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Haus der Begegnung - ev.-luth. Diakonissenanstalt Marienstift ...

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Vergeßt uns nicht<br />

von Günter K. P. Starke<br />

Wie in einen großen, weiten Mantel hatte<br />

sich die Erde in die weiße Schneedecke eingehüllt.<br />

Ja, <strong>der</strong> Schnee lag hoch. Aber noch<br />

höher waren die Stacheldrahtzäune, die um<br />

das Lager, das weit von <strong>der</strong> Heimat entfernt<br />

in <strong>der</strong> weiten Steppe lag, standen. Kein<br />

Wind wehte. Klar und rein war die Luft in<br />

dieser Nacht.<br />

Mühsam bahnte sich <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> in einem<br />

zerschlissenen grauen Mantel die Baracke<br />

verlassen hatte, einen Weg durch den<br />

hohen Schnee. Das Gesicht des Mannes war<br />

eingefallen, doch seine Augen hatten einen<br />

strahlenden, leuchtenden Glanz. Heute<br />

wollte er seinen Lieben daheim so nahe wie<br />

nur möglich sein. Heute – in <strong>der</strong> Heiligen<br />

Nacht.<br />

An dem hohen Zaun blieb er stehen, an<br />

dem Zaun, <strong>der</strong> ihm verbot, weiter zu gehen.<br />

Hier war die Grenze zwischen Freiheit und<br />

Gefangenschaft, die Grenze, die ihm verwehrte,<br />

zu <strong>Haus</strong>e zu sein. Seine Hände legten<br />

sich schwer auf den Draht, so daß sich<br />

die Stacheln in die Haut seiner mageren<br />

Hände bohrten. Sein Blick war in die Ferne<br />

gerichtet, in die Richtung, wo er die Heimat<br />

wußte. Oft war er schon den Weg bis zum<br />

Zaun gegangen, aber heute war es noch an<strong>der</strong>s.<br />

Heute begleitete ihn das Singen seiner<br />

Kameraden. Sie sangen Weihnachtslie<strong>der</strong> –<br />

Weihnachtslie<strong>der</strong>, wie sie in <strong>der</strong> Heimat gesungen<br />

wurden, und die er schon so oft mit<br />

seinen Lieben unter dem geschmückten<br />

Weihnachtsbaum gesungen hatte. Langsam<br />

fing es wie<strong>der</strong> an zu schneien. Immer dichter<br />

fielen die Flocken und setzten sich ihm<br />

ins Gesicht. Aber <strong>der</strong> Mann merkte es<br />

kaum. Seine Gedanken wan<strong>der</strong>ten zurück,<br />

wan<strong>der</strong>ten den Weg zurück, den er einst unter<br />

schweren Qualen gehen mußte. Bis – ja<br />

bis er hinter diesem Draht war. Wie lange<br />

war das schon her? Er wußte es nicht mehr<br />

genau. Für ihn lag eine Ewigkeit dazwischen,<br />

eine Ewigkeit voller Qualen. Wie<br />

50<br />

gerne würde er diesen Weg noch einmal gehen,<br />

wenn er wüßte, daß es die Erlösung<br />

sein, und <strong>der</strong> Weg nach <strong>Haus</strong>e führen würde.<br />

Ja – nach <strong>Haus</strong>e.<br />

Plötzlich sah er sich bei seiner Familie,<br />

sah den Weihnachtsbaum und den Glanz <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong>augen. Der kleine Hansi ist nun wohl<br />

schon ein großer Hans geworden und spielt<br />

nicht mehr mit kleinen Eisenbahnzügen. Ob<br />

er Tischler geworden ist? Wie stolz war er<br />

immer, wenn er für Mutti etwas gebastelt<br />

hatte. Der Mann fühlte wie<strong>der</strong> den Druck<br />

auf seinen Knien, wo die kleine Erika gesessen<br />

hatte, die dann mit so strahlenden Augen<br />

in die Kerzen sah. Er fühlte auch den<br />

dankbaren Blick seiner geliebten Frau auf<br />

sich ruhen.<br />

Der Mann am Stacheldrahtzaun spürte die<br />

Kälte nicht, merkte nicht, daß seine Hände<br />

schmerzten. Er war daheim – mitten in <strong>der</strong><br />

kleinen, warmen Stube zwischen seinen<br />

Lieben. Ob sie heute abend an ihn dachten?<br />

Ob sie fühlten, daß er bei ihnen war, daß ihnen<br />

seine ganze Sehnsucht galt? Wußten<br />

sie, daß er diese schwere Zeit nur überstanden<br />

hatte und weiter überstehen würde, weil<br />

die Hoffnung da war, die Hoffnung, eines<br />

Tages wie<strong>der</strong> bei ihnen zu sein? Seine Lippen<br />

bewegten sich, und sie formten die<br />

Worte „Vergeßt mich nicht“. Es wurde ihm<br />

nicht bewußt, daß er die Worte laut gesprochen<br />

hatte.<br />

Wie<strong>der</strong> erklang ein Lied durch die Nacht.<br />

Die Augen des Mannes verschleierten sich<br />

und laut sang er mit, sang mit – das Lied <strong>der</strong><br />

„Heiligen Nacht“. Als das Lied leise verklang,<br />

sank sein Kopf auf die Brust. Er war<br />

wie<strong>der</strong> allein, allein mit seinen Gedanken<br />

und mit seinem Hoffen und mit sich selbst.<br />

Eine Hand legte sich auf seine Schulter.<br />

Er sah in das Gesicht eines Kameraden, eines<br />

Kameraden, <strong>der</strong> wie an<strong>der</strong>e das gleich<br />

schwere Los mit ihm teilte.<br />

„Komm“, sagte er. „Sie werden uns nicht<br />

vergessen!“<br />

(aus: „Ungleich ist <strong>der</strong> Mensch – Ungleich<br />

sind die Stunden.“ Eine Anthologie<br />

des Deutschen Autoren-Verbandes. Verlag<br />

Lax Hildesheim 1996.)

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