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Carl F. W. Borgward. Kapitalist und Patriarch - Rentabilität und

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Wilhelm Eberwein, Jochen Tholen<br />

<strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> 1<br />

<strong>Kapitalist</strong> <strong>und</strong> <strong>Patriarch</strong> - <strong>Rentabilität</strong> <strong>und</strong> Fürsorge<br />

Die sozialen Beziehungen zwischen Unternehmer <strong>und</strong> Belegschaft<br />

„Diese Männer sind selten geworden. Man findet sie heute fast nur noch in Romanen <strong>und</strong><br />

Filmgeschichten. Aber auch hier tragen sie noch immer den Namen eines Giganten oder<br />

Titanen. Auch in unserer Zeit gibt es Männer, die gewaltige Betriebe leiten, Werke aufbauen<br />

<strong>und</strong> sie zu erstaunlicher Blüte bringen. Mit ihnen verhält es sich anders. Sie arbeiten mit<br />

einer fremden Vollmacht, im Namen einer Gesellschaft. Sie wenden in ihrem Amt alle<br />

Fähigkeiten auf, die sie besitzen, aber sie stehen nicht mit ihrem gesamten Hab <strong>und</strong><br />

Gut hinter ihrer Arbeit. Man nennt sie nicht umsonst Wirtschaftskapitäne. Sie steuern ein<br />

Schiff, aber es ist nicht ihr eigenes Schiff, das sie durch Wind <strong>und</strong> Nebel führen. Sie sind<br />

Direktoren <strong>und</strong> keine Unternehmer. Es waren die Unternehmer, denen die Hansestädte ihre<br />

Größe verdankten. Zum Unternehmer wird man geboren. Umgebung <strong>und</strong> Erzieher wirken<br />

auch hier. Doch der Kern ist Begabung“.<br />

So, wie ihn die firmeneigene Festschrift (<strong>Borgward</strong>-Kurier, Sonderheft,<br />

10.11.1960, S. 4) anlässlich seines 70. Geburtstages 1960 beschrieb, wollte <strong>Carl</strong><br />

F. W. <strong>Borgward</strong> von der Welt gesehen werden.<br />

Doch was steckt hinter einem solchen Bild, was ist Wunsch, was ist Wirklichkeit <strong>und</strong><br />

vor allem: welche Konsequenzen ergaben sich daraus?<br />

Autoritäre Betriebspolitik <strong>und</strong> familienzentrierter ideologischer Kapitalismus<br />

Die <strong>Borgward</strong>sche Betriebspolitik, sein Führungsstil <strong>und</strong> die Gestaltung der<br />

sozialen Beziehungen zwischen Belegschaft <strong>und</strong> Unternehmer lassen eine<br />

vorschnelle Festlegung <strong>Borgward</strong>s auf eine patriarchalische Betriebspolitik à la<br />

Krupp oder Stumm am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts nicht zu. Zwar war <strong>Carl</strong><br />

<strong>Borgward</strong> zunächst ein typischer Vertreter eines Familienkapitalismus. In der<br />

Idealform ist hier das Nachfolgeproblem die zentrale Frage, die das<br />

Unternehmerverhalten bestimmt. Die Versorgung der Kinder <strong>und</strong> die<br />

1 Dieser Beitrag beruht im wesentlichen auf einer Mitte 1980er Jahre durchgeführten umfangreichen<br />

empirischen Studie der Autoren („<strong>Borgward</strong>s Fall. Arbeit im Wirtschaftsw<strong>und</strong>er. <strong>Borgward</strong>, Goliath,<br />

Lloyd“, Steintor-Verlag Bremen 1987)


Auszahlung/Abfindung der Geschwister prägen das ökonomische Kalkül des<br />

Unternehmers. Gegenüber den Belegschaftsmitgliedern entfaltet er gemäß diesem<br />

Idealtypus eine gewisse Fürsorge, die aber ein Mitspracherecht des Arbeiters/der<br />

Belegschaft ausschließt.<br />

Drei Symbolfiguren des wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Aufschwungs nach dem Krieg:<br />

B<strong>und</strong>espräsident Theodor Heuss, B<strong>und</strong>eswirtschaftsminister Ludwig Erhard, <strong>Carl</strong> F.W. <strong>Borgward</strong><br />

(v.l.n.r.) auf der IAA Frankfurt/M 1955<br />

Diese Kennzeichnung trifft bei <strong>Borgward</strong> jedoch nur zum Teil. Insbesondere zur<br />

Belegschaft hatte er ein anderes Verhältnis. Wenden wir uns dem Idealbild des


liberalen Kapitalismus zu: Hier orientiert sich das Unternehmerverhalten fast<br />

ausschließlich an den Marktgegebenheiten <strong>und</strong> erkennt die Arbeiter nur als<br />

Individuen an. In der in Deutschland (vor allem in der Phase der Durchsetzung<br />

der Großen Industrie, also zwischen 1850 <strong>und</strong> 1914, gängigen Praxis war dieses<br />

rein marktwirtschaftlich-kapitalistische Unternehmerverhalten (das heute vielleicht<br />

neo-liberal genannt werden würde) patriarchalisch verbrämt <strong>und</strong> in einer<br />

autoritären Weise öffentlich gemacht. Danach fasste der Unternehmer<br />

Beschäftigung für die Arbeiter als Privileg oder “Gnade“ auf. Auch hier trifft die<br />

Charakterisierung für die <strong>Borgward</strong>sche Politik nur zum Teil, man denke<br />

beispielsweise an die Politik des raschen „Heuerns <strong>und</strong> Feuerns“ insbesondere bei<br />

Lloyd, wenn im Frühjahr das Autogeschäft wieder anlief <strong>und</strong> im Herbst stockte<br />

(Ausführlicher siehe unten).<br />

Wir gehen davon aus, dass ein wesentlicher Strang <strong>Borgward</strong>scher Betriebspolitik<br />

in dem Idealbild des „Ideologischen Kapitalismus“, beispielsweise in der Form der<br />

Werksgemeinschaft, zu sehen ist: Der Unternehmer gilt dabei als Führer <strong>und</strong><br />

Vertreter der Belegschaft (im Sinne von Repräsentant), wobei die Belegschaft als<br />

soziale Größe insgesamt akzeptiert wird. Dabei wird der Betrieb bzw. werden<br />

seine „Angehörigen“ als Gemeinschaft definiert.<br />

Keinesfalls war <strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong> typischer Vertreter eines professionellen<br />

Managementkapitalismus. Denn hier werden die sozialen Probleme wissenschaftlich<br />

bzw. pseudo-wissenschaftlich vom Management bearbeitet, was es<br />

bei <strong>Borgward</strong> nicht gab. Gerade die Einsamkeit der Entschlüsse von <strong>Carl</strong><br />

<strong>Borgward</strong> <strong>und</strong> das Fehlen eines professionellen Managements sowie eines<br />

lenkenden Aufsichtsrats als Beratungs- <strong>und</strong> Kontrollorgan ließen <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong><br />

seine persönliche Rolle überschätzen. Die sicher nicht unternehmerfeindliche<br />

“Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat einige treffende Skizzen seines Führungsstils<br />

gezeichnet:<br />

„<strong>Borgward</strong> hat in der Führung seines Unternehmens niemals andere Köpfe gleichberechtigt<br />

neben sich geduldet. Es gab auch keine Teamarbeit. Vielfach verschloss er sein<br />

Ohr selbst denen, die als seine engsten Mitarbeiter <strong>und</strong> Ratgeber dazu berufen waren, ihm<br />

bei der Entscheidung über wichtige <strong>und</strong> diffizile Fragen der Unternehmensführung zu<br />

helfen. Er war <strong>und</strong> blieb ein Fürst, der des Rats seiner Edlen nicht achtete, auch als sein<br />

Reich so groß geworden war, dass ein einzelner es kaum noch ganz zu übersehen <strong>und</strong><br />

allein zu führen vermochte“ (FAZ, 28.10.1961, S. 5).


Karosseriebau des Lloyd LP 300 in der Halle 1 der Lloyd-Motoren-Werke in Bremen-Neustadt (1952)<br />

Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Unternehmer mit r<strong>und</strong> 20.000<br />

Belegschaftsangehörigen, in der Hauptsache gegliedert in drei Automobilwerke,<br />

hatte kein professionelles Management. In dem Arbeitszimmer von <strong>Carl</strong> F. W.<br />

<strong>Borgward</strong> im Stammwerk in Bremen-Sebaldsbrück stand neben dem Schreibtisch<br />

des Chefs nur noch ein weiterer Tisch mit neun Stühlen, auf denen dann die<br />

Leiter der drei Werke Platz nehmen konnten. Einen Konferenzraum oder<br />

Ähnliches gab es nicht.<br />

„Der Spiegel“ gibt eine Reihe von Beispielen, in denen <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> einsame<br />

Entschlüsse traf, oft gegen den Rat seiner Mitarbeiter (Der Spiegel Nr. 51/1960, S.<br />

57 f.). Das ging von technischen Fragen (<strong>Borgward</strong> konstruierte die Maße des<br />

Innenraums der Pkw nach seinen eigenen Körpermaßen als „Sitzriese“) bis hin zu<br />

organisatorischen <strong>und</strong> betriebswirtschaftlichen Fragen. Wenn jemand anderer<br />

Meinung war, wurde er einfach „weggebügelt“, im schlimmsten Fall sofort<br />

entlassen - so der Lloyd-Geschäftsführer Tegtmeier oder der Finanzdirektor<br />

Carstens 1959 (Letzterer wurde dann jedoch wieder eingestellt) - typische<br />

Beispiele für die Willkür, Selbstherrlichkeit <strong>und</strong> zum Teil auch<br />

Selbstüberschätzung des Unternehmers. <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> scheute sich nicht, die<br />

Geschäftsleitungen oft vor den Augen <strong>und</strong> Ohren der Belegschaften<br />

herunterzumachen <strong>und</strong> so deren Autorität zu untergraben, wie der<br />

Betriebsratsvorsitzende der Lloyd-Motoren-Werke, Hans Kammer, oft genug<br />

selbst beobachtet hatte. Zudem konnten die Geschäftsleitungen der drei<br />

Autowerke keine eigenständigen Entschlüsse bei Verhandlungen mit den


Betriebsräten fassen, sondern mussten sich immer mit <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong><br />

rückkoppeln. Sie waren zur Inflexibilität verdammt. Wieder Hans Kammer:<br />

„Es war für uns schwierig, für die Belegschaft etwas umzusetzen, selbst wenn wir mit<br />

der Geschäftsleitung einig geworden waren. Denn sie konnte ja kaum eigene<br />

Zugeständnisse machen. Sie musste sich immer wieder zu <strong>Borgward</strong> rückkoppeln. Die<br />

Geschäftsleitung hat uns Zugeständnisse immer nur unter Vorbehalt angeboten <strong>und</strong><br />

gesagt, das müssen wir erst einmal absegnen lassen. Es ist häufig vorgekommen, dass<br />

die Geschäftsleitung ihr Angebot zurückgezogen hat. Dann hat sie aber nicht gesagt:<br />

<strong>Borgward</strong> hat das untersagt, sondern andere Gründe vorgeschoben“.<br />

Zu einer gewissen Selbstüberschätzung von <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> trugen neben den<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> technischen Erfolgen vor allem in den 1950er Jahren auch<br />

die vielen Ehrungen bei, die er insbesondere vom Staat erhielt: so 1950<br />

anlässlich seines 60. Geburtstages, 1955 die Senatsmedaille; anlässlich seines<br />

65. Geburtstages, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik; vor allem auch die Verleihung der akademischen Würde „Doktor-<br />

Ingenieur ehrenhalber“ durch die Technische Hochschule Hannover (1950) an<br />

einen Mann, der sich in seiner Jugendzeit weitergehende Studien aus<br />

finanziellen Gründen versagen musste <strong>und</strong> nun die längst fällige (akademische)<br />

Anerkennung für seine Fähigkeiten als Ingenieur erhielt.<br />

Eine solche autoritäre, mit Versatzstücken der Ideologie des „totalen Betriebes“<br />

(Werksgemeinschaft) gespickte Unternehmerhaltung bedeutet nun nicht, dass der<br />

Inhaber ein Tyrann gewesen ist. <strong>Borgward</strong> war geprägt von handwerklichen<br />

Idealvorstellungen, die sich am Kleinbetrieb orientierten <strong>und</strong> insofern<br />

angesichts der Massenbelegschaften <strong>und</strong> Markterfordernisse einfach<br />

anachronistisch waren - man denke nur einmal an die Gestaltung des<br />

Arbeitstages von <strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong>, wie ihn sein Sohn Peter schildert:<br />

„Jeden Morgen ging mein Vater von unserem Haus zu Goliath. Er war dann ca. eine<br />

St<strong>und</strong>e dort. Und dort wurde er von seinem Wagen abgeholt <strong>und</strong> nach Sebaldsbrück<br />

gefahren. Jeden Tag. Einmal in der Woche, Mittwoch nachmittags, fuhr er zu Lloyd.“<br />

<strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> ging eben, in seinem Bewusstsein, „von Werkstatt zu Werkstatt“<br />

<strong>und</strong> nicht von Automobilfabrik zu Automobilfabrik, denen der schärfste<br />

Konkurrenzwind um die Nase wehte. Typisch ist dafür auch die (sympathische) Art<br />

des Inhabers, nicht nur abstrakt von oben zu befehlen. <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> machte<br />

Verbesserungen den Arbeitern konkret vor <strong>und</strong> bewies so eine fachlich-sachliche


Autorität, die Vorbild <strong>und</strong> Ansporn zugleich war:<br />

„Wenn ein Arbeiter etwas falsch gemacht hat <strong>und</strong> er (<strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong>, Anm. d. V.) sah<br />

das bei seinen Werkstattbesuchen, nahm er dem Arbeiter das Stück aus der Hand <strong>und</strong><br />

sagte: Das musst du so <strong>und</strong> so machen. Er ist also tatsächlich durch den Betrieb<br />

gegangen <strong>und</strong> hat nicht nur gehen lassen“ – so ein Betriebsratsmitglied im <strong>Borgward</strong><br />

Stammwerk in Bremen-Sebaldsbrück.<br />

Das Verhältnis des Unternehmers zu den Arbeitern <strong>und</strong> die betriebliche<br />

Beschäftigungspolitik<br />

Zwar war <strong>Borgward</strong> ganz wesentlich geprägt von handwerklichen<br />

Idealvorstellungen, auf der anderen Seite jedoch akzeptierte er die<br />

Gewerkschaften <strong>und</strong> vor allem den Betriebsrat im Stammwerk Bremen-<br />

Sebaldsbrück als Verhandlungsorgan. Noch wichtiger jedoch war, dass <strong>Carl</strong><br />

<strong>Borgward</strong> - zumindest in Ansätzen - akzeptierte, dass die Arbeitnehmer seiner<br />

Werke arbeitstätige Individuen waren, deren jeweiliges Schicksal mit einem<br />

bestimmten Berufsschicksal verb<strong>und</strong>en war.<br />

Anlässlich seines 60. Geburtstages im November 1950 gab er den „Bremer<br />

Nachrichten“ (10.11.1950) ein Interview, das treffend seine Beziehung zum<br />

Betrieb, zur Arbeit <strong>und</strong> zur Belegschaft widerspiegelt:<br />

„Die Arbeit ist es, die meinen Motor vorantreibt. Das war die größte Schwierigkeit nach<br />

dem Kriege, in den Menschen wieder den Sinn für die Arbeit zu wecken ... Erst jetzt kann<br />

man wieder von einer wirklichen Arbeitsgemeinschaft sprechen. ... Ich selbst bin der<br />

Diener meines Werkes. Das Unternehmen muss immer vorwärts gehen. Es treibt einen<br />

voran. Eine dynamische Kraft ist das“.<br />

<strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong> ist ein Prototyp für unsere These, dass ein Unternehmer nicht<br />

nur als Eigentümer von Kapital handelt, sondern zugleich beruflich-inhaltliche<br />

Interessen verfolgt. Nimmt man dies alles zusammen, so ist die Charakteristik der<br />

Londoner Times nur unzureichend:<br />

„Dr. <strong>Borgward</strong> ist in mehr als einer Hinsicht ein Anachronismus, ein großer<br />

Geschäftsmann ohne Geschäftssinn, der seine Firma wie irgendein privates<br />

Steckenpferd betrieb. Seine Methode der Betriebsführung enthielt alle Eigenheiten eines<br />

altmodischen Paternalismus“ (The TIMES, zitiert nach Die Welt, 08.02.1961).<br />

Denn ein derart widersprüchliches Unternehmerverhalten - geprägt von


Vorstellungen des Familienkapitalismus, aber auch vom liberalen (Manchester-)<br />

<strong>und</strong> vor allem vom ideologischen Kapitalismus (Werksgemeinschaft) - produziert<br />

auch eine widersprüchliche Betriebspolitik, wie sie bei <strong>und</strong> von <strong>Borgward</strong> betrieben<br />

wurde, <strong>und</strong> die war nicht ausschließlich anachronistisch.<br />

Wir gehen davon aus, dass die Betriebspolitik <strong>Borgward</strong>s in der Hauptsache ein<br />

Gemisch aus autoritär-patriarchalischen <strong>und</strong> sozialindividualistisch-<br />

werksgemeinschaftlichen Versatzstücken war. Die autoritär-patriarchalische<br />

Betriebspolitik orientiert sich in ihren unterschiedlichen Ausformungen sowohl an<br />

den Anforderungen an das Unternehmerverhalten des Familienkapitalismus als<br />

auch des in Deutschland in einer spezifischen Form praktizierten liberalen<br />

Kapitalismus. Sie beharrt auf dem Standpunkt einer Herr-im-Hause-Politik.<br />

Die sozialindividualistisch-werksgemeinschaftliche Betriebspolitik, die mehr<br />

Ausdruck eines ideologischen Kapitalismus ist, geht von einer Interessenidentität<br />

von Arbeiter <strong>und</strong> Unternehmer aus. Sie hat vor allem die Erziehung der Arbeiter<br />

zu einer so genannten Werks- oder Betriebstreue zum Ziel. Bewirkt werden soll<br />

dies durch ein System von Unterstützungs- <strong>und</strong> Werkerziehungseinrichtungen -<br />

zum Beispiel verschiedene Unterstützungskassen, technische <strong>und</strong> vielseitige<br />

Ausbildung des Nachwuchses, Werkszeitungen usw.<br />

Diese mehr ideologischen Integrationsversuche wurden in der <strong>Borgward</strong>-Praxis<br />

ergänzt durch Bruchstücke einer aufgeklärten Betriebspolitik: <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong><br />

unterstellte letztlich keine Interessenidentität von Arbeitern <strong>und</strong> Unternehmern,<br />

sondern ging davon aus, dass Arbeiter <strong>und</strong> Unternehmer unterschiedliche, aber<br />

durchaus miteinander zu harmonisierende Interessen hatten.<br />

Insofern gab es auch damals nicht das Schlagwort von der großen „<strong>Borgward</strong>-<br />

Familie“, das erst nach 1961 (nach dem Zusammenbruch des <strong>Borgward</strong>-<br />

Imperiums) aufkam <strong>und</strong> letztendlich mehr zur Mystifizierung denn zur Aufklärung<br />

beitrug.<br />

Daran ändert auch nichts, dass <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> anlässlich bestimmter Ereignisse<br />

auch die Belegschaft teilhaben ließ - seien es seine Geburtstage,<br />

Rennsporterfolge oder die Fertigstellung des einh<strong>und</strong>erttausendsten Lloyds.<br />

Nebenbei sei vermerkt, dass diese Festtage auch immer medienwirksam gefeiert<br />

wurden <strong>und</strong> einen erheblichen Stellenwert in der Werbestrategie <strong>Borgward</strong>s<br />

einnahmen.


Sei es nun der mehr ideelle Dank, den die Rennfahrer nach erfolgreich<br />

abgeschlossenen Rekordversuchen 1950 in Monthlery/Frankreich an die<br />

Belegschaft richteten (Aushang des Betriebsrats Bremen-Sebaldsbrück vom<br />

14.09.1950):<br />

„An die Belegschaft der<br />

Firma <strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong> GmbH<br />

Bremen - Sebaldsbrück<br />

Betr.: Erfolgreich abgeschlossene Rekordversuche Linas-Monthlery<br />

Im Namen aller Fahrer <strong>und</strong> unserer Firma <strong>und</strong> vor allem im Namen unseres Herrn<br />

Oberingenieur August Momberger möchten wir nicht versäumen, der gesamten<br />

Belegschaft der <strong>Borgward</strong>werke, Bremen, noch einmal unseren aufrichtigen Dank für die<br />

tatkräftige Mitarbeit bei dem Bau des Rekordwagens zum Ausdruck zu bringen... . Mit dem<br />

Dank der Fahrer richten diese die Bitte an die Belegschaft, nicht auf diesen Lorbeeren<br />

auszuruhen, sondern intensiv weiterzuarbeiten, um den <strong>Borgward</strong>-Erzeugnissen den Wert<br />

zu geben, den sie verdienen. Vergesst nicht, Ruhm verpflichtet.<br />

Inka GmbH<br />

im Namen aller Fahrer! gez. [Unterschriften]“.<br />

Oder sei es, dass <strong>Borgward</strong> zu seinen Geburtstagen für die Belegschaftsmitglieder<br />

ein Paket mit Kaffee, Schnaps <strong>und</strong> Tabak weiterleiten oder zu anderen Jubiläen<br />

auch mal ein Auto unter der Belegschaft verlosen ließ.<br />

Es trifft einerseits recht gut, was Sohn Peter <strong>Borgward</strong> in einem Vergleich über das<br />

Verhältnis seines Vaters zur Belegschaft ausdrücken wollte:<br />

„Wenn Sie einen geschäftlichen Erfolg haben <strong>und</strong> würden statt mit Ihrer Frau mit der<br />

Belegschaft in Urlaub fahren mit der Begründung: Ich nehme die am Erfolg<br />

Beteiligten mit, <strong>und</strong> wir machen eine Dampferfahrt - dann war das so, wie mein Vater die<br />

Belegschaft gesehen hat“.<br />

Andererseits war <strong>Borgward</strong> jedoch - <strong>und</strong> musste es aufgr<strong>und</strong> seiner Situation als<br />

Unternehmer sein - auch <strong>Kapitalist</strong>, der seine Eigentumsrechte gegenüber der<br />

Belegschaft ausnutzte <strong>und</strong> bei Bummelei, unentschuldigtem Fehlen, Zu-Spät-<br />

Kommen etc. entsprechende Strafen verhängte.<br />

Auch bei Lohnerhöhungen <strong>und</strong> Weihnachtsgratifikationen, die damals sehr gering<br />

waren, ging es hart her: „Da gab es immer ein Jammern, ein Lamentieren seitens<br />

von Herrn <strong>Borgward</strong>“ (Lloyd-Betriebsratsvorsitzender Hans Kammer). Der<br />

Unternehmer dachte natürlich an seine <strong>Rentabilität</strong> <strong>und</strong> war zugleich von


schweren Liquiditätssorgen geplagt, die er aber hartnäckig in Kauf nahm als Preis<br />

für seine individuelle Unabhängigkeit.<br />

In persönlichen Kontakten mit den „einfachen“ Belegschaftsangehörigen, die über<br />

technische <strong>und</strong> organisatorische Aufgaben hinausgingen, war <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong><br />

seltsam gehemmt - ob das nun an der ihm zugeschriebenen Kontaktarmut lag<br />

oder aber Indiz dafür war, dass er sich doch nicht als „Vater“ seiner Belegschaft<br />

verstand, sei dahingestellt.<br />

Auf jeden Fall trug dieses auch mit zu einer Verklärung des Bildes bei, das die<br />

meisten Belegschaftsangehörigen sich von <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> machten. Denn ein<br />

allzu enger Kontakt, der dann ins Alltägliche abgerutscht wäre, hätte sicher viel<br />

„entzaubert“. So konnte das entstehen <strong>und</strong> sich auch festsetzen, was ein seit<br />

1935 bei <strong>Borgward</strong>-Sebaldsbrück Beschäftigter (zuletzt 1961 in der Funktion eines<br />

Werkmeisters) folgendermaßen ausdrückte:<br />

„Ich war damals in der Halle 3 beschäftigt. Da kam jeden Morgen <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> hinten in<br />

das Werk durch die Halle 3. Ich arbeitete dort an der ersten Reihe <strong>und</strong> er ging<br />

dauernd an mir vorbei ... Und wie soll ich das sagen, wie ich das empf<strong>und</strong>en habe, dass er<br />

das gebaut hatte? Ich fand das eigentlich ganz groß von dem Mann“.<br />

Und ein ebenfalls seit 1935 im <strong>Borgward</strong>-Stammwerk beschäftigter<br />

Autoschlosser ergänzte:<br />

„Ja, für mich war Herr <strong>Borgward</strong> „der Mann“. Ich mochte ihn gerne. Wenn ich auch nicht<br />

persönlich viel mit ihm zu tun gehabt habe, aber er war ein Mann mit Ideen, die er auch<br />

versucht hat durchzusetzen. Und die Sozialleistungen, die waren auch nicht schlecht“.<br />

Ähnlich komplex war auch das Verhältnis <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong>s zu dem Betriebsrat. Es<br />

war vor allem die Person des <strong>Borgward</strong>-Betriebsratsvorsitzenden im Stammwerk,<br />

Ernst Buchholz, gewesen, dem der Unternehmer <strong>Borgward</strong> in gewissen Grenzen<br />

Respekt <strong>und</strong> Mitwirkung anbot - wobei <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> Ernst Buchholz aus seinem<br />

Büro „vorne hinauswarf“, Ernst Buchholz aber dank seiner Zähigkeit <strong>und</strong> seines<br />

Selbstbewusstseins immer wieder „hinten hereinkam“ - so die Beobachtung des<br />

Betriebsratsvorsitzenden der Goliath-Werke, Hinrich Neebuhr.<br />

<strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> versuchte - trotz <strong>und</strong> gerade wegen seiner Anerkennung von<br />

gewerkschaftlicher <strong>und</strong> betrieblicher Interessenvertretung - auch in der<br />

Betriebspolitik die handwerklichen Vorstellungen durchzusetzen. Diese


Vorstellungen beruhten vor allem auf der Basis der ganzheitlichen Produktion<br />

<strong>und</strong> der personalen Beziehungen, wie sie mit Ernst Buchholz als Person (<strong>und</strong> als<br />

Handwerker) <strong>und</strong> eben nicht mit dem Betriebsrat als Institution gepflegt wurden.<br />

<strong>Borgward</strong>s (begrenzte) Bereitschaft zur Kooperation mit Betriebsrat <strong>und</strong><br />

Gewerkschaft widersprach also nicht seinen teils handwerklich, teil<br />

werksgemeinschaftlich geprägten Vorstellungen vom Verhältnis Belegschaft -<br />

Unternehmer, denn für ihn waren sowohl der Betriebsrat als auch die Gewerkschaft<br />

in dem Betriebsratsvorsitzenden Ernst Buchholz personifiziert.<br />

Hinzu kam, dass Buchholz „seine“ Belegschaft „im Griff“ hatte <strong>und</strong> damit ihr<br />

Verhalten auch für <strong>Borgward</strong> eher kalkulierbar machte, so dass die Unterhaltung<br />

guter Beziehungen zu Buchholz für <strong>Borgward</strong> auch ganz handfeste Vorteile versprach<br />

- <strong>und</strong> umgekehrt.<br />

Die Beschäftigungspolitik der <strong>Borgward</strong>-Unternehmensgruppe stand in engem<br />

Zusammenhang mit der Saisonabhängigkeit der Automobilindustrie. Im Herbst <strong>und</strong><br />

Winter wurde im allgemeinen die Produktion gedrosselt - <strong>und</strong> dennoch wurde auf<br />

Halde produziert -, während im Frühjahr <strong>und</strong> Sommer mehr produziert <strong>und</strong> darüber<br />

hinaus die im Herbst <strong>und</strong> Winter gewachsene Halde weitgehend durch eine<br />

erhebliche Nachfrage abgebaut wurde.<br />

Diese Saisonabhängigkeiten waren in Teilbereichen der <strong>Borgward</strong>-Gruppe<br />

besonders stark ausgeprägt. Die Personalpolitik der Gruppe war nun darauf<br />

ausgerichtet, im Herbst - <strong>und</strong> besonders kurz vor Weihnachten - immer eine<br />

erhebliche Anzahl vor allem von Arbeitern zu entlassen, die dann im Frühjahr wieder<br />

eingestellt wurden. Dabei wurde die Stammbelegschaft kaum von den Entlassungen<br />

tangiert; es waren vor allem die Ungelernten <strong>und</strong> diejenigen, die relativ kurz im<br />

Betrieb waren <strong>und</strong> eine geringe betriebliche Integration aufwiesen, die das Gros<br />

einer solchen „Reservearmee“ stellten.<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage der organisatorisch-ökonomisch-rechtlichen Konstruktion der<br />

<strong>Borgward</strong>-Gruppe entwickelten sich in den verschiedenen Werken<br />

unterschiedliche Beschäftigungspolitiken: Im <strong>Borgward</strong>-Stammwerk wurde die<br />

Belegschaftsstärke nicht in dem Maße reduziert wie in den beiden anderen Werken<br />

Goliath <strong>und</strong> Lloyd, obwohl auch im ersteren saisonal <strong>und</strong> konjunkturell bedingte<br />

Absatzbeschränkungen gegeben waren. So kann für Bremen-Sebaldsbrück<br />

festgestellt werden, dass Veränderungen der Auftragslage nur mit großer zeitlicher


Verzögerung in der Beschäftigung wirksam wurden. Das „Hire-and-fire“-Prinzip<br />

konzentrierte sich auf die Goliath- <strong>und</strong> vor allem die Lloyd-Motoren-Werke.<br />

Hier fallen Gemeinsamkeiten mit den Beschäftigungspolitiken (mit dem<br />

Schwerpunkt der Entlassungspolitik) der deutschen <strong>und</strong> amerikanischen<br />

Automobilindustrie auf.<br />

Während das in den USA dominierende „Hire-and-fire“-Prinzip (das dort gepaart<br />

war mit weitgehenden Senioritätsregeln) eher der Beschäftigungspolitik bei Lloyd<br />

entsprach, ähnelte die in der deutschen Automobilindustrie vorherrschende<br />

Verstetigung der Beschäftigungspolitik eher jener des <strong>Borgward</strong>-Stammwerks - wenn<br />

auch jeweils aus anderen, auch durch die unterschiedlichen Beobachtungszeiträume<br />

zu erklärenden Gründen.<br />

Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Beschäftigungspolitik in den Lloyd-<br />

Motoren-Werken <strong>und</strong> im <strong>Borgward</strong>-Stammwerk <strong>und</strong> dem (relativ geringen) Grad der<br />

Rationalisierung war nicht gegeben: Laut Unternehmensgutachten erfolgte in beiden<br />

Werken eine, durch viele handwerkliche Versatzstücke geprägte, industrielle<br />

Serienfertigung auf etwa gleichem organisatorischen Niveau.<br />

Die so beschriebenen Zusammenhänge <strong>und</strong> die Denk- <strong>und</strong> Verhaltensweisen von<br />

<strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> selbst sollten dann zu einer wesentlichen, wenn auch keineswegs<br />

alleinigen Ursache für den Niedergang des Unternehmens werden. Dies lässt sich<br />

zunächst anhand der <strong>Borgward</strong>schen Geschäftspolitik zeigen.<br />

Die Geschäftspolitik bei <strong>Borgward</strong><br />

Drei Automobilwerke, drei Beschaffungssysteme für Rohstoffe <strong>und</strong> Halbfabrikate,<br />

drei Produktionsstätten, drei Ersatzteillager, drei Verwaltungen, drei voneinander<br />

getrennte Verkaufs-, Werbungs- <strong>und</strong> K<strong>und</strong>endienstorganisationen bedeuteten<br />

dreifache Kosten. Ein zweites wesentliches Merkmal <strong>Borgward</strong>scher Geschäftspolitik<br />

war die Typenvielfalt der „Handwerksbude“ <strong>Borgward</strong>, die aber auf der anderen Seite<br />

oft genug technische Spitzenleistungen repräsentierte. Der Spiegel schrieb hierzu<br />

1960:<br />

„Vorangetrieben von seiner fast manischen Konstruierwut, ... hält die <strong>Borgward</strong>-<br />

Gruppe auf dem deutschen Markt das umfänglichste <strong>und</strong> weitestgefasste<br />

Personenwagen-Angebot aller deutschen Automobilwerke feil. ... Ein derartig


allumschlingendes Personenwagen-Programm (<strong>Borgward</strong> baut außdem Lastwagen)<br />

hätte die Kapazität eines Konzerns von General-Motors-Ausmaßen voll beansprucht.<br />

Dass es die Kräfte des Hauses <strong>Borgward</strong> übersteigt, hat sich in den vergangenen<br />

zwölf Jahren mehrmals erwiesen.“ (Der Spiegel, 1960, S. 52 f.)<br />

<strong>Borgward</strong> Isabella Coupé (links) <strong>und</strong> Lloyd 600 (rechts) vor dem <strong>Borgward</strong>-Museum Wischnewski,<br />

Bruchhausen-Vilsen (2006)<br />

Der Vorwurf, <strong>Borgward</strong> habe sich übernommen, umfasste auch die Produktionstiefe.<br />

<strong>Borgward</strong> wollte möglichst viel im eigenen Haus herstellen lassen. Anders als die<br />

übrigen deutschen Automobilwerke hatte die <strong>Borgward</strong>-Gruppe eine eigene<br />

Gießerei, Gesenkschmiede, Leichtmetallgießerei <strong>und</strong> ein Zahnradwerk. Hier deutet<br />

sich bereits ein ganz entscheidenes Problem der Geschäftspolitik bei <strong>Borgward</strong> an;<br />

seine Anschauungen über Organisation, Gestaltung langfristiger finanzieller<br />

Planungen, kaufmännisch-juristischer etc. Möglichkeiten waren zu sehr<br />

rückwärtsgewandt. Dies <strong>und</strong> die viel zu kurze Kapitaldecke <strong>und</strong> unzureichende<br />

Finanzierungsmöglichkeiten bestimmten auch den Grad der Automatisierung <strong>und</strong> die<br />

Arbeitsorganisation.<br />

Zwar kann nicht übersehen werden, dass gerade ab 1957/58 der Grad der


Automatisierung erhöht wurde. Beispielsweise wurde in den Lloyd-Motoren-Werken die<br />

Zahnradabteilung auf Halbautomaten umgerüstet, <strong>und</strong> man hat sogar Vollautomaten<br />

einbezogen, im Aggregatebau wurden Maschinen <strong>und</strong> Bänder angeschafft, die auf eine<br />

halbautomatische Produktion hinausliefen. Aber fehlende finanzielle Mittel <strong>und</strong> zu geringe<br />

Stückzahlen ließen diesen, für das längerfristige Überleben des Unternehmens<br />

notwendigen Prozess unvollendet.<br />

Vergleicht man nun die <strong>Carl</strong> <strong>Borgward</strong> GmbH (Stammwerk mit Isabella-Produktion<br />

im PKW-Bereich) beispielsweise mit der Daimler-Benz AG (in diesen Bereich wollte <strong>Carl</strong><br />

<strong>Borgward</strong> mit seinem „P 100“ aufsteigen), so war die Arbeitsproduktivität bei Daimler um<br />

r<strong>und</strong> 43 Prozent (!) höher als im <strong>Borgward</strong>-Stammwerk -- obwohl auch Daimler für seine<br />

handwerkliche Produktion berühmt war. Ein Vergleich von Goliath <strong>und</strong> Lloyd mit VW ergibt<br />

sogar, dass bei VW die Arbeitsproduktivität um über 100 Prozent höher war. (<strong>Borgward</strong><br />

1967, S. 56 ff.) Der geringe technische Automatisierungsgrad stand in einem direkten<br />

Zusammenhang mit der unzureichenden Arbeitsorganisation, für dessen Verbesserung<br />

sich im übrigen oft genug, allerdings vergeblich, die Betriebsräte eingesetzt hatten. Aber<br />

gerade hier wird der Teufelskreis deutlich: Aufgr<strong>und</strong> der enormen Typenvielfalt <strong>Borgward</strong>s<br />

konnten nur geringe Stückzahlen produziert werden, die einen höheren Grad an<br />

Automatisierung nicht zuließen. Dies wiederum bedeutete geringe Arbeitsproduktivität,<br />

damit war ein hoher Kostenanteil verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> so konnte auch die chronische<br />

Finanzknappheit nicht gelindert werden.<br />

<strong>Borgward</strong> lebte, finanziell gesehen, von „der Hand in den M<strong>und</strong>“. Wenn der Verkauf<br />

irgendwo stockte, konnte <strong>Borgward</strong> nur mühsam Löhne <strong>und</strong> Gehälter zahlen. Er konnte das<br />

Geld für die Materialien nicht aufbringen, die als fertige Produkte unverkauft auf dem Hof<br />

standen. Denn das System der Lieferantenkredite (bei einem Umsatz von r<strong>und</strong> 627 Mio.<br />

DM im Jahre 1960 hatte <strong>Borgward</strong> ständig Außenstände bei seinen Lieferanten von<br />

130 Mio. DM!) war so aufgebaut, dass die Kredite nur bei ungestörtem Absatz<br />

zurückbezahlt werden konnten. Wenn nun die Zulieferfirmen hörten, dass der Verkauf<br />

stockte, dann drängten sie auf Einhaltung der Zahlungsziele, <strong>und</strong> schon gab es<br />

Schwierigkeiten. Letztlich konnten bei <strong>Borgward</strong>s minimaler Eigenkapitalausstattung <strong>und</strong><br />

dem Fehlen langfristiger Kredite längere Durststrecken nicht bewältigt werden.<br />

Für die fünftgrößte Automobilfabrik der B<strong>und</strong>esrepublik war das Gr<strong>und</strong>kapital (am<br />

31. Dezember 1955 11,3 Mio. DM im Vergleich zur Bilanzsummevon 184,6 Mio<br />

DM) einfach zu gering, um angemessen wirtschaften <strong>und</strong> für die Banken als potentiellen<br />

Kreditgebern eine ausreichende Sicherheit bieten zu können.


<strong>Borgward</strong>-Arabella, eingerahmt von diversen Lloyds (rechts) <strong>und</strong> Goliath Dreirad (links) im <strong>Borgward</strong>-<br />

Museum Wischnewski, Bruchhausen-Vilsen (2006)<br />

So betrug bei VW der Anteil des Gr<strong>und</strong>-/Stammkapitals an der Bilanzsumme 10,5<br />

Prozent, bei BMW 31,1 Prozent, bei <strong>Borgward</strong> jedoch nur 6,1 Prozent. (<strong>Borgward</strong>,<br />

1967, Tab. 6 ff.) Die Rechtskonstruktion der <strong>Borgward</strong>-Gruppe ließ auch keine<br />

Kapitalerhöhung zu. Zudem war die Konzernmutter „<strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong>“ als<br />

Einzelunternehmen nicht publizitätspflichtig wie zum Beispiel eine Aktiengesellschaft.<br />

Auch konnte <strong>Borgward</strong> seine Entscheidungen allein treffen - ohne mit anderen die<br />

Führung der Geschäfte teilen zu müssen. Dieses verstärkte den ohnehin<br />

patriarchalischen Managementstil bei <strong>Borgward</strong>, der - als es Ende der fünfziger Jahre<br />

um Entscheidungen wie Verbreiterung der Finanzierungsbasis, Typenbereinigung<br />

etc. ging - fatale Folgen haben sollte.


Der Anfang vom Ende<br />

Der Zusammenbruch des bremischen Automobilbauers liegt mittlerweile fast ein<br />

halbes Jahrh<strong>und</strong>ert zurück. Doch die Diskussionen um den Konkurs im Jahre 1961<br />

sind bis heute nicht verstummt 2 . Was war geschehen?<br />

„In ganz Bremen gibt es heute nur ein Thema, das in der Straßenbahn, in den<br />

Werkstätten <strong>und</strong> Büros ebenso leidenschaftlich diskutiert wird wie bei den offiziellen<br />

Stellen im Rathaus der Hansestadt: Die Krise bei den zur <strong>Borgward</strong>-Gruppe<br />

gehörenden drei Automobilwerken <strong>Borgward</strong>, Goliath <strong>und</strong> Lloyd. Die Verschuldung<br />

der drei Werke wird mit r<strong>und</strong> 200 Mio. Mark ausgewiesen. Angesichts dieser Situation<br />

ist der Konzern nicht mehr in der Lage, seinen Zahlungsverpflichtungen<br />

nachzukommen. Während sich auf den freien Werksflächen die neu produzierten,<br />

aber nicht absetzbaren Fahrzeuge immer mehr sammeln, geht es in den offiziellen<br />

Stellen jetzt in erster Linie um die Erhaltung der Arbeitsplätze bzw. um eine<br />

anderweitige Existenzsicherung für die fast 20000 in der Bremer Automobilindustrie<br />

beschäftigten Arbeitnehmer.“<br />

Mit diesem Aufmacher begann eine dreistündige Sondersendung Radio Bremens am<br />

31. Januar 1961 über die aktuelle Situation der bremischen Automobilindustrie.<br />

Am 30. Januar hatte Wirtschaftssenator Karl Eggers eine Pressekonferenz gegeben,<br />

in deren Verlauf er den versammelten Journalisten u.a. berichtete: (Der Spiegel<br />

1961)<br />

„Die Firma <strong>Borgward</strong> sei erheblich verschuldet. Sie habe r<strong>und</strong> 200 Mio. Mark<br />

Schulden, davon etwa 80 Mio. Mark Bankverpflichtungen <strong>und</strong> 120 Mio. offenstehende<br />

Rechnungen der Lieferanten. Von den Forderungen der insgesamt 2200<br />

Gläubiger seien mehr als die Hälfte überfällig. Es müsse mit einer Einstellung der<br />

Zahlungen, möglicherweise sogar damit gerechnet werden, dass Löhne <strong>und</strong> Gehälter<br />

nicht rechtzeitig gezahlt werden können. Angesichts dieser Situation plane der Senat<br />

die Errichtung einer Auffang-Gesellschaft in Form einer AG, die mit einem Kapital bis<br />

zu 50 Mio. Mark ausgerüstet werden solle. Es werde nunmehr an Dr. <strong>Borgward</strong><br />

liegen, dieser neuen Gesellschaft eine Generalvollmacht auszustellen <strong>und</strong> ihr die<br />

Geschäftsführung zu übertragen.“ Mit dieser Erklärung des Bremer<br />

2 Zuletzt Hartwig, Engelbert, Musste Isabella sterben? Die Tragödie der <strong>Borgward</strong>-Gruppe, Bremen<br />

2001. Sogar eine literarische Auferstehung hat der Konzern zwischenzeitlich erfahren (Berse,<br />

Andreas, <strong>Borgward</strong> lebt – Auferstanden aus Intrigen, Bielefeld 2006).


Wirtschaftssenators begann das Schlusskapitel der Geschichte eines Unternehmens,<br />

das wie kein zweites in Bremen, ja in der B<strong>und</strong>esrepublik, das Wirtschaftsw<strong>und</strong>er<br />

symbolisierte.<br />

<strong>Borgward</strong> B 611, gebaut kurz vor dem Zusammenbruch 1961, früher Kleinbus (18 Sitze), seit 1985<br />

umgebaut <strong>und</strong> genutzt als Campingbus durch Tholen


<strong>Borgward</strong> als größter privater Automobilkonzern in der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> größter<br />

privater Steuerzahler im Lande Bremen hatte in nur einem Jahrzehnt zwischen<br />

1950 <strong>und</strong> 1960 einen rasanten Aufschwung genommen. Von 1950 bis 1960<br />

steigerten sich Umsatz <strong>und</strong> Stückzahlen von 22500 auf 97538 um r<strong>und</strong> das<br />

Vierfache, die Belegschaft immerhin noch um 13,7 Prozent auf zuletzt 22724. Damit<br />

arbeiteten r<strong>und</strong> 7 Prozent aller im Lande Bremen unselbstständig Beschäftigten in<br />

den <strong>Borgward</strong>-Werken. Innerhalb des Kernstücks der Verarbeitenden Industrie, der<br />

Investitionsgüterindustrie mit ihrer erheblichen Sogwirkung auf andere Branchen,<br />

stellte <strong>Borgward</strong> sogar 40 Prozent der Beschäftigten. (BAW 1961, S. 48 ff.)<br />

In der B<strong>und</strong>esrepublik erfolgte nach einem kleinen Einbruch des Inlandabsatzes von<br />

1951 bis 1953 die vor allem durch die private Pkw-Nachfrage bestimmte Boomphase der<br />

Automobilproduktion. (<strong>Borgward</strong> 1967, S. 27) Zunächst hatte <strong>Borgward</strong> mit seinen soliden <strong>und</strong><br />

bewährten Lkws, den berühmten (<strong>und</strong> zum Teil auch berüchtigten) Lloyd-Kleinwagen<br />

(Leukoplast-Bomber) <strong>und</strong> der heutzutage legendären Isabella-Produktion großen<br />

Anteil an dem Boom: So nahm die <strong>Borgward</strong>-Gruppe 1955 wie auch 1960 nach den<br />

vier Großen (VW, Opel, Ford, Daimler-Benz) den fünften Platz ein, aber ihr<br />

Marktanteil sank in diesem Zeitraum allein im PKW-Bereich von 12,5 auf 4,7 Prozent.<br />

(Deutsche Warentreuhand-AG 1961, S. 19) Aber auch was die absoluten Stückzahlen<br />

anbetrifft, verzeichnete die <strong>Borgward</strong>-Gruppe nach 1955 einen erheblichen<br />

Produktionsrückgang im Pkw-Geschäft. Hingegen konnten die ersten Vier <strong>und</strong> die<br />

Nummer Sechs (Auto-Union) ihre Pkw-Produktion steigern, wenn auch in<br />

unterschiedlichem Ausmaß. Einer von mehreren Gründen für den Rückgang ist in<br />

dem veränderten PKW-Käufer-Verhalten zu suchen. Die zumeist privaten<br />

Nachfrager wandten sich verstärkt den Modellen der Mittelklasse zu. Nun waren die<br />

Lloydprodukte (Kleinwagen mit höchstens 600 ccm <strong>und</strong> 25 PS) nicht mehr so<br />

gefragt.<br />

Der Versuch des Lloyd-Werkes, mit der „Arabella“ (900 ccm, 38 PS) dem veränderten<br />

Käuferverhalten Rechnung zu tragen, scheiterte zum Teil an einem Montagefehler,<br />

aufgr<strong>und</strong> dessen viele Wagen ins Werk zurückgerufen werden mussten. Dies<br />

bedeutete zusätzliche Kosten <strong>und</strong> hatte ein Abwandern der K<strong>und</strong>schaft zu anderen<br />

Marken zur Folge. Die Arabella-Mängel trugen wesentlich mit zu der Liquiditätskrise<br />

bei, in die <strong>Borgward</strong> im Herbst 1960 geriet. Letztlich lagen die Ursachen für die auch<br />

bei anderen <strong>Borgward</strong>-Modellen zunächst häufig auftretenden Mängel in der zu kurzen<br />

finanziellen Decke des Konzerns, die lange Probezeiten nicht erlaubte. Zudem war die


Arabella mit dem Lloyd-Zeichen „stigimatisiert“: Was 1950 beliebt war, weil es den<br />

Einstieg in die Motorisierung erlaubte, war 1960 mit dem „Arme-Leute-Geruch“<br />

behaftet. Eine ähnliche Abwärtstendenz lässt sich auch für die <strong>Borgward</strong>-Lkws zeigen,<br />

obwohl gerade hier Chancen bestanden hätten, einer der „Großen“ auf dem Markt zu<br />

werden. Die Marktanteile von <strong>Borgward</strong> an der b<strong>und</strong>esdeutschen Lkw-Produktion<br />

gingen schon seit 1950 drastisch zurück. Zwischen 1950 <strong>und</strong> 1960 verlor <strong>Borgward</strong><br />

r<strong>und</strong> zwei Drittel seines Marktanteils im Lkw-Bereich. (Deutsche Warentreuhand-AG<br />

1961, S. 19)<br />

Die Fahrt in die Pleite<br />

Am Jahresende 1960 schlossen die Bilanzen der drei Produktionsgesellschaften der<br />

<strong>Borgward</strong>-Gruppe mit 30 Mio. DM Verlust ab. Trotz erheblicher<br />

Produktionsdrosselungen sammelten sich bis zum Jahresende mehrere Tausend<br />

unverkaufter Fahrzeuge bei <strong>Borgward</strong> an. Bei einem solchen Rückgang der<br />

Einnahmen aus Verkaufserlösen musste das ohnehin brüchige Gebäude des<br />

<strong>Borgward</strong>schen Finanzierungssystems über Lieferantenkredite einstürzen. Der<br />

Konzern benötigte Hilfe von außen, um zahlungsfähig zu bleiben.<br />

Bereits im Oktober 1960 erschien <strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong> bei Bürgermeister Kaisen <strong>und</strong><br />

erklärte: (Bremische Bürgerschaft 1961, S. 6) „Ich brauche 50 Mio. DM, sonst muss<br />

ich in wenigen Tagen die Zahlungen einstellen <strong>und</strong> meine r<strong>und</strong> 23000 Leute<br />

entlassen.“ Daraufhin bewilligte ein Konsortium von Landesbanken unter der Führung<br />

der Bremer Landesbank einen Kredit von 50 Mio. DM. Der Kredit wurde durch eine<br />

Eintragung von Gr<strong>und</strong>schulden auf den (bis dahin völlig unbelasteten!) Werksbesitz<br />

gesichert. Die Freie Hansestadt Bremen übernahm eine Spitzenbürgschaft in Höhe<br />

von bis zu 10 Mio. DM. Mitte Dezember 1960 wandte sich <strong>Borgward</strong> erneut mit einem<br />

Hilferuf an Kaisen: Ohne eine neue Kredithilfe könne er seinen Konzern nicht einmal<br />

mehr bis Weihnachten halten. Bis zum 23. Dezember würden mindestens weitere 5<br />

Mio., bis zum 30. Dezember noch einmal 5 Mio. <strong>und</strong> bis Ende Januar 1961 noch<br />

weitere 10 Mio. DM benötigt. (Bremische Bürgerschaft 1961, S. 6)<br />

Der Senat beschloss daraufhin die Vergabe eines weiteren Bankdarlehens von 20 Mio.<br />

DM, das gleichfalls durch eine Gr<strong>und</strong>schuld der <strong>Borgward</strong>-Betriebe gesichert <strong>und</strong> mit<br />

10 Mio. DM durch Bremen verbürgt wurde. Im Januar 1961 überschlugen sich die<br />

Ereignisse: B<strong>und</strong>eswirtschaftsminister Erhard verweigerte Kaisen jegliche B<strong>und</strong>eshilfe


für <strong>Borgward</strong>. (Der Spiegel 1961, S. 18) Am 27. Januar brach dann Ford<br />

Verkaufsverhandlungen mit <strong>Borgward</strong> mit der Begründung ab, deren Produktion passe<br />

nicht in das eigene Produktionsprogramm. (Eggers 1983, S. 32) Als nun die Bremer<br />

Landesbank nachfragte, ob der Senat die dritte <strong>und</strong> letzte Rate des am 22. Dezember<br />

1960 beschlossenen 20 Mio. DM-Kredits verbürge, zog man im Rathaus die<br />

(vermeintliche) Notbremse <strong>und</strong> lehnte weitere Zahlungen an <strong>Borgward</strong> ab.<br />

Stattdessen steuerten die Bremer Staatssanierer nun eine Lösung mithilfe einer<br />

Auffanggesellschaft in Form einer staatlichen Kapitalgesellschaft an - <strong>und</strong> das hieß:<br />

eine Lösung ohne <strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong>. Am 1. Februar stimmte die Bremische<br />

Bürgerschaft der von Wirtschaftssenator Eggers ausgearbeiteten Senatsvorlage über<br />

die Gründung einer Kapitalgesellschaft ohne Aussprache einstimmig zu. (Bremische<br />

Bürgerschaft 1961, S. 395) Vier Tage später war einer gemeinsamen Presseerklärung<br />

von <strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong> <strong>und</strong> dem Senat zu entnehmen, dass die zu gründende<br />

Kapitalgesellschaft <strong>Borgward</strong>s Anteile übernehmen <strong>und</strong> <strong>Borgward</strong> aus der Leitung<br />

ausscheiden würde. Am 10. Februar 1961 wurde mit einem Gr<strong>und</strong>kapital von 50 Mio.<br />

DM die <strong>Borgward</strong>-Werke AG gegründet, auf die das gesamte Unternehmen mit allen<br />

Vermögenswerten <strong>und</strong> Verbindlichkeiten übergehen sollte - wozu es nie kam. Die<br />

<strong>Borgward</strong> AG wurde zu einer bloßen Kreditvergabestelle. Faktisch bestand damit das staatliche<br />

Sanierungskonzept - neben der Darlehensvergabe aus öffentlichen Mitteln - im Gr<strong>und</strong>e<br />

aus nur zwei Maßnahmen, denen ein eigenes ökonomisches Gesamtkonzept völlig<br />

fehlte: der Gründung einer Auffanggesellschaft durch die <strong>Borgward</strong>-Werke AG sowie<br />

der Berufung eines Sanierungsexperten in Gestalt von Dr. Semler.<br />

Dr. Johannes Semler kam als der große Hoffnungsträger <strong>und</strong> mit vielen<br />

Vorschusslorbeeren bedacht nach Bremen. Seine Verpflichtung ging vor allem auf die<br />

Initiative des Finanzsenators Nolting-Hauff (FDP) zurück. Ihm ging u. a. der Ruf<br />

voraus, Henschel <strong>und</strong> BMW saniert zu haben. Die Lage bei <strong>Borgward</strong> während des<br />

staatlichen Sanierungsversuchs <strong>und</strong> unter der Leitung des Senatsbeauftragten<br />

Semler entspannte sich nicht, sie verschlechterte sich weiter. Lediglich bei den<br />

Lieferantenschulden konnte eine positive Entwicklung verzeichnet werden. Diese<br />

wurden von 115 Mio. DM zum 31. Januar 1961 auf 57,6 Mio. DM zum 21. Juli 1961<br />

abgebaut. (Eggers 1983, S. 86) Aus all dem wird deutlich, dass ein<br />

erfolgversprechendes Sanierungskonzept entweder nicht vorlag oder aber nicht griff,<br />

So kam es, dass - Bürgermeister Kaisen zufolge - bei <strong>Borgward</strong> zuletzt praktisch<br />

jedes vierte Auto verschenkt wurde, da ein Kostendefizit von 1500 DM pro Wagen


anfiel. (Handelsblatt, 31. 7. 1961) Ein weiteres ungelöstes Problem war die<br />

Belegschaftsstärke. Zwar wurde die Belegschaft der gesamten <strong>Borgward</strong>-Gruppe<br />

vorn 31. Januar bis zum 31. Juli 1961 um fast 3000 auf 15687 reduziert. (Eggers<br />

1983, S. 88) Dies war jedoch angesichts der gegenüber den Vorjahren stark<br />

rückläufigen Produktion zu wenig <strong>und</strong> ist umso unverständlicher, als selbst der<br />

damalige DGB-Kreisvorsitzende Boljahn einen Personalabbau von 4000 bis 5000<br />

Beschäftigten für notwendig gehalten hatte!<br />

Unumgängliche Rationalisierungen hat es bei <strong>Borgward</strong> nicht gegeben. Erst im Juni<br />

1961, also r<strong>und</strong> vier Monate nach seiner Senatsbestellung, hat offenbar der<br />

Senatsbeauftragte Semler dem Aufsichtsratsvorsitzenden der <strong>Borgward</strong>-Werke AG<br />

ein Sanierungskonzept vorgelegt. Das späte Sanierungskonzept Semlers kam nicht<br />

mehr zum Zuge. Ob es tragfähig gewesen wäre, steht dahin.<br />

Für seine Bemühungen erhielt Dr. Semler ein Honorar von 250000 DM. In Bremen<br />

hielten sich hartnäckig Gerüchte, dass es wesentlich höher gewesen sein soll.<br />

Hierfür lassen sich heute keine Anhaltspunkte mehr finden. Am 18. Juli 1961 lehnte<br />

der Senat die Gewährung eines weiteren Kredits in Höhe von 50 Mio. DM ab <strong>und</strong><br />

beschloß, den Antrag der <strong>Borgward</strong>-Betriebe auf Eröffnung eines<br />

Liquidationsverfahrens durch die gesetzliche Mindestgarantie von 35 Prozent zu<br />

stützen. Am 28. Juli 1961 wurde insgesamt 15200 Arbeitnehmern der <strong>Borgward</strong>-<br />

Werke AG gekündigt <strong>und</strong> zugleich beim Amtsgericht Bremen das<br />

Vergleichsverfahren über das Vermögen der <strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong> GmbH, der<br />

Goliath-Werke GmbH <strong>und</strong> der Lloyd-Motoren-Werke GmbH beantragt.<br />

Das war das „Aus“. Man kann dem Bremer Senat den Vorwurf nicht ersparen, bei<br />

seinem Rettungsversuch dilettantisch vorgegangen zu sein. Wenn schon kein<br />

eigenes ökonomisches Konzept zur Sanierung vorlag, so hätte man zumindest die<br />

Tätigkeit des Senatbeauftragten Semiler stärker kontrollieren <strong>und</strong> auf der<br />

rechtzeitigen Vorlage eines entsprechenden Konzeptes beharren müssen.<br />

Schon zwei Monate nach dem Zusammenbruch, Ende September 1961, waren nur<br />

noch 3300 ehemalige <strong>Borgward</strong>-Arbeitnehmer arbeitslos, bis zum Jahreswechsel<br />

1961/62 hatten - außer einer Reihe von Schwerbeschädigten - fast alle der<br />

Betroffenen einen neuen Arbeitsplatz. Unberücksichtigt lässt eine solche<br />

Betrachtungsweise das Problem einer mit dem Verlust des alten <strong>und</strong> der Annahme<br />

des neuen Arbeitsplatzes verb<strong>und</strong>enen möglichen Dequalifizierung. Vor allem die


ei <strong>Borgward</strong> angelernten Arbeiter waren gezwungen, entweder einen neuen Beruf<br />

zu erlernen oder in ihren alten zurückzukehren.<br />

<strong>Borgward</strong> – ein Mythos?<br />

<strong>Borgward</strong>s Fall zeigt, dass es keinerlei Gr<strong>und</strong> gibt, die fünfziger Jahre aus heutiger<br />

Sicht nostalgisch zu verklären. <strong>Borgward</strong> schien als Person <strong>und</strong> Institution ein<br />

Parade-Beispiel für das deutsche Wirtschaftsw<strong>und</strong>er zu sein: der Selfmademan aus<br />

Bremen, der selbst noch mit Hand anlegen konnte, dicke Zigarren rauchte <strong>und</strong><br />

„Herr“ von über 20000 Beschäftigten war. Als das <strong>Borgward</strong>-Imperium<br />

zusammenbrach, kratzte dies am Lack des Wirtschaftsw<strong>und</strong>erglaubens. Das Aus<br />

des Automobilkonzerns ist Zeugnis dafür, dass es auch in den sogenannten<br />

Wiederaufbaujahren wirtschaftlich keineswegs immer nur aufwärts ging.<br />

Der spätere Mythos um die <strong>Borgward</strong>-Autos ist ein Produkt nachträglicher<br />

Legendenbildung, die durch die -- in der Tat auf den ersten Blick erstaunlichen - 100-<br />

Prozent-Quoten der Konkursverfahren geschürt wurde. Dabei wird oft übersehen,<br />

dass der Staat <strong>und</strong> damit der Steuerzahler als größter <strong>Borgward</strong>-Gläubiger letztlich<br />

leer ausging, zumindest nur einen Teil seiner Forderungen beglichen erhielt, dass<br />

also keineswegs alle Gläubigeransprüche voll befriedigt wurden.


Literaturverzeichnis<br />

BAW, Wirtschaftsdaten 1961, Bremen 1961<br />

Berse, Andreas, <strong>Borgward</strong> lebt – Auferstanden aus Intrigen, Bielefeld 2006<br />

<strong>Borgward</strong>, Peter, Der Wettbewerb auf dem westeuropäischen Automobilmarkt seit<br />

1948, Diss., Kiel 1967<br />

Bremische Bürgerschaft, Mitteilungen des Senats, 1961<br />

Der Spiegel, Nr. 51/1961<br />

Deutsche Warentreuhand-AG, Übersicht über die rechtlichen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Verhältnisse der <strong>Borgward</strong>-Gruppe Bremen, Hamburg, Frankfurt/M, Düsseldorf,<br />

Bremen 1961<br />

Eberwein, Wilhelm <strong>und</strong> Jochen Tholen, <strong>Borgward</strong>s Fall – Arbeit im<br />

Wirtschaftsw<strong>und</strong>er, Bremen 1987<br />

Eggers, Jutta, Der bremische Staat <strong>und</strong> die <strong>Borgward</strong>krise, unveröffentlichte<br />

Diplomarbeit, Bremen 1983<br />

Hartwig, Engelbert, Musste Isabella sterben? Die Tragödie der <strong>Borgward</strong>-Gruppe,<br />

Bremen 2001


Tabellen<br />

Tabelle 1: Beschäftigte <strong>und</strong> Produktionszahlen der <strong>Borgward</strong>-Gruppe 1938, 1950 <strong>und</strong> 1960<br />

Beschäftigte<br />

Stückzahlen<br />

Umsätze (in 1.000.<br />

RM/DM)<br />

1938 10.11.1950 1960<br />

5200 9584 22724<br />

22500 26039 97538<br />

84000 145000 626489<br />

Quellen: Treuhandgutachten (1961), S. 38;<br />

<strong>Borgward</strong>-Kurier, Sonderheft, 10. 11. 1960, S. 22;<br />

P. <strong>Borgward</strong> (1967), Tabellen 7, 13 u. 16;<br />

<strong>Borgward</strong>-Presseinformation November 1950, Zahlen <strong>und</strong> Tatsachen I u II; eig.<br />

Berechnungen<br />

Tabelle 2: Von den Händlern unterhaltene Werkstätten <strong>und</strong> Servicestationen der <strong>Borgward</strong>-<br />

Gruppe 1960<br />

<strong>Borgward</strong> 184 Vertragswerkstätten<br />

252 Servicestationen<br />

Lloyd 155 Werkstätten mit direkter Belieferung<br />

387 Werkstätten, die unter einem Vertragshändler arbeiten<br />

Goliath 118 Werkstätten<br />

Quelle: Treuhandgutachten (1961), S. 29<br />

Tabelle 3: Kfz-Produktionsprogramm 1960<br />

Personenwagen Lastkraftwagen Sonderfahrzeuge<br />

P 100 2,3 Ltr. B 655 (in versch. Ausführung) Geländewagen<br />

Isabella Coupé B 622 (in versch. Ausführung)<br />

Isabella Kombi B 522 (in versch. Ausführung)<br />

Isabella de Luxe B 555 (in versch. Ausführung)<br />

Isabella TS B 555 (in versch. Ausführung)<br />

Isabella Limousine B 533/544 (in versch. Ausführung)<br />

Hansa 1100 Coupe B 611 (in versch. Ausführung)<br />

Hansa 1100 Luxus B 511 (in versch. Ausführung)<br />

Hansa 1100 Kombi B 611 0 (in versch. Ausführung)<br />

Hansa 1100 Limousine B 511 0 (in versch. Ausführung)<br />

<strong>Borgward</strong> Arabella de Luxe B2000 AO/AD<br />

Arabella 38 PS Express 1100 Pritsche<br />

Arabella 34 PS Express 1100 Kasten


LP 600 Express 1100 Bus<br />

LS 600 Express 1100 Kombi<br />

LT 600 (drei Ausführungen) Express 1100 Fahrgestell mit Haus<br />

Goli-Dreirad Hochlader<br />

Goli-Dreirad Tieflader mit Radkästen<br />

Goli-Dreirad Tieflader ohne Radkästen<br />

Goli-Dreirad Kasten<br />

Goli-Dreirad Koffer<br />

Danben existierte noch eine Hubschrauber <strong>und</strong> eine Bootsmotorenproduktion<br />

Quellen: Treuhandgutachten (1961), S. 12. Siehe zur Typenvielfalt auch P. <strong>Borgward</strong> (1967),<br />

S. 227<br />

Tabelle 4: Arbeitsproduktivität bei <strong>Borgward</strong>, Daimler-Benz <strong>und</strong> Volkswagen, 1960<br />

Beschäftigte Umsatz in Mio. DM Umsatz pro<br />

Beschäftigte in DM<br />

<strong>Carl</strong> F. W. <strong>Borgward</strong> GmbH 13603 371 27270<br />

Goliath-Werke GmbH 2728 84 30800<br />

Lloyd-Motoren-Werke<br />

5 508 180 32700<br />

GmbH<br />

Daimler-Benz AG 64432 2471 39000<br />

Volkswagen AG 54120 3544 65500<br />

Quelle: P. <strong>Borgward</strong> (1967), Tabellen 7, 9, 13, 16, 24, S. 56, 59, 65, 69, 81; eigene<br />

Berechnungen<br />

Tabelle 5: Entwicklung der Marktanteile der <strong>Borgward</strong>-Gruppe an der Gesamtproduktion der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik 1950-1960, nur Personenwagen<br />

Jahr <strong>Borgward</strong> Lloyd Goliath <strong>Borgward</strong><br />

Grupee insg.<br />

in 1000 Stück<br />

B<strong>und</strong>es-<br />

republik<br />

1950 8,7 1,6 0,8 11,1 219,4 5,1<br />

1951 9,3 6,6 5,5 21,4 276,6 7,8<br />

1952 7,2 10,0 6,2 23,4 317,7 7,4<br />

1953 6,3 19,1 5,1 30,5 387,9 7,9<br />

1954 13,2 33,0 9,6 55,8 561,2 10,0<br />

1955 26,5 58,2 10,8 95,8 762,2 12,5<br />

1956 21,1 51,8 9,0 81,9 911,0 9,0<br />

1957 30,6 51,6 10,3 92,5 1040,2 9,0<br />

1958 30,0 49,0 10,9 89,9 1306,8 7,0<br />

1959 38,3 42,2 12,5 93,0 1503,4 6,2<br />

<strong>Borgward</strong>-<br />

Anteil<br />

in Prozent


1960 37,0 38,1 9,3 84,4 1816,8 4,7<br />

Quelle: Treuhandgutachten (1961) S. 17


Autoren<br />

Prof. Dr. Wilhelm Eberwein, Akademie für Arbeit <strong>und</strong> Politik <strong>und</strong> Studiengang<br />

Erwachsenenbildung der Universität Bremen, Forschung <strong>und</strong> Lehre zu Politischer<br />

Erwachsenenbildung, Geschichte <strong>und</strong> Soziologie der Arbeit, Soziologie Sozialer<br />

Ungleichheit <strong>und</strong> Empirischer Sozialforschung<br />

Dr. Jochen Tholen, Forschungsleiter des Instituts Arbeit <strong>und</strong> Wirtschaft der<br />

Universität Bremen, Forschung, Veröffentlichungen <strong>und</strong> Lehre zu Eliten <strong>und</strong><br />

Management, Strukturwandel der Wirtschaft <strong>und</strong> Arbeitsbeziehungen

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