumatischer Erkrankungen in<br />
den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (34). Anhand der Parameter Progre-<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
25
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
dienz der Beschwerden und Aktivitätsstörungen, Ausmaß der Aktivitätsstörungen, Ansprechen<br />
auf Therapiemaßnahmen (physikalische Therapie, medizinische Trainingstherapie,<br />
Antidepressiva, Entspannungsverfahren, Psychotherapie) wurden drei Schweregrade unterschieden.<br />
Als aktive somatische Komorbidität wurden körperliche Erkrankungen definiert,<br />
wegen derer aktuell Medikamente <strong>ein</strong>genommen wurden (35).<br />
Die statistische Analyse der Daten erfolgte mit dem Statistikprogramm Winstat für Excel. Die<br />
Kennwerte wurden bei kategorisierten Variablen als Absolut- bzw. Prozentwerte sowie für<br />
kontinuierliche Variablen als Mittelwerte mit Standardabweichung dargestellt. Gruppenvergleiche<br />
erfolgten bei ordinal bzw. nominalskalierten Variablen mit Chi-Quadrat-Tests.<br />
Ergebnisse<br />
Die Daten von 99 Probanden wurden ausgewertet. 41 Gutachten erfolgten innerhalb <strong>ein</strong>es<br />
Rentenverfahrens, 52 innerhalb <strong>ein</strong>es Verfahrens im Schwerbehindertenrecht sowie 6 innerhalb<br />
<strong>ein</strong>es Verfahrens über die Dauer von Krankentagegeldzahlungen. Soziodemografische<br />
Kennwerte der Probandinnen sind in Tabelle 1 aufgeführt.<br />
26 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
Mittelwert (Standardabweichung)<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
absolute Häufigkeit (Prozent)<br />
Geschlecht (Frauenanteil) 86 (86,9)<br />
Alter 50,1 (7,0)<br />
All<strong>ein</strong>lebend 19 (19,2)<br />
Dauer generalisierter Schmerz<br />
in Monaten<br />
Formale Bildung<br />
90,9 (70,9)<br />
K<strong>ein</strong> Schulabschluss 8 (8,1)<br />
Hauptschule 66 (66,7)<br />
Mittlere Reife 18 (18,2)<br />
Abitur 2 (2,0)<br />
Studium 5 (5,0)<br />
Schichtzugehörigkeit<br />
Unterschicht 33 (33,7)<br />
Mittelschicht 60 (61,2)<br />
Oberschicht 5 (5,1)<br />
Erwerbsstatus<br />
Berufstätig 11 (11,2)<br />
Arbeitslos 38 (38,8)<br />
Krankgeschrieben 31 (31,6)<br />
Berentet 16 (16,3)<br />
Hausfrau 2 ( 2,0)<br />
Dauer Arbeitsunfähigkeit in<br />
Monten (n = 41)<br />
Dauer Arbeitslosigkeit in Monaten<br />
(n = 38)<br />
Dauer Sozialgerichtsverfahren<br />
in Monaten<br />
27,6 (17,0)<br />
42,1 (27,6)<br />
20,7 (18,1)<br />
Positive Selbstprognose be-<br />
9 (9,1)<br />
züglich Fortführung oder Wiederaufnahme<br />
der Berufstätigkeit<br />
bzw. Hausarbeit<br />
Tab. 1: Soziodemografische Daten von 99 Probandinnen mit der Diagnose FMS in der Sozialgerichtsbarkeit<br />
27
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
41 Probanden wurden <strong>ein</strong>er leichtgradigen Form, 52 <strong>ein</strong>er mittelschweren Form und 6 <strong>ein</strong>er<br />
schweren Verlaufsform des FMS zugeordnet. Bei 33 Probanden lagen k<strong>ein</strong>e aktive somatische<br />
Komorbidität vor, bei 43 <strong>ein</strong>e, bei 18 zwei und bei 5 mehr als zwei (Maximum sechs)<br />
aktive medizinische Komorbiditäten vor. Vierzehn der Probanden nahmen aktuell k<strong>ein</strong>e Medikamente,<br />
71 nicht steroidale Antirheumatika, 16 schwache und 4 starke Opioide, 63 Antidepressiva<br />
und 18 andere Psychopharmaka (Tranquilizer, Neuroleptika) <strong>ein</strong>. Bei 44 der Probanden<br />
ließen sich psychosoziale Konflikte bzw. Belastungen (Arbeitsplatz, Partnerbeziehungen,<br />
anhaltende finanzielle Probleme, anhaltende fehlende soziale Unterstützung bei<br />
schwieriger Lebenssituation) zum Zeitpunkt der Generalisierung der Schmerzsymptomatik<br />
eruieren. Biografische Belastungsfaktoren sowie die Häufigkeit aktueller bzw. früherer psychischer<br />
Störungen sowie Vorbehandlungen sind in Tabelle 2 aufgeführt.<br />
Absolut Prozent<br />
Emotionale Deprivation in Kindheit 21 21,2<br />
Schwerer sexueller Missbrauch in Kindheit/Erwachsenenalter 8 8,1<br />
Schwere körperliche Gewalterfahrung in Kindheit/Erwachsenenalter<br />
15 15,2<br />
Frühere psychische Störungen 48 48,5<br />
Aktuelle psychische Störung 81 81,8<br />
Aktuelle Diagnose <strong>ein</strong>er depressiven Störung (F 32,33,34,43.2) 58 58,6<br />
Aktuelle Diagnose <strong>ein</strong>er Angststörung (F 40,41,43.2) 14 14,2<br />
Aktuelle Diagnose <strong>ein</strong>er anderen psychischen Störung<br />
(F44,48,55)<br />
7 7,1<br />
Frühere stationäre Psychotherapie 31 31,4<br />
Frühere bzw. aktuelle ambulante psychiatrische Therapie 61 61,6<br />
Frühere bzw. aktuelle ambulante Psychotherapie 33 33,3<br />
Frühere bzw. aktuelle stationäre Schmerztherapie 12 12,1<br />
Frühere bzw. aktuelle ambulante Schmerztherapie 23 23,3<br />
Frühere bzw. aktuelle fachrheumatologische Behandlung 75 75,7<br />
Tab. 2: Häufigkeit biografischer Belastungsfaktoren, früherer und aktueller psychischer Störungen<br />
nach ICD-10 sowie frühere/aktuelle psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen nach ICD-10<br />
Bei 18 Begutachteten ließ sich aktuell k<strong>ein</strong>e psychische Störung nach ICD-10 diagnostizieren.<br />
62 der Probandinnen erfüllten aktuell die Kriterien von <strong>ein</strong>er, 15 von zwei und 4 von drei<br />
psychischen Störungen. 25 Probanden erfüllten die Kriterien <strong>ein</strong>er anhaltenden somatoformen<br />
Schmerzstörung, 38 die <strong>ein</strong>er affektiven Störung, 21 die <strong>ein</strong>er schmerzbedingten reaktiven<br />
Depression und 15 wiesen k<strong>ein</strong>e aktuelle psychische Störung nach ICD-10 auf. Probandinnen<br />
mit biografischen Belastungsfaktoren wiesen signifikant häufiger psychische Störungen<br />
in der Vorgeschichte (Chi� = 12,6; p = 0,05) und <strong>ein</strong>e höhere Zahl aktueller psychischer<br />
28 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
Störungen (Chi� 14,0; p = 0,003) als Probanden ohne biografische Belastungsfaktoren. Biografische<br />
Belastungen fanden sich häufiger bei Probanden mit schweren und mittelschweren<br />
Verlaufsformen (Chi � = 6,0; p = 0,05). Bei der Frage nach der subjektiven Krankheitstheorie<br />
im DSF gaben 47 Probanden <strong>ein</strong>e somatische Krankheitstheorie (körperliche Erkrankung,<br />
Unfall, Operation, körperliche Belastung, Vererbung), drei <strong>ein</strong>e psychogene Krankheitstheorie<br />
(seelische Belastung), drei k<strong>ein</strong>e Erklärung und 46 <strong>ein</strong>e gemischte Krankheitstheorie (sowohl<br />
körperliche als auch seelische Belastungen) an.<br />
6. Fazit – Notwendigkeit der Differenzierung von FMS-Subgruppen<br />
In der vorliegenden Untersuchung konnte bei deutschen Patienten, welche überwiegend in<br />
der primären und sekundären Versorgungsstufe behandelt wurden, die in der Literatur beschriebenen<br />
soziodemographischen (weibliches Geschlecht, niedriger Sozialschichtindex)<br />
und die psychosozialen Risikofaktoren (biografische Belastungsfaktoren, frühere psychische<br />
Störungen, aktuelle psychosoziale Stressoren bzw. zum Zeitpunkt der Generalisierung der<br />
Schmerzsymptomatik) bestätigt werden. 60% der begutachteten Patienten erfüllten die Kriterien<br />
<strong>ein</strong>er anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bzw. <strong>ein</strong>er (somatisierten) affektiven<br />
Störung. Bei 21% der Begutachteten entwickelte sich die psychische Störung in Folge der<br />
generalisierten Schmerzsymptomatik, 15% der Probanden wiesen k<strong>ein</strong>e aktuelle oder frühere<br />
psychische Komorbidität auf. Die Häufigkeit psychischer Störungen ist jedoch nicht spezifisch<br />
für das FMS, sondern <strong>ein</strong> konstitutives Merkmal chronischer Schmerzsyndrome. Psychische<br />
Störungen erhöhen – entweder als Folge biografischer Belastungsfaktoren oder im<br />
Sinne <strong>ein</strong>er komorbiden biologischen Disposition –das Risiko für die Entstehung <strong>ein</strong>es chronischen<br />
Schmerzsyndroms. Umgekehrt können die psychosozialen Belastungen <strong>ein</strong>es chronischen<br />
Schmerzsyndroms vorbestehende Dispositionen <strong>ein</strong>er psychischen Störung aktualisieren<br />
(36).<br />
Zusammenfassend stellen wir fest, dass es nicht gerechtfertigt ist, das FMS pauschal als<br />
somatoforme Schmerzstörung oder somatisierte Depression zu konzeptualisieren. Weibliches<br />
Geschlecht, niedriger sozialer Schichtindex, biografische Belastungen sowie frühere<br />
psychische Störungen sind häufige, jedoch nicht obligate Risikofaktoren für die Entstehung<br />
<strong>ein</strong>es FMS. Ein biopsychosoziales Modell der FMS sowie <strong>ein</strong>e Unterteilung des FMS in Subtypen<br />
ersch<strong>ein</strong>t angebracht. Wir haben an anderer Stelle vorgeschlagen, <strong>ein</strong>e somatoforme<br />
Schmerzstörung vom Typ des FMS, <strong>ein</strong>e somatisierte Depression bzw. Angststörung vom<br />
Typ des FMS, <strong>ein</strong> FMS mit depressiver Anpassungsstörung sowie <strong>ein</strong> FMS ohne psychische<br />
Komorbidität zu unterscheiden (37). Die Unterscheidung der beiden erst genannten Unterformen<br />
ist oft problematisch, da sich bei ICD-10 bzw. DMS-IV-Kodierungen häufig neben der<br />
Diagnose der somatoformen Schmerzstörung depressive und/oder Angststörungen kodiert<br />
werden müssen, um das psychopathologische Bild vollständig abzubilden.<br />
Ähnliche Unterteilungen wurden von anderen Arbeitsgruppen vorgenommen: Zeitreihenanalysen<br />
psychosomatischer Arbeitsgruppen weisen ebenfalls daraufhin, dass die zeitlichen<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
29
Winfried Häuser <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e somatoforme Schmerzstörung?<br />
Verläufe von Schmerz und Depression unterschiedlich s<strong>ein</strong> können (27). Aufgrund des unterschiedlichen<br />
Ansprechens auf den 5-HT3-Rezeptorantagonist Tropisetron unterscheiden<br />
rheumatologische Autoren zwischen <strong>ein</strong>es FMS vom Typ der „endogenen Depression", vom<br />
Typ der schmerzreaktiven Depression und vom Typ ohne Depression (38). Die Aufgaben<br />
zukünftiger Forschungen sollte darin bestehen, die vorgeschlagene Einteilung des FMS in<br />
Subgruppen in größeren Stichproben aus unterschiedlichen Settings an Hand statistischer<br />
Methoden (Clusteranalyse) und physiologischen Parametern (z. B. Hyper- vs. Hypokortisolismus)<br />
zu unterscheiden und differenzierte Behandlungskonzepte zu entwickeln. Theoriegeleitet<br />
sollten Patienten vom Subtyp der somatoformen Schmerzstörung von <strong>ein</strong>er psychodynamischen<br />
Gruppentherapie (1) und Patienten vom Subtyp der somatisierten affektiven Störung<br />
von der Therapie mit Antidepressiva bzw. <strong>ein</strong>er störungsbezogenen Psychotherapie<br />
profitieren. Nach Subtypen und Schweregrade differenzierte und validierte multimodale sektorenübergreifende<br />
Behandlungskonzepte und ihre Implementierung in die Routineversorgung<br />
sind dringend notwendig, um die bei deutschen FMS-Patienten feststellbare medizinische<br />
Über- und Fehlversorgung <strong>ein</strong>zudämmen.<br />
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32 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
Was ist das Besondere am Muskelschmerz? 1<br />
Siegfried Mense<br />
Subjektive unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz sind seit langem bekannt (Tabelle<br />
1). Neben diesen subjektiven Unterschieden wurden in den letzten Jahren immer zahlreichere<br />
objektive Unterschiede (Tabelle 2) entdeckt. Diese objektiven Unterschiede ergaben<br />
sich sowohl in Tierexperimenten als auch in klinischen Studien und betrafen alle denen des<br />
Nervensystems vom Nozizeptor im Muskel bis zum Kortex, wo der Schmerz bewusst wird.<br />
Die derzeitige Situation in der Erforschung und Therapie des Schmerzes ist dadurch gekennzeichnet,<br />
dass immer gleich <strong>ein</strong> Großteil der Kenntnisse, die wir über Schmerzmechanismen<br />
besitzen, aus Untersuchungen des Hautschmerzes kommen. In der Klinik stellt dagegen<br />
der muskuloskelettale Schmerz zahlenmäßig das größere Problem dar, und auch die<br />
Therapie ist in vielen Fällen schwieriger bei Hautschmerz.<br />
Der folgende Aufsatz soll <strong>ein</strong>ige der gesicherten objektiven Unterschiede zwischen Hautund<br />
Muskelschmerz darlegen. Dabei werden nur <strong>ein</strong>ige Stationen des Schmerzweges und<br />
schmerzmodlierenden Mechanismen angesprochen, z. B. Rückenmark, Kortex, deszendierende<br />
Schmerzhemmung).<br />
Schaltung im Rückenmark<br />
Experimente an narkotisierten Ratten haben ergeben, dass die Verschaltung der marklosen<br />
sensorischen (afferenten) Fasern <strong>ein</strong>es Muskelnerven im Rückenmark sich deutlich von der<br />
<strong>ein</strong>es Hautnerven unterscheidet. Viele – aber nicht alle – Fasern dieses Typs sind nozizeptiv,<br />
vermittelten also Schmerzen. Bei elektrischer Reizung der marklosen sensorischen (C-)<br />
Fasern <strong>ein</strong>es Hautnerven (N. suralis) wurden signifikant mehr sensorische Neurone im Rückenmark<br />
erregt als nach Reizung der marklosen Nervenfasern in <strong>ein</strong>em Muskelnerven<br />
(Nerv zum M. gastrocnemius-soleus). Eine mögliche Erklärung für diesen Befund ist, dass<br />
die spinalen Reizeffekte der marklosen Muskelafferenzen stärker durch Impulsaktivität in<br />
markhaltigen Fasern unterdrückt werden als die Effekte der kutanen C-Fasern.<br />
1 Der vorliegende Beitrag „Was ist das Besondere am Muskelschmerz?“ von Siegfried Mense ist zuerst<br />
erschienen in der Zeitschrift „Der Schmerz“, Jahrgang 17, Heft 6/2003, S. 459-463 (5 Abbildungen).<br />
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Springer Science and Business Media.<br />
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33
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
Subjektive Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz<br />
Muskelschmerz Hautschmerz<br />
Bei plötzlichem Beginn k<strong>ein</strong> 1. und 2.<br />
Schmerz<br />
schlecht lokalisierbar Gut lokalisierbar<br />
Reisender, krampfender , drückender Charakter<br />
Bei plötzlichem Beginn deutlicher 1. und 2.<br />
Schmerz<br />
Stechender, brennender, schneidender Charakter<br />
Starke Tendenz zur Übertragung K<strong>ein</strong>e Übertragung<br />
Affektiv schlecht zu ertragen Affektiv besser erträglich<br />
Tab. 1: Subjektive Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz<br />
Diese Annahme bestätigte sich in Experimenten, in denen die markhaltigen A-Fasern in der<br />
Hinterwurzel durch Tetrodotoxin (<strong>ein</strong> Nervengift, das <strong>ein</strong>en großen Teil der Na + -Kanäle in<br />
Nervenfasern blockiert [1]) ausgeschaltet wurden. Nach Blockierung der markhaltigen Fasern<br />
wurde das durch marklose Muskelafferenzen hervorgerufene synaptische Potenzial an<br />
der Oberfläche des Rückenmarks signifikant größer [14]. Dieses Potenzial ist <strong>ein</strong> Maß für die<br />
Größe der erregten Zellpopulation. Die Vergrößerung des synaptischen Potenzials nach<br />
Tetrodotoxin war bei marklosen Hautafferenzen nicht vorhanden. Auch wenn der Muskel<br />
schmerzhaft pathologisch verändert ist, werden die Reizeffekte der marklosen Muskelafferenzen<br />
im Rückenmark verstärkt: Im Verlauf <strong>ein</strong>er experimentellen Myositis stieg der Anteil<br />
der durch diese Afferenzen erregten Hinterhornneurone signifikant an [8].<br />
Objektive Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz<br />
Muskelschmerz Hautschmerz<br />
K<strong>ein</strong>e Flexorreflexe bei Schmerzreiz im Muskel<br />
Geringe Reizwirkung der marklosen Muskelafferenzen<br />
auf Rückenmarksneurone<br />
Im Kortex starke Aktivierung des vorderen<br />
Gyrus cinguli<br />
Starke tonische Hemmung durch deszendierende<br />
antinozizeptive Bahnen<br />
Tab. 2: Objektive Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz<br />
Deutliche Flexorreflexe bei schmerzhafter<br />
Reizung der Haut<br />
Starke Reizwirkung der marklosen Hautafferenzen<br />
auf Rückenmarksneurone<br />
Im Kortex schwache Aktivierung des vorderen<br />
Gyrus cinguli<br />
Geringe tonische Hemmung durch deszendierende<br />
antinozizeptive Bahnen<br />
34 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
Schmerzübertragung<br />
Muskelschmerz hat im Gegensatz zum Hautschmerz <strong>ein</strong>e starke Tendenz zur Übertragung,<br />
d. h. die Patienten empfinden die Schmerzen nicht (nur) am Ort der Muskelläsion (z. B. an<br />
<strong>ein</strong>em Triggerpunkt), sondern u. U. in großer Entfernung davon. Ein Beispiel für die Übertragung<br />
der Schmerzen von <strong>ein</strong>em Triggerpunkt im M. soleus in das Gebiet des Sakroiliakalgelenks<br />
ist in Abb. 1 gezeigt. Höchstwahrsch<strong>ein</strong>lich ist die Schmerzübertragung durch Umschaltprozesse<br />
im Rückenmark bedingt, die dazu führen, dass die Schmerzinformation <strong>ein</strong>en<br />
anderen (falschen) Weg nimmt. Subjektiv ist die Umschaltung mit <strong>ein</strong>er Fehllokalisation der<br />
Schmerzquelle verbunden.<br />
Abb.1: Schmerzübertragung von <strong>ein</strong>em Triggerpunkt (TrP3) im M. soleus in das Sakroiliakaigelenkt.<br />
Der TrP erzeugt lokale Schmerzen im M. soleus, die durch Erregung von hier liegenden Nozizeptoren<br />
bedingt sind, und übertragene Schmerzen im Gebiet des Sakroiliakalgelenks, in dem k<strong>ein</strong>e Nozizeptoren<br />
aktiv sind (nach [16]).<br />
In Tierexperimenten kam es innerhalb weniger Stunden (bei der Ratte) zu solchen Umschaltprozessen<br />
im Hinterhorn des Rückenmarks, wenn <strong>ein</strong> peripherer Muskel schmerzhaft<br />
verändert war [7]. In diesem Fall bestand die schmerzhafte Läsion in <strong>ein</strong>er experimentellen<br />
Myositis, die zu <strong>ein</strong>em ständigen Impuls<strong>ein</strong>strom von den Muskelnozizeptoren in das Rückenmark<br />
führte. Das erste Anzeichen für <strong>ein</strong>e spinale Umschaltung war <strong>ein</strong>e Vergrößerung<br />
der Neuronenpopulation, die durch elektrische Reizung des Muskelnerven erregt werden<br />
konnte. Dies bedeutet, dass sich die vom Muskel verursachte Erregung im Rückenmark<br />
ausgebreitet hat. Grundlage für die Erregungsausbreitung im Rückenmark ist wahrsch<strong>ein</strong>lich<br />
die Durchschaltung von ursprünglich „stummen" Synapsen durch die Substanz P, die aus<br />
den ständig erregten marklosen Muskelafferenzen im Rückenmark freigesetzt wird [13] und<br />
die Effektivität dieser Synapsen so stark steigert, dass sie nun durch Aktionspotenziale aus<br />
dem Muskelnerven aktiviert werden, was normalerweise nicht der Fall ist.<br />
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35
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
Falls ähnliche Veränderungen auch bei Schmerzpatienten vorkommen, könnten sie die Ausbreitung<br />
und Übertragung von Muskelschmerzen erklären. Der – noch hypothetische – Mechanismus<br />
der Übertragung in das Sakroiliakalgelenk wäre wie folgt (Abb. 2):<br />
Abb. 2: Hypothetische Erklärung für <strong>ein</strong>e Schmerzübertragung, wie sie in Abb.1 dargestellt ist. Die<br />
Hypothese basiert auf der Annahme, dass Hinterhornneurone 2 Typen von funktionellen Verbindungen<br />
mit dem Muskel haben, nämlich 1. Verbindungen mit hoher synaptischer Effektivität, die praktisch<br />
immer im nachgeschalteten Neuron zu Aktionspotenzialen führen (durchgezogene Linien; im Fall des<br />
GS-Muskels führen sie zu den medialen Segmenten L5-S2) und 2. Verbindungen geringer synaptischer<br />
Effektivität, die normalerweise nicht durchgeschaltet sind (gestrichelte Linien). Durch den nozizeptiven<br />
Impuls<strong>ein</strong>strom aus dem TrP werden die ursprünglich ineffektiven Verbindungen durchgeschaltet,<br />
und der Impuls<strong>ein</strong>strom aus dem M. soleus kann benachbarte Zellen erregen, die das<br />
Sakroilikalgelenk sensorisch versorgen (hier im Segment L4 angenommen). Die verbesserte Durchschaltung<br />
wird von SP und CGRP bewirkt, die von den Afferenzen des M. soleus im Rückenmark<br />
freigesetzt werden und zu den benachbarten Synapsen diffundieren.<br />
Normalerweise werden Schmerzen im M. gastrocnemius-soleus (GS) über nozizeptive Neurone<br />
in den Segmenten L5-S2 vermittelt. Nach <strong>ein</strong>er gewissen Zeit breitet sich die durch die<br />
Nozizeptoren des Triggerpunkts bewirkte Erregung im Rückenmark aus. Sobald die Erregung<br />
benachbarte nozizeptive Neurone erreicht, die das Sakroilikalgelenk versorgen (in Abb.<br />
2 im Segment L4 angenommen), empfindet der Patient übertragene Schmerzen in diesem<br />
Gelenk, obwohl das Gewebe hier völlig normal ist und k<strong>ein</strong>e Nozizeptoren erregt sind.<br />
Die Übertragung von Muskelschmerzen ist demnach nichts anderes als <strong>ein</strong>e Fehllokalisation<br />
der Schmerzen, bedingt durch <strong>ein</strong>e läsionsinduzierte Umschaltung im Rückenmark oder anderen<br />
Teilen des ZNS. Die neuronale Grundlage für die Umschaltung ist <strong>ein</strong>e sog. zentrale<br />
Sensibilisierung, d. h. die benachbarten Hinterhornneurone sind durch den nozizeptiven Impuls<strong>ein</strong>strom<br />
aus dem Muskel empfindlicher geworden und reagieren auf Impulsaktivität in<br />
solchen Nerven von denen sie normalerweise nicht oder nur unterschwellig be<strong>ein</strong>flusst wer-<br />
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Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
den (<strong>ein</strong>e Übersicht über die neuronalen Mechanismen der zentralen Sensibilisierung und<br />
der Schmerzübertragung findet sich bei [10, 11, 12, 18]). Wenn der Therapeut den geschilderten<br />
Sachverhalt nicht berücksichtigt, wird eventuell nur das Sakroiliakalgelenk (fehl-<br />
)behandeln. Da die Neurone, die das Gebiet des übertragenen Schmerzes sensorisch versorgen,<br />
<strong>ein</strong>e veränderte Erregbarkeit aufweisen [17], kann man zwar das Schmerzgeschehen<br />
in geringem Maße auch durch Behandlung des Sakroiliakalgelenks be<strong>ein</strong>flussen, aber<br />
<strong>ein</strong>e kausale Therapie ist nur am Triggerpunkt möglich.<br />
Verarbeitung in der Hirnrinde<br />
Messungen der kortikalen Aktivität des Menschen mit bildgebenden Verfahren haben ergeben,<br />
dass bei schmerzhafter Reizung <strong>ein</strong>es Skelettmuskels andere kortikale Gebiete erregt<br />
werden als bei schmerzhafter Reizung der darüberliegenden Haut. Abbildung 3 zeigt das<br />
Ergebnis <strong>ein</strong>er PET (Positronenemissionstomographie)-Messung bei gesunden Versuchspersonen<br />
[15]. Schmerzhaft gereizt wurden entweder der linke M. brachioradialis (elektrische<br />
Reizung) oder die Haut über diesem Muskel (Reizung mit <strong>ein</strong>em Laser). Das Muster der Aktivitätsverteilung<br />
im Kortex zeigt deutliche Unterschiede bei Muskel- und Hautschmerz. Besonders<br />
offensichtlich ist der Unterschied in der Medialansicht der rechten Hemisphäre:<br />
Abb. 3: Durch Muskel- bzw. Hautschmerz aktivierte Kortexareale (grau schattiert). Gemittelte Positronenemissionstomogramme<br />
(PET) von gesunden Versuchspersonen. Obere Reihe: Aktivierungsmuster<br />
bei schmerzhafter Reizung der Haut. Untere Reihe: Muster bei schmerzhafter Reizung des Muskels.<br />
Jeweils von links nach rechts: rechte Hemisphäre von lateral, linke Hemisphäre von lateral, rechte<br />
Hemisphäre von medial, linke Hemisphäre von medial. Gereizt wurde entweder der linke M. brachioradialis<br />
(elektrische Stimulation) oder die darüber liegende Haut (Laserstimulation). Ein deutlicher<br />
Unterschied im Muster der Aktivierung ist in der Medialansicht der rechten Hemisphäre (rechts med.)<br />
erkennbar, wo nur bei Muskelreizung <strong>ein</strong>e starke Aktivierung im vorderen Gyrus cinguli (Pfeil) besteht<br />
(nach [15])<br />
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37
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
Bei schmerzhafter Reizung des Muskels findet sich <strong>ein</strong>e deutlich stärkere Aktivierung im vorderen<br />
Gyrus cinguli. Der Gyrus cinguli wird mit der affektiv-emotionalen Schmerzkomponente<br />
und der erhöhten Aufmerksamkeit bei Schmerzreizen in Verbindung gebracht. Dieser Befund<br />
würde zu der stärkeren affektiven Betonung von Muskelschmerzen passen (Tabelle 1).<br />
Deszendierende Schmerzhemmung<br />
Ob wir Schmerzen empfinden, hängt nicht nur von der Einwirkung von Schmerzreizen, sondern<br />
auch von der Aktivitätsschmerz hemmender Mechanismen ab. So können Verletzungen<br />
schmerzlos bleiben, wenn die schmerzhemmenden Netzwerke besonders stark aktiv sind,<br />
wie z. B. bei Leistungssportlern während des Wettkampfs. Umgekehrt können auch ohne<br />
schmerzhafte Reizung Schmerzen auftreten, wie z. B. bei vielen Formen von chronischen<br />
Schmerzen, wo k<strong>ein</strong>e Gewebsläsionen nachweisbar sind.<br />
Abb. 4: Schematische Darstellung des deszendierenden schmerzhemmenden Systems (grau schraffiert).<br />
PAG: periaeqäduktale graue Substanz im Mesenzephalon; NRM Nucl. raphe magnus in der<br />
Medulla oblongata, Rgc Nucl. reticularis gigantocellularis; Rmc Nucl. reticularis magnocellularis; Rpgl<br />
Nucl. reticularis paragigantocellularis; Neurotransmitter, die im System verwendet werden: E Enkephalin;<br />
NE Noradrenalin; nicht <strong>ein</strong>gezeichnet: Serotonin als Transmitter, mit dem das deszendierende<br />
System die sensorischen Neurone auf Rückenmarksneurone hemmt [2]. Weiterhin sind der Ort<br />
der experimentellen Kühlung des dorsalen Rückenmarks kaudal der Medulla oblongata sowie die<br />
Ableitstelle der sensorischen Neurone im lumbalen Rückenmark vermerkt (s. Abb. 5)<br />
38 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
Ein besonders wichtiges schmerzhemmendes System stellen die deszendierenden antinozizeptiven<br />
Trakte dar [2, 5]. Die Ursprungsneurone des Systems liegen im Mesenzephalon,<br />
von hier gibt es <strong>ein</strong>e starke Verbindung zur Medulla oblongata mit dem wichtigen Kern Nucl.<br />
raphe magnus (NRM). Von der Medulla oblongata deszendieren multiple Bahnen, die das<br />
ganze Rückenmark entlanglaufen und hier nozizeptive Hinterhornneurone hemmen (Abb. 4).<br />
Abb. 5: Registrierung der Impulsaktivität <strong>ein</strong>es nozizeptiven Neurons im lumbalen Rückenmark, a Bei<br />
intakter deszendierender Hemmung. Das Neuron konnte durch schmerzhaftes Kneifen der subkutanen<br />
Gewebe des Sprunggelenks und durch starke Reizung mit <strong>ein</strong>em mechanischen Reizgerät (4,9<br />
und 7,35 N) erregt werden. Schwache (nicht schmerzhafte) Reize (2,94 N) waren ohne Effekt. b Nach<br />
Unterbrechung der deszendierenden Hemmung durch Rückenmarkskühlung. Wenige Minuten nach<br />
Einschalten der Kühlung (cord cooling) waren die Antworten auf starke Reize vergrößert (7,35 und 4,9<br />
N), und das Neuron reagierte nun auch auf den vorher ineffektiven Reiz (2,9 N; aus [19])<br />
Ein Beispiel für den Einfluss der deszendierenden Hemmung auf <strong>ein</strong> nozizeptives spinales<br />
Neuron zeigt Abb. 5. In diesem Tierexperiment wurde die ständige, aktive Hemmung durch<br />
Kühlung der deszendierenden Trakte ausgeschaltet. Erwartet wurde <strong>ein</strong>e Enthemmung der<br />
Neurone, d. h. <strong>ein</strong>e stärkere Erregung durch extrerne Reize. Der Ort der Kühlung befand<br />
sich zwischen Medulla oblongata und dem Ableitort des Neurons im lumbalen Rückenmark<br />
(Abb. 4). Wie Abb. 5 zeigt, trat nach Unterbrechung der deszendierenden Bahnen die Enthemmung<br />
in extremer Weise auf: Das Neuron reagierte bei intakter deszendierender Hemmung<br />
nur auf starke bis schmerzhafte Reize (Abb. 5a) und verhielt sich somit wie <strong>ein</strong> nozizeptives<br />
Neuron. Nach Blockierung der deszendierenden Hemmbahnen (Abb. 5b) entwickelte<br />
das Neuron <strong>ein</strong>e Ruheaktivität und reagierte auf die mechanischen Reize mit deutlich<br />
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39
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
stärkeren Aktivitätssteigerungen. Besonders wichtig ist der Befund, dass die Zelle nun auch<br />
durch den schwächsten, nichtschmerzhaften Reiz, erregt wurde (2,94 N). Sensorische Neurone<br />
mit Antrieb von Nozizeptoren der Haut zeigten in denselben Experimenten <strong>ein</strong>e signifikant<br />
geringere Wirkung des deszendierenden Hemmsystems [19]. Überträgt man diese Befunde<br />
– etwas spekulativ – auf den Menschen, würde dies bedeuten, dass allgem<strong>ein</strong> der<br />
Tiefenschmerz stärker deszendierend gehemmt wird als der Hautschmerz.<br />
Neben Serotonin ist Enkephalin – <strong>ein</strong>e körperpereigene Substanz mit morphinähnlicher Wirkung<br />
– <strong>ein</strong>er der wichtigsten Transmitter des deszendierenden schmerzhemmenden Systems<br />
[2]. Unter der Prämisse, dass der Tiefenschmerz stärker durch die deszendierende<br />
Hemmung be<strong>ein</strong>flusst wird, sollten Morphin und verwandte Substanzen Tiefenschmerz stärker<br />
lindern als Hautschmerz. Die Testung <strong>ein</strong>es über �-Rezeptoren wirkenden Opioids (Remifentanil)<br />
bei Versuchspersonen ergab tatsächlich, dass das Analgetikum experimentelle<br />
Muskelschmerzen deutlich stärker dämpfte als Hautschmerzen [4]. Eine mögliche Interpretation<br />
dieser Beobachtung wäre, dass der �-Agonist die deszendierende Hemmung aktiviert<br />
und daher vorwiegend Tiefenschmerzen unterdrückt.<br />
Es ist denkbar, dass <strong>ein</strong>e Fehlfunktion des deszendierenden antinozizeptiven Systems zu<br />
chronischen generalisierten Spontanschmerzen und Hyperalgesie in tiefen Geweben (Muskeln,<br />
Sehnen, Faszien, Gelenken) führen kann, ohne dass dort <strong>ein</strong>e Läsion vorhanden ist.<br />
Solche generalisierten Muskelschmerzen sind das Hauptsymptom bei <strong>Fibromyalgie</strong>patienten.<br />
Eine Fehlfunktion des antinozizeptiven Systems wird daher als <strong>ein</strong>e der möglichen Ursachen<br />
der Schmerzen bei <strong>Fibromyalgie</strong> diskutiert [3, 6, 9].<br />
Fazit für die Praxis<br />
Insgesamt zeigt die hier vorgestellte unvollständige Auswahl von Ergebnissen, dass sich der<br />
Muskelschmerz auf allen Ebenen des Nervensystems deutlich vom Hautschmerz unterscheidet.<br />
Eine Übertragung der Mechanismen des Hautschmerzes auf den Muskelschmerz<br />
ist daher nicht gerechtfertigt. Langfristig wird man noch stärker als bisher die Entwicklung<br />
von Medikamenten forcieren müssen, die speziell gegen Muskelschmerz <strong>ein</strong>gesetzt werden<br />
können.<br />
40 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
Zusammenfassung<br />
Fragestellung. Lässt sich Muskelschmerz <strong>ein</strong>deutig aufgrund objektiver (neurobiologischer)<br />
Unterschiede vom Hautschmerz abgrenzen?<br />
Methodik. Die Ergebnisse stammen teils aus Experimenten an narkotisierten Ratten, teils<br />
aus Untersuchungen an Versuchspersonen oder Patienten mit chronischen Muskelschmerzen.<br />
Ergebnisse. Auf praktisch allen Ebenen des Schmerzweges (angesprochen werden Rückenmark,<br />
Kortex, deszendierende schmerzhemmende Bahnen) bestehen deutliche Unterschiede<br />
in der Verschaltung oder Verarbeitung der nozizeptiven Information vom Muskel<br />
gegenüber der Haut.<br />
Schlussfolgerungen. Wegen der grundlegenden Unterschiede zwischen der Neuroanatomie<br />
und den Mechanismen des Muskel- und Hautschmerzes dürfen Ergebnisse aus Untersuchungen<br />
des Hautschmerzes nicht ohne weiteres auf den Muskelschmerz übertragen werden.<br />
In Zukunft sollten in stärkerem Ausmaß als bisher Medikamente speziell für die Behandlung<br />
von Muskelschmerzen entwickelt werden.<br />
Literatur<br />
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Lett 74: 3<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
41
Siegfried Mense Was ist das Besondere am Muskelschmerz?<br />
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with deep receptive fields. Neurosci 39: 823<br />
42 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />
Stefan Lautenbacher<br />
1. Einleitung<br />
Die <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong> chronisches Schmerzsyndrom mit multiplen, teilweise großflächigen<br />
Schmerzarealen in der Muskulatur und im Sehnenapparat sowie mit <strong>ein</strong>er deutlich erhöhten<br />
Druckschmerzhaftigkeit – wird immer wieder in die Nähe anderer Erkrankungen aus dem<br />
somatoformen Störungsspektrum gerückt. Aufgrund von syndromaler Ähnlichkeit und epidimologischen<br />
Überlappungen wären in diesem Zusammenhang das Reizkolon, die Somatisierungsstörung,<br />
die Neurasthenie, die hypochondrische Störung, das chronische Müdigkeitssyndrom,<br />
die Reizblase, das chronische Magen-Darm-Syndrom, die somatisierte Depression,<br />
die somatoforme autonome Funktionsstörung und die Multiple Chemical Sensitivity<br />
zu nennen. Es kann vermutet werden, dass diesen Störungsbildern <strong>ein</strong>e erhöhte Reagibilität<br />
in verschiedenen psychophysiologischen Systemen gem<strong>ein</strong>sam ist. Die <strong>Fibromyalgie</strong> wurde<br />
beispielsweise das Irritable Everything Syndrome genannt. Im Folgenden möchte ich aufzeigen,<br />
dass diese erhöhte Reagibilität offenbar nicht allgem<strong>ein</strong>, sondern spezifisch bei aversiver<br />
Stimmulation bei der <strong>Fibromyalgie</strong> zu bestehen sch<strong>ein</strong>t.<br />
2. Veränderte Schmerzwahrnehmung bei <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Subjektive Indikatoren: Bereits früh nach der vorläufigen Etablierung der Diagnose der<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> konnte nachgewiesen werden, dass Fibromyalgiker unter <strong>ein</strong>er deutlich veränderten<br />
Schmerzsensibilität leiden. So konnten Tunks und Kollegen (1988) bereits nachweisen,<br />
dass <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten nicht nur unter <strong>ein</strong>er deutlich erhöhten Druckschmerzhaftigkeit<br />
an den sogenannten Tender Points leiden, sondern auch deutlich niedrigere Druckschmerzschwellen<br />
an anderen Orten aufweisen. Dieses Ergebnis wurde von Lautenbacher<br />
et al. (1994) bestätigt und insofern erweitert, dass die Autoren auch bei Hitzeschmerzschwellen<br />
<strong>ein</strong>e signifikante Erniedrigung bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten fanden (siehe Abbildung 1).<br />
Kosek et al. (1996) konnten ergänzend demonstrieren, dass vergleichbare Schmerzschwellenunterschiede<br />
für Druck und Hitze wie bei Lautenbacher et al. zwischen Fibromyalgikern<br />
und schmerzfreien Personen sowohl in schmerzbefallenen wie auch in schmerzfreien Arealen<br />
zu finden sind. Die erhöhte Schmerzempfindlichkeit ist also nicht lokal an das Vorhandens<strong>ein</strong><br />
von Schmerzen gebunden. Weder bei Lautenbacher et al. noch bei Kosek et al. waren<br />
vergleichbare Sensibilitätserhöhungen bei nicht schmerzhafter Stimulation für Fibromyalgiker<br />
nachzuweisen.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
43
Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />
Temperatur °C<br />
48<br />
47<br />
46<br />
45<br />
44<br />
43<br />
42<br />
41<br />
40<br />
Abb. 1: Hitzeschmerzschwellen bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten und Kontrollpersonen an <strong>ein</strong>em Tender<br />
Point (Trapezius-Muskel) und an <strong>ein</strong>em Kontrollpunkt (nach Lautenbacher et al. 1994)<br />
Lautenbacher et al. (1994) berechneten Korrelationen zwischen dem <strong>Fibromyalgie</strong>schmerz<br />
gemessen mit dem McGill-Schmerzfragebogen und der Schmerzempfindlichkeit gemessen<br />
mit den Schmerzschwellen für Druck, Hitze und elektrischen Strom. Insgesamt waren die<br />
Zusammenhänge sehr schwach und nur in Einzelfällen signifikant, so dass angenommen<br />
werden muss, dass zumindest in späteren Stadien des <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndroms erhöhte<br />
Schmerzempfindlichkeit und Spontanschmerz unabhängige Größen geworden sind.<br />
Zentralnervöse Indikatoren: Die erhöhte Schmerzempfindlichkeit wurde oft als Ausdruck <strong>ein</strong>es<br />
aggravierenden Schmerzverhaltens abgetan. Jedoch führen Nachweise mit zentralnervösen<br />
Indikatoren der Schmerzreaktion zu ganz ähnlichen Befunden wie subjektive Messungen.<br />
So konnte Lorenz (1998) zeigen, dass die laser-evozierten Hirnpotentiale, die zentralnervöse<br />
Indikatoren der Schmerzreaktionen sind, bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten deutlich größer<br />
ausfallen als bei gesunden Personen (siehe Abbildung 2). Ein ähnlicher Unterschied fand<br />
sich für akkustisch evozierte Potentiale hingegen nicht. Auch mit bildgebenden Verfahren<br />
konnte nachgewiesen werden, dass Fibromyalgiker bei gleicher Schmerzstimulation in vielen<br />
Teilen des Gehirns <strong>ein</strong>e erhöhte Aktivität im Vergleich zu gesunden Personen aufweisen<br />
(siehe Abbildung 3). Das Schmerznetzwerk im Gehirn wird also bei Fibromyalgikern leichter<br />
angesprochen und ist reagibler. Wie schon ausgeführt zeigte sich auch bei den zentralnervösen<br />
Indikatoren die erhöhte Reagibilität primär bei schmerzhafter Stimulation.<br />
44 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
**<br />
Kontrolle<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>
Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />
Zeit Zeit<br />
Abb. 2: Laser-evozierte (LEP) und akkustisch-evozierte (AEP) Hirnpotentiale bei <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />
Patienten und gesunden Kontrollpersonen (modifiziert nach Lorenz 1998)<br />
Abb. 3: Hirnregionen, die bei gleicher Druckstimulation signifikant stärker bei Fibromyalgikern aktiviert<br />
werden, in „rot“ (fMRI-Analyse). Abkürzung: SI = Somatosensorischer Cortex I, SII = Somatosensorischer<br />
Cortex II, ACC = Anteriorer Cortex cinguli, IPL = Inferiorer Parietal-Lappen, STG = Gyrus temporalis<br />
superior, PCC = Posteriorer Cortex cinguli (nach Gracely et al. 2002)<br />
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<strong>Fibromyalgie</strong><br />
Kontrolle<br />
45
Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />
3. Erklärungsansätze für die erhöhte Empfindlichkeit bei aversiven Reizen<br />
Mangelhafte Schmerzhemmung: Lautenbacher und Rollman (1997) und Kosek und Hansson<br />
(1997) konnten wahrsch<strong>ein</strong>lich machen, dass das durch Schmerz auslösbare Schmerzhemmsystem<br />
die sogenannten Diffuse Noxious Inhibitory Controls (DNIC) bei Fibromyalgikern<br />
schlechter zu aktivieren ist als bei gesunden Personen (siehe Abbildung 4). Dieses<br />
Schmerzhemmsystem, das dem Phänomen „Schmerz unterdrückt Schmerz“ zugrunde liegt,<br />
verläuft in <strong>ein</strong>er supraspinalen Schleife über den Hirnstamm und gehört mit monoaminergen<br />
und opioidergen Zwischengliedern zum deszendierenden Schmerzhemmsystem.<br />
Strom (mA)<br />
Schmerzschwellen<br />
(Residuen)<br />
Hitzeschmerz Hitze Baseline<br />
Hemmungsauslösende Reize<br />
<strong>Fibromyalgie</strong><br />
Kontrolle Kontrolle<br />
Abb. 4: Schmerzschwellenunterschiede zwischen den Bedingungen Baseline (ohne Stimulation),<br />
Hitze (noch nicht schmerzhafte Hitzestimulation) und Hitzeschmerz (leicht schmerzhafte Hitzestimulationen)<br />
bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten und Kontrollpersonen. Es wird deutlich, dass die hemmungsauslösende<br />
Stimmulation bei den Kontrollpersonen deutlichere Schmerzschwellenerhöhungen bewirkt als<br />
bei den <strong>Fibromyalgie</strong>Patienten, die Hemmung folglich stärker aktiviert (modifiziert nach Lautenbacher<br />
und Rollman 1997)<br />
Hypervigilanz: Nach dem Hypervigilanz-Konzept neigen Fibromyalgiker dazu, aversive Reize<br />
dauerhaft und rigide mit ihrer Aufmerksamkeit zu fokussieren. Plausibel gemacht werden<br />
konnte diese Annahme durch Befunde, die zeigten, dass Fibromyalgiker nicht nur erniedrigte<br />
46 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />
Schmerzschwellen aufweisen, sondern auch auf laute Töne empfindlicher reagieren<br />
(McDermid et al, 1996). Diese erhöhte Geräuschempfindlichkeit ist den Patienten auch bewusst.<br />
Des weiteren konnte gezeigt werden, dass Fibromyalgiker auch auf schmerzbezogene<br />
Wörter stärker mit <strong>ein</strong>er Aufmerksamkeitszuwendung reagieren bzw. sich von solchen<br />
Wörtern nicht ablenken lassen (Dehghani et al, 2003). Eine starke Fokussierung der Aufmerksamkeit<br />
auf potentiell aversive Reize ist bei Fibromyalgikern also sehr wahrsch<strong>ein</strong>lich.<br />
Psychoendokrine Wahrnehmungsfilter: Stresshormone unterstützen die Aufmerksamkeitslenkung<br />
und helfen unter belastenden Bedingungen die Wahrnehmung aversiver Reize zu<br />
reduzieren. Trotz nicht <strong>ein</strong>heitlicher Datenlage ist zu vermuten, dass Patienten mit <strong>Fibromyalgie</strong><br />
die Stresshormonachse schlechter aktivieren können und auch unter Ruhebedingungen<br />
geringere Mengen von Stresshormonen, speziell von Kortisol ausschütten (siehe z.B.<br />
Griep et al, 1998). In <strong>ein</strong>er ganz neuen Studie konnten wir zeigen, dass die Kortisolreagibilität<br />
(die Suppression von Kortisol nach Dexamethason und das Ansteigen des Kortisolspiegels<br />
nach dem Aufwachen) und die Schmerzempfindlichkeit sowie der spontane <strong>Fibromyalgie</strong>schmerz<br />
substantiell korrelieren (siehe Abbildung 5). Dies sind erste Hinweise, dass die<br />
Hypervigilanz bei Fibromyalgikern nicht nur <strong>ein</strong> kognitives Geschehen ist, sondern dass auch<br />
hormonelle Bedingungen es den Patienten erschweren, aversive Reize frühzeitig in ihrer<br />
Wirkung zu unterdrücken.<br />
Korrelationskoeffizient<br />
0,7<br />
0,6<br />
0,5<br />
0,4<br />
0,3<br />
0,2<br />
0,1<br />
0<br />
Druck - TP Druck - KP Hitze - TP Hitze - KP <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />
Schmerz<br />
Abb. 5: Multiple Korrelationen zwischen der Kortisol-Reagibilität (Suppression durch Dexamethason<br />
(0.5 mg), morg<strong>endlich</strong>er Kortisolanstieg nach dem Erwachen) und den Druck– bzw. Hitzeschmerzschwellen<br />
an <strong>ein</strong>em Tender Point (TP) und an <strong>ein</strong>em Kontrollpunkt (KP) sowie dem spontanen <strong>Fibromyalgie</strong>schmerz<br />
(Lautenbacher et al., unveröffentlichte Daten)<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
47
Stefan Lautenbacher <strong>Fibromyalgie</strong>: Eine Störung der Verarbeitung aversiver Reize<br />
4. Fazit<br />
Die Fibromyagie ist also offenbar weniger <strong>ein</strong> Irritable Everything Syndrome, sondern <strong>ein</strong>e<br />
spezifische Funktionsstörung der Wahrnehmungsfilter, die unser zentrales Nervensystem<br />
davor schützen sollen, von aversiven Reizen überschwemmt zu werden. Die Annahme <strong>ein</strong>er<br />
solchen Filterdysfunktion würde auch verständlich machen, dass bei Fibromyalgikern häufig<br />
andere Reizsyndrome wie Reizkolon, Reizblase, Multiple Chemical Sensitivity, etc. vorkommen.<br />
Diese syndromale Überlappung ist daher auch <strong>ein</strong>e Bestätigung der beschriebenen<br />
experimentellen Befunde. Inwieweit solche Filterdysfunktionen reversibel sind, ist bislang<br />
noch ungeklärt.<br />
Literatur<br />
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48 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von<br />
Schmerz?<br />
H<strong>ein</strong>z-Dieter Basler<br />
1. <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong> Syndrom ohne Ätiologie?<br />
Crofford und Clauw (2002) stellten, zehn Jahre nachdem das American College of Rheumatology<br />
die Klassifikationskriterien für <strong>Fibromyalgie</strong> entwickelt hatte, fest, dass unter vielen<br />
Rheumatologen <strong>ein</strong>e erhebliche Frustration bestünde, weil die ätiopathogenetischen Mechanismen<br />
der Erkrankung immer noch nicht bekannt wären. Unser Wissen darüber, mit welchen<br />
Mechanismen die <strong>Fibromyalgie</strong> assoziiert ist, hat sich zwar in den letzten Jahren ständig<br />
erweitert. Eine Assoziation kann allerdings höchstens dazu dienen, Hypothesen über<br />
kausale Mechanismen aufzustellen, <strong>ein</strong> Beweis für kausale Zusammenhänge ist daraus nicht<br />
abzuleiten.<br />
Das Vollbild der <strong>Fibromyalgie</strong> ist sowohl mit somatischen als auch mit psychischen Auffälligkeiten<br />
assoziiert. Auf der somatischen Seite finden wir neben <strong>ein</strong>er Sensitivierung in Bezug<br />
auf Schmerzreize auch Veränderungen im Muskelgewebe und Veränderungen im hormonellen<br />
System. Bei <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten zeigt sich <strong>ein</strong>e generalisierte Hyperalgesie (Graven-<br />
Nielsen et al., 1999). Wir beobachten s<strong>ein</strong>e vermehrte Sensitivität für thermische, mechanische<br />
und elektrische Reize. Dies legt nahe, dass es beim <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom zu veränderten<br />
zentralnervösen Abläufen in der Schmerzverarbeitung kommt (Flor, 2003). Zu den<br />
wesentlichen zentralnervösen Mechanismen für die Entstehung des <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />
Schmerzes gehören die temporale Summation des Schmerzes (Wind-up) und die zentrale<br />
Sensitivierung (Staud et al., 2001). Hyperalgesie und Allodynie sind die Folge.<br />
Muskelbiopsien zeigten <strong>ein</strong>e Atrophie der Tpy-II-Fasern sowie Veränderungen in mitochondrialen<br />
und tubulären Strukturen (Goldenberg, 1988). Tendenziell zeigte sich <strong>ein</strong>e Typ-I-<br />
Faser Hypertrophie. Lund et al. (1986) konnten mit <strong>ein</strong>er Sauerstoffelektrode in den spezifischen<br />
Tender Points der Patienten <strong>ein</strong>e schlechtere Oxygenierung als in schmerzfreiem<br />
Gewebe feststellen. Dies führt bei den Patienten erheblich schneller als bei Gesunden zur<br />
anaeroben Glykolyse und schließlich zu <strong>ein</strong>er Schmerzsymptomatik, wie sie auch bei Gesunden<br />
nach schwerer, inadäquater körperlicher Anstrengung auftritt. Des weiteren konnte<br />
<strong>ein</strong>e Verarmung an Carnitin aus der Vitamin B Gruppe nachgewiesen werden. Das Problem<br />
ist, dass die meisten dieser Befunde nicht spezifisch für das <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom sind,<br />
sondern auch bei anderen stark chronifizierten Schmerzkrankheiten auftreten. Die Veränderungen<br />
im Muskelgewebe können zudem weitgehend als Zeichen <strong>ein</strong>er Inaktivitätsatrophie<br />
gedeutet werden. Diese Aussage gilt auch für die beobachteten hormonellen Veränderungen,<br />
die sich in <strong>ein</strong>er Störung der zirkadianen Rhythmik des Cortisols, <strong>ein</strong>er Erniedrigung des<br />
Serotonin-Spiegels, <strong>ein</strong>er Erhöhung des Spiegels von Substanz P und <strong>ein</strong>em Mangel an<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
49
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
Wachstumshormonen (STH) darstellen (Ferraccioli et al., 1990). Diese Veränderungen können<br />
am besten interpretiert werden als Hinweis auf <strong>ein</strong>e Dysregulation der Hypothalamus-<br />
Hypophysen-Nebennierenrindenachse, die ebenfalls nicht als spezifisch für die <strong>Fibromyalgie</strong><br />
angesehen werden kann.<br />
Abb. 1: Zentrale Mechanismen bei chronischem Schmerz<br />
Im Vergleich zu Gesunden sind <strong>Fibromyalgie</strong> Patienten psychisch auffällig. Die Übersichtsarbeiten<br />
von Blumenstiel und Eich (2003), Egle et al. (2004) sowie Wolfe und Hawley (1998)<br />
weisen auf erhöhte Prävalenzraten depressiver Verstimmungen und Angststörungen hin. Die<br />
affektive Schmerzbeschreibung dominiert vor der sensorischen, und die Anzahl der berichteten<br />
kritischen Lebensereignisse (z.B. Traumatisierungen, sexueller Missbrauch) ist erhöht.<br />
Einher gehen diese Auffälligkeiten mit <strong>ein</strong>em verminderten Selbstwertgefühl. Jedoch gilt<br />
auch für die psychischen Auffälligkeiten, dass diese nicht spezifisch für die <strong>Fibromyalgie</strong><br />
sind, sondern dass sie sich bei allen Patienten finden lassen, die über lange Zeit unter chronischen<br />
Schmerzen leiden.<br />
Das Fazit der bisherigen Überlegungen besteht darin, dass offenbar die von Crofford und<br />
Clauw berichtete Frustration durch das gegenwärtig vorliegende Wissen immer noch nicht<br />
überwunden werden kann. Die vorgelegten ätiologischen Konzepte leiden alle unter dem<br />
Mangel an empirischer Fundierung. Die Reaktionen der Wissenschaftler auf diesen Sachverhalt<br />
sind unterschiedlich. Einige stellen in Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, die diagnostische<br />
Kategorie <strong>Fibromyalgie</strong> aufrecht zu erhalten (Raspe, 1996). Andere gehen davon aus,<br />
dass die Gruppe der derzeit mit der Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> belegten Patienten heterogen ist<br />
und <strong>ein</strong>e Subgruppenbildung das ätiologische Wissen verbessern könnte. Wieder andere<br />
konzentrieren sich auf die Gem<strong>ein</strong>samkeiten, die <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten mit anderen Patienten<br />
haben, die unter chronischem Schmerz leiden. Für letztere steht nicht die Frage im Vor-<br />
50 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
dergrund, wie es zu den initialen Symptomen kam, sondern die Frage, wie diese Symptome<br />
sich im Prozess der Chronifizierung zu dem Vollbild des <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndroms ausformten.<br />
Zu den letzteren gehören Main und Williams (2002). Sie stellen die These auf, die Bezeichnung<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> diene all<strong>ein</strong> der Deskription <strong>ein</strong>er Symptomatik, habe aber k<strong>ein</strong>e spezifische<br />
ätiologische Bedeutung. Kouyanou et al. (1998) sind überzeugt, dass Patienten, denen<br />
die Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> zugeschrieben wird, am Anfang ihrer Patientenkarriere “medically<br />
unexplained symptoms” aufwiesen. In der Folge wurde dann durch iatrogene Prozesse und<br />
psychische Komorbidität in <strong>ein</strong>em Zusammenwirken von Arzt und Patient gem<strong>ein</strong>sam das<br />
Krankheitsbild gestaltet, welches schließlich als <strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom bezeichnet wird.<br />
Die Evidenz über die Prozesse der Chronifizierung wurde vorwiegend durch Studien an Patienten<br />
mit unspezifischem Rückenschmerz gewonnen. Es gilt als gut belegt, dass bei dieser<br />
Patientengruppe sowohl iatrogene Faktoren als auch operante Prozesse sowie spezifische<br />
Kognitionen den Prozess der Chronifizierung begünstigen. Es soll der Frage nachgegangen<br />
werden, ob der Prozess der Chronifizierung sich bei <strong>Fibromyalgie</strong> nicht in ähnlicher Weise<br />
abspielen könnte wie beim Rückenschmerz.<br />
2. Risiken für Chronifizierung<br />
Iatrogene Risiken<br />
Von Kouyanou et al. (1997) wurde in Londoner Schmerzkliniken <strong>ein</strong>e umfangreiche Studie<br />
über den ärztlichen Beitrag zur Chronifizierung durchgeführt. Einbezogen wurden 125 neu<br />
aufgenommene Patienten mit chronischem Schmerz unterschiedlicher Diagnosen mit mindestens<br />
sechs Monaten Dauer, die alle zuvor in der Regelversorgung behandelt worden waren.<br />
Krebspatienten wurden ausgeschlossen. Der iatrogene Beitrag zur Chronifizierung wurde<br />
den folgenden Kategorien zugeordnet:<br />
Überversorgung mit bildgebender Diagnostik und medikamentöser Therapie<br />
Bei 27 % der Stichprobe wurde <strong>ein</strong>e mehrfach wiederholte Untersuchung mit immer aufwändigeren<br />
bildgebenden Verfahren (CT, MRI) durchgeführt, obgleich <strong>ein</strong>e Indikation nicht gegeben<br />
erschien und die Befunde wiederholt negativ waren. 57 % der Patienten hatten mehr<br />
als fünf Behandlungen sequentiell und nicht auf<strong>ein</strong>ander abgestimmt erhalten. Bei 28 % der<br />
Patienten gab es entweder nicht sinnvolle Einnahmeschemata (schmerzkontingent statt zeitkontingent)<br />
oder <strong>ein</strong>e nicht angebrachte Kombination von Schmerzmedikamenten.<br />
Unterversorgung mit Information und Beratung<br />
B<strong>ein</strong>ahe die Hälfte der Patienten hatte bisher k<strong>ein</strong>e plausible Erklärung für ihren Schmerz<br />
bekommen und jeder Vierte berichtete darüber, vom Arzt sei angedeutet worden, dass der<br />
Schmerz nicht glaubhaft sei („pain is in the mind“, „not real“, „imaginative“, „there is nothing<br />
wrong with you“). Es wurde selten deutlich gemacht, dass bildgebende Verfahren den<br />
Schmerz nicht abbilden können und dass <strong>ein</strong> negativer Befund nicht ausschließt, dass der<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
51
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
Schmerz erklärbare Ursachen hat. Als besonders problematisch wurde der Umgang der Ärzte<br />
mit der Bettruhe angesehen. Etwa drei Viertel der Befragten hatte den Rat erhalten, sich<br />
bei vorhandenen Schmerzen zu schonen.<br />
Nichtbeachtung psychischer Komorbidität<br />
Bei 10 % der Patienten wurde <strong>ein</strong>e psychische Komorbidität gefunden, die vorher nicht beachtet<br />
worden war (major depression, bipolar disorder, somatization disorder) und die bisher<br />
<strong>ein</strong>e erfolgreiche Behandlung des Schmerzes verhindert hatte.<br />
nach: Turk, 1999<br />
Wahrnehmung und Bewertung von Symptomen<br />
Suche nach Hilfe<br />
<strong>ein</strong>seitige (nur auf Pathologie bezogene) Diagnostik und Therapie<br />
Enttäuschung<br />
„Doktor -Shopping“<br />
hohe Kosten, invasive Diagnostik und Therapie<br />
Andeutung: Simulant, psychogen, das Alter<br />
Patient resigniert oder verstärkt s<strong>ein</strong> Schmerzverhalten<br />
fortschreitende Chronifizierung<br />
Abb. 2: Chronifizierung durch unfreiwillige Mitwirkung des Arztes<br />
Bereits von Turk (1999) ist beschrieben worden, dass <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>seitig biologisch orientiertes<br />
Krankheitsmodell des Arztes dazu führt, ausschließlich mit Hilfe bildgebender Verfahren<br />
nach <strong>ein</strong>er Pathologie zu suchen, die den Schmerz zu erklären vermag. Zumindest beim<br />
Rückenschmerz ist es so, dass nur in höchstens 10 % der Fälle auf diese Weise <strong>ein</strong>e Erklärung<br />
für den Schmerz gefunden werden kann. Wird dieser negative Befund den Patienten<br />
nicht adäquat erklärt, wird der Patient weiter nach Ursachen für den Schmerz suchen. Es<br />
kommt bei nachfolgend kontaktierten Ärzten zu immer aufwändigeren diagnostischen Prozeduren<br />
und bei erneutem negativem Befund eventuell zu Andeutungen, der Schmerz sei psychogen<br />
oder der Patient <strong>ein</strong> Simulant, was dann auf Seiten des Patienten mit demonstrativem<br />
Schmerzverhalten beantwortet wird. Der Prozess der Chronifizierung setzt sich fort.<br />
Könnten die hier beschriebenen Prozesse nicht auch die Chronifizierung bei <strong>Fibromyalgie</strong><br />
erklären? Viele Patienten berichten im Frühstadium ihrer Symptomatik von <strong>ein</strong>er Odysee bei<br />
52 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
verschiedenen Behandlern und <strong>ein</strong>er großen Unzufriedenheit über die erhaltenen Erklärungen,<br />
bis sie schließlich die Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> erhielten.<br />
Risiken durch operante Prozesse<br />
Das operante Modell beschreibt, wie durch die Folgen individuellen Schmerzverhaltens (z.B.<br />
durch die Zuwendung von Bezugspersonen oder durch die Entlastung von Aufgaben) das<br />
Schmerzverhalten aufrecht erhalten, bzw. verstärkt werden kann (Keefe et al., 1990). Unabhängig<br />
von der Ursache des Schmerzes kann das Schmerzverhalten unter die Kontrolle verstärkender<br />
Umweltbedingungen kommen, wobei sowohl Prozesse der positiven als auch der<br />
negativen Verstärkung hierzu beitragen können. Die Patienten schränken als Folge von<br />
Lernprozessen ihre Aktivitäten immer mehr <strong>ein</strong>; es kommt bei ihnen langfristig zu <strong>ein</strong>em<br />
muskulären Übungsdefizit bis hin zur Muskelinsuffizienz, wodurch das Risiko von Verletzung<br />
und Schmerz ansteigt. Die zuvor beschriebenen Veränderungen, die im Muskelgewebe von<br />
Patienten mit der Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> beobachtet worden sind, könnten durch diese Prozesse<br />
auf dem Hintergrund <strong>ein</strong>er Inaktivitätsatrophie erklärt werden.<br />
Risiken durch inadäquate Kognitionen<br />
Kognitive Modelle erklären den Prozess der Chronifizierung durch die Denk- und Bewertungsmuster<br />
der Betroffenen, mit denen diese auf das Schmerzerleben antworten. Diese<br />
Muster sind wiederum durch übergreifende Krankheitsmodelle be<strong>ein</strong>flusst, z.B. durch die<br />
Überzeugung, alle Schmerzen hätten <strong>ein</strong>e Ursache in körperlicher Pathologie, wohingegen<br />
funktionellen Defiziten eher <strong>ein</strong>e geringe Bedeutung zuzuschreiben sei. Das Fear-Avoidance-Modell<br />
beschäftigt sich insbesondere mit der Einstellung der Betroffenen zur körperlichen<br />
Aktivität. Die kritische Kognition besteht in der Überzeugung, Aktivität sei zu vermeiden,<br />
<strong>ein</strong>e Überzeugung, die gespeist wird durch die Angst, die Aktivität werde schädliche Folgen<br />
haben oder zu mehr Schmerzen führen. Dabei kommt es sowohl zu <strong>ein</strong>er verstärkten Aufmerksamkeitslenkung<br />
auf interozeptive Signale als auch zu deren Überinterpretation, bzw.<br />
Überbewertung (Kronshage et al., 2001). Häufig ist diese Kognition vergesellschaftet mit<br />
<strong>ein</strong>er katastophisierenden Interpretationen der gesamten Krankheitssituation, die in Kombination<br />
mit <strong>ein</strong>er erlebten Hilflosigkeit <strong>ein</strong>er aktiven Mitarbeit in der Therapie entgegen steht<br />
(Vlaeyen und Crombez, 1999; Waddell et al., 1993). Auf der Verhaltensebene führen diese<br />
kognitiven Überzeugungen zu <strong>ein</strong>er fortschreitenden Vermeidung von Aktivität, Bewegung<br />
und Belastung, die wiederum erhebliche körperliche (Mineralveruste des Knochengerüstes,<br />
Verlust der koordinativen Fähigkeiten, Verringerung der Muskelhaltekräfte, Atrophie etc.) wie<br />
auch psychische Konsequenzen nach sich zieht und letztlich in <strong>ein</strong>er Immobilisierung münden<br />
kann. Auch wenn aussagekräftige Studien zu dieser Thematik an Patienten mit der Diagnose<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> noch nicht vorliegen, ersch<strong>ein</strong>t doch die Hypothese plausibel, dass die<br />
Kognitionen der Betroffenen dazu beitragen, das Vollbild der <strong>Fibromyalgie</strong> auszugestalten.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
53
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
3. Gültigkeit des vorgelegten Konzeptes<br />
Die <strong>Fibromyalgie</strong> ist definiert durch Schmerzen sowohl in der rechten als auch der linken<br />
Körperhälfte, oberhalb und unterhalb der Taille und in den Gliedmaßen sowie durch <strong>ein</strong>e<br />
Schmerzangabe bei mindestens 11 von 18 definierten Tender Points bei Palpation. Unter der<br />
Hypothese, das Vollbild der <strong>Fibromyalgie</strong> entwickele sich erst im Laufe der Chronifizierung<br />
des Schmerzes, müsste die Anzahl der schmerzhaften Tender Points abhängig s<strong>ein</strong> von<br />
dem Ausmaß der Chronifizierung <strong>ein</strong>es Schmerzleidens. Hüppe et al. (2004) überprüften<br />
diese Hypothese an <strong>ein</strong>er Stichprobe von 875 Personen, die bei <strong>ein</strong>er repräsentativen Befragung<br />
der Lübecker Bevölkerung angaben, unter Rückenschmerz zu leiden. Diese Personen<br />
wurden zu <strong>ein</strong>er medizinischen und psychologischen Untersuchung <strong>ein</strong>geladen. Die Anzahl<br />
der aktiven Tender Points wurden nach den Kriterien des American College of Rheumatology<br />
festgestellt. Außerdem wurden die Probanden in Analogie zu dem von von Korff et al.<br />
(1992) vorgeschlagenen Index <strong>ein</strong>em Schweregrad des Rückenschmerzes zugeordnet.<br />
Hierbei wurde die Schmerzintensität und die Funktionsbe<strong>ein</strong>trächtigung berücksichtigt.<br />
Aus Abb. 3 ist zu entnehmen, dass bei der Stichprobe das FMA-Kriterium „11 von 18 Tender<br />
Points positiv“ bei 2,9 % der Personen erfüllt war. Abb. 4 demonstriert, dass die zuvor geäußerten<br />
Erwartungen erfüllt wurden: Die Anzahl der schmerzhaften Tender Points ist abhängig<br />
von dem Schweregrad der Schmerzerkrankung. Die Autoren berichten außerdem, dass<br />
sich die nicht obligaten psychischen Begleitsymptome der <strong>Fibromyalgie</strong> mit zunehmendem<br />
Schweregrad des Rückenschmerzes immer stärker heraus bildeten.<br />
Dieses Ergebnis wird als Beleg dafür angesehen, dass sich die diagnostischen Kriterien der<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> erst im Prozess der Chronifizierung <strong>ein</strong>er Schmerzkrankheit entwickeln. Die<br />
sich hier zeigende zunehmende Hyperalgesie ist zudem vergesellschaftet mit zunehmendem<br />
psychologischen Distress.<br />
54 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
%<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
Schmerzhafte Tender Points<br />
(N = 616: 334 w, 282 m)<br />
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11+<br />
16 w, 2 m<br />
Abb. 3: Prozentualer Anteil der schmerzhaften Tender Points (Hüppe et al., 2004)<br />
Abb. 4: Die Abhängigkeit der Anzahl der schmerzhaften Tender Points von dem Schweregrad des<br />
Rückenschmerzes (Hüppe et al., 2004)<br />
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% Männer<br />
% Frauen<br />
FMA-Kriterium „Tender Points“ positiv bei 2.9 %<br />
(m: 0.07 %, w: 4.8 %)<br />
Schmerzhafte Tender Points<br />
und Rückenschmerz -Schweregrad (N = 867)<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
Anzahl<br />
M mit Konfidenzintervall<br />
Grad 0 Grad I Grad II Grad III<br />
Von-Korff-Index<br />
Kovarianzanalyse mit Alter und Geschlecht als Kovariate : p
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
4. Fazit<br />
Auch wenn die empirischen Belege für die Erklärung der <strong>Fibromyalgie</strong> durch Prozesse der<br />
Chronifizierung noch nicht ausreichend sind, um die Hypothese als gesichert anzusehen, hat<br />
sie doch <strong>ein</strong>e gewisse Plausibilität. Es ist zu vermuten, dass am Beginn der Patientenkarriere<br />
<strong>ein</strong> ungeklärtes Schmerzbild steht, dass von Kouyanou et al. (1997, 1998) als „medically<br />
unexplained“ bezeichnet wird. Iatrogene Prozesse, operante Konditionierung und maladaptive<br />
Kognitionen tragen dazu bei, dass die Chronifizierung fortschreitet. Es zeigen sich zunehmend<br />
somatische Veränderungen, z.B. Sensitivierungsphänomene, muskuläre Defizite<br />
und hormonelle Dysregulation. Auf das Wind-up Phänomen ist die zunehmende Ausprägung<br />
schmerzhafter Tender Points zurückzuführen. Schließlich treten auch die psychischen Folgen<br />
der Chronifizierung immer mehr in das Blickfeld. Das Vollbild der <strong>Fibromyalgie</strong> ist entstanden.<br />
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12. Lund N, Bengtsson A, Thorborg P (1986): Muscle tissue oxygen pressure in primary Fibromyalgia.<br />
Scand J Rheumatol 15: 165-173<br />
13. Main CJ, Williams A (2002): Musculoskeletal pain. BMJ 325: 534-537<br />
14. Raspe HH (1996): <strong>Fibromyalgie</strong> – <strong>ein</strong> Artefakt? Z Rheumatol. 55: 1-3<br />
15. Staud R., Vierck CJ, Cannon RL et al. (2001): Abnormal sensitisation and abnormal temporal<br />
summation of second pain (Wind up) in patients with fibromyalgia syndrome. Pain 91: 165-175<br />
56 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Hans-Dieter Basler <strong>Fibromyalgie</strong> – Endpunkt <strong>ein</strong>es Prozesses der Chronifizierung von Schmerz?<br />
16. Turk DC (1999): Continuity and change. Clin J Pain 15: 163-165<br />
17. Vlaeyen JWS, Crombez C (1999): Fear of movement/(re)injury avoidance and pain disability in<br />
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18. Von Korff M, Ormel J, Keefe FJ, Dworkin, F (1992): Grading the severity of chornic pain. Pain 50:<br />
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19. Waddell G, Newton M, Henderson I, Somerville D, Main XJ (1993): A fear-avoidance beliefs questionnaire<br />
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Pain 52: 157-168<br />
20. Wolfe F, Hawley DJ (1998): Psychosocial factors and the fibromyalgia syndrome. Z Rheumatol 57,<br />
Suppl. 2, 88-91<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
57
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Wolfgang Hausotter<br />
1. Einleitung<br />
Seit Jahren wird besonders von Orthopäden, Rheumatologen und Internisten immer häufiger<br />
die Krankheitsbezeichnung „<strong>Fibromyalgie</strong>“ verwandt und als verm<strong>ein</strong>tlich eigenständige<br />
Krankheitsentität angesehen. Der bis dahin noch weitgehend unbekannte Begriff gewann<br />
damit auch für die Begutachtung an Bedeutung.<br />
Es handelt sich um <strong>ein</strong> ausgesprochen umstrittenes und hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese<br />
weitgehend ungeklärtes Krankheitsbild. Als Gutachter gewinnt man den Eindruck, dass<br />
mit diesem Terminus oft die Hilflosigkeit gegenüber funktionellen Störungen und die Scheu<br />
der behandelnden Ärzte, offen <strong>ein</strong>e mögliche Psychogenese anzusprechen, verdeckt werden<br />
soll. Es besteht jedenfalls <strong>ein</strong>e deutliche Diskrepanz zwischen Art und Ausmaß des geklagten<br />
Beschwerdebildes und dem objektivierbaren Befund.<br />
Manche Ärzte betrachten die <strong>Fibromyalgie</strong> ausdrücklich als körperliche und nicht als psychische<br />
Erkrankung, andere vertreten <strong>ein</strong>e konträre Auffassung und sehen sie als Verlegenheitsdiagnose<br />
an bzw. halten den Begriff für ganz entbehrlich. Die Probleme, die vor diesem<br />
Hintergrund bei der gutachtlichen Beurteilung zu erwarten sind, liegen auf der Hand.<br />
Schmerzsymptome stehen ohnehin in der Symptompräsentation unserer Zeit ganz im Vordergrund,<br />
gefolgt von Müdigkeit und Erschöpfung, wobei bei den anhaltenden somatoformen<br />
Schmerzstörungen nur in 1 bis 5 % der Fälle <strong>ein</strong>e adäquate organische Ursache gefunden<br />
werden konnte.<br />
Terminologie<br />
Der Begriff „<strong>Fibromyalgie</strong>“ oder „<strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom“, in der ICD 10: M 79.0, wurde von<br />
Hench 1976 <strong>ein</strong>geführt und von Yunus et al. ab 1981 diagnostisch weiter definiert. Er ersetzt<br />
die früheren Begriffe „Fibrositis“ (nach Gowers 1904) der angloamerikanischen Literatur und<br />
„generalisierte Tendomyopathie“ (nach Müller 1971), „polytope Insertionstendopathie“ (nach<br />
Mathies 1975) und „Weichteilrheumatismus“ im deutschsprachigen Raum.<br />
Diese Bezeichnungen suggerierten teils pathophysiologische Zusammenhänge, die nicht<br />
bewiesen waren, teils waren sie r<strong>ein</strong> beschreibend. Eine Entzündung, wie die veraltete Bezeichnung<br />
„Fibrositis“ nahe legte, besteht nicht.<br />
58 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Es wird von <strong>ein</strong>er chronischen generalisierten Schmerzerkrankung ausgegangen,<br />
• die mit <strong>ein</strong>er polytopen Schmerzhaftigkeit des Bewegungsapparates im Sinne des „wide<br />
spread pain“,<br />
• an typischer Stelle lokalisierten Druckschmerzpunkten, den sog. „tender points“, und<br />
• multiplen vegetativen funktionellen Störungen sowie<br />
• psychischen Auffälligkeiten verknüpft ist.<br />
Die <strong>Fibromyalgie</strong> gilt als die zur Zeit schillerndste Diagnose innerhalb der ohnehin wenig objektivierbaren<br />
weichteilrheumatischen Erkrankungen bzw. als ausgesprochen „problematische<br />
Erkrankung“ oder „besonders mysteriöse Störung“.<br />
Davon abzugrenzen – allerdings mit breiten Überschneidungen – ist das „myofasziale<br />
Schmerzsyndrom“. Darunter werden alle Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates verstanden,<br />
die ihren Ursprung außerhalb der Gelenkkapsel und des Periosts haben und die<br />
auch nicht auf <strong>ein</strong>e manifeste Muskelerkrankung im Rahmen <strong>ein</strong>er entzündlichrheumatischen<br />
oder neurologischen Systemerkrankung zurückzuführen sind.<br />
Hier finden sich „trigger points“, die <strong>ein</strong>er palpablen (!) Muskelverhärtung – überwiegend im<br />
Bauch <strong>ein</strong>es Extremitätenmuskels – entsprechen und denen meist <strong>ein</strong>e segmentale, mutmaßlich<br />
durch spinale Reflexmechanismen erzeugte Überkontraktion von Muskelfaserbündeln<br />
zugrunde liegt.<br />
Die „tender points“ der <strong>Fibromyalgie</strong> dagegen sind nicht durch <strong>ein</strong>en abnormen Palpationsbefund<br />
gekennzeichnet.<br />
Hinsichtlich der ICD-10-Klassifikation ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei nicht unbedingt<br />
um eigenständige Krankheiten, sondern um diagnostische Kriterien zur besseren Verständigung<br />
unter<strong>ein</strong>ander handelt (Szasz). Die Tatsache der Vergabe <strong>ein</strong>er ICD-Nummer<br />
wie M 79.0 besagt noch nichts über das Vorliegen <strong>ein</strong>er abgrenzbaren Krankheitsentität.<br />
Beschwerdebild<br />
Neben den ausgedehnten Schmerzen („Schmerzen überall, alles tut weh“), besonders den<br />
obligatorischen Rückenschmerzen, wird <strong>ein</strong>e Fülle weiterer Befindlichkeitsstörungen angegeben.<br />
Dazu gehören vor allem Beschwerden in Armen und B<strong>ein</strong>en, die – verstärkt nach<br />
körperlichen Belastungen, dann manchmal auch erst am nächsten Morgen – insbesondere<br />
an den Muskelansätzen, aber nicht nur dort, auftreten. Ebenso werden Schlafstörungen geklagt,<br />
die mit dem Gefühl <strong>ein</strong>hergehen, morgens nicht ausgeschlafen und erholt zu s<strong>ein</strong><br />
(„non-restorative-sleep“), häufig auch allgem<strong>ein</strong>e Müdigkeit und rasche Erschöpfbarkeit. Ein<br />
enger Zusammenhang mit dem „Chronic Fatigue Syndrom“ wird sehr häufig diskutiert.<br />
Angst, Depressionen, aber vor allem <strong>ein</strong>e Fülle vegetativer und funktioneller Beschwerden<br />
wie Kopfschmerzen, funktionelle Atembeschwerden, respiratorische Arrhythmie, nicht orga-<br />
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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
nisch bedingte kardiale Beschwerden, Dysurie, Dysmenorrhoe, Parästhesien, Tremor, Globusgefühl,<br />
Darmstörungen insbesondere im Sinne des „Colon irritabile“, auch kalte Akren<br />
oder Hyperhydrosis überwiegend der Hände, trockener Mund, Dermographismus mit auffallender<br />
Rötung nach Palpation, orthostatische Beschwerden und viele andere mehr werden<br />
oft gleichzeitig geklagt. Gerade dieses weite Spektrum zusätzlicher vegetativer und psychischer<br />
Beschwerden macht die Diagnose so schillernd und erschwert die klare diagnostische<br />
Zuordnung.<br />
2. Diagnostische Kriterien<br />
Die diagnostischen Kriterien des American College of Rheumatology (ACR) 1990 (zitiert<br />
nach Wolfe et al. 1990) sind r<strong>ein</strong> deskriptiv und beschränken sich auf zwei Kardinalsymptome:<br />
ausgebreitet persistierende Schmerzen bzw. Schmerzregionen unter Einschluss der<br />
Wirbelsäule und das Vorliegen von mindestens 11 von 18 definierten „tender points“, d.h.<br />
lokalen subjektiven Druckschmerzpunkten.<br />
Als ausgebreitete Schmerzen („wide spread pain“) werden Schmerzen der ganzen rechten<br />
und/oder linken bzw. oberen und/oder unteren Körperhälfte definiert, wobei <strong>ein</strong>e mindestens<br />
dreimonatige Dauer der Beschwerden gefordert wird. Dazu kommen die vielfältigen, diffusen,<br />
vegetativ geprägten Organbeschwerden unterschiedlicher Art.<br />
Die internationale Festlegung auf <strong>ein</strong>en standardisierten Fingerdruck von 4 kp/cm2 zur<br />
Schmerzauslösung pro Druckpunkt oder die Verwendung <strong>ein</strong>es Dolorimeters sch<strong>ein</strong>t eher<br />
pseudo-objektiv und in der Begutachtungssituation wenig hilfreich. Letztlich sind die Druckpunkte<br />
wenig valide und nicht reliabel und damit diagnostisch nicht weiterführend.<br />
Ein objektivierbares organisches Substrat mit klinischen, radiologischen oder laborchemischen<br />
Normabweichungen existiert bislang nicht.<br />
Grundsätzlich ist die <strong>Fibromyalgie</strong> zunächst <strong>ein</strong>e Ausschlussdiagnose mit <strong>ein</strong>em Negativkatalog<br />
technischer Untersuchungsbefunde. Der Ausschluss <strong>ein</strong>er organisch fassbaren Erkrankung<br />
ist in jedem Fall sorgfältig zu führen. Es ist unzureichend, sich all<strong>ein</strong> auf die subjektiven<br />
Angaben des Betroffenen zu verlassen, ohne <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>gehende umfassende Diagnostik auf<br />
verschiedenen Fachgebieten veranlasst zu haben. Auszuschließen sind vor allem entzündlich-rheumatische<br />
Erkrankungen, Wirbelsäulenprozesse mit radikulärer Symptomatik,<br />
muskuläre Systemerkrankungen, Myositiden oder Kollagenosen.<br />
In der Begutachtungspraxis ersch<strong>ein</strong>en die Probanden allerdings oft überdiagnostiziert und<br />
bringen meist stapelweise Röntgenbilder und Laborbefunde mit, die entweder ohne pathologischen<br />
Befund sind oder die geklagten Beschwerden nicht erklären.<br />
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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Primäres oder sekundäres <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom<br />
Es wird <strong>ein</strong> primäres von <strong>ein</strong>em sekundären oder reaktiven <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom unterschieden,<br />
wobei letzteres nach <strong>ein</strong>er definierten körperlichen Grundkrankheit auftritt. Als<br />
Konzept für die gutachtliche Beurteilung ist dies sehr sinnvoll: Die primäre <strong>Fibromyalgie</strong> hat<br />
k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>deutig objektivierbare, klinisch fassbare Ursache.<br />
Die sekundäre oder reaktive Form, die im Arbeitskreis um Müller (1991) nur 10 % des Krankengutes<br />
ausmacht, wird durch definierte organische Erkrankungen wie entzündlichrheumatische<br />
Systemerkrankungen bzw. Kollagenosen wie z.B. den Lupus erythematodes,<br />
andere entzündliche Erkrankungen, Infektionskrankheiten, besonders aber durch virale Infekte<br />
wie Hepatitis C oder auch <strong>ein</strong>e Borreliose, endokrine Störungen, maligne Tumoren,<br />
Muskelerkrankungen wie Myositiden und mitochondriale Myopathien, und andere verursacht.<br />
Auch neurologische Erkrankungen wie z.B. <strong>ein</strong> Morbus Parkinson oder <strong>ein</strong> langsam wachsender<br />
spinaler Tumor können längere Zeit vor der klinischen Manifestation unbestimmte<br />
Schmerzen hervorrufen, die nicht selten als „<strong>Fibromyalgie</strong>“ verkannt werden.<br />
Epidemiologie<br />
Frauen sind wesentlich häufiger betroffen als Männer, sie überwiegen nach Keel im Verhältnis<br />
85 zu 15 %. Die Angaben zur Häufigkeit dieses Beschwerdebildes sind sehr unterschiedlich,<br />
nicht zuletzt bedingt durch die unscharfen Diagnosekriterien. In den USA soll <strong>ein</strong>e<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> bei 2 % der hausärztlich betreuten Patienten, bei 5 % der internistisch und 10–<br />
20 % der in rheumatologischen Fachkliniken behandelten Kranken bestehen (zitiert nach<br />
Uexküll 1996). Es findet sich auch die Angabe, dass etwa 3 % der Bevölkerung davon betroffen<br />
s<strong>ein</strong> sollen (Rohe und Rompe 1995).<br />
In letzter Zeit dominieren weit gefasste Angaben zur Prävalenz von 1–10 %. Bei Frauen zwischen<br />
dem 60. und 80. Lebensjahr wird sie auf 7 % geschätzt. Der Beginn der Erkrankung<br />
liegt meist um das 35. Lebensjahr, der Häufigkeitsgipfel im Zeitraum des Klimakteriums. Ein<br />
Beginn nach dem 60. Lebensjahr wird als selten angesehen.<br />
Körperliche Befunde<br />
Bei der <strong>Fibromyalgie</strong> lassen sich klinisch k<strong>ein</strong>e sicheren, objektivierbaren Befunde erheben,<br />
weder laborchemisch noch radiologisch. Auch EEG, EMG und die übrige neurophysiologische<br />
Diagnostik ergeben im Regelfall k<strong>ein</strong>e Normabweichungen. Die Diagnose stützt sich<br />
ausschließlich auf die oben angeführten subjektiven Beschwerden in ausgedehnten<br />
Schmerzregionen und die definierten subjektiven Druckschmerzpunkte.<br />
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61
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Schmerzhafte Druckpunkte<br />
Diese „tender points“ sind r<strong>ein</strong> empirisch gefundene Bezugspunkte auf der Körperoberfläche.<br />
Sie finden sich bei der digitalen Palpation jeweils bilateral<br />
• kranial und kaudal okzipital (Ansätze der subokzipitalen Muskeln und der Querfortsätze<br />
der HWK 5–7),<br />
• M. trapezius (in Schultermitte),<br />
• M. supraspinatus (oberhalb der Spina scapulae),<br />
• Knorpel-Knochen-Grenze der zweiten Rippe,<br />
• 2 cm distal des Epicondylus lateralis,<br />
• gluteal am oberen äußeren Quadranten,<br />
• am Trochanter major,<br />
• am Knie proximal und medial des Gelenkspaltes,<br />
In der Praxis – vor allem bei der Begutachtung – finden sich aber außerordentlich häufig Patienten<br />
mit <strong>Fibromyalgie</strong>, die nahezu „überall“ Druckschmerz angeben und k<strong>ein</strong>esfalls nur an<br />
den typischen „tender points“. Als Grund dafür wird <strong>ein</strong>e allgem<strong>ein</strong> reduzierte Schmerztoleranz<br />
bzw. erniedrigte Schmerzschwelle diskutiert. Nicht selten allerdings werden bei der Palpation<br />
k<strong>ein</strong>erlei Schmerzen geäußert, sofern der Proband währenddessen abgelenkt wird.<br />
Die Stirnmitte gilt als typischer negativer Kontrollpunkt. In der Begutachtungssituation wird<br />
jedoch oft auch dieser Punkt als druckschmerzhaft angegeben.<br />
Damit wird die praktische Bedeutung dieses Diagnosekriteriums erheblich relativiert – es<br />
wirkt nur sch<strong>ein</strong>bar präzise. Zwar wurden ver<strong>ein</strong>zelt Muskelveränderungen unterschiedlicher<br />
Art beschrieben, auch Störungen der Mikrozirkulation an den Druckpunkten, jedoch handelt<br />
es sich insgesamt um unspezifische und wenig reproduzierbare Einzelbefunde. Manche Experten<br />
sehen als charakteristisch an, dass die Beschwerden häufig in der Freizeit, bei Ablenkung<br />
und im Urlaub besser werden, oft sogar verschwinden, aber dies wird von anderen Autoren<br />
auch wieder in Abrede gestellt.<br />
Subjektive Muskelschwäche<br />
Die subjektive Angabe <strong>ein</strong>er „Schwäche“ der Muskulatur hat sich nicht objektivieren lassen,<br />
sie rührt eher von <strong>ein</strong>er wohl schmerzbedingten submaximalen Willkürinnervation her. Eine<br />
Verringerung der Muskelmasse findet sich nicht. Die Bereitschaft zu körperlichen Leistungen<br />
ist jedoch vermindert, da auch jede Anstrengung belastender als sonst und schließlich sogar<br />
schmerzhaft empfunden wird. In diesem Rahmen ist auch die immer wieder beschriebene<br />
verminderte Ausdauerleistungsfähigkeit zu sehen.<br />
Die Muskulatur erfährt ebenso wenig wie die inneren Organe <strong>ein</strong>e nachweisbare Funktions<strong>ein</strong>schränkung.<br />
Lediglich längere Schonung kann zu <strong>ein</strong>er Inaktivitätsatrophie führen. Der<br />
62 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
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klinische Befund ist grundsätzlich bis auf die wenig valide Druckdolenz der „tender points“<br />
unauffällig.<br />
3. Ätiologische Konzepte auf somatischer Basis<br />
Es findet sich <strong>ein</strong>e beträchtliche Zahl von Patienten mit entsprechenden Beschwerden, die<br />
weder bei den Laboruntersuchungen noch radiologisch irgendwelche Normabweichungen<br />
zeigten. Gerade sie klagen häufig am ausgeprägtesten und am hartnäckigsten über Schmerzen,<br />
weshalb psychosomatische Überlegungen frühzeitig in die Betrachtung dieser Varianten<br />
rheumatischer Erkrankungen <strong>ein</strong>bezogen wurden.<br />
Die somatisch orientierten Autoren gehen derzeit davon aus, dass <strong>ein</strong>e zentral-nervös bedingte<br />
Schmerzschwellenstörung, möglicherweise in Kombination mit <strong>ein</strong>er Regulationsstörung<br />
der Muskelspannung, die Ursache der großflächigen Schmerzen bei der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
ist. Biomechanische Faktoren (Über- und Fehlbelastung) in der Körperperipherie, vor allem<br />
im Bereich des Achsenskelettes, sch<strong>ein</strong>en in der Regel am Anfang der Erkrankung zu stehen.<br />
Einer „muskulären Dysbalance“ wird von manchen Autoren <strong>ein</strong>e wesentliche Rolle zugeschrieben.<br />
Pathobiochemisch wird <strong>ein</strong>e Erniedrigung von Serotonin und auch Tryptophan im Serum bei<br />
gleichzeitiger Erhöhung von Substanz P im Liquor und im Serum als gesichert angesehen,<br />
ebenso <strong>ein</strong>e Dysregulation als „Sollwertverstellung“ der Hypothalamus-Hypophysen-<br />
Nebennierenachse im Sinne <strong>ein</strong>er chronischen neuroendokrinen Stressreaktion. Die lokale<br />
Druckdolenz der „tender points“ lässt sich damit jedoch nicht schlüssig erklären.<br />
Die erwähnten Laborveränderungen finden sich aber auch bei Patienten mit chronischen<br />
Kreuzschmerzen, anderen chronischen Schmerzen und bei Depressionen, sind also k<strong>ein</strong>eswegs<br />
spezifisch.<br />
Chronifizierungsprozessen unterschiedlicher Art <strong>ein</strong>schließlich <strong>ein</strong>es „Schmerzgedächtnisses“<br />
kommt dann im weiteren Krankheitsverlauf zweifellos besondere Bedeutung zu. Allerdings<br />
wird von anderer Seite darauf verwiesen, dass ganz ähnliche Befunde mit gestörter<br />
Neurotransmitter-Balance im Serotoninstoffwechsel <strong>ein</strong>schließlich erhöhter Substanz P im<br />
Liquor bei Depressionen gefunden werden, was wiederum die Nähe zu affektiven Störungen<br />
beweisen würde. Psychophysiologische Einzelbefunde wie Störungen des non-REM-<br />
Schlafes wurden mitgeteilt und sind ebenfalls unspezifisch.<br />
Die objektivierbaren somatischen Aspekte dieses Krankheitsbildes sind letztlich sehr begrenzt,<br />
reproduzierbare konsistente anatomische Veränderungen in der Gewebsstruktur sind<br />
bis heute nicht nachgewiesen worden. Veränderungen der neuroendokrinen und endokrinen<br />
Homöostase sind eher als unspezifische Reaktionen zu werten, wie man sie auch bei anderen<br />
schmerzhaften Erkrankungen des Bewegungsapparates findet.<br />
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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Immer noch wird nach <strong>ein</strong>er überzeugenden biologischen Ursache in Form <strong>ein</strong>er Stoffwechselstörung,<br />
hormoneller Einflüsse, <strong>ein</strong>es Virusinfektes oder <strong>ein</strong>er Immunstörung gesucht.<br />
Noch unklar ist die pathogenetische Bedeutung von Autoantikörpern gegen Serotonin,<br />
Ganglioside und Phospholipide, die in erhöhtem Maße vorkommen sollen, ebenso Interleukin-2-Erhöhungen,<br />
die mit <strong>ein</strong>em Autoimmunprozess in Zusammenhang gebracht werden.<br />
Auch dazu gibt es gegenteilige M<strong>ein</strong>ungen. Viele, teilweise widersprüchliche Einzelergebnisse<br />
ergaben bisher k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>heitliches Bild. Eine genetische Disposition wird schließlich ebenfalls<br />
diskutiert.<br />
Dagegen ist <strong>ein</strong>e CK-Erhöhung mit der Diagnose <strong>ein</strong>er primären <strong>Fibromyalgie</strong> nicht zu ver<strong>ein</strong>baren<br />
und bedarf weiterer Abklärung.<br />
4. Psychosomatische Erwägungen<br />
Typisch für die <strong>Fibromyalgie</strong> sind ausgeprägte vegetative Begleitsymptome, wobei innere<br />
Organe am Beschwerdebild beteiligt sind, und häufige psychische Auffälligkeiten wie Angst<br />
und Depression. Daher wird sie heute zurecht zu den psychosomatischen Störungen bzw.<br />
den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen (ICD-10 F 45.4) gerechnet.<br />
Die „Pain-prone“-Persönlichkeit<br />
George L. Engel beschrieb 1959 den „pain-prone“-Patienten, d.h. <strong>ein</strong>en Menschen, der die<br />
Bereitschaft aufweist, unter chronischen Schmerzen zu leiden. Nach Engels klinischen Beobachtungen<br />
wiederholten sich bei bestimmten Schmerzpatienten spezifische Erfahrungen<br />
wie belastende Lebenssituationen in der Biografie, die von ihm als Prädiktoren für <strong>ein</strong> späteres<br />
chronisches Schmerzsyndrom gewertet wurden. Ein länger bestehendes Muster von<br />
psychosozialem Stress in der Kindheit, z.B. bei Ehekonflikten der Eltern, wurde als entscheidend<br />
angesehen. Bezüge zum Modell-Lernen und zu Konversionssymptomen bestehen.<br />
Am Vorliegen <strong>ein</strong>er oft recht ausgeprägten vegetativen Begleitsymptomatik mit Beteiligung<br />
anderer Organe und an den häufigen psychischen Auffälligkeiten wie Angst und Depression<br />
bei der <strong>Fibromyalgie</strong> besteht allgem<strong>ein</strong> k<strong>ein</strong> Zweifel. Gerade Depressionen sind außerordentlich<br />
oft damit vergesellschaftet und werden von manchen Ärzten gar als obligat angesehen.<br />
Ähnliches gilt für <strong>ein</strong>e vorbestehende, lang anhaltende psychosoziale Dauerbelastung.<br />
Eine Reihe von Autoren betrachtet sie daher als primär seelische Erkrankung – im Gegensatz<br />
zu den somatisch orientierten Wissenschaftlern, die <strong>ein</strong>en dazu völlig konträren Standpunkt<br />
vertreten.<br />
Tatsächlich erfolgt die Symptomschilderung oft diffus, gleichzeitig aber auch ausufernd übergenau,<br />
besonders bei Darstellung der bisherigen „Patientenkarriere“. Geht man von den or-<br />
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ganisch schlecht begründbaren Schmerzen aus und berücksichtigt man weiter die begleitenden<br />
Befindlichkeitsstörungen wie be<strong>ein</strong>trächtigten und wenig erholsamen Schlaf, Müdigkeit<br />
tagsüber, aber auch diverse weitere Beschwerden wie chronische Kopfschmerzen, funktionelle<br />
Darmbeschwerden und andere, so drängt sich die Ähnlichkeit mit <strong>ein</strong>er somatisierten<br />
oder larvierten Depression bzw. <strong>ein</strong>er Somatisierungsstörung auf. Dies umso mehr, als sich<br />
die definitionsgemäß ausgedehnten Schmerzregionen <strong>ein</strong>em organischen Substrat eben<br />
nicht befriedigend zuordnen lassen. Viele psychiatrisch orientierte Autoren diskutieren das<br />
Beschwerdebild daher als Variante <strong>ein</strong>er depressiven Erkrankung bzw. als Störung aus dem<br />
affektiven Formenkreis.<br />
Dagegen wird <strong>ein</strong>gewandt, dass die Schmerzen bei larvierter Depression im Allgem<strong>ein</strong>en<br />
<strong>ein</strong>e andere Lokalisation aufweisen und eher im Bereich von „Herz, Kopf, Bauch“ empfunden<br />
werden. Von den Betroffenen selbst wird <strong>ein</strong>e seelische Ursache allerdings mehrheitlich abgelehnt.<br />
Psychodynamische Erklärungsmodelle<br />
Nicht zu übersehen ist der auffällig hohe Anteil von Patientinnen, bei denen die subjektiven<br />
Beschwerden zum Zeitpunkt kritischer Lebensereignisse, sog. Schwellensituationen, aufgetreten<br />
sind. Bei der Begutachtung finden sich diese außerordentlich häufig in der Vorgeschichte.<br />
Bedauerlicherweise wird dann meist die erforderliche psychiatrischpsychotherapeutische<br />
Behandlung aufgrund des somatischen Krankheitskonzeptes der behandelnden<br />
Ärzte, welches die Betroffenen bereitwillig übernehmen, nicht veranlasst oder<br />
nicht durchgeführt.<br />
Ebenso kontrovers sind die M<strong>ein</strong>ungen, ob die seelische Störung als Ursache oder als Folge<br />
des chronischen Schmerzsyndroms anzusehen sei. Eine unmittelbare kausale Verknüpfung<br />
von <strong>Fibromyalgie</strong> und Depression gilt als nicht hinreichend belegbar. Auch das Konzept <strong>ein</strong>es<br />
psychovegetativen Spannungszustandes als gem<strong>ein</strong>samer Nenner des bunten Beschwerdebildes<br />
wurde vorgestellt. Von anderer Seite wurde die Symptomatik psychodynamisch<br />
als Konversionsneurose in dem Sinne gedeutet, dass „die Muskeln stellvertretend für<br />
den Patienten schreien“ (Ahrens 1987). Weitere psychodynamische Erklärungsmodelle werden<br />
diskutiert.<br />
Ganz allgem<strong>ein</strong> und besonders bei der Begutachtung muss immer auch <strong>ein</strong> möglicher primärer<br />
oder <strong>ein</strong> noch augenfälligerer sekundärer Krankheitsgewinn berücksichtigt werden mit<br />
Entpflichtung im Alltagsleben, vermehrter Zuwendung durch die Umgebung bis hin zu sozialen<br />
und finanziellen Vorteilen. Das Verhalten des Partners spielt dabei manchmal <strong>ein</strong>e nicht<br />
zu unterschätzende Rolle. Ein betont zuwendendes Verhalten von Bezugspersonen wirkt<br />
deutlich schmerzverstärkend. Wenn Familienangehörige <strong>ein</strong>en Vorteil aus der Erkrankung<br />
erfahren, spricht man von <strong>ein</strong>em tertiären Krankheitsgewinn.<br />
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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Nach dem Lernmodell sind Schmerzen, die in ähnlicher Form von <strong>ein</strong>em Mitglied der Primärfamilie<br />
präsentiert wurden, häufig von Bedeutung, aber auch der in der Kindheit erlernte Umgang<br />
mit Schmerzen, der sich wiederum an dem Vorbild der Erwachsenen orientierte.<br />
Eine chronisch gehemmte Aggression kann ebenso <strong>ein</strong>e Rolle spielen wie Selbstüberforderungstendenzen<br />
oder <strong>ein</strong>e Alexithymie. Der Krankheitsverlauf mit s<strong>ein</strong>en Bewältigungsstrategien<br />
weist nicht selten in diese Richtung. Ein allmählicher Beginn ist häufig, selten geht <strong>ein</strong><br />
akutes körperliches oder psychisches Trauma voraus.<br />
Arzt-Patienten-Verhältnis<br />
Neben der oft auch durch die behandelnden Ärzte geförderten somatischen Fixierung besteht<br />
meist <strong>ein</strong>e schwierige Arzt-Patienten-Beziehung. Die Patienten sind prädestiniert zu<br />
häufigem Arztwechsel und suchen dabei Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen auf<br />
(„Koryphäenkiller“), besonders, wenn das somatische Krankheitskonzept des Patienten auch<br />
nur vorsichtig in Frage gestellt wird.<br />
Die Erfordernis, vorhandene, unlösbar ersch<strong>ein</strong>ende Konfliktsituationen aufzudecken, verlangt<br />
Geschick, Fingerspitzengefühl und Zeit seitens des Arztes. Neben der grundsätzlich<br />
notwendigen Bereitschaft des Patienten, sich überhaupt zu öffnen, und der des Arztes, die<br />
Klagen des Patienten vorurteilsfrei zu akzeptieren und nicht anzuzweifeln, bewährt es sich,<br />
verständliche Modelle der psychosomatischen Symptombildung zu verwenden. Nicht selten<br />
hört man in der Begutachtungssituation: „Was hat denn m<strong>ein</strong>e Kindheit mit m<strong>ein</strong>en jetzigen<br />
Schmerzen zu tun?“ Ausgehend von geläufigen Termini wie „Stress“ und „Überforderung“<br />
kann über „innere Anspannung“ bis hin zu „schmerzhafter Verkrampfung der Muskeln“ dem<br />
Patienten <strong>ein</strong> Erklärungsmodell für die Rolle psychischer Komponenten angeboten werden,<br />
was dann den Einstieg in die genauere Konfliktanalyse erleichtert. Auslösende seelische<br />
Faktoren lassen sich am ehesten in weiteren ärztlichen Gesprächen eruieren.<br />
Tatsächlich sind häufige, zunächst unlösbar ersch<strong>ein</strong>ende Konfliktsituationen ausschlaggebend:<br />
psychische und körperliche Überforderung, Angst, mit <strong>ein</strong>er Situation nicht fertig zu<br />
werden, Unzufriedenheit im beruflichen und privaten Bereich, Schwierigkeiten in <strong>ein</strong>er Partnerbeziehung,<br />
Probleme mit <strong>ein</strong>er Person in der Verwandtschaft oder am Arbeitsplatz, unter<br />
denen der Betroffene leidet, Verlustsituationen, Entwurzelung, Schockerlebnisse und Enttäuschungen,<br />
auch solche in der frühen Vorgeschichte.<br />
Gerade Trennungssituationen, Verlust <strong>ein</strong>es Elternteils sowie <strong>ein</strong>e schon in Kindheit und<br />
Jugend auffallende, übermäßige Schmerzwahrnehmung spielen <strong>ein</strong>e Rolle. Die Erhellung<br />
der aktuellen Lebenssituation zum Zeitpunkt des Auftretens der Symptomatik ist dann ganz<br />
entscheidend, um zu <strong>ein</strong>em Verständnis der Funktion des chronischen Schmerzes zu erreichen.<br />
66 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
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Damit kommt der Erhebung der biografischen Anamnese besonderer Stellenwert zu. Die<br />
Bedeutung frühkindlicher Traumatisierungen, sexuellen Missbrauchs, körperlicher Misshandlungen<br />
und emotionaler Vernachlässigung für die Entstehung chronischer Schmerzsyndrome<br />
ist allgem<strong>ein</strong> anerkannt. Gerade belastende traumatische Kindheitserfahrungen, mangelnde<br />
Zuwendung oder <strong>ein</strong>e unvollständige Familie, aber auch übermäßig erlebte Strenge gelten<br />
allgem<strong>ein</strong> als Risikofaktoren für chronische Schmerzerkrankungen. Nach sexuellem Missbrauch<br />
in der Kindheit kommt <strong>Fibromyalgie</strong> häufig vor und soll auch schwerwiegender verlaufen<br />
als ohne entsprechendes psychisches Trauma. Ein solcher oder auch <strong>ein</strong>e Gewalterfahrung<br />
wird bei etwa zwei Drittel der Betroffenen gefunden (Conrad).<br />
Persönlichkeitsstruktur<br />
Die Persönlichkeitsstruktur erweist sich oft als zwanghaft und perfektionistisch mit depressiven,<br />
hypochondrischen und hysterischen, aber auch fordernden Zügen, ausgeprägtem<br />
Gerechtigkeitsgefühl, Ehrgeiz, sozialem Engagement sowie gleichzeitig geringem Selbstwertgefühl.<br />
Ein Ambivalenzkonflikt zwischen Fremd- und Selbstbeherrschung <strong>ein</strong>erseits und dienendaufopfernder<br />
Haltung andererseits wird beschrieben (Uexküll 1996). Dieser soll zu <strong>ein</strong>er<br />
chronisch gehemmten Aggressivität führen, die sich wiederum in gesteigertem Muskeltonus<br />
äußert, dem psycho-physiologischen Äquivalent der <strong>Fibromyalgie</strong>.<br />
Allgem<strong>ein</strong> gelten die typischen Persönlichkeitsmerkmale, wie sie auch für andere Patienten<br />
mit psychosomatischen Störungen charakteristisch sind:<br />
• Konfliktleugnung mit Ablehnung anderer Probleme außer den körperlichen Symptomen<br />
• Alexithymie mit der Unfähigkeit, auch unangenehme Gefühle wahrzunehmen<br />
• Perfektionismus mit dem Bestreben, es allen recht machen zu wollen<br />
• Angst vor Abhängigkeit mit <strong>ein</strong>er forcierten Selbstständigkeit<br />
• Unfähigkeit, etwas zu genießen<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten zeichnen sich allerdings durch besonders intensive Klagen hinsichtlich<br />
Intensität, Ausdehnung und Vielfalt der Beschwerden aus.<br />
Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell wird diesem Beschwerdebild möglicherweise am<br />
ehesten gerecht. Da die körperliche Untersuchung k<strong>ein</strong>e verlässlichen reproduzierbaren Befunde<br />
liefert, ist die biografische Anamnese das entscheidende „Untersuchungsinstrument“.<br />
Die <strong>ein</strong>e körperliche Erkrankung suggerierende Bezeichnung „<strong>Fibromyalgie</strong>“ dient den Betroffenen<br />
zur Abwehr der Erfordernis, sich mit seelischen Konflikten aus<strong>ein</strong>andersetzen zu<br />
müssen, aber auch der Familie gegenüber, um „das Gesicht zu wahren“ und seelische Probleme<br />
nicht <strong>ein</strong>gestehen zu müssen. Dementsprechend nehmen sie die Diagnose, der <strong>ein</strong>e<br />
organische Genese zugrunde zu liegen sch<strong>ein</strong>t, bereitwillig auf und empfinden die meist viel<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
67
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
zu spät erfolgende Überweisung zur psychotherapeutischen Behandlung als Kränkung. Eine<br />
Psychotherapie lehnen sie ab und hegen den Verdacht, man glaube ihnen die Schmerzen<br />
nicht.<br />
5. Prognose<br />
Für <strong>ein</strong> chronisches Schmerzsyndrom gelten ganz allgem<strong>ein</strong> als prognostisch günstig:<br />
• hoher Leidensdruck<br />
• hohe Therapiemotivation<br />
• positive Therapieerwartung<br />
• Aufrechterhaltung der Symptome eher durch negative als durch positive Verstärkung,<br />
• vorhandene psychosoziale Perspektiven<br />
• Fehlen <strong>ein</strong>er psychiatrischen Begleiterkrankung<br />
• Akzeptanz der vorgeschlagenen Therapie, des Therapeuten und des vorgesehenen<br />
Konzeptes<br />
• nicht zuletzt <strong>ein</strong> abgeschlossenes Rentenverfahren<br />
Als ungünstige Faktoren gelten:<br />
• Angst vor <strong>ein</strong>er Veränderung<br />
• Resignation<br />
• starke externale Attribuierung<br />
• ausgeprägter primärer, sekundärer und tertiärer Krankheitsgewinn<br />
• Aufrechterhaltung der Störung durch positive Verstärker<br />
• auch schwebendes Rentenverfahren<br />
Bei länger persistierenden Beschwerden besteht oft trotz intensiver interdisziplinärer therapeutischer<br />
Bemühungen – <strong>ein</strong>schließlich stationärer medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen<br />
– die Tendenz, sich nicht mehr in das Arbeitsleben <strong>ein</strong>zugliedern und damit zur Berentung.<br />
Häufig ist dann innerlich der Rückzug aus dem Berufsleben schon vollzogen, berufliche<br />
Perspektiven werden nicht mehr gesehen.<br />
Dies wird oft auch von außen induziert: „M<strong>ein</strong> Hausarzt m<strong>ein</strong>t auch, ich muss die Rente bekommen.“<br />
„Das Arbeitsamt hält mich nicht mehr für vermittelbar.“ Die Zukunftsperspektiven<br />
liegen dann längst im privaten Bereich in der Versorgung der Enkel, im Garten, bei Reisen<br />
etc. Rehabilitationsmaßnahmen werden dann nur als störend empfunden und mit der Gewissheit<br />
angetreten, „es hilft sowieso nichts“.<br />
6. Gutachtliche Beurteilung<br />
Der Gutachter steht im Spannungsfeld zwischen den manchmal aggressiv fordernden und<br />
durch Selbsthilfegruppen darin bestärkten Antragstellern und den fehlenden objektiven Be-<br />
68 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
funden <strong>ein</strong>er wenig fassbaren Erkrankung. Die Betroffenen fühlen sich durch die Erfordernis<br />
der Begutachtung oft als Simulanten bzw. „Rentenjäger“ diskriminiert, zumal sie mit dieser<br />
Einschätzung meist schon vorher konfrontiert wurden. Diese Ansicht beruht darauf, dass bei<br />
den früheren Untersuchungen von den zahlreichen konsultierten Ärzten k<strong>ein</strong>e somatischen<br />
Ursachen gefunden wurden, den Betroffenen aber auch die psychosomatischen Zusammenhänge<br />
nicht aufgezeigt wurden, so dass sie sich häufig mit ihren Beschwerden all<strong>ein</strong> gelassen<br />
fühlen. Gleichzeitig erfolgte meist schon <strong>ein</strong>e langfristige Krankschreibung bei polypragmatischer<br />
und fast stets frustraner Therapie.<br />
Gesetzliche Krankenversicherung<br />
Die Arbeitsunfähigkeit hat sich oft schon lange vor der Begutachtung durch <strong>ein</strong>e Reihe von<br />
Faktoren fixiert. Zunächst verharren die Betroffenen in den alten Verhaltensmustern ungünstiger<br />
Bewegungsabläufe und psychosozialer Belastungen, ohne dass <strong>ein</strong>e adäquate Behandlung<br />
zu Beginn des Beschwerdebildes erfolgt. Die somatische Therapie erweist sich in<br />
aller Regel als wenig hilfreich. Dann kommt es zunehmend zu Inaktivität und Rückzug, wobei<br />
in Frühstadien der Erkrankung gerade das Gegenteil als therapeutisch hilfreich angesehen<br />
wird. Die Folge ist verständlicherweise die Entwicklung von Depressivität, was wiederum die<br />
Rückzugstendenzen verstärkt, woraus <strong>ein</strong>e zunehmende Neurotisierung resultiert.<br />
Wegen großzügiger, meist auf Wunsch des Patienten erfolgender Krankschreibung durch die<br />
behandelnden Ärzte kommt es dann zum Verlust des Arbeitsplatzes, der zwar durch Kranken-<br />
oder Arbeitslosengeld kompensiert wird, jedoch zur Bestätigung der Krankenrolle führt.<br />
Die für den Betroffenen logische Konsequenz kann dann nur noch der Rentenantrag s<strong>ein</strong>.<br />
Die bei Nichtanerkennung folgenden langwierigen Rechtsstreitigkeiten fixieren meist zusätzlich<br />
die subjektiv empfundene Leistungsminderung, worin die Antragsteller oft von verschiedenen<br />
Institutionen, vom Hausarzt, aufgrund der langen Fehlzeiten auch vom Arbeitgeber –<br />
falls noch vorhanden, nicht selten vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen, vom Arbeitsamt<br />
und schließlich vom Rentenberater unterstützt werden. Der Gutachter steht stets<br />
am Ende dieser Entwicklung und stößt auf völliges Unverständnis, wenn er weder <strong>ein</strong>e objektivierbare<br />
organische noch <strong>ein</strong>e schwerwiegende sonstige seelische Störung findet und<br />
die M<strong>ein</strong>ung vertritt, hier liege noch <strong>ein</strong> zeitlich ausreichendes Leistungsvermögen vor.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
69
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Gesetzliche Rentenversicherung<br />
Dem Gutachter im Rentenverfahren, der auf Grund der Aktenlage am ehesten den Überblick<br />
über die vielfältigen Voruntersuchungen – und dadurch nicht selten über die seelischen<br />
Komponenten – hat, wird der Versicherte jedoch meist mit Misstrauen und Vor<strong>ein</strong>genommenheit<br />
begegnen, da nach Rentenantragstellung innerlich oft schon die Weichen in Richtung<br />
des Rückzugs aus dem Arbeitsleben gestellt sind. Die sozialmedizinische Beurteilung<br />
ist daher stets schwierig und muss sich ganz überwiegend auf die subjektiven Beschwerden<br />
des Untersuchten stützen, was unterschiedliche Einschätzungen und <strong>ein</strong>e erhebliche Unschärfe<br />
in der Bewertung erwarten lässt.<br />
Es fehlt die Möglichkeit, die Be<strong>ein</strong>trächtigungen nach Parametern zu bestimmen, die unabhängig<br />
von der subjektiven Darstellung des Betroffenen erfasst werden können.<br />
Gerade weil objektive Organbefunde bei der primären <strong>Fibromyalgie</strong> fehlen, sollte die Beurteilung<br />
nach den Kriterien der funktionellen Störungen bzw. des chronischen Schmerzsyndroms<br />
erfolgen. Ähnlich wie bei anderen somatoformen Störungen bewähren sich auch hier<br />
die Ausführungen von Foerster, wonach bei mehrjährigem Verlauf, kontinuierlicher Chronizität<br />
trotz adäquater ambulanter und stationärer Behandlung und nach gescheiterten Rehabilitationsmaßnahmen<br />
mit der Wiederherstellung der vollen Erwerbstätigkeit nicht mehr zu<br />
rechnen ist. Berücksichtigt werden muss aber auch die nicht selten iatrogen gebahnte Fehlentwicklung<br />
durch frühzeitige und anhaltende Krankschreibung, die die Chronifizierung noch<br />
zusätzlich fördert, besonders, wenn der Betroffene ohnehin schon in <strong>ein</strong>em wenig zufriedenstellenden<br />
Beruf und in unglücklichen Familienverhältnissen lebt.<br />
Auf den Einsatz von psychometrischen Testverfahren oder Beschwerdeskalen sollte in der<br />
Begutachtungssituation verzichtet werden, da das Untersuchungsziel für den Probanden in<br />
der Regel leicht erkennbar ist und <strong>ein</strong>e Verdeutlichungstendenz in diesem Rahmen häufig<br />
ist.<br />
Einschätzung der Leistungsfähigkeit<br />
Nach den sozialmedizinischen Empfehlungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger<br />
ist die Leistungsfähigkeit bei gesicherter <strong>Fibromyalgie</strong> und erheblichem Leidensdruck<br />
oft auf Dauer qualitativ be<strong>ein</strong>trächtigt. Es bestehen funktionelle Leistungs<strong>ein</strong>schränkungen<br />
hinsichtlich körperlicher Schwerarbeit, Zwangshaltung, Akkordarbeit und besonderer<br />
Stressbelastung.<br />
Als Tätigkeitsbereiche, die bei der <strong>Fibromyalgie</strong> nicht oder nur <strong>ein</strong>geschränkt zumutbar sind,<br />
gelten<br />
• wegen der Schwere der Arbeit: unter anderem Bergbau, Ladetätigkeiten mit Be- und<br />
Entladen, Reifenmontage, Maurer, Stahlbetonbauer,<br />
70 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
• wegen erforderlicher Zwangshaltung: Montagearbeiter, Kraftfahrzeughandwerker, Fliesenleger,<br />
Raumausstatter, Pflegeberufe, auch Stenotypistin und andere,<br />
• auf Grund von Kälte- und Nässe<strong>ein</strong>wirkung: Gartenbau, Straßen- und Tiefbau, Fischer,<br />
Land- und Forstwirtschaft.<br />
Eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten<br />
auf dem allgem<strong>ein</strong>en Arbeitsmarkt bleibt jedoch in der Regel erhalten.<br />
Ein richtunggebendes Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (Az. 2 PJ<br />
2273/98) vom 19.04.00 wertete das Krankheitsbild der <strong>Fibromyalgie</strong> nicht als ausreichend für<br />
die Annahme von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und stellte fest „Eine <strong>Fibromyalgie</strong> führt<br />
zu k<strong>ein</strong>em nur noch untervollschichtigem Leistungsvermögen, da mit ihr k<strong>ein</strong>e erheblichen<br />
Bewegungs<strong>ein</strong>schränkungen im Bereich der Wirbelsäule und Gelenke verbunden sind und<br />
die Schmerzstörung bisher k<strong>ein</strong> gravierendes Ausmaß erreicht hat“. Ausdrücklich wurde<br />
auch darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall k<strong>ein</strong>e schwerwiegende Depressivität,<br />
k<strong>ein</strong> vorzeitiger zerebraler Abbau oder aktuelle Suizidalität vorlag. Da die Krankheit nicht<br />
durch objektive Befunde belegbar sei, sondern sich in erster Linie auf die subjektiven Angaben<br />
<strong>ein</strong>es Patienten stütze, bedürfe es <strong>ein</strong>er äußerst kritischen Würdigung der Fakten. Der<br />
Klägerin sei daher k<strong>ein</strong>e Rente zu gewähren.<br />
Nach den Empfehlungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (Heisel<br />
2003) ist die Attestierung <strong>ein</strong>er Erwerbsminderung bei der <strong>Fibromyalgie</strong> kontraproduktiv, da<br />
sie eher zu <strong>ein</strong>em Krankheitsgewinn mit weiterer psychischer Fixierung führe.<br />
Eine Indizienliste nach Widder und Aschoff, die detailliert auf das außerberufliche Leistungsvermögen<br />
und die Freizeitaktivitäten <strong>ein</strong>geht, ist dabei recht hilfreich und lässt nicht selten<br />
die angegebenen subjektiven Leistungs<strong>ein</strong>schränkungen in <strong>ein</strong>em anderen Licht ersch<strong>ein</strong>en.<br />
Eine Fremdanamnese – mit Einverständnis des Untersuchten – erleichtert oft die Einschätzung<br />
der Alltagskompetenz.<br />
Häuser (2002, 2004) machte Vorschläge zu <strong>ein</strong>er Schweregrad<strong>ein</strong>teilung des <strong>Fibromyalgie</strong>syndroms<br />
und die Bewertung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben: Bei leichtgradigen<br />
Formen seien leichte Tätigkeiten über 6 Stunden täglich zumutbar. Bei mittelschweren Formen<br />
mit psychischer Komorbidität und körperlicher Dekonditionierung sei <strong>ein</strong>e Einschränkung<br />
des Leistungsvermögens auf 3 bis 6 Stunden täglich anzunehmen. Bei progredientem<br />
Krankheitsverlauf und schwerem Verlauf mit bedeutsamen Einschränkungen der Erlebnisund<br />
Gestaltungsfähigkeit sei von <strong>ein</strong>em aufgehobenem Leistungsvermögen auszugehen.<br />
Ein großes Problem stellt die Beantwortung der juristischen Frage dar, ob der zu Begutachtende<br />
„bei Anlegen <strong>ein</strong>es strengen Maßstabes noch in der Lage ist, bei zumutbarer Willensanspannung<br />
<strong>ein</strong>e Tätigkeit ohne Gefährdung der Restgesundheit“ auszuüben und ihm damit<br />
<strong>ein</strong>e berufliche Wieder<strong>ein</strong>gliederung zuzumuten ist. Sie kann letztlich nur unter Berücksichtigung<br />
der gesamten, sehr <strong>ein</strong>gehend erhobenen Vorgeschichte und der Persönlichkeitsstruk-<br />
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71
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
tur im jeweiligen Einzelfall beurteilt werden und bedarf nervenärztlich-psychosomatischer<br />
Kompetenz, wobei es hilfreich ist, „sich detailliert und naiv hinterfragend den momentanen<br />
Tages- und Wochenablauf schildern zu lassen“ (Stärk 1999). Es bleibt dabei stets <strong>ein</strong> gewisser<br />
Ermessensspielraum. Immerhin ist auch sehr wohl zu bedenken, dass die Berentung<br />
weniger <strong>ein</strong>e Entlastung als vielmehr die Grundlage für <strong>ein</strong>e weitere Chronifizierung darstellen<br />
kann.<br />
Grundsätzlich sollte die Begutachtung <strong>ein</strong>es an <strong>Fibromyalgie</strong> Leidenden k<strong>ein</strong>esfalls ausschließlich<br />
durch <strong>ein</strong>en Orthopäden oder Rheumatologen erfolgen, auch nicht durch <strong>ein</strong>en<br />
„Schmerztherapeuten“, sondern grundsätzlich <strong>ein</strong>en Psychiater mit <strong>ein</strong>beziehen.<br />
Schwerbehindertenrecht<br />
Als Behinderung nach dem früheren Schwerbehindertengesetz (SchwbG) – jetzt SGB IX -<br />
wird <strong>ein</strong>e „nicht nur vorübergehende über das altersgemäß-physiologische Maß hinausgehende<br />
Funktions<strong>ein</strong>schränkung“ angesehen, die „auf <strong>ein</strong>em regelwidrigen körperlichen, geistigen<br />
oder seelischen Zustand beruht und <strong>ein</strong>en Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens<br />
10 bedingt“. Der Schwerbehindertenstatus wird dabei erst bei <strong>ein</strong>em Gesamt-GdB von<br />
50 erreicht.<br />
Maßgeblich für die Bewertung sind die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im<br />
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ in der neuesten Ausgabe<br />
von 2004. Dort wird unter dem Stichpunkt „<strong>Fibromyalgie</strong>syndrom“ festgestellt, dass sich<br />
die Bewertung nach „Art und Ausmaß der jeweiligen Organbeteiligung sowie nach den Auswirkungen<br />
auf den Allgem<strong>ein</strong>zustand“ richtet. Dies ist hier wenig hilfreich, da eben k<strong>ein</strong>e Organbeteiligung<br />
vorliegt und der Allgem<strong>ein</strong>zustand zumindest körperlich nicht be<strong>ein</strong>trächtigt<br />
ist.<br />
Das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom gilt als chronisches Schmerzsyndrom ohne organischen Befund.<br />
Liegen zusätzliche Behinderungen des Stütz- und Bewegungssystems vor, so sind diese<br />
primär zu beurteilen, Entsprechendes gilt für neuropsychiatrische Erkrankungen. Scheiden<br />
solche aus, muss das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom isoliert bewertet werden.<br />
Begutachtungsempfehlungen<br />
Die offiziellen Begutachtungsempfehlungen des Beirates des Bundesministeriums für Arbeit<br />
und Sozialordnung bzw. des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung gehen<br />
davon aus, dass das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen<br />
Literatur nicht als eigenständiges Krankheitsbild zu beurteilen ist. Gutachtlich sei vielmehr<br />
neben <strong>ein</strong>er somatischen Funktions<strong>ein</strong>buße auch die psychische Be<strong>ein</strong>trächtigung wie<br />
chronisch fixierte Schmerzen und Schlafverlust zu berücksichtigen. Bei stärkeren psychi-<br />
72 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
schen Störungen könne – analog den psychovegetativen Störungen – <strong>ein</strong> GdB von 20 gerechtfertigt<br />
s<strong>ein</strong>. Somatische Funktionsbe<strong>ein</strong>trächtigungen seien gegebenenfalls zusätzlich<br />
zu beurteilen. Nachdem k<strong>ein</strong>e spezifischen objektivierbaren organischen Befunde vorliegen,<br />
kann nur <strong>ein</strong>e Bewertung in Analogie zu anderen funktionellen Störungen erfolgen, wobei<br />
chronische, über das übliche Ausmaß hinausgehende Schmerzen – die hinreichend wahrsch<strong>ein</strong>lich<br />
zu machen sind – besonders berücksichtigt werden müssen.<br />
In der Literatur wird für die <strong>Fibromyalgie</strong> all<strong>ein</strong> üblicherweise <strong>ein</strong> GdB von 10–20 empfohlen,<br />
dies entspricht <strong>ein</strong>er leichtgradigen Einschränkung im täglichen Leben. Nachweisbaren stärkeren<br />
Einschränkungen im Alltagsleben kann <strong>ein</strong> GdB von 30–40 zugebilligt werden. Liegen<br />
tatsächlich außergewöhnliche Schmerzen mit der Erfordernis <strong>ein</strong>er adäquaten, schmerztherapeutischen<br />
Behandlung vor, kann in begründeten Ausnahmefällen – aber insgesamt wohl<br />
eher selten – <strong>ein</strong> GdB von 50 erwogen werden. Die Bedeutung der Würdigung des Einzelfalles<br />
kann nicht genug betont werden, wobei gerade auch den durchgeführten Behandlungsmaßnahmen<br />
und der Be<strong>ein</strong>trächtigung im Alltagsleben, letztlich <strong>ein</strong>em nachvollziehbaren<br />
Leidensdruck besondere Bedeutung zukommt.<br />
Gesetzliche Unfallversicherung<br />
Die <strong>Fibromyalgie</strong> als solche stellt hier k<strong>ein</strong> Problem dar, da <strong>ein</strong> Kausalzusammenhang mit<br />
<strong>ein</strong>em Unfall nicht begründbar ist. Gleichwohl werden aber gelegentlich Ansprüche, vor allem<br />
nach <strong>ein</strong>er HWS-Distorsion geltend gemacht, die der Entwicklung <strong>ein</strong>er <strong>Fibromyalgie</strong> vorausgegangen<br />
s<strong>ein</strong> soll. Zu beurteilen ist dann nicht das Krankheitsbild „<strong>Fibromyalgie</strong>“, sondern<br />
die Entstehung <strong>ein</strong>er chronischen Schmerzkrankheit. Die Prinzipien der sozialrechtlichen<br />
Kausallehre sind dabei zu beachten. Der gesicherte Erstschaden im Rahmen <strong>ein</strong>es<br />
Arbeits- oder Wegeunfalls muss vorausgesetzt werden, ebenso das Vorliegen von Bedingungen,<br />
die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Entstehen der Gesundheitsstörung<br />
wesentlich mitgewirkt haben. Auf bereits vor dem Unfall bestehende Schmerzen oder psychische<br />
Auffälligkeiten ist zu achten, wobei das Leistungsverzeichnis der Krankenkasse stets<br />
herangezogen werden sollte. Wichtig ist auch, ob sich die Symptomatik nach dem Unfall<br />
entscheidend geändert hat, schließlich ob <strong>ein</strong>e relevante Persönlichkeitsstörung schon vor<br />
dem Ereignis vorlag. Lässt sich dies ausschließen, so kann auch relevanten psychoreaktiven<br />
Störungen unter sorgfältiger Abwägung unfallunabhängiger Faktoren die Anerkennung als<br />
Unfallfolge zugestanden werden.<br />
Die privaten Unfallversicherungen schließen seelische Unfallfolgen von ihrer Leistungspflicht<br />
grundsätzlich aus.<br />
Haftpflichtversicherung<br />
Die Haftpflicht mit der Frage nach Schadenersatz und Schmerzensgeld nach <strong>ein</strong>er Verletzung<br />
unterliegt dem Zivilrecht und nicht dem Sozialrecht und hier gilt <strong>ein</strong>e andere Kausali-<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
73
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
tätsbeurteilung, nämlich die Adäquanztheorie, nach der nur solche Umstände als ursächlich<br />
für den Schadenserfolg gewertet werden, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge<br />
generell geeignet sind, <strong>ein</strong>en Erfolg, d.h. <strong>ein</strong>e entsprechende Schädigung herbeizuführen.<br />
Chronische Schmerzen sind danach zu beurteilen, ob sie „erlebnisadäquat“ sind. Ansonsten<br />
gelten ähnliche Überlegungen wie für die gesetzliche Unfallversicherung.<br />
Private Berufsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (BUZ)<br />
Hier gelten die bekannten Kriterien <strong>ein</strong>er Berufsunfähigkeit im speziellen Fall der privaten<br />
Berufsunfähigkeitsversicherung, die sich von denen im Sozialrecht unterscheiden. Von wesentlicher<br />
Bedeutung ist dabei der ärztliche Nachweis <strong>ein</strong>er Krankheit mit den wissenschaftlichen<br />
Methoden der Medizin, wenn von Seiten des Versicherten <strong>ein</strong> entsprechender Leidenszustand<br />
geltend gemacht wird. Gerade dieser Nachweis wird im Falle der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
nicht zu führen s<strong>ein</strong>, da hier eben k<strong>ein</strong>e nachprüfbaren organmedizinisch fassbaren Veränderungen<br />
vorliegen. Besteht <strong>ein</strong>e relevante seelische Störung, so ist dies entsprechend den<br />
psychiatrischen Erkenntnissen zu begründen und kann dann gegebenenfalls zu <strong>ein</strong>er vollständigen<br />
oder teilweisen Berufsunfähigkeit nach den <strong>ein</strong>schlägigen Kriterien führen. Dabei<br />
ist sehr präzise auf den Beruf abzustellen, mit dem der Versicherte bei Eintritt des Versicherungsfalles<br />
s<strong>ein</strong> Einkommen erzielt hat und der damit die Grundlage s<strong>ein</strong>er Lebensstellung<br />
war. Der geforderte Zeitraum von 6 Monaten ist in diesem Zusammenhang meist als erfüllt<br />
anzusehen. Letztlich kommt es auch hier entscheidend auf psychische Komorbiditäten an,<br />
wenn <strong>ein</strong>e Berufsunfähigkeit anerkannt werden soll.<br />
7. Schlussfolgerung<br />
Berücksichtigt man die ausgesprochen geringfügigen organischen Befunde und die oft im<br />
Einzelfall durchaus bedeutsamen psychopathologischen Zusammenhänge, so kann man die<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> zu Recht als psychosomatische Störung auffassen, was heute – je nach Untersucher<br />
– mehr oder weniger akzeptiert wird.<br />
Der Patient wird durch die Einordnung der <strong>Fibromyalgie</strong> als organische Erkrankung aber<br />
noch weiter in s<strong>ein</strong>er somatischen Fixierung bestärkt. Die dann in großer Zahl erfolgenden<br />
körperlichen Behandlungsmaßnahmen bis hin zu operativen Interventionen erweisen sich<br />
sehr bald als ineffizient und unterstützen den Patienten in s<strong>ein</strong>er Einschätzung, an <strong>ein</strong>er<br />
schweren, „unheilbaren“ Erkrankung zu leiden. Damit verbunden sind auch alle sozialmedizinischen<br />
Konsequenzen von der Krankschreibung bis hin zur vorzeitigen Berentung.<br />
Gerade der Rentengutachter wird häufig mit den iatrogen fixierten, auf der organischen<br />
Schiene festgefahrenen Vorstellungen der Versicherten hinsichtlich <strong>ein</strong>er subjektiven Leistungsinsuffizienz<br />
konfrontiert. Sie sind <strong>ein</strong>er Therapie, die die bio-psycho-sozialen Zusammenhänge<br />
berücksichtigt, nicht mehr zugänglich. Die <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>seitig organische Bedingtheit<br />
74 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
suggerierende Diagnose „<strong>Fibromyalgie</strong>-Syndrom“, die letztlich auf Deutsch nur „Faser-<br />
Muskel-Schmerz“ bedeutet, ist diesbezüglich ausgesprochen kontraproduktiv.<br />
Die ICD-10 stellt stattdessen für <strong>ein</strong>e diagnostische Klassifizierung den ätiologisch neutralen<br />
Begriff der „anhaltenden somatoformen Schmerzstörung“ (F 45.4) oder auch den der „Somatisierungsstörung“<br />
(F 45.0) zur Verfügung, wodurch k<strong>ein</strong>e – bisher nicht belegbare –Ursache<br />
präjudiziert wird.<br />
Hinter dem Etikett „<strong>Fibromyalgie</strong>“ kann sich <strong>ein</strong> weites Spektrum seelischer Störungen verbergen<br />
und dies ist bei der Begutachtung auch in den meisten Fällen festzustellen. Neben<br />
leichteren Befindlichkeitsstörungen, die früher als „psychovegetatives Syndrom“ bezeichnet<br />
wurden, und gelegentlich auch <strong>ein</strong>em Rentenbegehren findet sich häufig <strong>ein</strong>e somatisierte<br />
Depression im Rückbildungsalter, <strong>ein</strong>e hypochondrische Störung und gar nicht selten auch<br />
<strong>ein</strong>e schwere, <strong>ein</strong>deutig krankheitswertige neurotische Entwicklung, die es sozialmedizinisch<br />
adäquat zu würdigen gilt. Dies ergibt sich aber erst aus <strong>ein</strong>er gezielten psychiatrischen Exploration.<br />
Es ist auch unter dem Aspekt <strong>ein</strong>er chronifizierten Schmerzkrankheit, der ebenfalls<br />
Krankheitswert zugebilligt werden muss, zu explorieren. Diese sozusagen hinter der Bezeichnung<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> stehenden Krankheitsbilder sind für die Begutachtung von Bedeutung<br />
und können sehr wohl zur Annahme <strong>ein</strong>er auch schwerwiegenden rentenrelevanten<br />
Leistungsminderung führen.<br />
Aus sozialmedizinischer Sicht sollte, wie bei anderen funktionellen Störungen, grundsätzlich<br />
versucht werden, möglichst lange <strong>ein</strong>e berufliche Eingliederung anzustreben bzw. aufrechtzuerhalten.<br />
Bei langjährigem Krankheitsverlauf und gescheiterten umfassenden Therapiemaßnahmen<br />
wird letztlich <strong>ein</strong>e Berentung nicht zu vermeiden s<strong>ein</strong>. Es sollte jedoch in jedem<br />
Einzelfall <strong>ein</strong>e kritische Abwägung erfolgen. Das „moderne Leiden“ <strong>Fibromyalgie</strong> darf nicht<br />
kritiklos zur Begründung <strong>ein</strong>es aufgehobenen Leistungsvermögens oder der Erlangung des<br />
Schwerbehindertenstatus benützt werden.<br />
Unter gutachtlichen Aspekten ist die <strong>Fibromyalgie</strong> k<strong>ein</strong>e objektivierbare Krankheit, sondern<br />
nur die Benennung <strong>ein</strong>es subjektiven Beschwerdekomplexes. Entscheidend für die sozialmedizinische<br />
Beurteilung ist die Frage: Was steckt dahinter? Besteht <strong>ein</strong>e relevante körperliche<br />
oder seelische Erkrankung, die das Schmerzsyndrom erklären kann? Davon hängt es<br />
ab, ob <strong>ein</strong>e Leistungsminderung begründet werden kann.<br />
Der Gutachter hat die Verpflichtung zur strikten Neutralität und Objektivität. Er sollte weder<br />
den <strong>ein</strong>seitig ausgerichteten Vorstellungen des Probanden und s<strong>ein</strong>er Selbsthilfegruppen<br />
nachgeben noch in die ebenso <strong>ein</strong>seitig orientierten Vorstellungen mancher Kollegen verfallen,<br />
dass es k<strong>ein</strong>e Leistungsminderung geben darf, wenn Labor und Röntgen unauffällig<br />
sind. Diese Einseitigkeit ist nicht minder gefährlich als die unkritische Anerkennung. Der sozialmedizinische<br />
Gutachter muss sich beide Standpunkte vergegenwärtigen und in jedem<br />
Einzelfall s<strong>ein</strong> Votum kritisch abwägen.<br />
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Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
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12. Häuser W (2004): <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – Psychische Komorbiditäten und Schweregrade innerhalb<br />
der sozialgerichtlichen Begutachtung. Med Sach 100: 11-16<br />
13. Hausotter W (1998): <strong>Fibromyalgie</strong> – Ein entbehrlicher Krankheitsbegriff? Versicherungsmedizin<br />
50: 13–17<br />
14. Hausotter W (2000): Begutachtung der <strong>Fibromyalgie</strong>. Med Sach 96: 132–136<br />
15. Hausotter W (2000): Somatoforme und funktionelle Störungen ohne neurologisches Korrelat. In:<br />
Suchenwirth RMA, Kunze K, Krasney OE (Hrsg.): Neurologische Begutachtung – Ein praktisches<br />
Handbuch für Ärzte und Juristen. München: Urban & Fischer, 3. Aufl.<br />
16. Hausotter W, Weiss T (2002): Moderne Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong>. Allgem<strong>ein</strong>arzt, Teil I: 24: 34-38,<br />
Teil II: 24: 146-151<br />
17. Hausotter W, Weiss T (2002): Moderne Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong> – Therapeutische Möglichkeiten<br />
mit Fallbeispielen. Ars Medici 92: 1068-1070<br />
18. Hausotter W (2004): Begutachtung funktioneller und somatoformer Störungen. München: Urban &<br />
Fischer Elsevier, 2. Aufl.<br />
19. Heisel J (2003): Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems. In: VDR (Hrsg.): Sozialmedizinische<br />
Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung. Berlin: Springer, 6. Aufl.<br />
20. Janssen PL, Schneider W (1995): Psychosomatische Krankheiten. In: Sozialmedizinische Begutachtung<br />
in der gesetzlichen Rentenversicherung, hrsg. vom VDR. Stuttgart: Fischer, 5. Aufl.<br />
21. Keel PJ (1995): <strong>Fibromyalgie</strong>. Stutgart: Fischer<br />
22. Mathies H (1975): Beitrag zur Klinik psychosomatischer Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates.<br />
In: Psyche und Rheuma: Psychosomatische Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates.<br />
Basel: Schwabe/Eular Publ: 166–168<br />
23. Mathies H (2000): <strong>Fibromyalgie</strong> – Psychische Probleme in der Diagnostik. Allgem<strong>ein</strong>arzt 19:<br />
1469–1472<br />
24. Moorahrend U (1998, Hrsg.): Problemdiagnose „<strong>Fibromyalgie</strong>“. Balingen: Spitta<br />
25. Müller W (1971): Der Weichteilrheumatismus: Begriffsbestimmung, Epidemiologie, Ätiopathogenese<br />
und Therapie als Überblick. In: Fortbildungskurse Rheumatologie, Band 1: Der Weichteilrheumatismus.<br />
Basel: Karger: 1–17.<br />
26. Müller W (1991, Hrsg.): Generalisierte Tendomyopathie (<strong>Fibromyalgie</strong>). Darmstadt: St<strong>ein</strong>kopff<br />
76 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Wolfgang Hausotter Sozialmedizinische Aspekte der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
27. Pongratz DE, Späth M (1998): <strong>Fibromyalgie</strong>. Akt Neurol 25: 13–18<br />
28. Rohe K, Rompe G (1995): Krankheiten des Stütz- und Bewegungsapparates. In: Sozialmedizinische<br />
Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung, 5. Aufl. hrsg. vom VDR. Stuttgart:<br />
Gustav Fischer<br />
29. Schulte RM (1999): Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung chronischer Schmerzsyndrome. Med<br />
Sach 95: 52–56<br />
30. Szasz T (1991): Diagnoses are not diseases. Lancet 338: 1574-1576<br />
31. Stärk C (1999): Das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom – <strong>ein</strong>e Störung aus dem affektiven Formenkreis. Med<br />
Sach 95: 134–136<br />
32. v Uexküll Th (1996): Psychosomatische Medizin. München: Urban & Schwarzenberg, 5. Aufl.<br />
33. Widder B, Aschoff JC (1995): Somatoforme Störung und Rentenantrag: Erstellen <strong>ein</strong>er Indizienliste<br />
zur quantitativen Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens. Med Sach 91: 14–19<br />
34. Wolfe F, Smythe HA, Yunus MA et al. (1990): The American College of Rheumatology 1990. Criteria<br />
for the Classification of Fibromyalgia: Report of the Multicenter Criteria Committee. Arthrit<br />
Rheum 33: 160<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
77
Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
Thorsten Böing<br />
1. Was ist und was kann Sporttherapie?<br />
Die Sporttherapie gilt – gemessen an anderen Therapieansätzen – als noch relativ junge<br />
Therapieform. Während jedoch viele dieser Ansätze primär <strong>ein</strong>dimensional ausgelegt sind,<br />
findet sich in der Sporttherapie <strong>ein</strong> äußerst komplexer Ansatz mit drei Wirkungsebenen: die<br />
erste Ebene b<strong>ein</strong>haltet <strong>ein</strong>en medizinisch-funktionellen Aspekt mit Schulung der<br />
Koordination, Ausdauer, Kraft und Flexibilität. Die zweite Ebene verfolgt <strong>ein</strong>en pädagogischedukativen<br />
Aspekt: die Schulung des praktischen Patientenverhaltens durch<br />
Informationsweitergabe mit dem Ziel der Eigenverantwortung und der Selbstwirksamkeit im<br />
Sinne <strong>ein</strong>er Verhaltensmodifikation. Die dritte und letzte Ebene zielt auf <strong>ein</strong>en<br />
psychosozialen Aspekt. Die Orientierung an den Bedürfnissen des Patienten, dem Hinführen<br />
zur Bewegung (Radfahren, Wandern, Kegeln, Garten etc.) und zum Sport<br />
(Lifetimesportarten, Golf o.ä.) findet hier ihren Ansatz. Die Sporttherapie verbindet somit alle<br />
wichtigen Faktoren, die in <strong>ein</strong>em anspruchsvollen Behandlungskonzept vorhanden s<strong>ein</strong><br />
sollten und ist insofern geradezu prädestiniert für die praktische Umsetzung der ICF<br />
(International Classification of Functioning, Disability and Health), die im Mai 2001 von der<br />
WHO verabschiedet wurde (Schuntermann, 2002). Die ICF verlangt <strong>ein</strong>en bio-psychosozialen<br />
Ansatz beim therapeutischen Setting, dem die Sporttherapie auf ihrer funktionellen,<br />
pädagogischen und psychosozialen Wirkungsebene Rechnung trägt. Die Durchführung als<br />
Gruppentherapie macht die Sporttherapie vor dem Hintergrund steigender Kosten im<br />
Gesundheitswesen außerdem betriebswirtschaftlich interessant.<br />
1.1 Abgrenzung Bewegungstherapie – Sporttherapie<br />
Die Definition der Bewegungstherapie lautet: „Bewegungstherapie ist ärztlich indizierte und<br />
verordnete Bewegung, die vom Therapeuten geplant und dosiert, gem<strong>ein</strong>sam mit dem Arzt<br />
kontrolliert und mit dem Patienten all<strong>ein</strong>e oder in der Gruppe durchgeführt wird“ (Schüle &<br />
Huber, 2004).<br />
Die Definition der Sporttherapie lautet: „Sporttherapie ist <strong>ein</strong>e bewegungstherapeutische<br />
Maßnahme, die mit den geeigneten Mitteln des Sports gestörte körperliche, psychische und<br />
soziale Funktionen kompensiert, regeneriert, Sekundärschäden vorbeugt und gesundheitlich<br />
orientiertes Verhalten fördert. Sporttherapie beruht auf biologischen Gesetzmäßigkeiten,<br />
bezieht besonders trainingswissenschaftliche, medizinische, pädagogisch-psychologische<br />
sowie soziotherapeutische Elemente mit <strong>ein</strong> und versucht, <strong>ein</strong>e überdauernde<br />
Gesundheitskompetenz herzustellen. Sporttherapie versteht sich in diesem Sinne als<br />
Heilmittel“ (Schüle & Huber, 2004).<br />
78 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
Die Definitionen verdeutlichen die unterschiedlichen Ansätze: zum <strong>ein</strong>en die<br />
Bewegungstherapie, die ihren medizinisch-funktionellen Bereich nicht verläßt und somit<br />
ausschließlich <strong>ein</strong>dimensional wirksam ist. Zum anderen die Sporttherapie mit ihrem<br />
mehrdimensionalen Ansatz. Letzteres veranschaulicht nochmals die folgende Grafik:<br />
Abb. 1: Die Wirkungsebenen der Sporttherapie (Schüle & Huber, 2004)<br />
1.2 Beispiele sporttherapeutischer Behandlungsansätze<br />
Heitkamp (1997) untersuchte Gonarthrosepatienten und verglich drei Versuchsgruppen<br />
mit<strong>ein</strong>ander: <strong>ein</strong>e Heimtrainingsgruppe, <strong>ein</strong>e Gruppe, die mit „klassischer“ Krankengymnastik<br />
behandelt wurde, und <strong>ein</strong>e Gruppe, die <strong>ein</strong> sporttherapeutisches Programm durchlief.<br />
Letztgenannte Gruppe zeigte die besten Ergebnisse bei den Parametern Kraft, Compliance<br />
und Gehfähigkeit. Besonders erwähnenswert ist die nachhaltige Reduktion des Schmerzes,<br />
die noch zwei Jahre nach Ende der Maßnahme festzustellen war. Die optimale Rehabilitation<br />
b<strong>ein</strong>haltet s<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach <strong>ein</strong>e Kombination aus krankengymnastischen und<br />
sporttherapeutischen Maßnahmen.<br />
Horstmann (2000) untersuchte Möglichkeiten und Grenzen der Sporttherapie bei<br />
Coxarthrose- und Hüftendoprothesen-Patienten. Dabei wurden Defizite analysiert, die man<br />
bei dieser Patientengruppe vor und nach <strong>ein</strong>er Rehabilitation feststellen kann. Das sind<br />
Auffälligkeiten im Gangverhalten, in der Kraft, der Kraftausdauer und der kardiopulmonalen<br />
Leistungsfähigkeit. Daraus ergab sich der Untersuchungsansatz, nach bzw. parallel zu<br />
krankengymnastischer Therapie <strong>ein</strong> Trainingsprogramm zu installieren, daß die<br />
Verbesserung dieser Defizite zum Ziel hatte. Das Ergebnis waren<br />
� Verbesserung der Gang- und Bewegungssicherheit,<br />
� Verbesserung des allgem<strong>ein</strong>en Körpergefühls,<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
79
Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
� Verbesserung der Kraft und Kraftausdauer,<br />
� Verbesserung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit,<br />
� Verminderung der Schmerzen und Beschwerden.<br />
Durch die sporttherapeutische Intervention ergab sich <strong>ein</strong> deutlicher therapeutischer<br />
Mehrwert der Reha-Maßnahme. Bei Patienten mit chronischem Kreuzschmerz verglich<br />
St<strong>ein</strong>au (1999) sporttherapeutische Interventionsmöglihkeiten mit <strong>ein</strong>em klassisch<br />
physikalisch-rehabilitativen Therapieansatz. Die genauen Therapi<strong>ein</strong>halte zeigt die folgende<br />
Tabelle.<br />
Gruppe „Sporttherapie“ Gruppe „Physikalisch-rehabilitative Therapie“<br />
Anzahl Dauer<br />
(min)<br />
Anzahl Dauer<br />
(min)<br />
Rückenschule 7 45 Einzel-KG 19 20<br />
WS-Gymnastik 15 30 Massage (klassisch) 12 20<br />
Geh-/Lauftraining 12 30 Interferenz-Behandl. 12 20<br />
Entspannungstraining 8 30 Fango 12 20<br />
Wandergruppe 3 90 CO2-Bäder 19 20<br />
Schwimmunterricht 19 20 Schwimmunterricht 19 20<br />
Summe 64 2015 Summe 93 1860<br />
Tab. 1: Gegenüberstellung der Therapi<strong>ein</strong>halte und ihres zeitlichen Umfangs (mod. nach St<strong>ein</strong>au,<br />
1999)<br />
Insgesamt betrachtet waren <strong>ein</strong>zel- und gruppentherapeutische Maßnahmen in ihrem<br />
Outcome ebenbürtig. Betrachtet man jedoch die Summe der Therapieminuten und<br />
berücksichtigt den Unterschied Einzel- vs. Gruppentherapie, zeigen insbesondere diese<br />
betriebswirtschaftlichen Differenzen beider Therapieansätze <strong>ein</strong> deutliches Plus für die<br />
Sporttherapie.<br />
Pahmeier (2000) beobachtete die Bindung an sportliche Aktivität im Anschluß an <strong>ein</strong>e<br />
Rehamaßnahme. Dabei zeigten Patienten, die ihr Sport- und Bewegungsprogramm daheim<br />
nahtlos anschlossen,<br />
� signifikant mehr Zufriedenheit mit der Gesundheit,<br />
� mehr soziale Bindungsintention,<br />
� mehr Unterstützung durch Familie und Freunde,<br />
� mehr sportbezogene Selbstwirksamkeit.<br />
Somit kommt die Autorin zu dem Schluß, daß die Wirkmechanismen sporttherapeutischer<br />
Bewegungsmaßnahmen gerade bei Patienten mit wenig Bewegungserfahrung zum Tragen<br />
kommen, viele dieser Patienten jedoch an ihrem Wohnort <strong>ein</strong>e stärkere Beratung und<br />
Unterstützung benötigten. Eine nachhaltige Modifikation im Sinne <strong>ein</strong>er aktiveren und somit<br />
80 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
eigenverantwortlicheren Lebensweise ist unabdingbar mit <strong>ein</strong>er weiterführenden<br />
wohnortnahen Betreuung verbunden.<br />
Trotz dieses <strong>ein</strong>deutigen Benefits von sporttherapeutischen Interventionsmöglichkeiten<br />
kommt Braumann (2001) zu <strong>ein</strong>em erstaunlichen Ergebnis. Er befragte Mediziner, wie sie die<br />
Bedeutung von Sport und Bewegung als Mittel der Therapie <strong>ein</strong>schätzten:<br />
� 90,6% der Befragten gaben an, daß Sport und Bewegung <strong>ein</strong>en höheren Stellenwert in<br />
der täglichen Praxis haben sollten,<br />
� 84,9% stellten fest, während ihres Studiums zu wenig über die Zusammenhänge von<br />
Bewegung und Erkrankung gehört zu haben,<br />
� nur 49,9% schätzten ihr Wissen in diesem therapeutischen Arbeitsfeld als gut oder sehr<br />
gut <strong>ein</strong>.<br />
2. Überblick aktueller Literatur<br />
Der folgende Literaturüberblick betrachtet diverse Aspekte der Sporttherapie als<br />
Interventionsinstrument bei der Therapie von <strong>Fibromyalgie</strong>patienten. Er will und kann<br />
selbstverständlich nicht den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen. Trotzdem werden<br />
Tendenzen deutlich, die <strong>ein</strong>en evidenzbasierten Ansatz der Sporttherapie zulassen und<br />
somit <strong>ein</strong> geeignetes Instrumentarium zur Behandlung dieser Patientengruppe darstellen.<br />
“The effectiveness of multidisciplinary rehabilitation in the treatment of fibromyalgia: a ran<br />
domized controlled trial” (Lemstra et al. 2005)<br />
� 79 Frauen und Männer wurden in zwei Gruppen a) entweder von <strong>ein</strong>em<br />
interdisziplinären Team oder b) von ihrem Hausarzt medizinisch-therapeutisch betreut.<br />
� Messung nach 6 Wochen Interventionszeitraum, Follow-up nach 15 Monaten.<br />
� Nach 6 Wochen gab es statistisch signifikante Unterschiede in den Parametern<br />
Schmerzintensität, zeitlicher Schmerzumfang, gefühlter Gesundheitszustand und<br />
Depressivität zugunsten der multidisziplinären Interventionsgruppe.<br />
� Allerdings waren diese Ergebnisse nach 15 Monaten nicht mehr festzustellen.<br />
� Betriebswirtschaftlich ist der multidisziplinäre Ansatz insofern zu überdenken.<br />
“Exercise for treating fibromyalgia syndrome“ (Bush et al. 2004)<br />
� Therapeutisch geleitete Aerobic<strong>ein</strong>heiten verbessern die Leistungsfähigkeit und<br />
sch<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>e positive Wirkung auf das Krankheitsbild zu haben.<br />
� Die Verbesserung erfolgt jedoch ohne Definition konkreter Belastungsnormativa.<br />
� Auch stehen Langzeitergebnisse noch aus.<br />
� Insofern k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>deutige Aussage zur Dosis-Wirkung-Beziehung möglich.<br />
� Weitere Studien zu den Themen Kraft und Beweglichkeit sollten folgen.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
81
Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
„Multidisciplinary rehabilitation for fibromyalgia and musculosceletal pain in working age<br />
adults“ (Karjalainen et al. 2004)<br />
� Nach Durchsicht von 1808 Abstracts und 65 Reviews kamen 7 Studien in die engere<br />
Untersuchung.<br />
� K<strong>ein</strong>e Studie genügte die den Ansprüchen <strong>ein</strong>es randomisierten, kontrollierten<br />
Verfahrens.<br />
� Die Analyse ergab <strong>ein</strong>e leichte Evidenz <strong>ein</strong>es multidisziplinären Ansatzes.<br />
� Hochqualitative Studien müssen Nachweis erbringen, dass der ökonomisch aufwendige<br />
Ansatz tatsächlich Nutzen bringt.<br />
“Long-term efficacy in patients with fibromyalgia: a physical exercise-based program and a<br />
cognitive-behavioral approach“ (Redondo et al. 2004)<br />
� Körperliche Aktivität, FIQ, SF 36 u.a. Scores zu Beginn der Behandlung, am Ende, 6<br />
Monate und 1 Jahr danach.<br />
� Beide Interventionsgruppen verbessern sich signifikant in den unterschiedlichen Scores.<br />
� Allerdings nur kurzfristig: <strong>ein</strong> nachhaltiger Effekt ist nicht messbar.<br />
„Entwicklung uns Evaluation <strong>ein</strong>es sporttherapeutischen Programms für <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />
Patienten in der stationären Rehabilitation“ (Abdel Wakel 2003)<br />
� Bewegungsprogramm, Ganzkörperkältetherapie und Bewegungsbad zur positiven<br />
Be<strong>ein</strong>flussung.<br />
� Erfassung zu Beginn, am Ende und 12 Wochen nach Ende der<br />
�<br />
Rehabilitationsmaßnahme.<br />
Gute Ergebnisse bei den Parametern Fitness, Schmerz, Befinden, Angst.<br />
� Aber: zu geringe Teilnehmerzahl (n = 30 während des Reha-Aufenthalts, nur noch 19<br />
beim Follow-up).<br />
� Nach dem Klinikaufenthalt bleiben nur noch wenige Patienten sportlich aktiv.<br />
� Eventuell bessere Nachhaltigkeitseffekte bei <strong>ein</strong>er weiteren sporttherapeutischen<br />
Betreuung, wie sie bereits in den Herzsportgruppen praktiziert wird.<br />
„A successful, long-term exercise programm for women with fibromyalgia syndrome and<br />
chronic fatigue and immune dysfunction syndrome“ (Karper 2003)<br />
� Therapeutisch geleitetes Aktivitätsprogramm (Ausdauer, leichtes Krafttraining) an 5<br />
Tagen pro Woche für jeweils 50 – 70 Minuten.<br />
� Sowohl die 2-Jahres-Gruppe, als auch die 3-Jahres-Gruppe zeigen Verbesserungen in<br />
körperlicher Fitness und psychosozialen Aspekten bzw. im Umgang mit ihren<br />
Krankheitssymptomen.<br />
„Aerobic fitness in fibromyalgia“ (Valim et al. 2003)<br />
� Interventionen in Form von Aerobic- oder Stretchinggruppe.<br />
� Messung zu Anfang, nach 10 und 20 Wochen bezüglich der Parameter körperliche<br />
Leitungsfähigkeit, Beweglichkeit, FIQ, SF 36.<br />
82 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
� Aerobic ist in allen Belangen deutlich überlegen.<br />
� Signifikant schlechte Werte der Stretching-Gruppe bei den Parametern Depression und<br />
„mental health“.<br />
„Six- and 24-month follow-up of pool exercise therapy and education für patients with<br />
fibromyalgia“ (Mannerkorpi et al. 2002)<br />
� Selbstlimitiertes Bewegungsprogramm im Wasser unter therapeutischer Anleitung<br />
� 6-monatiges Schulungsprogramm mit 26 Patienten.<br />
� FIQ, SF 36, 6-minute walk-test.<br />
� Verbesserungen (physisch, psychoszial) selbst 24 Monate nach Eingangsmessung<br />
noch festzustellen.<br />
3. Sporttherapeutische Therapie- und Trainingsinhalte<br />
Legt man die oben zitierte aktuelle Literatur zugrunde, so sch<strong>ein</strong>en leichte sportliche<br />
Aktivitäten zu wirken. Dazu gehören in unserem Behandlungsspektrum:<br />
� Medizinischen Trainingstherapie (MTT)<br />
� Bewegungsbad (Aqua-Fitness, Aqua-Walking)<br />
� therapeutisches Wandern<br />
� Walking, Nordic-Walking<br />
� Gymnastik<br />
In der praktischen Anwendung sollte das subjektive Belastungsempfinden in den meisten<br />
Fällen als „leicht“ bis „mittel“ klassifiziert werden. Allerdings ist bei der Medizinischen<br />
Trainingstherapie <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>deutige Definition der Belastungsnormativa dringend notwendig.<br />
Wenn dem Patienten auf dem Trainingsplan <strong>ein</strong> „Spektrum“ angeboten wird, wie z. B. in<br />
Tabelle 2 dargestellt, so kann das zu sehr unterschiedlichen Varianten in der Umsetzung<br />
führen.<br />
Spektrum Extrem-Variante A Extrem-Variante B<br />
Gewicht (in kg) 27-45 27 45<br />
Wiederholungen 20-30 20 30<br />
Serien 4-6 4 6<br />
Pause (in Sek.) 30-60 60 30<br />
Tab. 2: Exemplarische Bandbreite an Belastungen<br />
Die Gegenüberstellung in Tabelle 2 zeigt, dass bei dieser Bandbreite an Belastungen k<strong>ein</strong>e<br />
<strong>ein</strong>deutige Trainingssteuerung möglich ist. Insofern müssen die Belastungsnormativa <strong>ein</strong>es<br />
Trainings unbedingt <strong>ein</strong>deutiger definiert werden.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
83
Thorsten Böing <strong>Fibromyalgie</strong> und Sporttherapie<br />
4. Fazit<br />
Insgesamt sollen die sporttherapeutischen Inhalte Spaß machen und gruppendynamische<br />
Prozesse positiv steuern. Zudem ist <strong>ein</strong>e weitere sporttherapeutische Betreuung nach<br />
stationärem Aufenthalt notwendig, will man tatsächlich Nachhaltigkeit erzielen. Aufgrund<br />
ihrer komplexen Wirkungsebenen sch<strong>ein</strong>t die Sporttherapie als Behandlungsmodul bei<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> sehr gut geeignet.<br />
Literatur<br />
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<strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten in der stationären Rehabilitation. Dissertation, Universität Karlsruhe<br />
2. Braumann KM (2001): Die Einschätzung der Bedeutung von Sport und Bewegung als Mittel der<br />
Therapie bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in Hamburg. Deutsche Zeitschrift für<br />
Sportmedizin 52: 175 – 179<br />
3. Busch A, Schachter CL, Peloso PM, Bombardier C (2002): Exercise for treating fibromyalgia<br />
syndrome. Cochrane Database Syst Rev. (3): CD003786. Review<br />
4. Heitkamp, H-C (1997): Pathophysiologie und Sporttherapie der Gonarthrose aus heutiger Sicht.<br />
Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 48: 349-359. Cochrane Database Syst Rev.(3): CD003786.<br />
Review<br />
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Orthop.Traumatol. 16: 26-29<br />
6. Karjalainen K, Malmivaara A, van Tulder M, Roine R, Jauhiainen M, Hurri H, Koes B (2000):<br />
Multidisciplinary rehabilitation for fibromyalgia and musculosceletal pain in working age adults.<br />
Cochrane Database Syst Rev.(2): CD001984. Review<br />
7. Karper WB, Stasik SC. (2003): A successful, long-term exercise program for women with<br />
fibromyalgia syndrome and chronic fatigue and immune dysfunction syndrome. Clin Nurse Spec.<br />
17: 243-248<br />
8. Lemstra M, Olszynski WP (2005): The effectiveness of multidisciplinary rehabilitation in the<br />
treatment of fibromyalgia: a randomized controlled trial. Clin J Pain 21: 166-174<br />
9. Mannerkorpi K, Ahlmen M, Ekdahl C (2002): Six- and 24-month follow-up of pool exercise therapy<br />
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10. Pahmeier I (2000): Bindung an sportliche Aktivität im Anschluß an <strong>ein</strong>e Rehabilitationsmaßnahme.<br />
Gesundheitssport und Sporttherapie 16: 186<br />
11. Redondo JR, Justo CM, Moraleda FV, Velayos YG, Puche JJ, Zubero JR, Hernandez TG, Ortells<br />
LC, Pareja MA (2004): Long-term efficacy of therapy in patients with fibromyalgia: a physical<br />
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12. Schuntermann, MF (2002): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und<br />
Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Frankfurt/M.: Verband Deutscher<br />
Rentenversicherungsträger<br />
13. Schüle K, Huber G (2004): Grundlagen der Sporttherapie. München, Jena: Urban & Fischer<br />
14. St<strong>ein</strong>au M (1999): Der Effektivitätsnachweis der sporttherapeutischen Intervention beim<br />
Kreuzschmerz. Dissertation, Deutsche Sporthochschule Köln<br />
15. Ungerer-Röhrich U, Hölter G (2000): Wirkfaktoren der Sporttherapie. Gesundheitssport und<br />
Sporttherapie 16: 185<br />
16. Valim V, Oliveira L, Suda A, Silva L, de Assis M, Barros Neto T, Feldman D, Natour J (2003):<br />
Aerobic fitness effects in fibromyalgia. J Rheumatol. 30: 1060-1069<br />
84 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
Dirk Kreutzer<br />
1. Psycho-physiologische Wirkungen von Klängen und Geräuschen<br />
In der pränatalen Entwicklung des Menschen ist das Gehörorgan das erste funktionsfähige<br />
Sinnesorgan überhaupt. Bereits ab dem siebten Monat reagiert der Fetus auf äußere Reize.<br />
Über die Gebärmutterwand kann er Klänge und Geräusche wahrnehmen und darauf etwa<br />
mit Änderung der Herzfrequenz reagieren (28). Auch erkannten Kinder nach der Geburt Lieder<br />
und Worte wieder, welche die Mutter während der beiden letzten Schwangerschaftsmonate<br />
gesungen bzw. gesprochen hatte. Säuglinge registrieren Veränderungen in Stimme und<br />
Lautfarbe, sie reagieren auf Rhythmus, Zäsuren und Sprachmelodie, sie kommunizieren vor<br />
allem über Laute mit ihrer Mutter (13).<br />
Durch direkte Verbindungen des Ohrs zum limbischen System können starke emotionale<br />
Reaktionen auf akustische Reize ausgelöst werden. Diese Tatsache hängt damit zusammen,<br />
dass das limbische System intensiv mit wohl allen wichtigen neuronalen Kernen in Hypothalamus,<br />
Thalamus und auch der Großhirnrinde verbunden ist, wodurch <strong>ein</strong>e Be<strong>ein</strong>flussung<br />
von zahlreichen neurophysiologischen und funktionellen Prozessen verständlich wird. Dazu<br />
gehören etwa Auswirkungen auf das Wach- und Schlafverhalten, auf Lernprozesse, auf<br />
Schmerzverarbeitung und ganz besonders auch auf die Steuerung von Emotionen aller Art<br />
wie Aggression, Triebverhalten, Wut, Zorn, Unlust, Freude, Glück und Motivation, um nur<br />
<strong>ein</strong>ige Reaktionsmuster aufzuführen. Im limbischen System lassen sich tierexperimentell<br />
nach dem Hören von Musik signifikante Änderungen wichtiger Neurotransmitterpotentiale<br />
(z.B. Noradrenalin, Dopamin, Gaba) nachweisen (21, 25). Damit wird durchaus verständlich,<br />
warum auch beim Menschen auf die Art der <strong>ein</strong>wirkenden Musik <strong>ein</strong> psycho-physiologisches<br />
Biofeedback festzustellen ist. So vermag <strong>ein</strong>e Rhythmusbeschleunigung Reaktionen am<br />
Herz-Kreislaufsystem auszulösen, die exakt den Stressphänomenen wie etwa bei starken<br />
Schmerzen entsprechen. Sogar <strong>ein</strong> Abfall des IgA lässt sich nachweisen (6). Beruhigende,<br />
wenig rhythmusbetonte Musik und Rhythmusverlangsamung dagegen kann alle genannten<br />
Stressreaktionen abmildern oder gar aufheben und analog ist auch <strong>ein</strong> Anstieg des IgA zu<br />
beobachten (6). Bemerkenswert ist auch die Feststellung, dass Stressreaktionen umso intensiver<br />
und lang anhaltender ausfallen, je größer der Lärm und die Rhythmusbeschleunigungen<br />
ausgeprägt sind (9).<br />
Emotional ist bei Musikhörern Fröhlichkeit mit „schnellem Rhythmus und stakkato“, Traurigkeit<br />
mit „langsam und legato“, Ärger mit „schnell und legato“ und Angst mit „langsam und<br />
stakkato“ verknüpft (11). Alle diese Phänomene werden ohne Zweifel in der Werbebranche<br />
sehr erfolgreich <strong>ein</strong>gesetzt. In der praktischen Medizin hingegen wird die Wirkung von Musik<br />
auf kranke Menschen – wenn überhaupt – nur marginal wahrgenommen, obwohl bereits seit<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
85
Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
Jahren zahlreiche bemerkenswerte Publikationen und Untersuchungsergebnisse aus unterschiedlichen<br />
medizinischen Fachgebieten vorliegen.<br />
2. Allgem<strong>ein</strong>e Wirkung von Musik auf Menschen<br />
Auf die Vielfalt wissenschaftlicher Untersuchungen zur Wirkung von Musik auf kranke Menschen<br />
kann hier nur schlaglichtartig <strong>ein</strong>gegangen werden. Teilweise be<strong>ein</strong>druckende Ergebnisse<br />
wurden vorwiegend in den Fachbereichen Psychosomatik, Psychiatrie, Neurologie,<br />
Pädiatrie, Geriatrie und vor allem in der Heil-, Sonder- und Sozialpädagogik erarbeitet (8, 12,<br />
15, 16, 21, 24, 29). Auch in der Orthopädie lässt sich der ausgezeichnete Effekt additiver<br />
Musiktherapie belegen. So wiesen Bernatzky und Mitarbeiter (4) in <strong>ein</strong>er randomisierten Studie<br />
bei Rückenschmerzen unterschiedlicher Genese nach, dass durch Musik und ganz besonders<br />
in Kombination mit Entspannungstechniken gegenüber der all<strong>ein</strong>igen konventionellen<br />
medikamentösen und krankengymnastischen Behandlung <strong>ein</strong>e hochsignifikante Reduktion<br />
von Schmerz, Angst, Depression und <strong>ein</strong>e ebenfalls signifikante Verbesserung der Beweglichkeit<br />
erzielt werden konnte. Interessant war dabei, dass die Musik stärker wirksam war<br />
als Entspannungstechniken, dass aber das beste Ergebnis durch deren Kombination zu erreichen<br />
war. Diese Ergebnisse wurden auch von der Arbeitsgruppe um Kullich bestätigt (14).<br />
In der Onkologie hat die Musiktherapie besonders in der Palliativmedizin und bei der Begleitung<br />
von Sterbenden Bedeutung erlangt (17). Nach Verres (30) gehört die Musiktherapie<br />
„geradezu zur Grundversorgung im Palliativbereich“. Stellvertretend für zahlreiche Mitteilungen<br />
über Beobachtungen und M<strong>ein</strong>ungen beim Einsatz der Musiktherapie in der Onkologie<br />
sei auf die Studie von O`Brien (18) aus dem Jahre 1999 hingewiesen. Ihnen liegen ausführliche<br />
Befragungen von 52 Patienten mit unterschiedlichen Tumorentitäten und -stadien<br />
zugrunde. Die hierbei erhaltenen Aussagen zu den positiven Effekten der Musiktherapie hinsichtlich<br />
Entspannung, Angstminderung, Ablenkung, Schmerzreduktion u.a. werden im Wesentlichen<br />
auch von anderen Arbeitsgruppen bestätigt (1, 2, 3, 5, 23, 25).<br />
Besonders überzeugend sind dabei die Ergebnisse, die im Rahmen der Schmerztherapie<br />
durch begleitende Musiktherapie erzielt wurden (2, 25). Eine deutliche Schmerzlinderung,<br />
begleitet von „höherem Optimismuslevel“ konnten Hasenbring und Mitarbeiter (10) nach<br />
Knochenmarktransplantation nachweisen. Tilch und Mitarbeiter (27) bestätigen diese Ergebnisse.<br />
Dabei werden in der myeloaplastischen Phase <strong>ein</strong>e Reduktion von Depression und<br />
Müdigkeit sowie <strong>ein</strong> günstigeres Krankheitsverhalten vermerkt.<br />
Im Rahmen der hervorragenden Wirkung der Musiktherapie bei Stressabbau (16) und Angstlinderung<br />
(12, 15, 16, 19, 21) ist sicher auch zu verstehen, dass die Verträglichkeit von zytostatischer<br />
Chemotherapie deutlich verbessert werden kann, was in der Reduktion von Anxiolytika,<br />
Antiemetika und Sedativa zum Ausdruck kommt (23, 26).<br />
86 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
3. Rezeptive Musiktherapie mit Schmerzpatienten<br />
Die Widerstände auf Seiten der Patienten, in die Musiktherapie zu gehen sind zu Beginn der<br />
Therapie oft sehr hoch. Diese Widerstände werden häufig von Ängsten begleitet, die in Äußerungen<br />
ihren Ausdruck finden wie z.B.: „Ich kann nicht singen, k<strong>ein</strong>e Instrument spielen,<br />
den Ton nicht halten“ etc. Deshalb erfordert der erste Teil der Musiktherapie <strong>ein</strong> niederschwelliges<br />
Angebot, in Form <strong>ein</strong>er rezeptiven Musiktherapie, die Musik und (Tiefen-)<br />
Entspannung kombiniert. Das Konzept der musiktherapeutischen Tiefenentspannung setzt<br />
sich aus sieben so genannten Grundschritten zusammen (7), die im Schmerzzentrum <strong>Enzensberg</strong><br />
modifiziert Anwendung finden:<br />
1. Sensibilisierung auf den Körperkomfort (Liegepositionen)<br />
2. Sensibilisierung auf die Atmung<br />
3. Sensibilisierung auf den Umgang mit Gefühlen, Bildern und Gedanken<br />
4. Sensibilisierung der auditiven Wahrnehmung auf die Musik hin<br />
5. Reorientierung in das Hier und Jetzt<br />
6. Reflexion des Erlebten<br />
7. Rolling back<br />
Im ersten Schritt – Sensibilisierung auf den Körperkomfort – ist der ganze Körper vom Kopf<br />
bis zu den Füßen angesprochen. Wichtig ist darüber hinaus, dass die Patienten während der<br />
Entspannung und auch während der Musik, ihre Haltung verändern dürfen. Im Anschluss<br />
daran folgt die eigentliche Entspannungsphase, in der <strong>ein</strong>e Kombination der PM nach E.<br />
Jakobson und dem Autogenen Training nach H. Schultz zum Einsatz kommen. Den Patienten<br />
begegnen hier vertraute Übungen aus der Schmerztherapie der Klinik. Die Musik kommt<br />
nicht, wie in der Rezeptiven Musiktherapie oder der Musik-Medizin allgem<strong>ein</strong> üblich, von<br />
<strong>ein</strong>er Musik-Konserve (CD oder Musikkassette), sondern wird im Schmerzzentrum <strong>Enzensberg</strong><br />
vom Therapeuten auf unterschiedlichen Instrumenten selbst gespielt.<br />
Nach der Sensibilisierung auf die Atmung im zweiten Schritt, folgt als dritter Schritt die Sensibilisierung<br />
auf den Umgang mit Gefühlen, Bildern und Gedanken, die immer zu Beginn der<br />
Entspannungsphase stattfindet. Es ist wichtig, dass die Patienten jederzeit in der Lage sind,<br />
auf bestimmte Situationen reagieren zu können. Das heißt, das der Patient jederzeit in der<br />
Lage ist auch und gerade in unangenehmen Situationen, in denen unangenehme Gefühle,<br />
Gedanken oder Bilder aufsteigen, zu reagieren. Musik, Klänge und Geräusche sind in der<br />
Lage viele Bilder, Gedanken und Gefühle entstehen zu lassen. Aus diesem Grund wird dies<br />
vor jeder Sitzung angesprochen und darauf hingewiesen, dass jeder entscheiden kann, wie<br />
weit er sich auf Gefühle, Bilder und Gedanken <strong>ein</strong>lassen möchte. Jeder Patient darf zu jeder<br />
Zeit die Augen öffnen und wenn es nötig s<strong>ein</strong> sollte, die Ohren mit den Händen verschließen<br />
oder, wenn es gar nicht anders geht, leise den Raum verlassen, mit der Bedingung im Anschluss<br />
an die Entspannung wieder zu kommen und zu berichten, was vorgefallen ist.<br />
Die sich im vierten Schritt anschließende Sensibilisierung der auditiven Wahrnehmung auf<br />
die Musik hin ist verbunden mit <strong>ein</strong>er Fantasiereise. Der Patient wird gedanklich an <strong>ein</strong>en<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
87
Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
„sicheren Ort“ geführt, wobei die Kreation des Ortes in s<strong>ein</strong>er Beschaffenheit, Atmosphäre<br />
u.s.w. ganz der Vorstellung des Patienten überlassen bleibt. Im Anschluss an die Fantasiereise<br />
beginnt die Musik.<br />
In <strong>ein</strong>em kombinierten Training von Entspannung und Imagination sehen Rehfisch und Basler<br />
(20) folgende Vorteile:<br />
� Die Entspannung wird vertieft.<br />
� Über die Entspannung hinausgehend werden positive Emotionen erlebt.<br />
� Es kommt zu größerer Abwechslung in der Entspannung.<br />
� Imaginative Bilder verstärken die Schmerzablenkung in der Entspannung.<br />
� Spezielle physiologische Prozesse, wie z. B. Erwärmung oder Kühlung erkrankter Körperteile,<br />
werden unterstützt.<br />
� Eine imaginative Transformation des Schmerzerlebens wird möglich.<br />
� Die Motivation zur Krankheitsbewältigung wird gestärkt.<br />
Die positiven Wirkungen der Kombination aus Entspannung, Imagination und Musik lassen<br />
sich unmittelbar beobachten. Der gesamte Muskeltonus bei den Patienten verändert sich.<br />
Die Muskulatur wird weicher und die Atmung wird ruhiger und flacher. Es entsteht <strong>ein</strong>e absolute<br />
Ruhe im Raum. Von den Patienten wird im Anschluss an die Entspannung immer wieder<br />
beschrieben, wie leicht sie sich gefühlt haben oder dass sie sich gefühlt hätten, als ob sie<br />
schweben würden. Diese Schwebezustände werden immer wieder mit den Klängen des<br />
<strong>ein</strong>gesetzten Monochords 1 in Verbindung gebracht.<br />
In <strong>ein</strong>er Studie von Rittner und Fachner (22) wurde die Wirkung <strong>ein</strong>es Ganzkörpermonochords<br />
2 untersucht. Bei diesem Monochordtyp legt sich der Patient auf den Klangkörper.<br />
Dieser Vergleich mit dem r<strong>ein</strong>en Monochordspiel ist zwar <strong>ein</strong>geschränkt, doch die beobachteten<br />
o.g. Phänomene treten grundsätzlich auch hier auf, nur vermutlich etwas stärker. In<br />
dieser Studie wurde die Wirkung an zwei Probanden mit Hilfe des EEG-Brainmapping, untersucht.<br />
Hierbei wurde deutlich, dass das Monochordspiel unterschiedliche Trancezustände<br />
hervorruft, zum <strong>ein</strong>en bei dem männlichen Probanden <strong>ein</strong>e ergotrope 3 , zum anderen bei der<br />
weiblichen Probandin trophotrope Trance.<br />
1 Das ursprüngliche Monochord besteht aus <strong>ein</strong>em Resonanzkasten, über dessen ganze Länge <strong>ein</strong>e Saite zwischen<br />
zwei festen Stegen gespannt ist. In der heutigen Zeit wird das Monochord mit 13 oder mehr Saiten gebaut.<br />
Die Saiten sind alle auf <strong>ein</strong>en Ton gestimmt. Durch <strong>ein</strong>e gleichmäßige Spielweise entsteht <strong>ein</strong> schwebender<br />
Grundton mit s<strong>ein</strong>en natürlichen Obertönen.<br />
2 Ganzkörpermonochord: Ein relativ neues Instrument. Der Patient liegt auf dem Resonanzkörper und nimmt so<br />
die Schwingungen der Klänge über den ganzen Körper wahr. Die Saiten des Instruments sind auf der Unterseite<br />
des Liegemonochords angebracht und werden vom Therapeuten gespielt.<br />
3 Die Ergototropie (griech. ergon: Werk, Arbeit) bezeichnet <strong>ein</strong>e Funktionslage des Nervensystems, die für den<br />
Organismus anregend wirkt. Es kommt dabei zu <strong>ein</strong>er Aktivierung des sympathiko-adrenalen Systems. Sie stellt<br />
das Gegenteil der Throphotropie dar. Dabei wird vor allem das Herz-Kreislauf-System aktiviert und das Glykogen<br />
aus der Leber mobilisiert. Die Verdauungstätigkeit wird herabgesetzt. Die Ergototropie bewirkt <strong>ein</strong>e Erhöhung<br />
viszero-motorischer und psychomotorischer Impulse. Mit <strong>ein</strong>er Bereitstellung des Organismus zu motorischen<br />
und bestimmten viszeralen Aktionen geht <strong>ein</strong>e Erhöhung der psychischen Wachheit (Vigilanz) <strong>ein</strong>her.<br />
88 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
4. Aktive Musiktherapie mit Schmerzpatienten<br />
Die Begegnung mit der aktiven Musiktherapie ist für die meisten Patienten zu Beginn sehr<br />
schwierig, oft noch schwieriger als mit der rezeptiven Musiktherapie. Es kommen hier viele<br />
schlechte Erfahrungen zusammen. Durch Schule, Kindergarten oder auch das Elternhaus<br />
sind viele Menschen negativ mit dem Medium Musik in Berührung gekommen. Es gilt daher,<br />
<strong>ein</strong>e Therapie-Atmosphäre zu schaffen, die Menschen dazu anregt, Musik in Ruhe neu zu<br />
entdecken, Instrumente auszuprobieren, die Wirkung von Rhythmus zu spüren, sich mit <strong>ein</strong>em<br />
oft fremden Medium ganz neu zu erleben.<br />
Aktive Musiktherapie beginnt deshalb immer mit <strong>ein</strong>er Einstimmungsphase, zu der das Vorstellen<br />
und Auswählen der Instrumente gehört. Bei der Auswahl sollen die Patienten darauf<br />
achten, dass das gewählte Instrument ihren ästhetischen, klanglichen oder anderen individuellen<br />
Vorlieben entspricht. Danach bekommen die Patienten Zeit, sich mit dem Instrument<br />
vertraut zu machen.<br />
Im Anschluss an die notwenige Einstimmungsphase, kommen Spielformen, wie z. B. die<br />
Rhythmuspyramide, oder anderen Rhythmusspiele zum Einsatz. Das Instrumentarium besteht<br />
aus Trommeln (Djembés, Rahmentrommeln, kl<strong>ein</strong>en Percussionsinstrumenten, Stabspielen<br />
wie Balafon und Schlitztrommel, und <strong>ein</strong>er Steeldrum.)<br />
Bei der Rhythmuspyramide beginnt <strong>ein</strong> Spieler mit <strong>ein</strong>em leicht nach zu vollziehenden<br />
Rhythmus, dieser Rhythmus wird vom Nachbar Spieler entweder zur rechten oder zu linken<br />
Seite (wird vorher verabredet) aufgegriffen, so das immer <strong>ein</strong> Mitspieler hinzukommt. Wenn<br />
alle spielen, besteht dann die Möglichkeit, zu variieren. Das heißt Rhythmen können erfunden<br />
werden, Töne können hinzugefügt werden, Melodien können erfunden werden, alles<br />
was zu dem Grundrhythmus passt, ist hier möglich. Das Spiel findet dann <strong>ein</strong> Ende, wenn<br />
der erste Spieler aufhört. Ab diesem Zeitpunkt, steigt <strong>ein</strong> Spieler nach dem anderen aus.<br />
Wichtig ist, dass immer nur <strong>ein</strong> Spieler nach dem anderen aussteigt. Dies ist <strong>ein</strong>e sehr leichte<br />
Spielform, die aber umso mehr Freude bereitet, weil man beim Ein- und Ausstieg, jedes<br />
Instrument für sich wahrnimmt.<br />
Diese Spielform wird von den meisten Patienten gut angenommen, spätestens beim zweiten<br />
Durchgang, beginnen viele von den Teilnehmern zu improvisieren, das heißt sie erfinden<br />
neue Rhythmen, die zu dem Grundrhythmus passen, oder sie bauen ihre Spielräume auf<br />
den Instrumenten mit größerem Tonumfang aus.<br />
In den im Anschluss an die Rhythmusspiele gegeben Rückmeldungen, wird deutlich, wie<br />
Rhythmus in <strong>ein</strong>zigartiger Weise geeignet ist, das Schmerzerleben positiv zu be<strong>ein</strong>flussen.<br />
Rückmeldungen wie: „Ich habe m<strong>ein</strong>e Schmerzen gar nicht mehr gespürt, oder, „m<strong>ein</strong><br />
Schmerzlevel war vor der Sitzung auf 7 und ist nun auf 5“, können dies beispielhaft belegen.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
89
Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
5. Integrative Therapie als konzeptioneller Rahmen<br />
Die Musiktherapie in der Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> b<strong>ein</strong>haltet sowohl rezeptive als auch aktive<br />
Musiktherapie. Sie ist funktional ausgerichtet. Musiktherapie soll Psychotherapie nicht ersetzen,<br />
kann diese aber <strong>ein</strong>drucksvoll ergänzen.<br />
Die Hauptwirkung der Musiktherapie in der interdisziplinären Schmerztherapie liegt in der<br />
Entspannung und der damit verbundenen Schmerzreduktion. Wichtige Voraussetzung für die<br />
entspannende Wirkung von Musik oder Musiktherapie ist <strong>ein</strong>e positive Einstellung zum Medium.<br />
Wenn Musik als angenehm erlebt wird, das heißt durch aktives spielerisches musizieren<br />
oder singen und hören, findet im Gehirn <strong>ein</strong>e Harmonisierung und Synchronisation der in<br />
den verschiedenen Regionen liegenden neuronalen Aktivitätsmuster statt.<br />
Konzeptioneller Rahmen der Musiktherapie in der Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> ist die Integrative<br />
Therapie, die sich um Integration verschiedener kreativer, verbaler und nonverbaler Ansätze<br />
(Musiktherapie, Bewegungstherapie u.a.) bemüht. Ein zentraler Begriff ist der Leib, er ist der<br />
Ort an dem alles Erlebte gespeichert ist, der erlebte und der sich selbst erlebende Körper.<br />
Das Menschenbild der Integrativen Therapie betont die existentielle Bezogenheit des Menschen<br />
auf s<strong>ein</strong>en Mitmenschen: Jeder Mensch steht in fundamentaler Beziehung (Korrespondenz-Antwortfähigkeit,<br />
Verantwortung, und Bezogenheit) mit der Welt und s<strong>ein</strong>en Mitmenschen.<br />
So ist <strong>ein</strong> Ich ohne das Du nicht denkbar, und das Ich kann sich nur in Beziehung<br />
zum Du entwickeln.<br />
Ein weiterer wichtiger Begriff der Integrativen Therapie ist die Intersubjektivität. Beziehung<br />
spielt sich immer zwischen zwei Subjekten statt (Bezogens<strong>ein</strong> des Menschen auf den Anderen).<br />
Intersubjektivität ist somit Ziel jeder Beziehung, auch der therapeutischen. Im Vordergrund<br />
steht deshalb immer die tragfähige empathische Beziehung zwischen dem Patienten/Klienten<br />
und dem (Musik-) Therapeuten.<br />
Literatur<br />
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with a Breast-Cancer Patient. The arts in Psychotherapy 23: 207-223<br />
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90 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
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13. Klemm G (1987): Untersuchungen über den Zusammenhang musikalischer und sprachlicher<br />
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m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
91
Dirk Kreutzer Musiktherapie in der Schmerztherapie<br />
27. Tilch S, Haffa-Schmidt U, Wandt H, Kappauf H, Schäfer K, Birkmann J, Gallmeier WM (1999):<br />
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28. Tomatis A (Hrsg.) (1999): Der Klang des Lebens. Hamburg: Rowoldt TBV<br />
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30. Verres R (1999): Zukunftsmusik: Wie kann die Musiktherapie in der Onkologie gestärkt werden?<br />
Musiktherapeutische Umschau 20: 396-400<br />
92 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi<br />
1. Überblick<br />
Entspannungsverfahren sind häufig verwendete Techniken der psychologischen Schmerzbehandlung,<br />
die in der Regel gem<strong>ein</strong>sam mit anderen Methoden <strong>ein</strong>gesetzt werden. Das<br />
Erlernen <strong>ein</strong>er Entspannungstechnik ist üblicherweise <strong>ein</strong> Modul in <strong>ein</strong>em psychoedukativen<br />
Gruppenprogramm zur Schulung und Behandlung von chronischen Schmerzpatienten (z. B.<br />
Kröner-Herwig & Basler, 1998).<br />
Auch im Schmerzbewältigungsprogramm, das im Schmerzzentrum der Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />
alle Patienten durchlaufen, bildet die Vermittlung von Entspannungsfertigkeiten <strong>ein</strong>en<br />
integralen Bestandteil. Mit Entspannung lassen sich für die Schmerzbehandlung günstige<br />
Effekte erzielen. Dies gilt für „klassische“ Entspannungsmethoden, Imagination und Biofeedback<br />
gleichermaßen. Diese Effekte sind:<br />
1. Entspannungszustände gehen mit physiologischen Reaktionen <strong>ein</strong>her (Reduktion des<br />
Muskeltonus, Reduktion von Herzrate und Blutdruck, vegetative Umschaltung, Änderung<br />
der Hirnstromaktivität etc.), die sowohl <strong>ein</strong>er kurzfristigen physiologischen Erregung<br />
(Stressreaktion) als auch den langfristigen Auswirkungen der Schmerzen (Myogelosen,<br />
Verkürzung der Muskulatur etc.) entgegenwirken. Entspannung wirkt physiologisch antagonistisch<br />
zur Reaktion des Körpers auf Stress bzw. Schmerz.<br />
2. Der subjektiv erlebte Zustand von Ruhe, Schläfrigkeit, Wärme und Wohlbefinden wirkt<br />
antagonistisch zum Erleben von Schmerz. Entspannung aktiviert auch auf physiologischer<br />
Ebene schmerzhemmende Mechanismen (Auslösung positiver Emotionen)<br />
3. Entspannung erzeugt <strong>ein</strong>en schmerzablenkenden Bewussts<strong>ein</strong>szustand. Auch dies führt<br />
– physiologisch – zu <strong>ein</strong>er Verstärkung hemmender Mechanismen.<br />
4. Hat <strong>ein</strong> Patient <strong>ein</strong> Entspannungsverfahren erlernt, so erlebt er sich selbst dem Schmerz<br />
gegenüber nicht mehr hilflos ausgeliefert. Er erfährt <strong>ein</strong>e Steigerung s<strong>ein</strong>er Selbstwirksamkeitsüberzeugungen.<br />
Diese Wirkung ist <strong>ein</strong> generelles Ziel <strong>ein</strong>er optimierten<br />
Schmerzbewältigung, die auf <strong>ein</strong>e Verbesserung der Selbstmanagementfähigkeiten abzielt.<br />
5. Entspannung führt zu <strong>ein</strong>em verbesserten Körperempfinden. Die gestörte Wahrnehmung<br />
bzw. Interpretation von Körpersignalen ist für Schmerzpatienten <strong>ein</strong> generelles Problem.<br />
Entspannung kann hier zu <strong>ein</strong>er neuen Balance führen.<br />
6. Das Erlernen von Entspannung hilft <strong>ein</strong>em Patienten besser zu erkennen, in welchen<br />
Situationen er körperliche Stressreaktionen zeigt.<br />
7. Entspannung ermöglicht <strong>ein</strong>en veränderten Umgang mit Belastungen. Entspannung kann<br />
daher als <strong>ein</strong> Baust<strong>ein</strong> allgem<strong>ein</strong>er Stressbewältigungstechniken <strong>ein</strong>gesetzt werden.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
93
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
8. Klassische Entspannungsverfahren sind kostengünstig und im Vergleich zu Medikamenten<br />
und invasiven Verfahren nahezu nebenwirkungsfrei. Es gibt nur sehr wenige Kontraindikationen.<br />
Zusammenfassend gilt, dass sich über das Erlernen <strong>ein</strong>er Entspannungstechnik sehr günstige<br />
physiologische, kognitive und behaviorale Veränderungen erzielen lassen, die allerdings<br />
<strong>ein</strong> systematisches Training erfordern. Es gibt <strong>ein</strong>e Vielzahl von Entspannungstechniken. Die<br />
wichtigsten, die im Rahmen psychologischer Schmerzbehandlung <strong>ein</strong>gesetzt werden, sind:<br />
� Progressive Muskelrelaxation (PMR)<br />
� Biofeedback<br />
� Hypnose<br />
� Imaginative Techniken<br />
� Autogenes Training (AT)<br />
Andere Ansätze (z. B. Atementspannung) greifen Elemente dieser „klassischen“ Techniken<br />
auf und stellen meist k<strong>ein</strong>e eigenständigen Verfahren dar. Aus dem asiatischen Kulturraum<br />
stammende Techniken (Yoga, Tai Chi, Qui Gong) sollen hier nicht weiter vertieft werden.<br />
Für jede Form von Entspannung gilt, dass <strong>ein</strong>e längere Einübungszeit bis zu ihrer Beherrschung<br />
nötig ist. Anhaltende Erfolge erfordern von den Patienten Ausdauer und kontinuierliche<br />
Mitarbeit.<br />
Prinzipiell eignen sich Entspannungsverfahren zur Basisbehandlung bei <strong>ein</strong>er Vielzahl von<br />
Beschwerden wie Dysfunktionen im Magen-Darm Bereich, Hypertonie, vegetativer Dystonie,<br />
Schlafstörungen, chronischer Schmerz etc. Fast jeder Schmerzpatient kann von solchen<br />
Verfahren profitieren. Die besten Erfolge werden bei Patienten mit vielen vegetativen Beschwerden<br />
und starken Schmerzen beschrieben. Ganz entscheidend ist für uns aber noch<br />
folgender Aspekt bei der Vermittlung von Entspannungstechniken: Entspannung sollte präventiv<br />
<strong>ein</strong>gesetzt werden. Das heißt Patienten sollen lernen, in Phasen relativen Wohlbefindens<br />
mehr für sich zu tun und regelmäßig zu entspannen. Entspannung ist nur bedingt geeignet,<br />
um Schmerzattacken zu beherrschen. Dieser präventive Aspekt gilt insbesondere bei<br />
Migräne, Kopfschmerzen vom Spannungstyp, <strong>Fibromyalgie</strong> und Rückenschmerzen.<br />
Wie bereits erwähnt, gibt es Kontraindikationen bzw. problematische Störungen für Entspannungsverfahren.<br />
Es sollte allerdings in jedem Einzelfall erst nach <strong>ein</strong>em explorativen Gespräch<br />
und der direkten Beobachtung des Patienten bei <strong>ein</strong>er Übung entschieden werden,<br />
ob mit Entspannung gearbeitet werden kann. Zu problematischen Bedingungen gehören:<br />
� Hypotonie. Der Blutdruck kann während der Entspannung weiter sinken, dies kann in<br />
<strong>ein</strong>e Krise führen, Komplikationen lassen sich aber meist durch sorgfältige Rücknahme<br />
der Entspannung vermeiden.<br />
� Bei Panik- und Angstpatienten kann Entspannung wegen des subjektiv erlebten Kontrollverlusts<br />
zu <strong>ein</strong>er Symptomverstärkung führen. Dies insbesondere, wenn Übungen in der<br />
Gruppe durchgeführt werden. Dem lässt sich entgegenwirken, indem man dem Patienten<br />
94 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
<strong>ein</strong> möglichst hohes Maß an Kontrolle lässt, <strong>ein</strong>e tragfähige Beziehung etabliert und Sicherheit<br />
vermittelt.<br />
� Die Selbstbeobachtung von Atem- und Herztätigkeit, die bei Entspannungsübungen auftritt<br />
oder gefördert wird, kann zu Komplikationen führen. Hier gilt, was bereits zu Angstund<br />
Panikstörungen gesagt wurde.<br />
� Beim Vorliegen <strong>ein</strong>er Psychose kann Entspannung zu <strong>ein</strong>er Exacerbation psychotischer<br />
Symptome führen.<br />
� Starke akute Schmerzen behindern das Erlernen von Entspannung.<br />
Es gibt verschiedene Begleitersch<strong>ein</strong>ungen der Entspannung, die in der Regel Hinweise darauf<br />
sind, dass der erwünschte Prozess der Umschaltung von <strong>ein</strong>er ergotrophen auf <strong>ein</strong>e tropotrophe<br />
Reaktionslage <strong>ein</strong>geleitet wurde. Dazu gehören:<br />
� Zuckungen von Muskelgruppen<br />
� Speichelfluss<br />
� Innere Unruhe, Bilder, Gedanken<br />
� Veränderte Körperwahrnehmungen (Leichtigkeit, Schwere, Schweben)<br />
� Schweissausbrüche, Wärmeempfindungen<br />
Bei der Einübung von Entspannung sollten diese Ersch<strong>ein</strong>ungen mit dem Patienten besprochen<br />
werden. Bei beängstigenden Phänomenen (z. B. negative Gedanken, Unruhe,<br />
Schweissausbrüche) ist es wichtig, Stabilität und Sicherheit in der Übungssituation zu vermitteln<br />
und den vorübergehenden Charakter dieser Ersch<strong>ein</strong>ungen plausibel zu machen.<br />
2. Klassische Entspannungsverfahren<br />
Wir rechnen dazu die Progressive Muskelrelaxation (PMR), die Anfang des letzten Jahrhunderts<br />
von Jacobson (1996) in den USA entwickelt wurde und das Autogene Training (AT),<br />
das ungefähr im selben Zeitraum in Deutschland von Schultz (1979) <strong>ein</strong>geführt wurde.<br />
2.1 Progressive Muskelrelaxation<br />
Bei der PMR besteht das Vorgehen in <strong>ein</strong>er sukzessiven Anspannung und anschließenden<br />
bewussten Entspannung der Muskulatur. Dabei werden nach<strong>ein</strong>ander und fortschreitend<br />
(„progressiv“) Muskelgruppen über den gesamten Körper angesprochen. Das von Jacobson<br />
ursprünglich propagierte Verfahren (100 bis 200 Einzelsitzungen) wird heute aus Praktikabilitätsgründen<br />
nicht mehr <strong>ein</strong>gesetzt. Wiederentdeckt wurde die Technik von der Verhaltenstherapie<br />
seit den 50er Jahren. Heute <strong>ein</strong>gesetzte Übungen gehen auf Bernst<strong>ein</strong> und Borkovec<br />
(z.B. Bernst<strong>ein</strong> und Borkovec, 2000) zurück, die sich für die Praxis der Schmerzbehandlung<br />
bestens bewährt haben. Die schrittweise Anspannung und Entspannung verschiedener<br />
Muskelgruppen sollte in <strong>ein</strong>er Langversion folgende Elemente enthalten:<br />
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Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
� Rechte Hand zur Faust ballen<br />
� Rechten Oberarm im Ellbogen abwinkeln, mit geöffneter Hand<br />
� Linke Hand zur Faust ballen<br />
� Linken Oberarm im Ellbogen abwinkeln, mit geöffneter Hand<br />
� Stirn in Falten legen<br />
� Lippen/Mund spitzen<br />
� Kiefermuskulatur, leicht auf die Zähne beißen<br />
� Schultern nach hinten ziehen<br />
� Rücken anspannen<br />
� Bauchmuskulatur anspannen<br />
� Rechten Oberschenkel anspannen<br />
� Rechten Fuß anspannen, die Zehen krümmen<br />
� Gesäß anspannen<br />
� Linken Oberschenkel anspannen<br />
� Linken Fuß anspannen, Zehen krümmen<br />
Auf <strong>ein</strong>e Anspannungsphase (5 bis 7 Sekunden) folgt jeweils <strong>ein</strong>e Entspannungsphase (20<br />
bis 30 Sekunden). Die Übung kann sitzend (Vorraussetzung: bequemer Stuhl) oder liegend<br />
(Voraussetzung: Entspannungsliege oder Matte) durchgeführt werden. Zur Einleitung der<br />
Übung ist es hilfreich, den Patienten <strong>ein</strong>zustimmen: Entspannte Haltung im Sitzen oder Liegen,<br />
Kopf in angenehmer Position, regelmäßige Bauchatmung, Schließen der Augen, Ruhesuggestion,<br />
positive Selbstinstruktion. Zur Unterstützung kann <strong>ein</strong>e leise Entspannungsmusik<br />
benutzt werden.<br />
Im Regelfall kann sich der Patient nach ca. 10 bis 12 Sitzungen schnell und tief entspannen.<br />
Dies ist die Zahl der Übungs<strong>ein</strong>heiten, die wir innerhalb unseres Schmerzbewältigungsprogramms<br />
anstreben. Wichtig ersch<strong>ein</strong>t uns, dass neben <strong>ein</strong>er kompletten Langversion, in der<br />
sehr differenziert die verschiedenen Muskelgruppen angesprochen werden, den Patienten<br />
auch <strong>ein</strong>e Kurzversion vermittelt wird. In <strong>ein</strong>er solchen Kurzversion werden beispielsweise<br />
nur vier Übungsschritte (beide Hände und Arme, Kopf und Hals, Oberkörper, Gesäß und<br />
beide B<strong>ein</strong>e) absolviert. Während die Durchführung der Langversion ca. 25 bis 30 Minuten<br />
benötigt kann die Kurzversion in knapp 10 Minuten durchgeführt werden.<br />
Speziell für Schmerzpatienten ist es wichtig, auf folgende Punkte zu achten und die Patienten<br />
explizit zu instruieren:<br />
� Muskeln nur leicht anspannen, so dass der Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung<br />
gerade noch gut wahrgenommen wird. Dies sensibilisiert für die bessere<br />
Wahrnehmung des eigenen Körpers.<br />
� Muskeln, die schmerzhaft sind, werden nur leicht angespannt, ganz ausgelassen oder<br />
nur in der Vorstellung angespannt.<br />
� Auch während der Anspannung ruhig und gleichmäßig weiteratmen.<br />
96 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
� Zu Beginn des Trainings werden manchmal vorhandene Schmerzen und Unruhe stärker<br />
erlebt.<br />
� Patienten motivieren, regelmäßig zu üben; Effekte werden erst nach <strong>ein</strong>iger Zeit stabil.<br />
� Entspannung aus dem therapeutischen Setting lösen und in den Alltag transferieren.<br />
PMR ist das mit großem Abstand am besten evaluierte Entspannungsverfahren und im Prinzip<br />
bei allen Schmerzzuständen wirksam. Es gibt über 200 Studien, die die Wirksamkeit belegen<br />
(Rehfisch und Basler, 2004). Dies ist für uns <strong>ein</strong> wesentliches Argument, bei der Vermittlung<br />
von Entspannung schwerpunktmäßig mit PMR zu arbeiten.<br />
2.2 Autogenes Training<br />
Beim Autogenen Training (AT) werden schrittweise die Vorstellungen von Schwere und<br />
Wärme <strong>ein</strong>geübt. In der Praxis wird zwischen Grundübungen (Schwere, Wärme), speziellen<br />
Organübungen ( Herz-/Pulsübung, Atemübung, Bauchraumübung, Kopfübung bzw. Stirnkühle)<br />
und der Oberstufe unterschieden. Der Therapeut vermittelt dem Patienten, autosuggestive<br />
Formeln, um körperliche Effekte zu erzielen. Begonnen wird mit der Ruhetönung, die k<strong>ein</strong><br />
eigenständiger Übungsteil ist (wie z. B. die Schwereübung), sondern <strong>ein</strong>e Zielstellung, <strong>ein</strong>e<br />
Einstimmung oder <strong>ein</strong>e „Überschrift“ zur Gesamtübung, die nach <strong>ein</strong>iger Übungszeit erst zur<br />
Wirkung kommt.<br />
Bei der Schwereübung geht es um das subjektive Erleben von Muskelentspannung. Mit Hilfe<br />
der Wärmeübung wird Einfluss auf die Gefäßregulierung (Gefäßweitstellung, Nachlassen<br />
des Sympathikusimpulses) genommen. Die speziellen Organübungen können je nach Beschwerden<br />
des Patienten <strong>ein</strong>gesetzt werden. Zum Beispiel wird bei Kopfschmerz und Migräne<br />
die Kopfübung <strong>ein</strong>gesetzt, bei Bauchbeschwerden die Bauchraumübung. Es ist aber auch<br />
möglich, die speziellen Organübungen komplett zu vermitteln. Bei kontinuierlichem Training<br />
benötigt man durchschnittlich vier Monate, um die Teilübungen der Unterstufe zu beherrschen.<br />
In der folgenden Zeit kommt es darauf an, die psychophysische Umschaltung durch<br />
weiteres regelmäßiges Trainieren immer mehr zu automatisieren und dadurch die Zeit bis<br />
zum Eintritt der Gesamtentspannung zu verkürzen. Die Formeln werden zusammengefasst<br />
und weiter verkürzt. Nach <strong>ein</strong>em halben Jahr genügen oft schon die Vorstellung der Worte:<br />
Ruhe, Schwere, Wärme, Puls und Atmung ruhig, Bauch warm, Stirn kühl (bzw. Kopf bleibt<br />
leicht und frei). Die Oberstufe des Autogenen Trainings entspricht Imaginationsübungen,<br />
welche auf <strong>ein</strong>em tiefenpsychologischen Konzept basieren.<br />
Bisher gilt, dass es wenige kontrollierte Therapiestudien mit Schmerzpatienten gibt, das Wissen<br />
über die Wirksamkeit des AT bei der Behandlung chronischer Schmerzen also gering ist.<br />
Hat <strong>ein</strong> Schmerzpatient (prämorbid) allerdings fundierte Erfahrungen im Umgang mit AT und<br />
kann er damit gute Entspannungseffekte erzielen, so sollte er dieses Verfahren beibehalten.<br />
Ansonsten gilt, dass PMR als Erstverfahren dem AT vorzuziehen ist. Dies nicht nur wegen<br />
der besseren empirischen Absicherung der Effizienz sondern auch aus r<strong>ein</strong> pragmatischen<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
97
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
Gründen: PMR lässt sich üblicherweise in <strong>ein</strong>em kürzeren Zeitrahmen als AT erlernen. Viele<br />
Schmerzpatienten haben mit Autosuggestionen und der notwendigen Konzentration beim AT<br />
Probleme. Auch die Patienten, die Entspannung als etwas Unnötiges bewerten, haben<br />
Schwierigkeiten mit dem AT. Für diese ist das Erlernen der PMR leichter, da sie hier in <strong>ein</strong>em<br />
gewissen Maß aktiv s<strong>ein</strong> können (Anspannung - Entspannung von Muskelgruppen).<br />
2.3 Imaginative Techniken<br />
Bei Imaginativen Techniken wird mit Vorstellungen meist bildhafter Art gearbeitet. Ein Zustand<br />
von Entspanntheit ist Vorraussetzung für die Arbeit mit Imaginationen. Innere Bilder<br />
oder Imaginationen treten im Alltag spontan im entspannten Zustand auf („Tagträume“). Sie<br />
können durch Meditation, spezifische Übungen oder Hypnose gezielt induziert werden. Wir<br />
verfügen als Menschen über die Fähigkeit, spontan aus uns heraus selbständig Imaginationen<br />
zu aktivieren.<br />
In der Psychotherapie haben sich imaginative Techniken als eigenständige Therapieformen<br />
(Achterberg, 1987; Reddemann, 2002) etabliert. In der psychologischen Schmerztherapie<br />
lassen sich Imaginationen als Therapieelemente in eigenständigen Übungen („Fantasiereisen“),<br />
als schmerztransformierende Imaginationen oder zur Vertiefung von Entspannung und<br />
Ablenkung <strong>ein</strong>setzen. Wir unterscheiden:<br />
1. Ruhebilder im Rahmen von PMR zur Vertiefung der Entspannung<br />
2. Fantasiereisen als Entspannungs- und Ablenkungsübung<br />
3. Schmerzverarbeitende Imaginationen<br />
Unter schmerverarbeitenden Imaginationen sind schmerzfokussierende Imaginationen („stellen<br />
sie sich ihren Schmerz als intensive, grell leuchtenden Farbe vor, stellen sie sich vor, wie<br />
diese Farbe immer kräftiger wird“) und schmerzdefokussierende Imaginationen („ihre Aufmerksamkeit<br />
richtet sich jetzt auf die Vorstellung <strong>ein</strong>es kühlen Bergsees“) zu verstehen. Es<br />
können schmerzinkompatible Imaginationen (z. B. angenehme Naturbilder) und schmerztransformierende<br />
Imaginationen („ihr Schmerz verblasst“) durch Autosuggestion oder durch<br />
Instruktion aktiviert und zur besseren Schmerzbewältigung therapeutisch genutzt werden.<br />
Grundsätzlich sollten Patienten mit chronischen Schmerzen lernen, positive Vorstellungsbilder<br />
verstärkt zu aktivieren. Sinnvoll ist auch immer <strong>ein</strong> kombiniertes Training von Entspannung<br />
und Imagination. Imagination hat dabei verschiedene Wirkungen:<br />
� Entspannung wird vertieft<br />
� Positive Emotionen werden aktiviert, diese wirken schmerzhemmend<br />
� Schmerzablenkung in der Entspannung wird verstärkt<br />
� Physiologische Vorgänge (z. B. Tonusreduktion, Erwärmung) werden unterstützt<br />
� Imaginative Transformation des Schmerzerlebens wird möglich<br />
Imaginative Übungen, die den Schmerz (de)fokussieren und transformieren, ermöglichen<br />
dem Patienten <strong>ein</strong>e Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit dem Schmerzerleben und verstärken Überzeu-<br />
98 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
gungen der Kontrollierbarkeit des Schmerzes und damit der Selbstwirksamkeit. Imaginative<br />
Techniken haben in der psychologischen Schmerztherapie als ergänzende Verfahren <strong>ein</strong>en<br />
wichtigen Stellenwert.<br />
2.4 Biofeedback<br />
Biofeedback ist definiert als <strong>ein</strong> Vorgang, bei dem <strong>ein</strong>e Person lernt, physiologische Prozesse<br />
zu be<strong>ein</strong>flussen. Dies betrifft sowohl solche Prozesse, die üblicherweise nicht unter willentlicher<br />
Kontrolle stehen (z. B. Körpertemperatur, Hautleitfähigkeit), als auch solche physiologischen<br />
Prozesse, die üblicherweise bewusst zu regulieren sind (z. B. Muskelspannung),<br />
bei denen jedoch die Regulation zusammengebrochen ist (sogenannte funktionelle Störungen).<br />
Bei jeder Form von Biofeedback sind drei Operationen zu unterscheiden:<br />
1. Erfassen und verstärken biologischer Responses/Prozesse<br />
2. Umwandlung der bioelektrischen Signale, meist in visuelle oder akustische Form<br />
3. Unmittelbares („Echtzeit“) Feedback des Funktionszustandes des gemessenen<br />
physiologischen Systems<br />
Von vielen Autoren (Rief & Birbaumer, 2000) wird Biofeedback als sehr effektive Intervention<br />
bei chronischen Schmerzsyndromen empfohlen. K<strong>ein</strong>e endgültige Klarheit besteht über die<br />
Wirkmechanismen. Man kann zwei Rahmentheorien unterscheiden (Kröner-Herwig, 2004).<br />
Ein theoretischer Ansatz nimmt primär physiologische Wirkmechanismen an, der andere<br />
geht von primär kognitiven Wirkmechanismen aus.<br />
Bei physiologischen Wirkmechanismen wird unterschieden zwischen <strong>ein</strong>em physiologischen<br />
Spezifitätsmodell (der Proband erwirbt die Fähigkeit der physiologischen Selbstkontrolle über<br />
die spezifische rückgemeldete, pathophysiologisch relevante Funktion wie beispielsweise<br />
Muskeltonus oder Herzrate) und <strong>ein</strong>em unspezifischen physiologischen Wirkmodell (der<br />
physiologische Effekt ist genereller Art und wird auf dem Weg <strong>ein</strong>er allgem<strong>ein</strong>en Entspannung<br />
erreicht).<br />
Bei kognitiven Erklärungsansätzen werden ebenfalls zwei mögliche Wirkmechanismen diskutiert.<br />
Man kann annehmen, dass die Feedbackintervention beim Probanden wichtige Einstellungs-<br />
und Erwartungsänderungen bewirkt. Der Proband erkennt, dass er s<strong>ein</strong>e Symptome<br />
verändern kann und erfährt dadurch <strong>ein</strong>e Steigerung s<strong>ein</strong>er Selbstwirksamkeitsüberzeugungen.<br />
Für das konkrete Vorgehen bedeutet dies, so mit <strong>ein</strong>em Patienten zu arbeiten, dass<br />
dieser möglichst viel Erfolg und Kontrolle erlebt. Der zweite kognitive Erklärungsansatz postuliert<br />
<strong>ein</strong>e Verbesserung der Interozeption durch Biofeedback, also <strong>ein</strong>er Veränderung der<br />
Körper- und Selbstwahrnehmung. Es ergeben sich damit vier mögliche Wirkmechanismen:<br />
� Veränderung spezifischer pathophysiologischer Funktionszustände<br />
� Aufbau <strong>ein</strong>er spezifischen oder allgem<strong>ein</strong>en Entspannungskompetenz<br />
� Steigerung von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen<br />
� Verbesserung der Interozeption<br />
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99
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
Bei der Behandlung von Schmerzpatienten mit Biofeedback lassen sich drei biologische Maße<br />
bevorzugt nutzen: Muskelspannung, Hautwiderstand/Hautleitfähigkeit, Hauttemperatur.<br />
Diese Parameter stellen die „Arbeitspferde“ des Biofeedback dar.<br />
Die Muskelspannung (EMG, Elektromyogramm, Einheit: Micro Volt) lässt sich messen, indem<br />
kl<strong>ein</strong>e elektrochemische Veränderungen bei der Kontraktion der Muskeln registriert<br />
werden. Durch die Rückmeldung dieses Maßes kann die funktionale Steuerung verschiedener<br />
Muskelgruppen gezielt trainiert werden. Ein erstes Ziel ist immer die Tonusreduktion in<br />
dysfunktional angespannten Muskeln. Der Hautwiderstand ist Ausdruck der elektrischen Aktivität<br />
der Haut (Einheit: Micro Siemens), die ihrerseits direkt assoziiert ist mit Arousal. Dieses<br />
Maß ändert sich abhängig von der Schweißdrüsenaktivität, die direkt von der Aktivität<br />
des sympathischen Zweigs des autonomen Nervensystems bestimmt wird. Es treten direkte<br />
und schnelle Reaktionen auf psychosoziale Stimuli auf! Patienten können durch diese Reaktionen<br />
(und deren Rückmeldung) lernen, dass schnelle und intensive physiologische Reaktionen<br />
in belastenden Situationen – tatsächlich meist bei der bloßen mentalen Vorstellung<br />
solcher Ereignisse – auftreten. Die Hauttemperatur ist <strong>ein</strong>e sich langsam ändernde Größe,<br />
langsam im Kontrast zum Hautwiderstand. Die Erhöhung der peripheren Temperatur geht<br />
<strong>ein</strong>her mit dem Rückgang sympathischer Erregung. Temperaturerhöhung ist <strong>ein</strong> Zeichen<br />
allgem<strong>ein</strong>er Entspannung. Seit Sargent, Green und Walters (1972) ist bekannt, dass die<br />
spontane Beendigung von Migräne von <strong>ein</strong>er Erwärmung der Hände begleitet ist. Hauttemperaturfeedback<br />
gilt seither als Methode der Migränebehandlung. Diese Technik kann aber<br />
auch allgem<strong>ein</strong> zur Stressregulation <strong>ein</strong>gesetzt werden.<br />
Für Biofeedbackinterventionen gibt es drei hauptsächliche Strategien. Man kann das Verfahren<br />
als Hauptintervention oder als Therapiemodul in der multimodalen Schmerztherapie <strong>ein</strong>setzen.<br />
In diesem Fall wird über mehrere Wochen <strong>ein</strong> Feedbacktraining mit mehreren Sitzungen<br />
pro Woche durchgeführt. Dies bedeutet beispielsweise für Patienten mit Kopfschmerzen<br />
vom Spannungstyp, dass mit der Rückmeldung des Frontalis-EMG oder des<br />
EMG der Nacken- und Schultermuskulatur gearbeitet wird. Die zweite Strategie wird als unterstützende<br />
edukative Intervention bezeichnet. Dabei werden Patienten Zusammenhänge<br />
zwischen psychologischen und physiologischen Vorgängen vermittelt. Es gelingt damit auch<br />
<strong>ein</strong> „objektiver“ Beweis der Entspannung bzw. der Störung der Entspannung. Dies führt bei<br />
vielen Patienten, die <strong>ein</strong>e „Psychologisierung“ ihrer Funktionsstörung zunächst ablehnen, zu<br />
<strong>ein</strong>er Akzeptanz des Verfahrens und zu mehr Offenheit gegenüber psychologischen Methoden<br />
insgesamt. Diese Patienten vermögen auf diesem Weg auch ihr somatisch ausgerichtetes<br />
Störungsmodell zu revidieren.<br />
100 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Manfred Ruoß, Kerstin Harrabi Entspannung, Imagination, Biofeedback<br />
Literatur<br />
1. Achterberg J (1987): Die heilende Kraft der Imagination. Bern: Scherz<br />
2. Basler H-D, Kröner-Herwig B (Hrsg.) (1998): Psychologische Therapie bei Kopf- und Rückenschmerzen.<br />
München: Quintessenz<br />
3. Bernst<strong>ein</strong> DA, Borkovec TD (2000): Entspannungs-Training. Handbuch der Progressiven Muskelentspannung.<br />
München: Pfeiffer<br />
4. Jacobson E (1996): Entspannung als Therapie. Progressive Relaxation in Theorie und Praxis.<br />
München: Pfeiffer<br />
5. König W, di Pol G, Schaeffer G (1983): Autogenes Training – Ein Grundriss. Jena: VEB Gustav<br />
Fischer<br />
6. Kröner-Herwig B (2004): Biofeedback. In: Basler HD, Franz C, Kröner-Herwig B, Rehfisch HP<br />
(Hrsg.): Psychologische Schmerztherapie. Heidelberg: Springer, S. 551-565<br />
7. Reddemann L (2002): Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta<br />
8. Rehfisch HP, Basler H-D (2004): Entspannung und Imagination. In: Basler H-D, Franz C, Kröner-<br />
Herwig B & Rehfisch HP (Hrsg.): Psychologische Schmerztherapie. Heidelberg: Springer<br />
9. Rief W, Birnaumer N (Hrsg.) (2000): Biofeedbacktherapie. Stuttgart: Schattauer<br />
10. Sargent JD, Green EE, Walters ED (1972): The use of autogenic training in a pilot study of migraine<br />
and tension headaches. Headache 12: 120-124<br />
11. Schultz IH (1979): Das autogene Training. Stuttgart: Thieme<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
101
Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />
Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm bei chronischen<br />
Schmerzen und <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Oliver Kuhnt, Beatrix Linke<br />
Das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom (FMS) ist <strong>ein</strong>e chronische Erkrankung, die durch ausgedehnte<br />
starke Schmerzen in der Muskulatur sowie <strong>ein</strong>e erhöhte Druckempfindlichkeit an den Sehnenansätzen<br />
(sog. „Tender-Points“) charakterisiert ist. Darüber hinaus berichten die <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten<br />
<strong>ein</strong>e große Bandbreite von psychovegetativen und affektiven Begleitsymptomen<br />
wie chronische Müdigkeit/Erschöpfung (78,2 %), Schlafstörungen (75,6 %), (Morgen-<br />
) Steifheit (76,2 %), Depression und Angst (44,9 %), Symptome <strong>ein</strong>es Colon Irritabile (35,7<br />
%) u.a. (vgl. die Übersicht bei Turk 2004). Zusätzlich werden häufig kognitive Einbußen wie<br />
Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen beklagt. Nach bisherigem Wissensstand ist das<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>syndrom hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese nicht <strong>ein</strong>deutig geklärt (vgl.<br />
Blumenstiel, Bieber und Eich, 2004).<br />
Die <strong>Fibromyalgie</strong> ist k<strong>ein</strong>e seltene Krankheit. Die Prävalenz wird nach Conrad (2003) auf ca.<br />
3% geschätzt, auf Deutschland bezogen wären dies etwa 2,4 Millionen Betroffene. Die<br />
Mehrzahl der <strong>Fibromyalgie</strong>kranken sind Frauen, das Verhältnis von Männern zu Frauen beträgt<br />
ungefähr 1:9. Es zeigt sich <strong>ein</strong> Altersgipfel im mittleren Lebensalter, aber auch Kinder<br />
und Senioren können betroffen s<strong>ein</strong>. <strong>Fibromyalgie</strong> sch<strong>ein</strong>t sich zunehmend zu <strong>ein</strong>em Problem<br />
für die sozialen Sicherungssysteme zu entwickeln. Blumenstiel et al. erwähnen Hinweise<br />
auf <strong>ein</strong>e „Diagnoseepidemie“ (S. 440), die regional sehr unterschiedlich ausgeprägt sei. Für<br />
das Gesundheitswesen und die Gesellschaft verursacht <strong>Fibromyalgie</strong> hohe Kosten, zum <strong>ein</strong>en<br />
direkt durch die medizinische Versorgung, zum anderen indirekt durch Arbeitsausfall und<br />
vorzeitige Berentung (hinsichtlich der epidemiologischen Angaben vgl. Übersicht bei Blumenstiel<br />
et al., 2004).<br />
Patienten mit <strong>Fibromyalgie</strong> leiden oft seit vielen Jahren unter Schmerzen. Dies hat Be<strong>ein</strong>trächtigungen<br />
auf verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens zur Folge (z. B. die<br />
Entwicklung <strong>ein</strong>es Circulus Vitiosus: Schmerz – Schonung – Dekonditionierung des muskulären<br />
und Herz-Kreislauf-Systems – verminderte Ausdauerleistungsfähigkeit – funktionelle Defizite<br />
– Überlastung anatomischer Strukturen � Verstärkung der Schmerzen). Es entstehen<br />
aufgrund der schmerzbedingten Be<strong>ein</strong>trächtigungen ungünstige Veränderungen im sozialen<br />
Umfeld wie Partnerschaftsprobleme, sozialer Rückzug, berufliche Schwierigkeiten oder gar<br />
der Verlust des Arbeitsplatzes. <strong>Fibromyalgie</strong> zählt damit zu den chronischen Schmerzsyndromen.<br />
Hier stellen multimodale Therapieprogramme heute die Methode der Wahl dar. An<br />
speziell für <strong>Fibromyalgie</strong>patienten entwickelten Programmen gibt es nur wenige, deren Wirksamkeit<br />
empirisch untermauert werden konnte (vgl. Blumenstiel et al., 2004; Häuser, Hutschenreuter<br />
und Vaterrodt, 2003).<br />
102 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />
Multimodale Therapie heißt allgem<strong>ein</strong> interdisziplinäres Zusammenwirken von Ärzten, Physiotherapeuten,<br />
Psychologen, Kreativtherapeuten, Pflegern und Sozialpädagogen mit dem<br />
Ziel, dem Kranken neben der allgem<strong>ein</strong>en Schmerzreduktion die aktive Bewältigung s<strong>ein</strong>er<br />
verbleibenden Schmerzen zu ermöglichen und ihn bei der R<strong>ein</strong>tegration in s<strong>ein</strong>en Beruf und<br />
s<strong>ein</strong> soziales Umfeld zu unterstützen.<br />
Im unserem multimodalem Therapiekonzept spielt die psychologische Behandlung – kognitiv-behaviorale<br />
Einzel- und Gruppentherapie – <strong>ein</strong>e zentrale Rolle. Jeder chronische<br />
Schmerzpatient nimmt daran teil.<br />
Obwohl Studien (Blumenstiel & Eich, 2003) sich dafür aussprechen, dass Veränderungen bei<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten langsamer <strong>ein</strong>treten als bei anderen an chronischen Schmerzen erkrankten<br />
Menschen, ist hervorzuheben, dass wir bisher k<strong>ein</strong> spezifisches Therapieprogramm<br />
nur für <strong>Fibromyalgie</strong>patienten anbieten. Hier spielen folgende Gründe <strong>ein</strong>e Rolle:<br />
� Heterogenität des hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese ungeklärten Krankheitsbildes<br />
� Fehlen von empirisch belegten effektiven Therapien bei <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom<br />
� Austausch mit „weniger“ stark betroffenen Patienten zeigt positiven Effekt (hoch chronifizierte<br />
Patienten können von den Ideen anderer Patienten profitieren und erhalten durch<br />
die Mitteilung eigener Erfahrungen Unterstützung)<br />
� Distanzierung von der Sonderrolle <strong>Fibromyalgie</strong>-Patient („Ich bin <strong>ein</strong> ganz besonders<br />
schwerer Fall“)<br />
� Auswirkungen der Schmerzen auf das alltägliche Leben sind bei verschiedenen<br />
Schmerzsyndromen dennoch ähnlich<br />
� Organisatorische Gründe<br />
Die kognitiv-behaviorale Therapie des chronischen Schmerzes basiert auf <strong>ein</strong>em multidimensionalen<br />
Schmerzverständnis, in dem sensorische, affektive und kognitive Aspekte der<br />
Schmerzerfahrung gleichermaßen berücksichtigt werden.<br />
Allgem<strong>ein</strong>es Therapieziel ist die Verbesserung der Lebensqualität, ohne Schmerzfreiheit zu<br />
versprechen. Die therapeutischen Interventionen umfassen folgende Bereiche:<br />
� Veränderung des somatischen Krankheitsmodells der Patienten zu <strong>ein</strong>er biopsychosozialen<br />
Sichtweise<br />
� Verbesserung der Fähigkeit zum Selbstmanagement der Schmerzerkrankung (positive<br />
Be<strong>ein</strong>flussung des Schmerzerlebens durch Entspannung, Imagination, Ablenkung, Genuss,<br />
Aufbau von Aktivitäten u.s.w.).<br />
� Änderung von Kognitionen, Einstellungen, Steigerung der Selbstwirksamkeit (Erwerb<br />
<strong>ein</strong>er neuen Sichtweise der eigenen Person im Umgang mit den Schmerzen)<br />
Unser kognitiv-behaviorales Gruppenprogramm besteht aus acht 90minütigen und vier<br />
60minütigen Therapie<strong>ein</strong>heiten sowie dem Genusstraining (gem<strong>ein</strong>sames Kochen in der<br />
Gruppe). Diese psychologische Gruppentherapie ist über <strong>ein</strong>en Zeitraum von drei Wochen<br />
fest in den Therapieablauf integriert. Pro Gruppe können acht bis maximal zehn Patienten<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
103
Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />
teilnehmen. Die psychologische Gruppentherapie findet am Beginn des meist vier- bis<br />
sechswöchigen Aufenthalts statt. Eine entsprechende Struktur hat sich bewährt, um den Patienten<br />
während der verbleibenden Tage des Aufenthalts die Möglichkeit zur selbständigen<br />
Umsetzung des Gelernten im Stationsalltag zu geben.<br />
Inhalte des Programms sind u.a.: Wissensvermittlung über chronischen Schmerz, Erlernen<br />
<strong>ein</strong>er Entspannungsmethode (Progressive Muskelrelaxation), Zusammenhang von Stress-<br />
Muskelverspannung-Schmerz, Auslöser von Schmerz (Verhaltensanalyse), Aufmerksamkeitslenkung,<br />
Gedanken und Schmerz, Genusstraining und operante Aspekte von Schmerz.<br />
Um <strong>ein</strong>e Linderung der Schmerzsymptomatik erreichen zu können, ist in jedem Fall <strong>ein</strong>e<br />
ausführliche Aufklärung des Patienten über mögliche Ursachen, Abläufe im Körper, den Verlauf,<br />
Prognosen und Möglichkeiten des Umgangs mit der Erkrankung wichtig. Zwei Themen<br />
aus dem Gruppenprogramm ist bei der Behandlung der <strong>Fibromyalgie</strong> <strong>ein</strong>e hohe Bedeutung<br />
beizumessen. Hierbei handelt es sich um die Punkte „Ablenkung“ und „Operante Faktoren“.<br />
Während der Gruppensitzung zum Thema „Ablenkung“ geht es um die Lenkung unserer<br />
Aufmerksamkeit. Als Vorstellungshilfe wird das Modell des „Aufmerksamkeitssch<strong>ein</strong>werfers“<br />
<strong>ein</strong>geführt.<br />
Abb. 1: Aufmerksamkeitssch<strong>ein</strong>werfer<br />
104 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />
Das Licht <strong>ein</strong>es Sch<strong>ein</strong>werfers kann auf verschiedene Aspekte der äußeren (und inneren)<br />
Welt gerichtet werden. Wir können mit unseren Sinnen wahrnehmen, d.h. sehen, hören, riechen,<br />
schmecken, tasten; wir können uns auf die Fantasie oder Schmerz konzentrieren. Jeweils<br />
das, was im Sch<strong>ein</strong>werferlicht steht, wird intensiv wahrgenommen. Anderes tritt in den<br />
Hintergrund und liegt im Schatten der bewussten Wahrnehmung. Voraussetzung hierfür ist<br />
die Beweglichkeit des Sch<strong>ein</strong>werfers. Bei lange Zeit anhaltenden Schmerzen besteht <strong>ein</strong>e<br />
erhebliche Gefahr, dass der Sch<strong>ein</strong>werfer in dieser Position „festrostet“ und dadurch ausschließlich<br />
der Schmerz hell beleuchtet (d.h. intensiv wahrgenommen) wird und alles andere<br />
in den Hintergrund gerät. Patienten berichten, dass der Schmerz im Mittelpunkt ihres Lebens<br />
steht, dass sie Dinge, die früher Freude bereitet haben, aufgegeben haben und der Situation<br />
hilflos ausgeliefert sind. In der Folge werden die Menschen durch die Konzentration auf den<br />
Schmerz immer sensibler für dessen Wahrnehmung. Bzgl. FM wird in <strong>ein</strong>er Informationsbroschüre<br />
der Deutschen <strong>Fibromyalgie</strong>-Ver<strong>ein</strong>igung (2001) in besonderem Maße auf die erheblich<br />
erniedrigte Schmerzschwelle sowie die u.a. durch das Vermeidungsverhalten verminderte<br />
Muskelkraft und Ausdauer hingewiesen.<br />
Das Bild des Sch<strong>ein</strong>werfers fördert bei vielen Patienten das Erkennen eigener Möglichkeiten<br />
der Be<strong>ein</strong>flussung der Symptomatik. Als Ziel wird erarbeitet, den Sch<strong>ein</strong>werfer wieder in Bewegung<br />
zu bringen und auf angenehme Dinge zu richten. In Kl<strong>ein</strong>gruppen werden Ideen der<br />
Schmerzbewältigung ausgetauscht (z. B. Fotografieren, mit den Enkeln spielen, Haustiere,<br />
Spaziergänge in der Natur, Freunde treffen und Kaffee trinken gehen) und später in der Gesamtgruppe<br />
gesammelt und diskutiert.<br />
Die Patienten erhalten die Aufgabe, im Stationsalltag <strong>ein</strong>, zwei oder mehrere neue Möglichkeiten<br />
der Ablenkung auszuprobieren und für sich herauszufinden, was bei unterschiedlich<br />
starken Schmerzen am besten hilft. Häufig wird ihnen die Wirkung der Aufmerksamkeitslenkung<br />
auch bei der Teilnahme an unserem reichhaltigen Therapie- und Veranstaltungsangebot<br />
deutlich (z. B. kreatives Malen, Tanzen, Musizieren, therapeutisch begleiteter Abendausflug<br />
mit Mitpatienten, handwerkliches Gestalten in der Ergotherapie). Die bisher aufgeführten<br />
Möglichkeiten der Aufmerksamkeitslenkung zählen zur Untergruppe der äußeren Ablenkung,<br />
d.h. sie sind nach außen gerichtet bzw. für ihre Umsetzung sind Hilfsmittel von außen nötig.<br />
Die Reduktion des Dauerstresses, in dem sich <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten häufig befinden, kann<br />
auch über <strong>ein</strong>e Form der inneren Ablenkung – die Phantasiereisen – erreicht werden. Blumenstiel<br />
und Eich (2003) weisen darauf hin, dass bei der Anwendung von Imaginationsverfahren<br />
darauf geachtet werden sollte, dass der Inhalt der Imagination angenehm ist. In dieser<br />
Hinsicht hat sich für uns die Orientierung an von Luise Reddemann (2002) speziell für die<br />
Stabilisierung von Traumaopfern zusammengestellten Imaginationsübungen (z. B. sicherer<br />
Ort) bewährt.<br />
Das Thema „Operante Faktoren des Schmerzes“ wird mit der Vorstellung von der guten Fee,<br />
die die Patienten von ihren Schmerzen befreit, <strong>ein</strong>geführt. Die Patienten setzten sich mit<br />
Fragen wie: Welche Folgen hätte sofortige Schmerzfreiheit?, Welche Veränderungen gäbe<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
105
Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />
es in den verschiedenen Bereichen Ihres Lebens?, Was wäre erwünscht?, Gibt es auch unerwünschte<br />
Veränderungen? aus<strong>ein</strong>ander. Dieses sensible Thema behandeln wir i. d. R.<br />
gegen Ende des Gruppenprogramms, da hierfür <strong>ein</strong>e vertrauensvolle Gruppenatmosphäre<br />
essentiell ist. Gem<strong>ein</strong>sam mit den Patienten wird erarbeitet, dass Schmerzen zwar <strong>ein</strong> erhebliches<br />
Leiden verursachen, jedoch auch mit positiven Konsequenzen für den daran Erkrankten<br />
verbunden s<strong>ein</strong> können. Viele Patienten haben z. B. Schwierigkeiten, n<strong>ein</strong> zu sagen<br />
und sich adäquat abzugrenzen. Krankheit kann <strong>ein</strong> Signal für Überforderung s<strong>ein</strong> und dem<br />
Betroffenen helfen, sich durchzusetzen (z. B. Aufgabenverteilung in Familie, Beruf). Der<br />
Schmerz hilft häufig, etwas durchzusetzen, was sich Menschen sonst nicht erlauben würden.<br />
Im Krankheitsverlauf kann sich <strong>ein</strong> solcher Mechanismus verselbständigen und verschlimmern.<br />
Es kommt zu <strong>ein</strong>er operanten Verstärkung. Zu häufig von unseren Patienten genannten<br />
operanten Faktoren gehören z. B. Schmerz als Signal für Überforderung, die Wahrnehmung<br />
von sich selbst/ von eigenen Bedürfnissen, sich <strong>ein</strong>e Auszeit/ Pausen gönnen, Zuwendung/<br />
Aufmerksamkeit aus der Umgebung erhalten, weniger „muss“/„soll“ etc. Manchmal<br />
erkennen die Patienten sogar, dass sie sich ohne Schmerz in unserer schnelllebigen Zeit im<br />
Berufsleben behaupten bzw. <strong>ein</strong>en Job suchen zu müssten oder k<strong>ein</strong>e Rente mehr zu erhalten<br />
würden. Genannte Faktoren legen nahe, dass die Biografie (nach Egle et. al, 2003 bei<br />
FM z. B. emotional instabile Beziehungen, Gewalterfahrungen, Missbrauch) entsprechende<br />
Verhaltensmuster und Kognitionen (z. B. nicht n<strong>ein</strong> sagen können, sich selbst nicht spüren,<br />
sich durchbeißen). Bei FM-Patienten ist das Leben oft durch Arbeit, Leistung und <strong>ein</strong>en allgem<strong>ein</strong><br />
perfektionistischen Persönlichkeitsstil geprägt. Böck (2003) beschreibt die typische<br />
Persönlichkeitsstruktur von FM-Patienten als „hyperaktiv, hyperperfekt, sehr leistungsmotiviert,<br />
ausgesprochen harmoniebedürftig, sozial überangepasst und nicht selten [als] in Helfer-Syndrom-Berufen<br />
tätig“. Sind den Patienten entsprechende Zusammenhänge bewusst,<br />
können alternative Möglichkeiten der Problemlösung und des Umgangs gesucht werden.<br />
Übergeordnetes Ziel ist, dass die Patienten erkennen, dass in der Krankheit <strong>ein</strong>e Chance auf<br />
positive Veränderungen liegen kann.<br />
Zum Thema operante Faktoren zählen noch zwei weitere Punkte: Zum <strong>ein</strong>en wird von uns<br />
Schmerzverhalten systematisch nicht beachtet und „schmerzkompatibles Verhalten [wird]<br />
systematisch verstärkt in der Absicht, die „gesunden“ Anteile der Person zu erweitern und ihr<br />
mehr Lebensfreude zu ermöglichen“ (Basler, Kröner-Herwig, 1998). Zum anderen haben wir<br />
festgestellt, dass unsere Patienten häufig erst dann <strong>ein</strong>e lange <strong>ein</strong>seitige Körperhaltung ändern,<br />
wenn der Schmerz entsprechend stark ist. Sie halten durch und beißen die Zähne zusammen.<br />
Deshalb sind in unseren <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halbstündigen Gruppensitzungen neben Entspannungsübungen<br />
auch regelmäßige Bewegungspausen (ca fünf Minuten) <strong>ein</strong>geplant. Häufig<br />
machen die Patienten die Erfahrung, dass sie so – also durch <strong>ein</strong> regelmäßiges und schmerzunabhängiges<br />
Verändern der Körperposition – schwere Verspannungen und Schmerzen<br />
lindern oder sogar verhindern können. Es wird den Patienten deutlich, dass selbst kl<strong>ein</strong>e<br />
Veränderungen, die <strong>ein</strong>es geringen zeitlichen Aufwands bedürfen, zu <strong>ein</strong>er Verbesserung<br />
ihrer Gesamtsituation beitragen können.<br />
106 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />
Neben der Teilnahme an der kognitiv-behavioralen Schmerzbewältigungsgruppe wird jeder<br />
Patient von <strong>ein</strong>em Schmerzpsychologen <strong>ein</strong>zeln betreut. Darauf soll an dieser Stelle nur kurz<br />
<strong>ein</strong>gegangen werden. In der Einzeltherapie werden neben der Abklärung von Schmerzchronifizierungsfaktoren<br />
wie bspw. Depression oder Angststörungen Inhalte des Gruppenprogramms<br />
individuell vertieft. Darüber hinaus werden fokale psychotherapeutische Interventionen<br />
mit dem Ziel durchgeführt, Ressourcen auszubauen und destruktive Bewältigungsmuster<br />
zu verändern.<br />
Bei den <strong>Fibromyalgie</strong>patienten mit häufig gestörter Propriozeption hat sich bei uns der Einsatz<br />
von Biofeedback (siehe auch Beitrag von Harrabi & Ruoß) bewährt, um die bewusste,<br />
adäquate Wahrnehmung körperlicher Vorgänge zu trainieren, das Einleiten von Entspannung<br />
und die Selbstkontrolle körperlicher Prozesse zu fördern. Auch kann mit Hilfe von Körpertherapie<br />
(z. B. Funktionelle Entspannung nach Marianne Fuchs) die Körperwahrnehmung<br />
gefördert werden.<br />
Den Abschluss des Workshops bildet neben <strong>ein</strong>er Genussübung <strong>ein</strong> Austausch der<br />
schmerztherapeutischen Erfahrungen der Workshopteilnehmer. Die Frage nach der Länge<br />
des Aufenthalts und der Zukunftsprognose wird diskutiert. Hierzu merken Blumenstiel und<br />
Eich (2003) an, dass für <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten <strong>ein</strong> stationärer Aufenthalt über <strong>ein</strong>en Zeitraum<br />
von vier bis zwölf Wochen für das Erreichen anhaltender Erfolge zu kurz s<strong>ein</strong> könnte.<br />
Als Alternative zu <strong>ein</strong>er das Gesundheitssystem stark belasteten halbjährigen Aufenthaltsdauer<br />
schlagen sie <strong>ein</strong>e „Auffrischungstherapie“ nach ca. <strong>ein</strong>em Jahr vor. Aus unserer Sicht<br />
können wir dies bestätigen und <strong>ein</strong>em solchen Vorschlag zustimmen. Zur Stabilisierung der<br />
bei uns erreichten Erfolge erweist sich häufig <strong>ein</strong>e längerfristige professionelle Begleitung als<br />
sinnvoll, und wir empfehlen den Patienten <strong>ein</strong>e weiterführende ambulante Psychotherapie.<br />
Literatur<br />
1. Basler HD, Kröner-Herwig B (1998): Psychologische Therapie bei Kopf- und Rückenschmerzen.<br />
München: Quintessenz, 2. Auflage<br />
2. Blumenstiel K, Bieber C, Eich W (2004): <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom. In: Basler HD, Franz C, Kröner-<br />
Herwig B, Rehfisch HP (Hrsg.): Psychologische Schmerztherapie. Berlin: Springer, 5.Aufl.: S. 439-<br />
450<br />
3. Blumenstiel K, Eich W (2003): Psychosomatische Aspekte in Diagnostik und Therapie der <strong>Fibromyalgie</strong>.<br />
Der Schmerz 6: 399-404<br />
4. Böck C (2003): Das <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom. Faktum oder Fiktion? Extracta orthopaedica, Ausgabe<br />
10: 8-13<br />
5. Conrad I (2003): Diagnose und Klinik der <strong>Fibromyalgie</strong>. Der Schmerz 17: 464-474<br />
6. Egle U, Ecker-Egle M-L, Nickel R, v. Houdenhove B (2004): <strong>Fibromyalgie</strong> als Störung der zentralen<br />
Schmerz- und Stressverarbeitung – Ein neues biopsychosoziales Krankheitsmodell. Psychother<br />
Psych Med 54: 137-147.<br />
7. Häuser W, Hutschenreuter U, Vaterrodt T (2003): <strong>Fibromyalgie</strong>syndrom. Fundierte Begutachtung<br />
aus schmerztherapeutischer Sicht. NeuroTransmitter 2: 56-62<br />
8. Informationsbroschüre der Deutschen <strong>Fibromyalgie</strong>-Ver<strong>ein</strong>igung (DFV) e. V. (2001), 1. Aufl.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
107
Oliver Kuhnt, Beatrix Linke Kognitiv-Behaviorales Schmerzbewältigungsprogramm<br />
9. Reddemann L (2002): Imagination als heilsame Kraft – Zur Behandlung von Traumafolgen mit<br />
ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart: Pfeffer bei Klett-Cotta, 6. Aufl.<br />
10. Turk DC (2004): Fibromyalgia: A Patient-Orientated Perspecitve. In: Dworkin RH, Breitbart WS<br />
(Eds.): Psychosocial Aspects of Pain: A Handbook for Health Care Providers. Seattle: IASP Press,<br />
pp. 309-338<br />
108 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
Effekte multimodaler Schmerztherapie bei chronischen Schmerzpatienten<br />
unter besonderer Berücksichtigung der <strong>Fibromyalgie</strong><br />
Ingo Haase, Klaus Klimczyk, Oliver Kuhnt, Manfred Ruoß<br />
1. Hintergrund und Fragestellung<br />
Das interdisziplinäre Schmerzzentrum an der m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> behandelt seit<br />
1999 Patienten mit chronischen Schmerzen (Chronifizierungsstadium II oder III nach Gerbershagen)<br />
im Rahmen <strong>ein</strong>es stationären Programms. Wesentliches Kennzeichen ist <strong>ein</strong>e<br />
multimodale interdisziplinäre Behandlung durch Ärzte, Psychologen und Therapeuten verschiedenster<br />
Fachrichtungen. Das Behandlungsteam setzt sich wie folgt zusammen:<br />
� Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen (Orthopädie, Anästhesie, Physikalische und<br />
Rehabilitative Medizin)<br />
� kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierte Psychologen<br />
� Physiotherapeuten unterschiedlicher Spezialisierung<br />
� Masseure<br />
� Ergotherapeut<br />
� Musiktherapeut, Tanztherapeut<br />
� spezialisiertes Pflegeteam<br />
� Sozial- und Rehaberater<br />
� Kreativtrainer<br />
Wichtigste Behandlungsziele sind die Reduzierung der Schmerzen, die Erhöhung der Lebensqualität<br />
und die aktive Bewältigung verbleibender Schmerzen. Verschiedene therapeutische<br />
Möglichkeiten stehen zur Verfügung:<br />
� Aufklärung und Beratung über die individuelle Erkrankung, <strong>ein</strong>schl. Differenzierung somatischer<br />
und psychosomatischer Anteile<br />
� Injektionstherapie in größter Bandbreite (Triggerpunkte, TLA, interventionell)<br />
� medikamentöse Schmerztherapie<br />
� psychologische Einzeltherapie (individuelle Analyse psychosozialer Faktoren der<br />
Schmerzchronifizierung, Initiierung <strong>ein</strong>er psychologischen Therapie)<br />
� psychologische Gruppentherapie zur Schmerzbewältigung (Wissensvermittlung, Entspannung,<br />
Stressbewältigung, Verhaltensanalyse etc.)<br />
� aktivierende physikalische Therapie wie insbesondere spezialisierte Krankengymnastik,<br />
Massage, Ergotherapie und medizinische Trainingstherapie<br />
� Musiktherapie, Tanztherapie<br />
� Genuss-, Kreativ- und Terraintraining<br />
� therapeutisch begleiteter Freizeit und Abendausflug<br />
� alternative Verfahren wie Akupunktur, Chirotherapie, Arlen, Schröpfen u.s.w.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
109
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
Besondere Behandlungsschwerpunkte des Interdisziplinären Schmerzzentrums sind chronische<br />
Wirbelsäulenschmerzsyndrome nach Bandscheiben- und sonstigen Wirbelsäulenoperationen,<br />
aber auch anderer Ursachen. In den letzten Jahren wurden zudem immer wieder –<br />
und mit steigender Tendenz – Patienten mit der Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> behandelt, die als<br />
besonders schwer therapierbar gelten.<br />
<strong>Fibromyalgie</strong> oder Faser-Muskel-Schmerz (FM) ist <strong>ein</strong>e chronische, nicht-entzündliche Erkrankung,<br />
die durch ausgedehnte starke Schmerzen in der Muskulatur und den Sehnenansätzen<br />
sowie erhöhte Empfindlichkeit an bestimmten Schmerzdruckpunkten (sog. „Tender-<br />
Points“) charakterisiert und nach bisherigem Wissensstand nicht <strong>ein</strong>deutig psychisch bedingt<br />
ist. Menschen, die an dieser Erkrankung leiden, berichten oft auch über Schlafstörungen,<br />
Müdigkeit, Morgensteifigkeit, Symptome <strong>ein</strong>es Colon Irritabile und zahlreiche andere Symptome.<br />
Zu Definition, Ursachen und Behandlungsansätzen der <strong>Fibromyalgie</strong> vergleiche neben<br />
der <strong>ein</strong>schlägigen Literatur [1 – 26] auch die anderen Beiträge in diesem Band.<br />
Mit der vorliegenden Untersuchung sollten Antworten auf die Frage gefunden werden, welchen<br />
mittelfristigen Effekt die hier dargestellte stationäre Behandlung bei Schmerzpatienten<br />
mit und ohne <strong>Fibromyalgie</strong> erzielen kann.<br />
2. Methodik<br />
Es wurde <strong>ein</strong>e Sekundäranalyse <strong>ein</strong>er Verlaufsbeobachtung mit drei Messzeitpunkten von<br />
ehemaligen Patienten des Schmerzzentrums durchgeführt. Zwischen Oktober 2002 und<br />
März 2003 wurden 181 im Schmerzzentrum behandelte Patienten, darunter 17 Patienten mit<br />
der Haupt- oder Nebendiagnose <strong>Fibromyalgie</strong>, vor Aufnahme, bei Entlassung sowie sechs<br />
Monate nach Entlassung mit dem Schmerzfragebogen der Deutschen Gesellschaft zum Studium<br />
des Schmerzes (DGSS) schriftlich befragt (Prä-Post-Design ohne Vergleichsgruppe).<br />
Wesentliche Zielgrößen waren Schmerzintensität, Be<strong>ein</strong>trächtigung durch Schmerzen, Depression<br />
und verschiedene Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Diese<br />
Zielgrößen wurden durch die folgenden Messinstrumente – die alle im DGSS-Fragebogen für<br />
Schmerzpatienten enthalten sind – operationalisiert:<br />
� Schmerzstärke: Numerische Ratingskalen [27]<br />
� Be<strong>ein</strong>trächtigung durch Schmerzen: Pain Disability Index – PDI [28]<br />
� Depression: Allgem<strong>ein</strong>e Depressions Skala – ADS [29]<br />
� Aspekte der Lebensqualität: SF-36 – Fragebogen zum Gesundheitszustand [30]<br />
Von der Analyse ausgeschlossen wurden Patienten mit <strong>ein</strong>er Aufenthaltsdauer von weniger<br />
als 16 Tagen oder ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Bei Wiederholungsaufenthalten<br />
im Beobachtungszeitraum wurde jeweils nur der erste Aufenthalt berücksichtigt.<br />
Aufgrund des explorativen Charakters der Untersuchung und der geringen Zahl der <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten<br />
wird auf die Darstellung von Signifikanzen verzichtet. Zur besseren Ver-<br />
110 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
gleichbarkeit der Therapieerfolge bei den Patienten in stationärer Schmerztherapie mit und<br />
ohne <strong>Fibromyalgie</strong> wurden statt dessen die sog. Effektstärken herangezogen. Effektstärken<br />
sind deskriptive, dimensionslose Kennwerte, die im Fall <strong>ein</strong>es Mittelwertvergleichs die Mittelwertdifferenz<br />
in Standardabweichungs<strong>ein</strong>heiten ausdrücken [31]. In der vorliegenden Analyse<br />
wurde für die beiden Untersuchungsgruppen hinsichtlich der interessierenden Variablen<br />
jeweils die Prä-Post-Effektstärke unter Verwendung der Standardabweichung des Gesamtkollektivs<br />
bei Aufnahme errechnet.<br />
3. Ergebnisse<br />
Sechs Monate nach Entlassung aus der stationären Schmerzbehandlung antworteten 124<br />
Patienten (Rücklaufquote: 69%), darunter 9 <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten. Die <strong>Fibromyalgie</strong> Patientinnen<br />
waren alle weiblichen Geschlechts. Höchster Schulabschluss war bis auf <strong>ein</strong>e Ausnahme<br />
der Hauptschulabschluss. In der Gruppe der sonstigen chronischen Schmerzpatienten<br />
waren Männer und Frauen annährend gleich stark vertreten und 34% wiesen <strong>ein</strong>en höheren<br />
als den Hauptschulabschluss auf. K<strong>ein</strong>e auffälligen Unterschiede zwischen beiden<br />
Gruppen zeigten sich hinsichtlich Alter und Dauer der Schmerzproblematik (s. Tab. 1).<br />
Chron. Schmerz (N = 115) <strong>Fibromyalgie</strong> (N = 9)<br />
Geschlecht 59/115 (51%) Frauen 9/9 Frauen<br />
Alter 52,2 Jahre (20 – 79) 55,6 Jahre (43 – 63)<br />
Schulabschluss bis Hauptschule: 73/111 (66%) bis Hauptschule: 8/9<br />
Schmerzdauer 8,2 Jahre (SD = 9,1) 7,8 Jahre (SD = 9,3)<br />
Tab. 1: Patientenchrakteristika<br />
Die Schmerzstärke wird im verwendeten DGSS-Fragebogen durch 11-stufige numerische<br />
Ratingskalen erfasst. Nach Jensen et al. [27] ist das arithmetische Mittel aus den Angaben<br />
zu „geringstem“ und „durchschnittlichem“ Schmerz das valideste Maß für den aktuellen<br />
Durchschnittsschmerz <strong>ein</strong>es Patienten. So definiert ergibt sich für das untersuchte Kollektiv<br />
<strong>ein</strong> deutlicher Rückgang der Schmerzintensität, der allerdings für die <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten<br />
etwas geringer ausfällt (s. Abb. 1).<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
111
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
Intensität (max. = 10)<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
6,9<br />
6,1<br />
5,9<br />
4,4<br />
vorher (T1) Entlassung<br />
(T2)<br />
Abb. 1: Schmerzstärke (Mittelwert aus den Patientenangaben zu durchschnittlichem und geringstem<br />
Schmerz, bezogen auf die jeweils letzten vier Wochen)<br />
Im Vergleich mit dem Zeitpunkt vor Aufnahme wiesen die Hälfte (58/112) der sonstigen<br />
Schmerz-Patienten und immerhin drei von neun <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten auch nach sechs<br />
Monaten noch <strong>ein</strong>e als klinisch bedeutsam geltende Reduktion ihrer Schmerzstärke [35] um<br />
mindestens 30% auf (s. Abb. 2).<br />
100%<br />
80%<br />
60%<br />
40%<br />
20%<br />
0%<br />
25 2<br />
29<br />
58<br />
Abb. 2: Bewertung der Veränderung der Schmerzstärke (sechs Monate nach Entlassung)<br />
112 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
5,5<br />
4,4<br />
nach 6 Mon.<br />
(T3)<br />
chron. Schmerz <strong>Fibromyalgie</strong><br />
4<br />
3<br />
<strong>Fibromyalgie</strong><br />
chron. Schmerz<br />
unverändert oder<br />
verschlechtert<br />
mäßig reduziert (5%<br />
- 30%)<br />
klinisch relevant<br />
reduziert (>30%)
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
Mit der Reduktion der Schmerzstärke <strong>ein</strong>her geht <strong>ein</strong>e Verminderung der Be<strong>ein</strong>trächtigung<br />
durch die Schmerzen im alltäglichen Leben. Der durchschnittliche Summenscore des Pain<br />
Disability Index (PDI), der das Ausmaß der Be<strong>ein</strong>trächtigung durch die Schmerzen im alltäglichen<br />
Leben auf <strong>ein</strong>er Skala von 0 bis 70 abbildet, verringerte sich nachhaltig, bei den<br />
<strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten allerdings nur geringfügig (s. Abb. 3).<br />
Max. = 70<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
47,3<br />
41,5<br />
43,9<br />
31,9<br />
vorher (T1) nach 6 Mon. (T3)<br />
Abb. 3: Be<strong>ein</strong>trächtigung durch den Schmerz, gemessen mit dem PDI (0 = k<strong>ein</strong>e Be<strong>ein</strong>trächtigung)<br />
Bekannt bei chronischen Schmerzpatienten ist die häufige Komorbidität im psychischen Bereich,<br />
insbesondere das Vorkommen von depressiven Störungen. Unter Verwendung der<br />
Allgem<strong>ein</strong>en Depressionsskala (ADS) bestand bei zwei Drittel des Gesamtkollektivs bei Aufnahme<br />
<strong>ein</strong> Verdacht auf <strong>ein</strong>e ernsthafte depressive Störung. Dieser Anteil konnte im Laufe<br />
der stationären Behandlung bei der Gruppe ohne <strong>Fibromyalgie</strong> auf <strong>ein</strong> Drittel reduziert werden;<br />
die neun <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten wurden sogar alle ohne Depressionsverdacht entlassen.<br />
Auffällig ist, dass dieser Erfolg der stationären Behandlung im Nachbeobachtungszeitraum<br />
nicht stabil blieb: nach sechs Montaen war der ADS-Score in bei acht von neun Patienten<br />
mit <strong>Fibromyalgie</strong> wieder auffällig erhöht (s. Abb. 4).<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
<strong>Fibromyalgie</strong><br />
chron. Schmerz<br />
113
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
%<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
0<br />
78<br />
65<br />
Abb. 4: Verdacht auf depressive Störung (ADS-Score > 23 Punkte)<br />
0<br />
35<br />
vorher (T1) Entlassung<br />
(T2)<br />
Als Instrument zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität unterscheidet der<br />
SF-36 acht Subskalen. Im Unterschied zu den bisher betrachteten Kenngrößen bedeutet im<br />
SF-36 <strong>ein</strong> höherer Wert auch <strong>ein</strong>e bessere Lebensqualität. Die Abbildungen 5 und 6 stellen<br />
die Ergebnisse für die Subskalen „körperliche Funktionsfähigkeit“ und „soziale Funktionsfähigkeit“<br />
dar. In beiden Summenskalen können deutliche Fortschritte ausgemacht werden, die<br />
im sozialen Bereich für die <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten etwas schwächer ausfallen.<br />
Chronische Schmerzpatienten ohne <strong>Fibromyalgie</strong> erreichen – bezogen auf den Zeitpunkt<br />
sechs Monate nach Entlassung – mit <strong>ein</strong>er Ausnahme mittlere bis große Effekte in den betrachteten<br />
Zielgrößen (Abb. 7 und 8). Lediglich in der Subskala „emotionale Rollenfunktion“<br />
des SF-36 ist <strong>ein</strong> nur kl<strong>ein</strong>er Effekt zu verzeichnen. Bei den <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten zeigen<br />
sich in der numerischen Schmerz-Ratingskala, der Depressionsskala und vier Subskalen des<br />
SF-36 ähnlich gute Effekte. Deutlich schlechter schneiden sie hinsichtlich der „Be<strong>ein</strong>trächtigung<br />
durch die Schmerzen“, der „sozialen Funktionsfähigkeit“ und insbesondere der „körperlichen<br />
Rollenfunktion“ ab.<br />
114 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
67<br />
49<br />
nach 6 Mon.<br />
(T3)<br />
<strong>Fibromyalgie</strong><br />
chron. Schmerz
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
Max. = 100<br />
Abb. 5: SF-36-Subskala „körperlichen Funktionsfähigkeit“ (100 = maximale Funktionsfähigkeit)<br />
Max. = 100<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
0<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
0<br />
40,9<br />
20,7<br />
41,2<br />
33,3<br />
Abb. 6: SF-36-Subskala „soziale Funktionsfähigkeit“ (100 = maximale Funktionsfähigkeit)<br />
57<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
51,1<br />
31,7<br />
vorher (T1) nach 6 Mon. (T3)<br />
42,2<br />
vorher (T1) nach 6 Mon. (T3)<br />
<strong>Fibromyalgie</strong><br />
chron. Schmerz<br />
<strong>Fibromyalgie</strong><br />
chron. Schmerz<br />
115
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
116 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
4. Zusammenfassung und Diskussion<br />
Ziel unserer explorativen Pilotstudie war es, die Effektivität der Behandlung an <strong>ein</strong>em interdisziplinären<br />
und multimodal ausgerichteten Schmerzzentrum zu untersuchen, in dem auch<br />
Patienten mit <strong>Fibromyalgie</strong> behandelt werden. Dazu wurden 122 Patienten vor Aufnahme,<br />
bei Entlassung und nach sechs Monaten schriftlich befragt.<br />
Die Ergebnisse zeigen, das <strong>ein</strong>e interdisziplinäre und multimodale Schmerzbehandlung, wie<br />
sie in der m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> angeboten wird, nachhaltig wirksam ist. Es deutet sich<br />
an, dass dies in den unmittelbar krankheitsbezogenen Dimensionen auch für Schmerzpatienten<br />
mit der Diagnose <strong>Fibromyalgie</strong> gilt. <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten sch<strong>ein</strong>en dagegen weniger im<br />
Bereich der Be<strong>ein</strong>trächtigungen von Aktivität und Teilhabe zu profitieren. Wichtig ist, an dieser<br />
Stelle anzumerken, dass die Ergebnisse der <strong>Fibromyalgie</strong>-Gruppe aufgrund der geringen<br />
Fallzahl lediglich als Tendenzen interpretiert werden sollten. Hier bedarf es weiterer Studien,<br />
die die Effekte spezieller Schmerzbehandlung für diese Patientengruppe untersuchen. Ebenfalls<br />
ist weiter zu prüfen, von welchen Therapiebaust<strong>ein</strong>en <strong>Fibromyalgie</strong>-Patienten am meisten<br />
profitieren und inwieweit sich die erzielten stationären Behandlungseffekte durch <strong>ein</strong> adäquates<br />
Weiterbehandlungskonzept stabilisieren oder sogar noch verbessern lassen.<br />
Bisher vorliegende Arbeiten über die Be<strong>ein</strong>flussung des Schmerzbildes [1 – 26] beschreiben<br />
neben der Wirksamkeit <strong>ein</strong>iger pharmakologischer Präparate vornehmlich die Effektivität<br />
körperlicher Bewegung. Erfolgversprechend sind nachgewiesenerweise psychologische Therapiemaßnahmen<br />
und Entspannungsverfahren. Ein adäquates Behandlungskonzept muss<br />
demnach auf <strong>ein</strong>em multimodalen Therapieansatz basieren, wie er idealtypisch insbesondere<br />
stationär realisiert werden kann. Arzt, Physio- bzw. Bewegungstherapeut, Psychologe,<br />
andere Mitbehandler und Patient müssen jeweils <strong>ein</strong>e aktive Rolle in der <strong>Fibromyalgie</strong>-<br />
Bewältigung spielen. Zielführend ist <strong>ein</strong> bio-psycho-soziales Krankheitsmodell (im Unterschied<br />
zum primär bio-medizinischen Krankheitsmodell in der fachspezifischen kurativen<br />
Versorgung).<br />
Die Behandlung der <strong>Fibromyalgie</strong> erfordert somit <strong>ein</strong> umfassendes Behandlungskonzept, das<br />
das interdisziplinäre Zusammenwirken verschiedener medizinischer Fachgebiete mit dem<br />
Ziel b<strong>ein</strong>haltet, dem Kranken neben der allgem<strong>ein</strong>en Schmerzreduktion die aktive Bewältigung<br />
s<strong>ein</strong>er verbleibenden Schmerzen zu ermöglichen und ihn bei der R<strong>ein</strong>tegration in s<strong>ein</strong>en<br />
Beruf und s<strong>ein</strong> soziales Umfeld zu unterstützen. Dies geschieht multidimensional (Ganzheitsansatz),<br />
wobei insbesondere das Erkennen und Vermeiden von Auslöse- und<br />
Verstärkermechanismen erarbeitet werden sollen. Die m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> erarbeitet<br />
zur Zeit <strong>ein</strong> entsprechendes Konzept, mit dem den besonderen Anforderungen an die Therapie<br />
der <strong>Fibromyalgie</strong> Rechung getragen werden soll.<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
117
I. Haase, K. Klimczyk, O. Kuhnt, M. Ruoß Effekte multimodaler Schmerztherapie<br />
Literatur<br />
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m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
119
Verzeichnis der Autoren<br />
Verzeichnis der Autoren<br />
H<strong>ein</strong>z-Dieter Basler, Prof. Dr. phil. Dr. med. habil.<br />
Institut für Medizinische Psychologie<br />
Universität Marburg<br />
basler@mailer.uni-marburg.de<br />
Thorsten Böing, Dipl.-Sportl., Sporttherapeut DVGS<br />
Abt. Sporttherapie<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />
thorsten.bo<strong>ein</strong>g@fachklinik-enzensberg.de<br />
Ingomar Conrad, Dr. med.<br />
Schmerzambulanz<br />
Medizinische Hochschule Hannover<br />
conrad.ingomar@mh-hannover.de<br />
Ingo Haase, Dr. phil.<br />
Forschung und Qualitätssicherung<br />
m&i-<strong>Klinikgruppe</strong> <strong>Enzensberg</strong><br />
ingo.haase@enzensberg.de<br />
Winfried Häuser, Dr. med.<br />
Zentrum für Schmerztherapie<br />
Klinikum Saarbrücken gGmbH<br />
whaeuser@klinikum-saarbruecken.de<br />
Kerstin Harrabi, Dipl.-Psych.<br />
Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />
kerstin.harrabi@fachklinik-enzensberg.de<br />
Wolfgang Hausotter, Dr. med.<br />
Facharzt für Neurologie und Pschiatrie<br />
Sonthofen<br />
Wolfgang.Hausotter@t-online.de<br />
Klaus Klimczyk, Dr. med.<br />
Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />
klaus.klimczyk@fachklinik-enzensberg.de<br />
120 m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum
Verzeichnis der Autoren<br />
Oliver Kuhnt, Dr. phil., Dipl.-Psych.<br />
Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />
oliver.kuhnt@fachklinik-enzensberg.de<br />
Dirk Kreuzer, Dipl.-Kulturpäd./Musiktherapeut<br />
Musiktherapeutische Praxis<br />
Immenstadt<br />
mtpraxis@musiktherapy.net<br />
Stefan Lautenbacher, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych.<br />
Psychologische Psychologie<br />
Universität Bamberg<br />
Stefan.Lautenbacher@ppp.uni-bamberg.de<br />
Beatrix Linke, Dipl.-Psych.<br />
Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />
beatrix.linke@fachklinik-enzensberg.de<br />
Siegfried Mense, Prof. Dr. med.<br />
Institut für Anatomie und Zellbiologie<br />
Universität Heidelberg<br />
mense@urz.uni-heidelberg.de<br />
Manfred Ruoß, Priv.-Doz. Dr. phil., Dipl.-Psych.<br />
Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong><br />
manfred.ruoss@fachklinik-enzensberg.de<br />
m&i-Fachklinik <strong>Enzensberg</strong> | Interdisziplinäres Schmerzzentrum<br />
121
Fachklinik<br />
<strong>Enzensberg</strong><br />
Höhenstraße 56<br />
87629 Hopfen am See/Füssen<br />
Telefon 08362-12-0<br />
Telefax 08362-12-3070<br />
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