Reller 263 - Institut für Physik - Universität Augsburg
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Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
1. Weshalb die Geschichte der<br />
Silicone erzählt werden soll<br />
Unsere technisch-industrielle Welt ist<br />
geprägt durch die Verfügbarkeit von<br />
Materialien und Materialkompositionen<br />
mit spezifischen Funktionen. Ermöglicht<br />
wird dieser Zustand durch die<br />
extensive Nutzung von natürlichen<br />
Rohstoffen und Energieträgern. "Der<br />
Stoff, aus dem der Fortschritt ist" – so<br />
bezeichnet das Chemie-Unternehmen<br />
Wacker in einer Informationsschrift<br />
Der Fortschritt in der Anstrichtechnik:<br />
Siliconharzfarbe seine wohl wichtigste<br />
Produktpalette: die Silicone. Als ein vom<br />
Menschen erdachter und künstlich hergestellter<br />
Stoff mit sehr besonderen<br />
Eigenschaften haben die Silicone in<br />
50 Jahren eine atemraubende Erfolgsgeschichte<br />
geschrieben: In dieser Zeitspanne<br />
entstand aus einem vorerst<br />
exotischen Syntheseprodukt forschender<br />
Chemiker eine ganze Klasse von Materialien,<br />
die heute in allen fortschrittlichen<br />
Haushalten in der einen oder anderen<br />
*Postadresse : Prof. Dr. A. <strong>Reller</strong><br />
Lehrstuhl <strong>für</strong> Festkörperchemie<br />
<strong>Universität</strong> <strong>Augsburg</strong><br />
<strong>Universität</strong>sstraße 1<br />
D-86159 <strong>Augsburg</strong> (Deutschland)<br />
E-Mail: armin.reller@physik.uni-augsburg.de<br />
13<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
Ob Nahrung, Kleidung oder Schminke, wir wissen in der Regel kaum Bescheid,<br />
aus welchen Stoffen und Materialien unsere "materiellen Alltäglichkeiten" bestehen,<br />
noch woher sie kommen und wohin sie gehen. Finden sich jedoch Nitrosamine im Bier,<br />
Chromate an den Schuhen oder Tributylzinnhaltiges auf dem T-Shirt, dann kennt die<br />
Aufregung kaum Grenzen, <strong>für</strong> einige Tage… Unsere wirklichen Kenntnisse über die Tag<br />
<strong>für</strong> Tag benutzten Ressourcen und Materialien sind marginal. Nachhaltige Entwicklung,<br />
verstanden als ein zukunftstauglicher und risikoarmer Umgang mit Stoffen und<br />
Energieträgern, erfordert eine bewußtere sowie aktivere Kenntnisnahme von historisch<br />
gewachsenen und sich weiter fortschreibenden Zusammenhängen, von "Stoffgeschichten".<br />
In diesem Artikel werden Etappen und Ereignisse aus der Stoffgeschichte der Silicone vorgestellt.<br />
Diese rein synthetischen Stoffe sind in den letzten Jahrzehnten in alle Lebensbereiche vorgedrungen:<br />
Nahrung, Kleidung, Kosmetik, Wohnung, Auto, überall verrichten sie mit maßgeschneiderten Eigenschaften<br />
ihren Dienst, übernehmen nützliche Funktionen. Und doch zeigen sie sich hier und dort widerspenstig,<br />
setzen ihr Potential in ganz unerwartete Funktionen um. Aber nicht da, wo man diese brauchen könnte,<br />
sondern in unvorhergesehenen Zusammenhängen. Siliconprodukte weichen gelegentlich vom<br />
vorgezeichneten Pfad ab, und es vollzieht sich ein Wechselspiel zwischen den ihnen innewohnenden<br />
Eigenschaften und den komplexen Bedingungen, denen sie im Verlauf ihrer Geschichte von der<br />
Wiege bis zur Bahre ausgesetzt werden. Wo ist Endstation? Abstract & Keywords ➪ p. 79<br />
Silicone – eine vollsynthetische<br />
Materialklasse macht Geschichte(n)<br />
Armin <strong>Reller</strong>*, Michael Braungart, Jens Soth und Ole von Uexküll<br />
Form und Funktion eingesetzt wird.<br />
Nimmt dieser Erfolg seinen Lauf, oder<br />
drohen ihm – wie in so mancher anderen<br />
Geschichte von erst hochgelobten Materialien<br />
– unerwartete, rufschädigende<br />
oder gar verbotsheischende Ereignisse?<br />
Um erfolgreich zu bleiben, müssen<br />
heutzutage Materialien und Produkte<br />
mehr Ansprüchen genügen, als nur eine<br />
bestimmte Funktion möglichst perfekt<br />
und hohe Wertschöpfung garantierend<br />
zu erfüllen. Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit,<br />
Eignung zu Abbau oder<br />
Stoffkreislauf werden immer wichtigere<br />
Aspekte der Produktqualität. Für ein<br />
verantwortungsbewußtes Unternehmen<br />
gilt es daher, die mit der Herstellung<br />
und Nutzung eingehandelte, spezifische<br />
Geschichte von Materialien und Produkten<br />
– deren zukünftige Geschichten<br />
zwar nicht bekannt, aber möglicherweise<br />
absehbar sind – ins Kalkül zu ziehen.<br />
Wie steht es damit bei Siliconprodukten?<br />
Wie weit lassen sich da sozusagen<br />
Fluch und Segen der bisherigen und<br />
zukünftigen Nutzung klären? Wir haben<br />
Indikatoren und Fallbeispiele gesucht,<br />
die bei diesen Fragen weiterhelfen.<br />
Vielen bereits erschlossenen positiven<br />
Verwendungen von Siliconen sowie neu<br />
hinzukommenden, etwa als Ersatz <strong>für</strong><br />
ökologisch nicht einwandfreie Stoffe<br />
wie Fluorcarbonverbindungen, stehen<br />
auch negative, zu verbessernde Anwendungsbeispiele<br />
gegenüber. Diese Sichtung<br />
soll dazu beitragen, das Potential<br />
der Silicone aufzuzeigen, aber auch<br />
Probleme bei seiner Nutzung frühzeitig<br />
erkennen zu lassen. Folgen muß eine<br />
Debatte über den nachhaltigen Umgang<br />
mit Siliconen, über die Fortsetzung der<br />
Silicongeschichte, die sowohl Änderungen<br />
in der Anwendung als auch im Produktedesign<br />
bringen wird. Es ist nicht<br />
getan mit einer Ökobilanz oder einem<br />
Extrakt der Umweltberichte verantwortungsbewußter<br />
Unternehmen. Silicone<br />
sind ganz und gar menschliches "Machwerk",<br />
wir allein haben zu entscheiden,<br />
ob die viele Bedarfe deckende Verfügbarkeit<br />
von Siliconprodukten den Aufwand<br />
zu deren Herstellung, Weiterverarbeitung<br />
sowie bei der Entsorgung<br />
oder Reintegration aufwiegt.<br />
Die Bestandsaufnahme beginnt mit<br />
einem Abriß der Geschichte der Siliciumverbindungen.<br />
Hieraus wird deutlich,<br />
daß Silicone "junge" Materialien sind.<br />
Ihr Aufbau, die Eigenschaften, die realisierten<br />
und auch die potentiellen Funktionen<br />
werden erläutert. Dann geht es<br />
um Additive, die den Siliconprodukten<br />
beigefügt werden, um zusätzliche Funktionen<br />
und Anwendungen herbeizuführen.<br />
Zur Vorsorge wird den Gesundheits- und<br />
Umweltaspekten nachgespürt.
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
In der Folge wendet sich die Betrachtung<br />
den Einsatzgebieten der Silicone<br />
zu und ihrer sozioökonomischen Bedeutung.<br />
Zum Vorschein kommen unbeabsichtigte<br />
Wirkungen, überraschende<br />
Geschichten im Kontext von Siliconprodukten,<br />
die oft weit über die gewünschten<br />
Funktionen hinausgehen.<br />
Verdeutlicht wird dies am Problem der<br />
Siloxane (flüchtiger Silicone) in Gasmotoren<br />
von Deponie-, Klär- und Müllverbrennungsanlagen<br />
sowie an der Resistenzbildung<br />
bei Mikroorganismen durch<br />
mit Biostabilisatoren ausgestattete Siliconprodukte.<br />
Welche Konsequenzen<br />
sich <strong>für</strong> einen weitsichtigeren Umgang<br />
mit diesen vollsynthetischen Funktionsmaterialien,<br />
insofern auch mit Ressourcen<br />
und Energie, abzeichnen, wird<br />
im letzten Abschnitt diskutiert – und<br />
gefragt, ob mit dem Konzept der Stoffgeschichten<br />
[1] treffende Strategien entwickelt<br />
werden können.<br />
2. Historisches<br />
Silicium in der Natur<br />
Silicium ist nach Sauerstoff das meistverbreitete<br />
Element und macht mehr<br />
als 25 Prozent des uns zugänglichen<br />
Teils der Erdkruste aus. Aufgrund seiner<br />
hohen Affinität zu Sauerstoff ist Silicium<br />
im Gegensatz zu Kohlenstoff jedoch<br />
nicht in elementarer Form anzutreffen.<br />
Es gibt offenbar keinen der biologischen<br />
Photosynthese vergleichbaren Prozeß,<br />
der Siliciumoxide reduzieren könnte.<br />
Das Silicium ist zentraler Baustein von<br />
Insel-, Ketten-, Netz- und Gerüstsilicaten,<br />
deren essentielle Baueinheit, das Silicat-<br />
Anion, als Abkömmling der Kieselsäure<br />
zu betrachten ist (vergleiche Figur 3b).<br />
Die Silicate sind nicht nur die artenreichste<br />
Klasse der Mineralien, sondern<br />
auch geologisch außerordentlich wichtig.<br />
Die reine Silicium-Sauerstoffverbindung,<br />
das Siliciumdioxid (SiO 2), kommt ebenfalls<br />
in vielfältigen Formen – als Quarz,<br />
Kieselstein, Sand und gebirgsbildendes<br />
Gestein – in der Erdkruste vor. Es ist<br />
die häufigste anorganische Verbindung<br />
unseres Lebensraumes; rund 95 Prozent<br />
der obersten, 16 Kilometer dicken Erdkruste<br />
bestehen aus Siliciumdioxid und<br />
Silicaten [2, 3] .<br />
Im Tierreich ist Silicium essentiell<br />
<strong>für</strong> einige wichtige Mikroorganismen<br />
(Radiolarien, Infusorien, Diatomeen), da<br />
es als Baustein an deren Skelettaufbau<br />
beteiligt ist (Figur 1). Aus Ablagerungen<br />
solcher Lebewesen entstehen Kieselgur<br />
und Diatomeenerde. Für die meisten<br />
Organismen ist Silicium ein essentielles<br />
Spurenelement. Silicium-Mangel führt<br />
bei Säugetieren zu Wachstumsstörungen.<br />
Die starke Bildungstendenz polymerer<br />
Silicium-Sauerstoffverbindungen<br />
schließt jedoch einen fortlaufenden<br />
Wiederholungsprozeß mit monomerem<br />
Siliciumdioxid – zum Vergleich: Kohlendioxid<br />
ist das Alpha und das Omega des<br />
globalen Kohlenstoffkreislaufs – ähnlich<br />
dem Zyklus der Atmung und Assimilation<br />
aus [2, 3] .<br />
Fortschritte der Silicium-Nutzung<br />
durch den Menschen<br />
Die ältere Geschichte kennt nur die<br />
Nutzung von Silicaten und Siliciumdioxid.<br />
Materialien wie Sande, Ton und<br />
Keramik wurden schon im frühen Altertum<br />
verwendet und waren überall als<br />
Bau- und Werkstoffe verfügbar. Auch<br />
wurden bald Siliciumverbindungen bei<br />
der Glasherstellung gebraucht. Diese<br />
wurden damals allerdings noch nicht<br />
als solche erkannt, blieb doch elementares<br />
Silicium den Menschen lange<br />
völlig unbekannt. Selbst der Name Silicium<br />
leitet sich vom lateinischen silex<br />
(= Kiesel) ab, der Bezeichnung <strong>für</strong><br />
greifbare Verbindungen [2, 3] (Figur 2).<br />
Im 18. Jahrhundert versuchten mehrere<br />
Forscher, Silicium zu gewinnen, und zwar<br />
zunächst durch Zersetzung von Kiesel-<br />
14<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
säure. Hervorzuheben ist C.W. Scheele<br />
(Siliciumtetrafluorid, Hexafluorokieselsäure).<br />
Versuche, das "Fluorkieselgas",<br />
wie J.J. Berzelius Hexafluorokieselsäure<br />
nannte, in seine Bestandteile zu zerlegen,<br />
führten nicht weiter. 1810 gelang<br />
es Berzelius, "Ferrosilicium" aus Kieselerde<br />
durch Reduktion mit Kohle und<br />
Eisen herzustellen. Eisenfreies Silicium<br />
gewann er 1824 durch Reduktion von<br />
Siliciumtetrachlorid mit metallischem<br />
Kalium. Er gilt daher als der Entdecker<br />
des Siliciums. Grobkristallines Silicium<br />
erhielt St. Claire-Deville 1854 bei der<br />
Schmelzflußelektrolyse von Si-haltigem<br />
Na-Al-Chlorid [4] .<br />
Die erste technische Nutzung, die<br />
dem Ferrosilicium zukam, war die Verwendung<br />
als Desoxidationsmittel bei der<br />
Stahlerzeugung. Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
begann die großtechnische<br />
Herstellung zu diesem Zweck in elektrischen<br />
Niederschachtöfen, wie sie <strong>für</strong><br />
die Calciumcarbid-Erzeugung gebraucht<br />
wurden. Noch heute ist Ferrosilicium<br />
in der Stahlindustrie von Bedeutung,<br />
nun aber hauptsächlich, wie Calciumsilicid<br />
(CaSi 2), als Legierungsbestandteil.<br />
Technisch reines Silicium (98.5 bis<br />
99.7 %) wird in der Chemischen Industrie<br />
(zum Beispiel als Ausgangsmaterial <strong>für</strong><br />
Figur 1.<br />
Die kunstvoll<br />
gestalteten<br />
Siliciumdioxid-<br />
Skelette von<br />
Diatomeen,<br />
wie sie von<br />
Ernst Haeckel<br />
vor rund hundert<br />
Jahren in seinem<br />
epochalen Werk<br />
Kunstformen der<br />
Natur in eindrucksvollen<br />
Tafeln<br />
(hier Tafel 4)<br />
festgehalten<br />
wurden.<br />
[E. Haeckel:<br />
Kunstformen der<br />
Natur, Prestel,<br />
München (1998)]
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
Figur 2.<br />
Beispiele von<br />
geologischen<br />
Siliciumdioxiden:<br />
(a) Bergkristall;<br />
(b) rasterelektronenmikroskopische<br />
Aufnahme des<br />
aus amorphen<br />
SiO 2 -Kügelchen<br />
aufgebauten Opals<br />
(die schillernden<br />
Farben dieses<br />
Schmucksteins<br />
kommen durch<br />
Lichtbeugung an den<br />
Schichten zustande).<br />
[REM-Aufnahme:<br />
Dr. A. Weidenkaff]<br />
(a) (b)<br />
Siliciumhalogenide und damit <strong>für</strong> die<br />
Silicon-Produktion) und in der Aluminiumindustrie<br />
verwendet.<br />
Einen großen Markt hat inzwischen<br />
das höchstreine Silicium (elektrisch<br />
aktive Verunreinigungen zwischen 10 –4<br />
und 10 –8 % je nach Qualitätsstufe) wegen<br />
seiner halbleitenden Eigenschaften erobert.<br />
Silicium ist der wichtigste Grundstoff<br />
der Halbleitertechnik. Daraus werden<br />
Computermikrochips, Transistoren<br />
und Solarzellen hergestellt.<br />
Der amerikanische Chemiker F.S.<br />
Kipping unternahm in den Jahren 1904–<br />
1940 die ersten umfangreichen Synthesen<br />
von Organochlorsilanen. Er führte auch<br />
den Namen "silicone" ein, den er aus<br />
silicon ketone (also Silicium-Keton) ableitete,<br />
da R 2SiO als Baueinheit einem<br />
Keton der allgemeinen Formel R 2 CO<br />
entspricht. Diese Analogie ist jedoch<br />
rein formal. Schon die Arbeiten Kippings<br />
zeigten, daß eine mit der von<br />
Kohlenstoff vergleichbare Chemie des<br />
Siliciums nicht möglich ist. So ist eine<br />
Si=O-Doppelbindung im Gegensatz zur<br />
C=O-Doppelbindung zumindest bei<br />
normaler Temperatur nicht stabil. In den<br />
frühen dreißiger Jahren erwachte das<br />
wirtschaftliche Interesse an Siliconen.<br />
Bald darauf begann man, die siliciumorganischen<br />
Verbindungen unter dem<br />
Blickwinkel der Polymerchemie zu sehen.<br />
In den USA war es J.F. Hyde von<br />
Corning Glass Works, der mit dem Ziel,<br />
Harze <strong>für</strong> Anwendungen in der Elektroisolation<br />
zu entwickeln, als erster mit<br />
siliciumorganischen Polymeren arbeitete.<br />
Weitere wichtige Beiträge leisteten<br />
R.R. McGregor und E.L. Warrick (Mellon<br />
<strong>Institut</strong>e) sowie W.J. Patnode und<br />
E.G. Rochow (General Electric). Die von<br />
Rochow entwickelte "Direktsynthese"<br />
machte die Silicone einer wirtschaftlichen<br />
Nutzung zugänglich [5] . Auch in der<br />
UdSSR (durch K.A. Andrianov) und in<br />
Deutschland (durch R. Müller) wurden<br />
Ansätze zur Entwicklung der Siliconchemie<br />
geschaffen.<br />
In den USA wurde 1943 gemeinsam<br />
von Corning Glass und Dow Chemical<br />
Company die Dow Corning Corporation<br />
gegründet, die noch heute weltweit führender<br />
Siliconhersteller ist. Die frühe<br />
Produktentwicklung wurde von der militärischen<br />
Anwendung dominiert: Siliconöle<br />
als Dämpfer <strong>für</strong> Flugzeuginstrumente<br />
oder als Entschäumer von Petroleumöl,<br />
Siliconharze zur Isolation in Motoren,<br />
Silicongummi als Dichtungsmasse in<br />
Scheinwerfern. Nach dem zweiten Weltkrieg<br />
erschloß die zivile Nutzung der<br />
Silicone bald eine Vielfalt von Anwendungen,<br />
wie etwa wasserabstoßende<br />
Mittel <strong>für</strong> Textilien und Papier, Zutaten<br />
<strong>für</strong> Farben, Lacke, Schmiermittel, Autound<br />
Möbelpolituren. Besondere Bedeutung<br />
erlangten die Heißkautschuke (HTV<br />
– high temperature vulcanizing) und in<br />
den sechziger Jahren die kaltvulkanisierenden<br />
Kautschuke (RTV – room temperature<br />
vulcanizing), die heutzutage in<br />
Klebstoffen, Dichtungen, Beschichtungen,<br />
Formmassen und anderem mehr<br />
benutzt werden.<br />
Auch <strong>für</strong> die Silicate und SiO 2 haben<br />
sich im Zuge der Industrialisierung und<br />
Technisierung neue Anwendungen eröffnet.<br />
Hervorzuheben ist die Verwendung<br />
von Silicaten in Zement, da dies<br />
mengenmäßig das größte Einsatzgebiet<br />
<strong>für</strong> Siliciumverbindungen ausmacht. Die<br />
industrielle Produktion des wichtigsten<br />
Baustoffs ist äußerst energieintensiv<br />
und trägt erheblich zu den globalen, anthropogenen<br />
CO 2 -Emissionen bei: durch<br />
die Verbrennung fossiler Energieträger<br />
und das im Prozeß ablaufende Kalkbrennen<br />
stößt ein 3000 Tagestonnen-<br />
Zementwerk jährlich mehr als eine<br />
halbe Million Tonnen CO 2 aus. Insgesamt<br />
beträgt der Anteil der Zementindustrie<br />
am anthropogenen Kohlendioxid-Ausstoß<br />
mehr als 5 Prozent.<br />
3. Aufbau, Funktion und<br />
Nutzung von Siliconen<br />
15<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
[2, 4–6]<br />
Synthese und Aufbau der Silicone<br />
Die Synthese erfolgt schematisch<br />
in drei Schritten: Da Silicium nicht elementar<br />
in der Natur existiert, wird zuerst<br />
Quarzsand, das ist Siliciumdioxid,<br />
zu Silicium reduziert. Daraus werden<br />
im zweiten Verfahrensschritt Silicium-<br />
Chlorverbindungen (Methylchlorsilane)<br />
hergestellt. Hiernach läßt sich Chlor<br />
durch Hydroxy-Gruppen austauschen,<br />
über die sich schließlich unter Wasserabspaltung<br />
– analog zum Aufbau von<br />
Silicaten aus Kieselsäure-Einheiten –<br />
die einzelnen Moleküle zu unterschiedlichen<br />
Silicon-Ketten verbinden (Figur 3).<br />
Die Reduktion von Quarz oder Quarziten<br />
mit Kohle in Niederschachtöfen<br />
ist stark endotherm, das heißt, um sie<br />
am Laufen zu halten, muß dauernd<br />
Energie zugeführt werden (über 6 kWh<br />
pro kg Si). Damit der Prozeß überhaupt<br />
abläuft, sind Temperaturen über 1700 °C<br />
nötig. Berücksichtigt man Energieverluste<br />
und den Energieaufwand <strong>für</strong> Bereitstellung,<br />
Transport und Einsatz aller<br />
Stoffe entlang des Synthesewegs, erhöht<br />
sich der Energiebedarf um ein Vielfaches.<br />
Nebenbei bemerkt, auch kulturhistorisch<br />
hat es viel Zeit und Energie<br />
gekostet, um Silicium als reines Element<br />
zu erlangen. Die "Mineral Commodity<br />
Summaries" des U.S. Geological Survey<br />
vom Januar 1998 stellen fest (<strong>für</strong> die<br />
USA 1997): »Die Hauptverbraucher von<br />
elementarem Silicium waren Aluminiumhersteller<br />
und die Chemische Industrie.<br />
Die Halbleiterindustrie, die Computerchips<br />
aus höchstreinem Silicium herstellt,<br />
machte nur wenige Prozente des<br />
Siliciumbedarfs aus.«<br />
Der zweite Schritt bei der Siliconsynthese<br />
führt vom Silicium zu Methylchlorsilanen,<br />
technisch fast alleinig über<br />
die schon erwähnte "Direktsynthese"<br />
(Rochow-Müller-Prozeß). Die Reaktion<br />
läuft unter der katalytischen Einwirkung<br />
von Kupfer bei Temperaturen von<br />
250–300 °C ab und ist exotherm, das<br />
heißt, dabei wird Energie frei.<br />
Der dritte Schritt umfaßt in der Folge<br />
zwei Teilreaktionen: Zunächst wird das<br />
Chlor in den Methylchlorsilanen gegen<br />
OH-Gruppen ausgetauscht (Hydrolyse zu<br />
Silanolen). Danach schließt sich sofort<br />
die sogenannte Polykondensation an,<br />
wobei unter Wasserabspaltung kettenoder<br />
ringförmige Siliconmoleküle entstehen.<br />
Die Vielfalt der Silicone wird<br />
durch Abwandlung der Reaktionsparameter<br />
und damit Steuerung des Vernetzungsgrades<br />
erreicht.
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
(a) Si<br />
(b) OH<br />
(c) CH3 Figur 3. Die Bausteine der Siliciumchemie,<br />
insbesondere der Silicone. Das Silicium-<br />
Si Si Si<br />
OH Si OH<br />
H3C Si OH<br />
atom weist in diesen Gruppen jeweils eine<br />
tetraedrische Koordination auf, was durch<br />
Si<br />
OH<br />
OH deren Verknüpfung über eine, zwei, drei<br />
oder alle vier Tetraederecken – je nach<br />
Art und Anzahl der verknüpften Bausteine<br />
(d) O (e) O (f) CH3 (g) CH3 – zu Ketten, Schichten oder dreidimensionalen<br />
Gerüsten, das heißt Raumstrukturen<br />
O Si O H3C Si O H3C Si O H3C Si O<br />
führt.<br />
(a) Ausschnitt der Struktur von elementa-<br />
O<br />
O<br />
O<br />
CH3 rem Silicium, worin jedes Si-Atom mit vier<br />
weiteren, tetraedrisch angeordneten Si-<br />
Atomen verknüpft ist (Diamantstruktur).<br />
(b) Das Kieselsäuremolekül. Durch inter-<br />
(h)<br />
CH3 CH3 CH3 CH3 molekulare Abspaltung ("Kondensation")<br />
eines Wassermoleküls entsteht eine<br />
Si O Si O Si O Si O<br />
Si–O–Si-Brücke. Dies ist der Initialschritt<br />
zur Bildung von Silicaten, aber auch von<br />
CH3 CH3 CH3 CH3 n<br />
Siliconen.<br />
(c) Der Baustein Dimethylsilandiol ist –<br />
neben Trimethylsilanol und Methylsilantriol<br />
– bei der Silicon-Synthese, aber auch bei Abbauprozessen ein Bindeglied: unter<br />
Wasserabspaltung können diese Silanole kondensieren und weiter polymerisieren.<br />
(d) Der Quarz- und Silicat-Baustein, die sogenannte Q-Gruppe (Q von quadri-) mit vier<br />
Bindungsmöglichkeiten, woraus über Eckenverknüpfung, also Si–O–Si-Brücken, durch<br />
unterschiedlichste Baumuster die Siliciumdioxid-Modifikationen, aber auch die Vielfalt<br />
der Silicatmineralien entstehen. (e) Die T-Gruppe mit drei (T von tri-) Bindungsmöglichkeiten.<br />
(f) Die D-Gruppe mit zwei (D von di-) Bindungsmöglichkeiten. (g) Die M-Gruppe<br />
mit einer (M von mono-) Bindungsmöglichkeit.<br />
(h) Ausschnitt der Kettenstruktur von Polydimethylsiloxan (PDMS). Die vorerst kettenförmigen<br />
Silicone können sich zu Ringen schließen, vor allem Si4O4-Achtringen (das<br />
sogenannte D4) oder Si5O5-Zehnringen (das sogenannte D5).<br />
Mit der Synthese von Siliconen<br />
schafft der Mensch Stoffe, <strong>für</strong> die es in<br />
der Natur keine Analoga gibt. Dazu ein<br />
Zitat aus den achtziger Jahren [7] :<br />
»Wenn auch seit langem bekannt ist,<br />
daß das Silizium im Pflanzen- und<br />
Tierreich eine gewisse Rolle spielt und<br />
man ihm gelegentlich Wunderwirkungen<br />
zuordnet – zum Beispiel die Förderung<br />
des Haarwuchses – , so ist doch noch<br />
nicht bewiesen, daß dabei siliziumorganische<br />
Stoffe, das heißt Verbindungen<br />
mit Si–C-Bindung, entscheidend sind.<br />
Bisher konnte man stets nur immer wieder<br />
Kieselsäure – meist in kolloidem<br />
Zustand – feststellen. Bis auf weiteres<br />
müssen also siliziumorganische Verbindungen<br />
als vom Menschen ohne Analoga<br />
in der Natur erdacht und synthetisiert<br />
angesehen werden.«<br />
[2, 4, 7, 8]<br />
Eigenschaften<br />
Der Aufbau der Silicone ist gewissermaßen<br />
teils anorganischer, teils organischer<br />
Natur, und diese Kombination<br />
ergibt ganz besondere Eigenschaften.<br />
Die anorganische Komponente der<br />
Silicone bewirkt die im Vergleich zu<br />
anderen synthetischen Polymeren, besonders<br />
Kohlenstoff-Polymeren, höhere<br />
Wärmebeständigkeit. Diese äußert sich<br />
vor allem darin, daß bei einem Temperaturwechsel<br />
die physikalischen und<br />
mechanischen Kennwerte sich nur langsam<br />
ändern. Für viele Siliconprodukte<br />
(Siliconöle, -harze, -gummi) gilt in<br />
Gegenwart von Luftsauerstoff eine<br />
Dauerwärmebeständigkeit von 150 bis<br />
180 °C. Kurzzeitige Erwärmung darüber<br />
wird auch ohne Schaden ausgehalten.<br />
Bei Ausschluß von Luftsauerstoff, so<br />
daß die kohlenstoffhaltige Komponente<br />
der Silicone nicht oxidiert werden kann,<br />
erhöht sich die Grenztemperatur <strong>für</strong><br />
Dauerbeanspruchung um etwa 100 °C.<br />
Von der organischen Seite kommt es, daß<br />
die Silicone "Kunststoffeigenschaften"<br />
zeigen, sich also einesteils als Flüssigkeiten<br />
und andernteils als verformbare<br />
oder plastisch-elastische Massen verhalten<br />
und verarbeiten lassen. Zudem<br />
verleihen die organischen Baugruppen<br />
den Siliconen stark hydrophobe Eigenschaften,<br />
die besonders dann zur Geltung<br />
kommen, wenn ein Siliconöl eine<br />
Ausrichtung an Oberflächen erfährt [7] .<br />
Mit der wasserabstoßenden Wirkung<br />
hängen die guten dielektrischen Eigenschaften<br />
zusammen: Silicone zählen<br />
zu den Kunststoffen mit dem besten<br />
Isoliervermögen; die günstigen Werte<br />
<strong>für</strong> die Durchschlagfestigkeit und die<br />
Dielektrizitätskonstante sind in einem<br />
großen Bereich (20–200 °C) weitgehend<br />
von der Temperatur unabhängig [3] .<br />
Den Vorzügen der Silicone stehen<br />
einige Nachteile gegenüber. Vor allem<br />
sind das der verhältnismäßig hohe Preis,<br />
ferner die bei den Harzen und dem<br />
Silicongummi im Vergleich zu den entsprechenden<br />
rein organischen Produkten<br />
schwierigere Verarbeitbarkeit und die gegenüber<br />
natürlichem wie synthetischem<br />
Gummi geringere Zugfestigkeit.<br />
16<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
[2, 4, 7, 8]<br />
Funktionen<br />
Es ist uns wichtig, die Betrachtung<br />
von Eigenschaften der Silicone und die<br />
ihrer Funktionen klar auseinanderzuhalten.<br />
Erstere rühren unmittelbar vom<br />
chemischen Aufbau her; sie wurden<br />
aufgrund bekannter Beziehungen zwischen<br />
Zusammensetzung, Struktur und<br />
Eigenschaften "konstruiert". In Anlehnung<br />
an die Kohlenstoffchemie mit ihren<br />
enormen Variationsmöglichkeiten, aber<br />
unter Einbezug der charakteristischen<br />
Eigenheiten des Siliciums, wurde so<br />
eine Materialklasse entwickelt, die kein<br />
Pendant in der Natur hat: Es ist zum<br />
einen die C–Si-Bindung, die bisher in<br />
keinem organismischen System gefunden<br />
wurde; es sind aber auch die schon<br />
erwähnten Silicon-Bausteine, welche zu<br />
diversen Mustern verknüpft ein erstaunliches<br />
Spektrum von Nutzungsmöglichkeiten<br />
versprachen und versprechen.<br />
Silicone sind außergewöhnliche Funktionsmaterialien<br />
geworden. Wenn wir<br />
hier von Funktion sprechen, denken wir<br />
an die spezifischen Nutzungen der mit<br />
bestimmten Eigenschaften aufwartenden<br />
Siliconverbindungen. Wir weisen einem<br />
Siliconmolekül bestimmter Ausprägung<br />
eine spezifische Funktion zu, indem wir<br />
es an einem bestimmten Ort, in bestimmten<br />
technischen Anlagen oder in<br />
Alltagsprozessen der Wechselwirkung<br />
mit anderen Stoffen beziehungsweise<br />
physikalisch-chemischen Belastungen<br />
aussetzen. Da wir die Eigenschaften des<br />
Silicons kennen, setzen wir es genau<br />
dort ein, wo seine erwartete Gebrauchstüchtigkeit<br />
sich unter den gegebenen<br />
Bedingungen optimal entfaltet. Somit<br />
lassen sich andere, weniger effektive<br />
Stoffe oder Materialien ersetzen und<br />
insgesamt neue funktionale Stoffsysteme<br />
aufbauen. Die Frage bleibt, ob diese<br />
naturwissenschaftlich-technische Vorgehensweise<br />
keine Tücken hat. Denn das<br />
zugrundeliegende Konzept der Eigenschaft/Funktions-Beziehung<br />
kann nur<br />
auf begrenzte reale Systeme projiziert<br />
werden, ist daher in jedem Fall reduktionistisch.<br />
Die Komplexität der stofflichen<br />
Realität und der möglichen stofflichen<br />
Wechselwirkungen birgt jedoch<br />
das Risiko nicht vorhersehbarer Folgen.<br />
Die Silicone bieten eine breite Auswahl<br />
von speziellen und attraktiven<br />
Eigenschaften. Und die Menschen haben<br />
viele Wege probiert, sich diese Eigenschaften<br />
als Funktionen nutzbar zu<br />
machen. Es ist davon auszugehen, daß<br />
allein die amerikanische Silicon-Industrie<br />
mehr als 14 000 Produkte auf den Markt<br />
wirft. Tendenz steigend.<br />
Für die unterschiedlichen Verwendungen<br />
werden jeweils nur einige der
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
Eigenschaften von Siliconen funktionalisiert,<br />
die in einem definierten stofflichen<br />
und energetischen Umfeld optimal<br />
genutzt werden können. Bei jedem<br />
Einsatz von Siliconen oder auch anderen<br />
Materialien wäre aber zu beachten,<br />
daß sie von der ihnen zugedachten bald<br />
in eine andere stofflich-energetische Umgebung<br />
gelangen können. Dort werden<br />
jedoch andere ihnen innewohnende<br />
Eigenschaften zum Tragen kommen und<br />
möglicherweise unerwünschte Funktionen<br />
ausüben.<br />
Additive<br />
Neben einer Veränderung der chemischen<br />
Zusammensetzung – und damit<br />
der Eigenschaften – des Ausgangsstoffes<br />
Exkurs 1<br />
kann durch Zugabe von Additiven das<br />
Funktionsspektrum erweitert werden.<br />
Additive sind laut RÖMPP Lexikon Chemie<br />
»alle Stoffe, die anderen, insbesondere<br />
flüssigen Stoffen in kleinen Mengen<br />
zugesetzt werden, um deren Eigenschaften<br />
in gewünschter Richtung zu<br />
verändern oder deren Verarbeitbarkeit<br />
zu erleichtern«.<br />
Kaum ein Siliconprodukt besteht aus<br />
nur einer reinen Siliconverbindung oder<br />
ausschließlich einem Gemisch von Siliconen.<br />
In der Regel werden den Siliconprodukten<br />
Additive beigemischt wie<br />
zum Beispiel:<br />
● UV-Stabilisatoren, um das Produkt<br />
weniger empfindlich gegen Licht zu<br />
machen;<br />
Gesetzesgrundlagen <strong>für</strong> den Einsatz von Siliconen und Siloxanen<br />
in Europa, Japan und USA [9]<br />
Silicone und Siloxane werden schon seit geraumer Zeit hinsichtlich ihrer Toxizität und ihres<br />
Umweltgefährdungspotentials untersucht. Eine kursorische Durchsicht von Gesetzen,<br />
Gefahrstoffverordnungen und Kommentaren zeigt aber, daß diese Produkte praktisch<br />
überall als ungefährlich betrachtet werden. Die durch die Gesetze attestierte Unbedenklichkeit<br />
des Umgangs mit dieser Stoffklasse sei mit einigen Zitaten belegt:<br />
1979 schätzte die Japanese Environment Agency die Situation folgendermaßen ein: »It has<br />
been confirmed that organosilicon compounds are present at certain concentration<br />
levels throughout a broad range of the environment. Since these chemicals have very<br />
low toxicity, the observed levels are not considered to affect human health. However,<br />
since organosilicon compounds are ubiquitous man-made materials, environmental contamination<br />
by them can be taken as an index to future environmental contamination by<br />
chemicals, and as such is a very interesting subject for scientific research.« [Y. Miyakawa:<br />
"Regulatory Status of Silicones in Japan", in Lit. [9], p. 292].<br />
Diese Überzeugung wird auch in aktuellen Stellungnahmen vertreten, wobei je nach Region<br />
aufgrund der Harmlosigkeit und Nützlichkeit des verhandelten Objekts auch die wirtschaftlichen<br />
Interessen zum Zuge kommen. So findet man zu den Aktivitäten der USamerikanischen<br />
Environmental Protection Agency (EPA) folgenden Kommentar: »Over the<br />
years, EPA has engaged in relatively limited environmental regulations focused specifically<br />
on organosilicon materials. EPA, however, is in the process of implementing several environmental<br />
initiatives that may have an impact on a wide array of chemical substances,<br />
including organosilicon materials. To avoid business interruptions that could result from<br />
these initiatives, it is important for all silicone manufacturers, processors and users to<br />
anticipate upcoming regulatory actions and environmental trends, and engage in an<br />
ongoing dialogues with regulatory authorities concerning the scope and impact of such<br />
actions.« [J.A. Hatcher, G.S. Slater: "Regulatory Status of Silicones in the United States",<br />
in Lit. [9], p. 241].<br />
Die vergleichsweise weitestgehende europäische Sicht der Dinge läßt sich schließlich<br />
so zusammenfassen: »To protect human health and the environment from the potentially<br />
hazardous effects of chemical production and use, disposal and release are strictly regulated<br />
in the European Union. General environmental legislation applies to all chemicals,<br />
including organosilicon compounds. For substances with a high potential hazard, special<br />
regulations have been introduced. No such standards exist for organosilicon compounds.<br />
There are only a few cases in which organosilicon compounds are the subject of current<br />
or proposed regulatory attention in the European Union:<br />
● In the eco-label award scheme for laundry detergents (Council Regulation EEC 886/92)<br />
silicones are listed as a component of laundry detergents, and an ecological score has<br />
been assigned.<br />
● Polymeric silicones are listed in Annex II of the Council Directive EEC 76/464: "on pollution<br />
caused by certain dangerous substances discharged into the aquatic environment of<br />
the community". It is proposed that a discharge limit should be established for all listed<br />
substances.<br />
● Polymeric silicones are listed in the annexes of Marine Conventions as materials of<br />
concern, because of their resistance to biological degradation.<br />
On a national basis, silicones are classified in Germany into water pollution classes. In the<br />
Netherlands, organosilicon compounds are classified as hazardous waste.« [D. Wischer,<br />
C. Stevens: "Regulatory Status of Silicones in Europe", in Lit. [9], p. 267].<br />
Es bleibt zu hoffen, daß diese Einschätzungen der Sachlage gerecht werden.<br />
17<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
● Hitze-Kälte-Stabilisatoren, um den<br />
Temperaturbereich des vorgesehenen<br />
Einsatzgebietes zu erweitern;<br />
● Weichmacher, um Versprödung zu<br />
hindern;<br />
● Flammschutzmittel, um das Produkt<br />
schwerer entzündlich zu machen;<br />
● Biostabilisatoren, also biozide Substanzen,<br />
die Mikroorganismen abtöten.<br />
Auch Silicone selbst werden häufig<br />
in anderen Produkten als Additive verwendet,<br />
so zum Beispiel als Antischaummittel<br />
in Farben und Dieselkraftstoff,<br />
als Hydrophobierungsmittel in Baustoffen<br />
oder zur Verbesserung der Kriecheigenschaften<br />
in Ölen und Kosmetika.<br />
Trotz ihrer meist geringen Konzentration<br />
im Produkt dürfen die Additive<br />
bei der Beurteilung der Umwelt- und<br />
Gesundheitsverträglichkeit keineswegs<br />
außer acht gelassen werden, denn oft<br />
sind gerade sie Stoffe mit hoher Wirksamkeit.<br />
Auch wenn Silicone als physiologisch<br />
unwirksam und chemisch<br />
inert bewertet werden, kann ein mit<br />
Additiven ausgestattetes Siliconprodukt<br />
nicht a priori als umwelt- und gesundheitsverträglich<br />
bezeichnet werden.<br />
Es ist also nicht auszuschließen, daß<br />
wegen synergetischer Wechselwirkungen<br />
zwischen den Komponenten des<br />
Silicon-Additiv-Gemisches, aber auch<br />
zwischen dem Produkt und seiner Umgebung<br />
unerwartete Reaktionen ablaufen.<br />
Derartige Stoffgeschichten beinhalten<br />
ein erhebliches Risikopotential. Birgt<br />
die Geschichte der Silicone ebenfalls<br />
Gefahren? Könnte ihr Fortschreiten teilweise<br />
an das Schicksal des Insektizids<br />
DDT oder der ebenfalls reaktionsträgen<br />
FCKW-Funktionsmaterialien gemahnen?<br />
Physiologisches Verhalten<br />
und Umweltaspekte von<br />
Silicon-Additiv-Gemischen [9]<br />
Silicone gelten als chemisch inert,<br />
was reaktionsträge oder sogar reaktionsunfähig<br />
bedeutet. Mit dieser Eigenschaft<br />
wird häufig begründet, daß Silicone<br />
keine negativen physiologischen<br />
und ökologischen Effekte auslösen können<br />
(vergleiche Exkurs 1). Doch die<br />
Ansicht ist zu einfach und entspricht<br />
nicht der Realität. Wir möchten auf drei<br />
Problemfelder aufmerksam machen.<br />
■Die Silicone sind eine weit verzweigte<br />
und verbreitete Gruppe von Stoffen,<br />
die zwar viele ähnliche Eigenschaften<br />
aufweisen, sich aber in entscheidenden<br />
Punkten auch unterscheiden können.<br />
Für mehrere kurzkettige, flüchtige Silicone,<br />
die sogenannten Siloxane, sind<br />
toxische Effekte sowohl beim Menschen<br />
als auch in der Umwelt festgestellt worden.<br />
So können manche Organosiloxane
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
wie Östrogene wirken oder Androgene<br />
unterdrücken. Dadurch gefährden sie<br />
das männliche Reproduktionssystem.<br />
Versuche mit Octamethylcyclotetrasiloxan,<br />
dem sogenannten D4, an Wasserlebewesen<br />
ergaben eine hohe aquatische<br />
Toxizität: In Experimenten mit der<br />
Regenbogenforelle beträgt bei einer<br />
Versuchsdauer von 14 Tagen der LD 50 -<br />
Wert (Letaldosis <strong>für</strong> 50 Prozent der<br />
Versuchstiere) 10 Milligramm pro Liter.<br />
Außerdem können Fische cyclische<br />
Siloxane 1000–5000fach akkumulieren.<br />
Nichtflüchtige Silicone haben aber bisher<br />
keine Giftwirkung bei Säugetieren<br />
und Menschen gezeigt.<br />
■ Silicone sind nicht in jeder Umgebung<br />
inert. Vielmehr ist ihre außergewöhnliche<br />
Stabilität durch die Abwesenheit<br />
eines den Abbau beschleunigenden Katalysators<br />
begründet. Liegen sie jedoch<br />
feinverteilt vor, so kann es durch direkten<br />
Kontakt mit einer katalytisch aktiven<br />
Oberfläche oder durch ein starkes Oxidationsmittel<br />
(wie OH-Radikale) zum<br />
Abbau kommen. Auch die Ausrüstung<br />
von Silicon-Dichtungsmassen mit Bioziden<br />
bestätigt, daß Silicone von Mikroorganismen<br />
besiedelt und somit auch<br />
abgebaut werden können.<br />
Unter Umweltschutzaspekten bietet<br />
die Abbaubarkeit von Siliconen natürlich<br />
einige Chancen, zumal die letztlich<br />
stabilen Abbauprodukte Wasser, Kohlendioxid<br />
und Siliciumdioxid keine<br />
Umweltbelastung bedeuten. Es muß<br />
aber gründlicher erforscht werden, über<br />
welche Zwischenstufen die jeweiligen<br />
Abbaumechanismen führen. Ein Abbau<br />
über giftige Zwischenstufen – wie die<br />
oben erwähnten Siloxane – wäre fatal,<br />
vor allem wenn er in Innenräumen<br />
durch Mikroorganismen stattfindet.<br />
■ Das größte Problem des steigenden<br />
Gebrauchs von Siliconen sehen wir darin,<br />
daß ihr Abbau nur sehr umständlich<br />
(Feinverteilung) und unter ganz bestimmten<br />
Bedingungen möglich ist. So<br />
werden die notwendigen katalytischen<br />
Prozeßschritte durch Wasser verhindert,<br />
weswegen »Silicone in natürlichen<br />
aquatischen Systemen zu stabilen Bestandteilen<br />
der Sedimente werden« [9] .<br />
Weltweit sind im Sediment von Flüssen<br />
und Meeren Silicone nachzuweisen, im<br />
Rhein 0.4–83.1 Milligramm pro Kilogramm<br />
Trockengewicht, in der Bucht<br />
von San Francisco 0.7–2.6 mg/kg. Auch<br />
in der Bucht von Tokio wurden bei 17<br />
von 21 Proben Silicone und Siloxane in<br />
unterschiedlichen Konzentrationen identifiziert.<br />
Silicone, die vom Menschen erschaffenen<br />
künstlichen Stoffe, hatten bis vor<br />
wenigen Jahrzehnten in der Natur nicht<br />
existiert. Der Mensch entließ und entläßt<br />
sie in in die Biosphäre, obwohl ihr<br />
dortiges Schicksal nicht bekannt ist,<br />
aber infolge ihrer beschränkten Abbaubarkeit<br />
mit sehr langen Verweilzeiten<br />
gerechnet werden muß. Hier sehen wir<br />
künftige Risiken <strong>für</strong> natürliche Systeme,<br />
die mit hoher Wahrscheinlichkeit von<br />
den steigenden Silicon- und Siloxankonzentrationen<br />
beeinflußt werden. Wie<br />
bereits erwähnt, müssen zur Beurteilung<br />
der Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit<br />
von Siliconprodukten folgerichtig<br />
auch die ihnen zugefügten Additive beurteilt<br />
werden. Allgemeine Bemerkungen<br />
über die Toxikologie der Additive<br />
helfen kaum weiter, da eine Vielzahl<br />
unterschiedlichster Stoffe als Additive<br />
in Siliconprodukten verwendet wird.<br />
Darunter gibt es sensibilisierende und<br />
cancerogene Stoffe, zum Beispiel bei<br />
den UV- und Hitze-Kälte-Stabilisatoren.<br />
Wolkober et al. [10] haben nachgewiesen,<br />
daß »diverse Weichmacher auch <strong>für</strong><br />
pathogene Keime ein Nährboden sind<br />
und dadurch eine Quelle von schwierig<br />
zu identifizierenden Infektionen werden<br />
können«.<br />
Für viele Funktionen gibt es jedoch<br />
auch physiologisch und ökologisch unbedenkliche<br />
Additive. In der konsequenten<br />
Beschränkung auf sie steckt ein hohes<br />
Optimierungspotential – nicht nur <strong>für</strong><br />
Siliconprodukte.<br />
Siliconprodukte werden häufig mit<br />
einer ganzen Reihe von Zusätzen ausgestattet.<br />
So enthält ein handelsüblicher<br />
Siliconharzputz neben Wasser und Siliconharz<br />
noch Pigmente und Füllstoffe<br />
sowie als Additive Filmbildehilfsmittel,<br />
Entschäumer, Verdickungs- und Konservierungsmittel.<br />
Je mehr und unterschiedlicher<br />
die Zusätze, desto unkontrollierbarer<br />
werden Synergismus-Effekte.<br />
In der Toxikologie bedeutet Synergismus<br />
die gegenseitige Beeinflussung<br />
von Schadstoffen im Sinne einer additiven<br />
oder potenzierenden, gegebenenfalls<br />
neuartigen Wirkung. Heute weiß<br />
man, daß Allergien nicht nur von Einzelsubstanzen<br />
ausgelöst werden können,<br />
sondern auch durch das Zusammenwirken<br />
von Substanzen, die <strong>für</strong> sich<br />
kein allergenes Potential besitzen [11] .<br />
Chemikalienvielfalt wird als Grund <strong>für</strong><br />
eine Schwächung des Immunsystems<br />
und damit als Auslöser zahlreicher<br />
Krankheiten diskutiert, so zum Beispiel<br />
des sick building syndrome (SBS) und<br />
des chronic fatigue syndrome (CFS) [12] .<br />
In Zukunft sollte daher die Reduktion<br />
von Inhaltsstoffen bei Alltagsprodukten<br />
ein beträchtliches Optimierungspotential<br />
bieten. Wie das praktisch aussehen<br />
kann, wurde jüngst bei einer Körper-<br />
18<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
pflegemittelserie eines großen Hamburger<br />
Herstellers gezeigt [13] .<br />
4. Wirtschaftliche und<br />
gesellschaftliche Bedeutung<br />
Produktion nach Ländern und Herstellern<br />
Die weltweite Siliconproduktion nimmt<br />
ständig zu, in den neunziger Jahren um<br />
etwa 7 Prozent je Jahr. Während vor<br />
zwanzig Jahren insgesamt 300 000 Tonnen,<br />
davon in (damals) Westdeutschland<br />
ungefähr 30 000 Tonnen, produziert<br />
wurden, erreichte die Produktion 1996<br />
im vereinigten Deutschland schon<br />
250 000 Tonnen Silicone. Nordamerika<br />
ist mit 39 Prozent der größte Markt <strong>für</strong><br />
Siliconprodukte, dichtauf gefolgt von<br />
Europa. Das allgemeine Ungleichgewicht,<br />
daß die Minderheit der Menschen<br />
in den Industrieländern über die Mehrheit<br />
der Industriegüter verfügt, tritt also<br />
bei der Siliconproduktion und -nutzung<br />
besonders kraß auf.<br />
Die acht großen Firmen in der Siliconindustrie<br />
sind Dow Corning (USA), General<br />
Electric (USA), Wacker (Deutschland),<br />
Shin-Etsu (Japan), Rhône-Poulenc<br />
(Frankreich), OSi Specialities (USA),<br />
Bayer (Deutschland, jetzt mit General<br />
Electric fusioniert) und Hüls (Deutschland)<br />
in absteigender Reihenfolge. Die<br />
meisten hiervon sind große multinationale<br />
Unternehmen mit Produktion und<br />
Verkauf in vielen Ländern; der Anteil<br />
des Silicongeschäfts am Gesamtabsatz<br />
unterscheidet sich von Firma zu Firma.<br />
Die vier größten Siliconhersteller teilen<br />
sich 74 Prozent des globalen Marktes,<br />
auf die größten acht entfallen sogar 94<br />
Prozent. Die Gründe <strong>für</strong> diese Konzentration<br />
liegen in den günstigen ökonomischen<br />
Effekten der Massenproduktion<br />
im Zusammenhang mit dem technisch<br />
aufwendigen Herstellungsprozeß und<br />
der Marktbeherrschung.<br />
Was wir auf uns nehmen<br />
und was wir zu uns nehmen<br />
Wie erwähnt, werden die zahlreichen<br />
und vielfältigen Siliconprodukte in vielen,<br />
sehr unterschiedlichen Bereichen<br />
angewendet. Rechnet man die 250 000<br />
Tonnen Silicone, die in Deutschland<br />
jährlich produziert werden, auf die Einwohner<br />
um, so kommt man auf einen<br />
Anteil von 3 Kilogramm pro Kopf.<br />
Wegen der hohen Lebensdauer aller<br />
Siliconprodukte summiert sich diese<br />
Menge mit der Zeit auf ein Vielfaches.<br />
Über kurz oder lang begegnen uns<br />
Silicone in den meisten Lebensbereichen<br />
(vergleiche das Verteilungsmuster in<br />
Figur 4).
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
Siliconöle (Antischaummittel, Trennmittel)<br />
Chemische Spezialitäten (Kosmetik, Polituren)<br />
Papierbeschichtung<br />
Textilprodukte<br />
Produkte <strong>für</strong> Elektrotechnik und Elektronik<br />
Sonstiges (Pharmazie, Mechanik)<br />
Siliconelastomere und -gummis<br />
Siliconharze<br />
Figur 4. Schematische Darstellung der durch Silicone verfügbaren Produktpalette.<br />
Die Verbreitung der Silicone geht so<br />
weit, daß sie nicht nur häufig in unserer<br />
nahen Umgebung zu finden sind. Mit<br />
Textilien, Kosmetika und Nahrungsmitteln<br />
gelangen sie auch auf unsere Haut<br />
und in unseren Körper (Exkurs 2).<br />
In den USA werden jährlich 20 000<br />
Tonnen Siloxane (kurzkettige, flüchtige<br />
Silicone) <strong>für</strong> Körperpflegemittel verwendet.<br />
Sie dienen in Deodorants und<br />
Hautpflegemitteln als Trägersubstanzen,<br />
wozu sie sich durch ihre geringere<br />
Flüchtigkeit besser als Wasser eignen.<br />
Zusätzlich sind sie sehr fein versprühbar<br />
und wasserabweisend und "verbessern"<br />
– so beschreibt es der Hersteller<br />
Wacker – "das Hautgefühl". Auch in<br />
Haarpflegemitteln werden Siloxane als<br />
Strukturverbesserer eingesetzt. Eine<br />
Schätzung des Anteils siliconhaltiger<br />
Kosmetikartikel in den Regalen einer<br />
normalen deutschen oder schweizerischen<br />
Drogerie fällt schwer. Da Silicone<br />
nicht toxisch oder anderweitig belastend<br />
sind, tauchen sie in der Inhaltsdeklaration<br />
nur im gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen<br />
auf – das heißt, sie bleiben meist<br />
im Verborgenen.<br />
In der Textilindustrie hat sich <strong>für</strong> die<br />
Anwendungen von Siliconen ein weites<br />
Feld eröffnet. Im Internationalen Textilhilfsmittelkatalog,<br />
einer Auflistung der<br />
wichtigen Textilchemikalien, finden<br />
sich Siliconpräparate mit über zwanzig<br />
Anwendungen. Sie reichen von weichmachenden<br />
Mitteln über solche gegen<br />
Verfilzen und Einlaufen bis hin zu Imprägnierungen,<br />
deren Vorteile vor allem<br />
in der hohen Wasserdichtigkeit verbunden<br />
mit guter Dampfdurchlässigkeit<br />
liegen [3] . Es ist den Verbrauchern offenbar<br />
fast unmöglich, siliconfreie Textilien<br />
zu verwenden.<br />
Auch Nahrungsmittel kommen mit<br />
Siliconen einher. Sie werden beispielsweise<br />
bei biotechnischen Prozessen<br />
wie der Herstellung von L-Glutamin,<br />
Vitaminen und Ethanol als Antischaummittel<br />
eingesetzt. »Früchte werden zur<br />
Verbesserung der Spurenelementversorgung<br />
mit Eisensulfatlösungen behandelt,<br />
die Silicontenside enthalten. Orangen<br />
werden mit Wachs beschichtet, um den<br />
Früchten einen schönen Oberflächenglanz<br />
zu verleihen und das Austrocknen<br />
zu verzögern. Entsprechende Wachsbeschichtungen<br />
enthalten Silicone zur Verbesserung<br />
des Glanzes und um Schaumentwicklung<br />
beim Auftrag zu verhindern.<br />
Bei der Herstellung von Backwaren<br />
werden siliconbeschichtete Backbleche<br />
verwendet, um ein Anhaften der Backwaren<br />
zu verhindern. Flaschenkorken<br />
werden mit Siliconölemulsionen behandelt,<br />
um sie gleitfähig zu machen.« [3]<br />
Exkurs 2<br />
19<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
In Industrie, Gewerbe und Technik<br />
hält man viel von Siliconprodukten in<br />
Form von<br />
● Ölen nicht nur <strong>für</strong> Kosmetika, sondern<br />
auch als Schmier-, Brems- und<br />
Hydraulikflüssigkeiten;<br />
● Kautschuken (Elastomere und Gummis)<br />
als Dichtungsmaterial in vielen<br />
Wirtschaftszweigen, <strong>für</strong> Katheter,<br />
Trans-fusionsschläuche, Implantate,<br />
Kontaktlinsen, Kabel et cetera;<br />
● Harzen als Bindemittel, Bautenschutzmittel<br />
und Lackrohstoff [14, 15] .<br />
Die weltweite Produktion bewegt sich<br />
im Maß von Megatonnen.<br />
5. Unbeabsichtigte Funktionen<br />
Stoffströme und Energie<br />
Der Stoffstrom der Silicone läuft<br />
"down the drain", ein Kreislauf ist nicht<br />
einmal in Ansätzen verwirklicht. Obwohl<br />
Silicone schwer abbaubar und deshalb<br />
Der Streit über Brustimplantate aus Silicon<br />
Ein Mittelding zwischen Auf-sich-nehmen und Zu-sich-nehmen stellen Silicon-Implantate<br />
dar, die vor allem als Brustimplantate zu trauriger Berühmtheit gelangt sind. Der Streit um<br />
ihre physiologischen Auswirkungen ist besonders leidenschaftlich in den USA entbrannt.<br />
Dort haben zwischen einer und zwei Millionen Frauen sich operativ solche Implantate<br />
einsetzen lassen. Inzwischen wurden 70 000 Schadenersatzforderungen erhoben, weitere<br />
26 000 werden vorbereitet. Der Gesamtstreitwert beträgt 4.2 Milliarden Dollar. Die Frauen<br />
klagen über Gelenk- und Muskelschmerzen, Ausschläge, Müdigkeit, Haarausfall und<br />
kognitive Defizite, die <strong>für</strong> sie im Zusammenhang mit dem Brustimplantat stehen.<br />
Die Siliconhersteller, allen voran Dow Corning, versuchen hingegen sehr engagiert, die<br />
Harmlosigkeit ihrer Produkte zu zeigen.<br />
Im Jahre 1995 wurde die sogenannte "Silicone Breast Implants and Connective Tissue<br />
Disease"-Studie veröffentlicht, die von der Harvard Medical School, der Harvard School<br />
of Public Health und dem Brigham and Women's Hospital durchgeführt worden war. Ihr<br />
Ergebnis: Auch wenn man einen Zusammenhang zwischen Silicon-Brustimplantaten und<br />
einer Erkrankung des Bindegewebes sowie Immunschwäche und rheumatologischen<br />
Krankheiten nicht definitiv ausschließen könne, so habe man doch zumindest keine<br />
Anhaltspunkte da<strong>für</strong> gefunden. Kritiker bemängeln an der Studie sowohl die Auswahl der<br />
untersuchten Gruppe als auch das methodische Vorgehen, nur nach einem Zusammenhang<br />
mit klassischen Krankheiten zu suchen. Dies gehe am Ziel vorbei, da die durch<br />
Silicone im Körper ausgelösten Erkrankungen von neuer Art seien. Der Anwalt Richard<br />
Alexander, ein Vertreter der Patientinnen, bezweifelt das Ergebnis der Studie: »Es gibt<br />
einen bewiesenen Zusammenhang zwischen Silicon aus Brustimplantaten und Bindegewebskrankheit.<br />
Das Silicon stimuliert das Immunsystem, was dazu führt, daß sich der<br />
Körper selbst angreift.«<br />
Außerdem ist die Studie in die Kritik geraten, da zwei ihrer Autoren zugeben mußten, bezahlte<br />
Berater der Siliconhersteller zu sein, und da eine Millionenspende von Dow<br />
Corning an das Brigham and Women's Hospital bekannt geworden war. Ähnliches hatte<br />
sich schon früher bei einer Studie der Mayo Clinic zugetragen.<br />
Die Coalition of Silicone Survivors, ein weltweit über 5000 Mitglieder zählender Verein,<br />
weist auf mehrere Risiken von Silicon-Implantaten hin. So sei zum Beispiel die Prothese<br />
ein guter Nährboden <strong>für</strong> Bakterien, Pilze und Viren. Schon nach vier bis sieben Jahren<br />
könne das Implantat reißen, wobei die Silicone sich im Körper ausbreiten. Auch würde<br />
durch das Implantat die Erkennung von frühem Brustkrebs auf Röntgenbildern erschwert.<br />
Zur physiologischen Wirkung solcher Implantate wird angemerkt, daß bei deren<br />
Anfertigung unter anderem Cyclohexanon, Polyvinylchlorid, Freon, Cyanacrylat, Methylenchlorid<br />
und Benzol verwendet werden. Die Erfahrung habe gelehrt: »Silicon mag<br />
chemisch inert sein, aber biologisch inert ist es nicht. Dies bedeutet, daß jede Form von<br />
Silicon im menschlichen Körper eine Reaktion hervorrufen kann. Wenn der Ausdruck<br />
"inert" fällt, ist chemisch inert gemeint. Frage jeden Chemiker, was chemisch inert denn<br />
bedeute, und du wirst feststellen, daß es nicht heißt: "verträglich mit dem menschlichen<br />
Körper".«
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
sehr langlebig sind, wird nicht mehr gebrauchtes<br />
Silicon kaum wiederverwertet.<br />
Dabei ist ein Recycling etwa zu Papierund<br />
Textilbeschichtungen oder Ölen <strong>für</strong><br />
elektrotechnische und mechanische Verwendungszwecke<br />
prinzipiell möglich.<br />
So aber gelangt der weitaus größte Anteil<br />
des einmal benutzten Silicons auf<br />
unterschiedlichen Wegen in die Umwelt<br />
(Figur 5).<br />
In manchen Milieus, zum Beispiel in<br />
trockenem Boden, können Silicone biologisch<br />
abgebaut werden, während sie<br />
sich im Wasser als Sediment ablagern.<br />
Auf Deponien findet kaum Abbau<br />
statt. Zu einer Gesundheitsgefahr können<br />
Silicone in Feinststäuben werden, befördert<br />
durch den Gebrauch in Verschleißteilen.<br />
In Müllverbrennungsanlagen führt<br />
die Zersetzung von Siliconen zu Wasser,<br />
Kohlendioxid und Siliciumdioxid.<br />
Unter Berücksichtigung des hohen<br />
Energiebedarfs zur Silicon-Herstellung,<br />
sollte man bei der Verbrennung auf<br />
jeden Fall bemüht sein, diese Energie<br />
zurückzugewinnen.<br />
Von der Wiege bis zur Bahre –<br />
aber mit Umwegen!<br />
Dies ist eine Stoffgeschichte von Siliconen<br />
und Siloxanen, die exemplarisch<br />
von den ungeplanten und unvorhersehbaren<br />
Wegen synthetischer Funktionsmaterialien<br />
erzählt und darauf aufmerksam<br />
macht, daß unser anwendungs- und<br />
funktionsorientiertes Denken und Konzipieren<br />
leider oft zu wenig weit reicht.<br />
Und zu guter Letzt schafft dann nur<br />
noch "Feuerwehr" Remedur! Nun zum<br />
Inhalt der Geschichte:<br />
In einer europäischen Metropole wird<br />
in den späten neunziger Jahren mit großem<br />
finanziellen Aufwand und zeitgemäßem<br />
Verantwortungsbewußtsein eine<br />
Müllverwertungsanlage gebaut. Ja, es<br />
handelt sich um Müllverwertung. In der<br />
riesigen Anlage werden die gesammelten<br />
Haushaltsabfälle der Metropole nach<br />
Umwandlung zu Bio- oder Deponiegas in<br />
zehn Gasmotoren mit einer Leistung<br />
von je 600 kW zur Stromproduktion<br />
genutzt. Da sich diese europaweit<br />
modernste Anlage ihrer Größenordnung<br />
auf Stadtgebiet befindet und die Emissionen<br />
möglichst gering gehalten werden<br />
müssen, wird eine Katalysatorenbatterie<br />
nachgeschaltet, die besonders den Anteil<br />
bei der Verbrennung entstandener<br />
Stickstoffoxide drastisch vermindert.<br />
Rundum eine mustergültige Einrichtung!<br />
Nach dem ersten Betriebsjahr muß<br />
jedoch festgestellt werden, daß die<br />
Wirkung der Katalysatoren gleich Null<br />
ist. Eine Untersuchung der Ursachen<br />
ergibt, daß die Katalysatoroberflächen<br />
mit einer Quarzschicht "verglast" sind,<br />
also nicht mehr funktionieren können.<br />
Woher soll der Quarzüberzug kommen?<br />
Nun, die Gasmotorenhersteller und wenige<br />
Spezialisten wie Peter Hagmann<br />
(vergleiche Exkurs 3) wissen von dem<br />
Phänomen. In den mit Gasbrunnen gesammelten<br />
Deponiegasen finden sich<br />
erstaunlich große Mengen Siloxane.<br />
Diese flüchtigen Siliconderivate stammen<br />
einerseits aus den in die Kanalisation<br />
eingetragenen Alltagsprodukten – beim<br />
Waschen entledigen wir zivilisierten<br />
Menschen uns von Zeit zu Zeit des<br />
chemischen Schönheits- und Gesundheits-<br />
Korsetts – anderseits höchstwahrscheinlich<br />
aus Abbauprozessen von langkettigen<br />
Siliconen. Nach der Nutzung, nach<br />
der Erfüllung ihrer jeweiligen Funktion,<br />
gelangen die Siloxane also in die Deponiegase.<br />
Ihre innewohnenden Eigenschaften<br />
– sie sind chemisch inert, wasserunlöslich<br />
und flüchtig – befähigen<br />
sie, unerwarteterweise den Weg in den<br />
Gasmotor zu finden. Dort werden sie<br />
wie auch die übrigen Deponiegase mit<br />
Luft gemischt, komprimiert und verbrannt.<br />
Während aus den Deponie- oder<br />
Biogasen Methan, Propan, Butan et cetera<br />
als Verbrennungsprodukte Kohlendioxid<br />
und Wasser entstehen, werden<br />
die Siloxane zu Kohlendioxid, Wasser<br />
und Siliciumdioxid, das heißt Quarz<br />
umgewandelt. Da in der besagten Anlage<br />
über 3000 Nm 3 Deponiegas verfeuert<br />
werden und die Siloxan-Fracht 10–15<br />
mg/m 3 beträgt, werden pro Stunde mindestens<br />
30 Gramm Quarz gebildet, pro<br />
Woche läuft dann schon eine Quarz-<br />
Produktion im Kilogrammaßstab. Die<br />
Geschichte hat ihr unerwartetes Ende<br />
gefunden: Vom mineralischen Quarz<br />
ausgehend über Metamorphosen auf<br />
verschlungenen Pfaden wieder zur alten<br />
Ausgangsform, aber an einem ganz anderen,<br />
von uns keineswegs erwünschten<br />
Ort. Der aus den Siloxanen neu entstandene<br />
Quarz findet sich auf den<br />
Turbinenschaufeln sowie Zylinderköpfen<br />
der Gasmotoren in Gestalt millimeterbis<br />
zentimeterdicker Ablagerungen (vergleiche<br />
Figur 5 unten) oder als dünne,<br />
"lähmende" Schicht auf den Katalysatoren.<br />
In beiden Fällen ist Gefahr im<br />
Verzug: Lösen sich Quarzfragmente von<br />
den Motorteilen, kann das schon nach<br />
relativ kurzer Betriebszeit zum Totalschaden<br />
führen. Für einen 650 kW-<br />
Gasmotor macht das einen finanziellen<br />
Verlust um 50 000 EUR aus. Ähnliche<br />
Beträge sind notwendig, um Katalysatoreinheiten<br />
zu ersetzen.<br />
Diese Geschichte stellt keinen Einzelfall<br />
dar, sie ist vielmehr zum Problemfall<br />
<strong>für</strong> moderne Deponiegasanlagen ge-<br />
20<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
worden und enthüllt einen Risikofaktor<br />
<strong>für</strong> die Gasmotoren- und Katalysator-<br />
Hersteller. Obwohl SiO 2 an sich weder<br />
toxisch noch umweltbelastend ist, hat<br />
der vielleicht zu kurzsichtige Umgang<br />
mit der daraus abgeleiteten Stoffklasse<br />
ein Wissens- und Erfahrungsdefizit geschaffen,<br />
das aufgrund der ubiquitären<br />
Präsenz der Silicone schleunigst reduziert<br />
werden muß. Erste Schritte werden<br />
vollzogen. Zur Zeit werden in mehreren<br />
Deponieanlagen technische Vorkehrungen<br />
entwickelt, um zu verhindern, daß<br />
die Siloxane in den Motorraum kommen:<br />
● Die Siloxane werden aus der Gasfracht<br />
bei tiefen Temperaturen kondensiert<br />
und so isoliert. Das Verfahren<br />
funktioniert, ist aber sehr teuer.<br />
● Die Siloxane werden an Aktivkohlefiltern<br />
adsorbiert und später in konventionellen<br />
Anlagen verbrannt. Auch dies<br />
erfüllt seinen Zweck, aber die Kohlefilter<br />
müssen oft gewechselt werden,<br />
da sie bald gesättigt sind (nicht nur von<br />
Siloxanen). Keine billige Lösung.<br />
● Die Siloxane werden bei einer Gaswäsche<br />
in Ölen gelöst und später<br />
entweder in konventionellen Anlagen<br />
verbrannt oder durch Destillation zurückgewonnen.<br />
Während <strong>für</strong> den ersten<br />
Fall auch billige Öle, sogar Heizöl verwendet<br />
werden können, erfordert die<br />
zweite Lösung den Einsatz von relativ<br />
reinen, hochsiedenden Ölen, die dann<br />
aber wiederverwendbar sind. Die letztgenannte<br />
Option ist aus ökologischen<br />
und ökonomischen Gründen wohl das<br />
Optimum.<br />
Das Fazit der Geschichte ist nicht<br />
einfach, zuviel spielt da noch herein.<br />
Auf technischer Ebene gilt, daß der<br />
eingeschlagene Weg einer effizienten<br />
Abfallverwertung trotz der als Spielverderber<br />
identifizierten Siloxane weiter<br />
beschritten werden kann, wenn auch<br />
mit höheren Kosten. Eine generelle Betrachtungsweise<br />
wirft aber darüber hinaus<br />
Fragen auf. Es ist bekannt, daß nur<br />
ein Teil der flüchtigen Siloxane in der<br />
Abfallverwertung landet. Ein anderer<br />
Teil, vielleicht das meiste, wird verfrachtet.<br />
Wie lange es dauert, bis dieser<br />
Anteil – neben all den anderen, weniger<br />
flüchtigen Siliconabfällen – durch natürliche<br />
Prozesse abgebaut sein wird,<br />
ist unbekannt. Es ist auch noch unklar,<br />
ob in anaerobem Milieu biologische<br />
Abbauprozesse <strong>für</strong> das Auftreten erstaunlich<br />
großer Mengen der Siloxane<br />
D4 und D5 (Si 4 O 4 -Achtringe beziehungsweise<br />
Si 5O 5-Zehnringe) maßgeblich sind.<br />
Auch die thermischen Abbauprozesse,<br />
also die Verbrennung von Siloxanen<br />
und Siliconen müssen erforscht werden.<br />
Die Frage, ob gar Mikroorganismen
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
Klärschlamm<br />
Polydimethylsiloxane (PDMS)<br />
Gärtank<br />
Abwasser<br />
Aufbereitung Keine Aufbereitung<br />
Landdeponie<br />
Verbrennung<br />
Entsorgung im Meer<br />
Klärwasser<br />
Verflüchtigung Biodegradation Humifikation Transport<br />
Atmosphäre<br />
Abbau durch<br />
OH-Radikale<br />
Methan<br />
Ausgehend von Quarz, Kohle, Methan, Steinsalz, Wasser und elektrischem Strom<br />
werden durch verschiedene Prozesse die Bausteine <strong>für</strong> Silicone, die Organochlorsilane,<br />
vor allem Methylchlorsilane bereitgestellt:<br />
• Quarz wird mit Kohlenstoff zu Rohsilicium reduziert.<br />
• Durch Elektrolyse von Steinsalz werden Chlor und Natronlauge, als Sekundärprodukt<br />
auch Salzsäure gewonnen.<br />
• Aus Methan oder Erdgasfraktionen und Chlor wird Methylchlorid synthetisiert.<br />
• Bei der Müller-Rochow-Synthese wird feingemahlener Siliciumstaub mit Methylchlorid zu<br />
Methylchlorsilanen, den eigentlichen Grundchemikalien <strong>für</strong> die Siliconherstellung, umgesetzt.<br />
• Das Gemisch der so gewonnenen Methylchlorsilane wird durch fraktionierende Destillation aufgetrennt,<br />
und durch nachfolgende Hydrolyse entstehen sogenannte Organosilanole (siehe Figur 3).<br />
Bei erhöhter Temperatur polymerisieren diese Baueinheiten unter Wasserabspaltung<br />
(analog zur Silicatbildung aus Kieselsäure) zu den Polydimethylsiloxanen (PDMS).<br />
SiO 2<br />
Landwirtschaftliche Nutzung<br />
(Boden)<br />
(CH 3 )Si(OH) 3<br />
Biodegradation<br />
SiO 2 / H 2 O<br />
CO 2 / H 2 O<br />
Hydrolyse<br />
(CH 3 ) 2 Si(OH) 2<br />
Im Boden<br />
gebunden<br />
Oberflächenwasser<br />
Sediment<br />
Langsame<br />
Hydrolyse<br />
(CH 3 ) 2 Si(OH) 2<br />
Oberflächenwasser<br />
Biodegradation Photodegradation<br />
Figur 5. Werden und Vergehen von Polydimethylsiloxanen (PDMS), den häufigsten Vertretern der Silicone<br />
(adaptiert nach Chandra et al. [16] ).<br />
21<br />
GAIA 9 (2000) no. 1
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
Exkurs 3<br />
Mit dem Siloxan-Detektiv unterwegs<br />
Manfred Hagmann ist Inhaber eines Analytikunternehmens, das sich auf den Nachweis<br />
von Siliconen und Siloxanen in technischen Anlagen, insbesondere Deponie-, Klär- und<br />
Kompostieranlagen in Deutschland, aber auch in ganz Europa spezialisiert hat [21] . Einer<br />
der Autoren hat diesem Experten folgende Fragen gestellt:<br />
Frage 1: Herr Hagmann, mit welchen Methoden kommen Sie den Siloxanen auf die Spur?<br />
Die Konzentrationen der Siloxane in Biogas betragen nur wenige Milligramm pro Kubikmeter.<br />
Dabei handelt es sich um mehrere Einzelsubstanzen. Hier<strong>für</strong> muß man eine<br />
äußerst empfindliche Meßtechnik wählen, die außerdem bei der Vielzahl aller in Biogas<br />
vorkommenden Stoffe die Organosiliciumverbindungen sicher identifiziert. Die Methode<br />
der Wahl ist Gaschromatographie gekoppelt mit Massenspektrometrie, kurz GC-MS. Das<br />
ist eine der leistungsfähigsten Analysemethoden in der analytischen Chemie überhaupt.<br />
Frage 2: Können Sie die Herkunft der Siloxane durch deren Identifikation bis zur Quelle<br />
zurückverfolgen?<br />
Oft schon. Da<strong>für</strong> ein anschauliches Beispiel: Bei einer Kläranlage sind die Gasmotoren<br />
bereits nach kurzer Betriebszeit wegen der durch die Verbrennung von Siloxanen entstandenen<br />
glasartigen Ablagerungen ausgefallen. Intensive Untersuchungen aller Wasserzuläufe<br />
der Kläranlage führten schließlich zu einem Betrieb aus der Reinigungsmittelbranche,<br />
der diese Chemikalien in das Abwassersystem der Stadt eingeleitet hat. Inzwischen sind<br />
bei diesem Betrieb strengere Maßnahmen getroffen worden, um die hohe Belastung des<br />
Abwassers durch Siloxane zu vermindern. Dennoch besteht nach wie vor die Gefahr, daß<br />
bei Reinigungsarbeiten oder beim unbeabsichtigten Verschütten von Produkten wieder<br />
diese Siloxane ins Abwasser gelangen. Das hätte unwillkürlich erneut den Ausfall der Gasmotoren<br />
zur Folge.<br />
Frage 3: Wie sieht nach Ihrer Meinung die Zukunftsperspektive <strong>für</strong> die Produktion,<br />
Nutzung und Entsorgung von Siloxanen aus?<br />
Die Organosiliciumverbindungen, wozu auch die Siloxane gehören, haben überragende<br />
Eigenschaften. Sie sind aus unserer modernen Welt der Kosmetik, Medizin, Haushaltsund<br />
Industrietechnik nicht mehr wegzudenken. Die Produktionszahlen <strong>für</strong> diese Verbindungen<br />
steigen stetig. In der Umwelt erwächst daraus nach heutigem Wissensstand<br />
keine Gefährdung. Im Biogas allerdings, das als Energiequelle genutzt werden soll, führen<br />
sie leider zu fatalen Motorschäden. Wenn es nicht gelingt, diese Störfaktoren aus dem<br />
Gas zu eliminieren, stünde wahrscheinlich die Verwertung von Biogas vor dem Aus. Biogas<br />
wieder wie früher abzufackeln, wäre sicherlich ein ökologischer und ökonomischer<br />
Rückschritt.<br />
existieren oder sich entwickeln, welche<br />
die Silicium-Kohlenstoff-Bindung zu<br />
spalten vermögen – energetisch läßt sich<br />
das nicht ausschließen – ist von außerordentlichem<br />
Interesse <strong>für</strong> die Biosphäre,<br />
bleibt vorerst aber offen.<br />
Diese Situation soll nun zum Ausgangspunkt<br />
eines Forschungsprogramms<br />
werden, in dem an der Silicongeschichte<br />
oder -wertschöpfungskette beteiligte<br />
Unternehmen und <strong>Institut</strong>ionen, besonders<br />
das Bayerische <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Abfallforschung,<br />
die <strong>Universität</strong> <strong>Augsburg</strong>,<br />
das Klärwerk <strong>Augsburg</strong>, Deponiebetreiber<br />
und Motorenhersteller ein Konzept<br />
erarbeiten, das einen zukunftsfähigen<br />
22<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
Umgang mit dieser Stoffklasse erlaubt.<br />
Eine wichtige Erkenntnis aus der<br />
Silicongeschichte ist, daß sich unsere<br />
Zivilisation synthetischer Funktionsmaterialien<br />
bedient, ohne um deren mögliche<br />
Wechselwirkungen in der "realen<br />
Welt" zu wissen. Daß ausschließlich<br />
synthetisch hergestellte Silicone oder<br />
deren Abbauprodukte einmal auf der<br />
Schaufel einer Gasmotorturbine und ein<br />
andermal in der Wachsschicht eines Buchenblattes<br />
nachzuweisen sind, zeigt,<br />
daß in beiden Fällen unerwartete Stoffgeschichten<br />
sich zu erheblichen Risikofaktoren<br />
auswachsen können. Der erste<br />
Fall wurde geschildert; im zweiten Fall<br />
gibt es vorerst nur Spekulationen, die<br />
darauf hindeuten, daß die Substitution<br />
der mit Abwehrstoffen versehenen<br />
Wachsschicht vieler Blätter zu einer<br />
Resistenzschwächung führen könnte – in<br />
Anbetracht der fortwährend schwindenden<br />
Baumbestände eine fatale Aussicht.<br />
Diese Überlegungen erfordern die<br />
Frage, ob trotz der technisch-naturwissenschaftlich<br />
geprägten Strategie, eine<br />
chemisch inerte Klasse von Funktionsmaterialien<br />
bereitzustellen und zu nutzen,<br />
das Eigenschaftenspektrum eben<br />
dieser vollsynthetischen Stoffe Wechselwirkungen<br />
mit den natürlichen Stoffen<br />
und Stoffsystemen der Biosphäre zuläßt<br />
oder gar initiiert.<br />
Resistenzbildung bei Mikroorganismen<br />
durch Siliconbaustoffe<br />
Der Einsatz von Additiven soll, wie<br />
erwähnt, die Funktionen eines Stoffs in<br />
einer bestimmten Weise verbessern. Daß<br />
ein Additiv in komplexen natürlichen<br />
Zusammenhängen aber ganz andere<br />
Funktionen erfüllen kann, als man von<br />
ihm erwartet, zeigt folgendes Beispiel:<br />
Ein unter Gesundheits- und Umweltaspekten<br />
sehr problematisches Additiv<br />
sind die sogenannten Biostabilisatoren,<br />
das sind biozide Substanzen, die auch<br />
einigen Siliconprodukten zugesetzt werden.<br />
In der Wacker-Information Siliconharzputze<br />
in der Praxis heißt es: »Siliconharzputze<br />
als Fassadenbeschichtung<br />
bleiben (…) vor Pilz/Algenwachstum (…)<br />
nicht verschont. Zusätze von Fungiziden/<br />
Algiziden sind erforderlich. Zahlreiche<br />
dieser Biozide werden nach der Gefahrstoffverordnung<br />
(GefStoffV) als gesundheitsschädlich<br />
eingestuft und mit dem<br />
Gefahrensymbol Xn versehen.« Auch<br />
Silicondichtungsmassen, wie sie <strong>für</strong><br />
Fenster und im Sanitärbereich verwendet<br />
werden, sind mit Bioziden ausgerüstet<br />
– teils zum Schutz des Materials,<br />
sicherlich aber auch aus optischen<br />
Erwägungen, da Pilze und Algen das<br />
Silicon verfärben.
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
Schon durch ihre Toxizität sind Biozide<br />
<strong>für</strong> Mensch und Umwelt nicht<br />
harmlos, auch wenn ihre Konzentration<br />
in den Produkten gering ist. Ein viel<br />
ernsteres Problem des Biozideinsatzes,<br />
in seiner Komplexität noch kaum erkannt,<br />
ist die Gefahr der Resistenzbildung<br />
bei Mikroorganismen. Im Zusammenhang<br />
mit Antibiotika ist dieses<br />
Problem bereits länger bekannt und hat<br />
sich in den letzten Jahren so drastisch<br />
verschärft, daß viele schon besiegt geglaubte<br />
Infektionskrankheiten nun wieder<br />
auf dem Vormarsch sind [17] .<br />
Die Resistenzbildung verläuft folgendermaßen:<br />
Kommt ein Antibiotikum in<br />
eine bestimmte Umgebung (meist im<br />
Körper), so tötet es dort unterschiedslos<br />
alle Mikroorganismen bis auf die, in<br />
deren Erbgut ein spezifischer Schutzmechanismus<br />
angelegt ist. Die meisten<br />
Mikroorganismen sind jedoch völlig<br />
harmlos oder »schützen sogar vor Erkrankungen,<br />
indem sie mit der pathogenen<br />
Minderheit konkurrieren« [18] .<br />
Die allgemeine Reduktion der Keimzahl<br />
durch das Antibiotikum verringert<br />
folglich den Schutz vor pathogenen<br />
Keimen [19] . Diejenigen Krankheitserreger,<br />
die sich gegen das Antibiotikum<br />
als resistent erweisen, können sich<br />
dann ungestört vermehren. Außerdem,<br />
so schreibt Stuart B. Levy, Direktor<br />
eines Zentrums <strong>für</strong> Adaptive Genetik<br />
und Medikamentenresistenz in Medford<br />
(Massachusetts), ȟberleben von den<br />
nur nebenbei dezimierten Arten ebenfalls<br />
gefeite Varianten, die sich dann<br />
ausbreiten. Damit züchtet man geradezu<br />
ein Reservoir von Populationen mit<br />
Resistenzmerkmalen, aus dem sich hinzukommende<br />
Krankheitserreger bedienen<br />
können«. Denn »Austausch von Genmaterial<br />
ist in der Welt der Bakterien<br />
derart gang und gäbe, daß man sie sich<br />
in ihrer Gesamtheit als einen einzigen<br />
riesigen Organismus denken kann, dessen<br />
Zellen untereinander mit Leichtigkeit<br />
Erbgut austauschen« [18] .<br />
Daher ist offensichtlich, daß nicht<br />
nur durch antibiotische Medikamente,<br />
sondern durch jeden antimikrobiellen<br />
Wirkstoff die Resistenzbildung gefördert<br />
wird – auch durch Desinfektionsmittel<br />
und Biostabilisatoren. Dies wäre dann<br />
noch nicht so schlimm, wenn die Mikroorganismen<br />
nur gegen das eine verwendete<br />
Biozid resistent würden, denn es<br />
wird ja vielleicht gar nicht als Medikament<br />
eingesetzt. Dem ist jedoch nicht<br />
so. Erstens können resistente, aber normalerweise<br />
harmlose Bakterien allein<br />
dadurch gefährlich werden, daß sie<br />
stark wuchern, sobald ihnen das Biozid<br />
»das Feld geräumt hat« [18] . Zweitens<br />
enthalten die Plasmide mit der Erbinformation<br />
<strong>für</strong> eine Desinfektionsmittel-<br />
Resistenz manchmal auch bereits Resistenzgene<br />
gegen Antibiotika. So werden<br />
durch übertriebenes Desinfizieren<br />
unbeabsichtigt Erreger gezüchtet, die<br />
gleichzeitig gegen Antibiotika gefeit<br />
sind [18] . Der gleiche Effekt muß auch<br />
bei Biostabilisatoren vermutet werden.<br />
Dies sollte Grund genug sein, fordert<br />
Michael Groß, um »endlich verantwortlich<br />
mit dem Arsenal der antimikrobiellen<br />
Stoffe umzugehen« und auf »jede überflüssige<br />
Anwendung« zu verzichten [20] .<br />
Und Levy warnt: »Der unbedachte Umgang<br />
mit solchen Mitteln könnte unser<br />
Zuhause zu einem Quell unausrottbar<br />
pathogener Bakterien machen« [18] .<br />
Wenn antimikrobielle Wirkstoffe in den<br />
Müll oder ins Abwasser gelangen, gibt<br />
es natürlich gleiche Probleme auch<br />
außerhalb des Hauses, so zum Beispiel<br />
in Kläranlagen, wo nicht einmal Grenzwerte<br />
<strong>für</strong> pathogene Keime vorgeschrieben<br />
sind.<br />
Levy und Groß haben bei ihren Ausführungen<br />
hauptsächlich Antibiotika<br />
und Desinfektionsmittel im Blick. Die<br />
unserer Ansicht nach dringend erforderliche<br />
Einbeziehung der Biostabilisatoren<br />
in die Resistenzproblematik bringt <strong>für</strong><br />
den Verbraucher zusätzliche Probleme<br />
mit sich. Während er den Gebrauch von<br />
Antibiotika und Desinfektionsmitteln<br />
selbst einschränken kann, ist ihm das<br />
Vorhandensein von Biostabilisatoren in<br />
Produkten meist nicht einmal bekannt.<br />
Kaum einer ahnt, daß er in den Fugen<br />
seiner Fenster, Waschbecken und Badewanne<br />
gefährliche Krankheitserreger heranzüchtet.<br />
Hier muß einerseits die Aufklärung<br />
der Verbraucher vorangetrieben<br />
werden; hauptsächlicher Handlungsbedarf<br />
aber besteht bei den Produktherstellern,<br />
jeden Einsatz von Biostabilisatoren<br />
sehr kritisch zu überprüfen.<br />
Auf biozide Additive läßt sich meist<br />
leichter verzichten als auf Antibiotika<br />
oder Desinfektionsmittel. Für wirklich<br />
notwendige Anwendungsfälle muß nach<br />
alternativen Wirkstoffen gesucht werden,<br />
die keine Resistenzbildung verursachen.<br />
6. Nicht die Moral,<br />
aber etliche Konsequenzen<br />
der Silicongeschichte<br />
Sinnbildlich gesprochen sollen die<br />
Siliconkontaktlinsen nicht unser Blickfeld<br />
verengen, sondern den Blick da<strong>für</strong><br />
schärfen, wie wir mit naturwissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen und technischen<br />
Errungenschaften verantwortlich und<br />
23<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
haushälterisch umgehen können. Der<br />
Umgang mit Ressourcen, daraus erzeugten<br />
Materialien und den Alltag verändernden<br />
Produktionsweisen erfordert<br />
eine Erweiterung der Nutzungsstrategien.<br />
Wir müssen mit viel intensiverer Anstrengung<br />
daran arbeiten, die Bedingungen<br />
eines zukunftstauglichen Einsatzes<br />
von Stoffen und Energieträgern<br />
über deren Einsatzdauer zu gestalten,<br />
von der Wiege bis zur Bahre. Entsprechende<br />
Instrumente wie Stoff-, Energieund<br />
Ökobilanzen oder das modernste<br />
Konzept der Integrierten Produktionspolitik<br />
(IPP) helfen dabei weiter.<br />
Die Botschaft der Silicongeschichte<br />
eröffnet aber tiefergehende Perspektiven:<br />
Stoffe können aufgrund experimentell<br />
gewonnener Kenntnisse funktionalisiert<br />
werden. Das heißt, ihre innewohnenden<br />
Eigenschaften können systematisiert und<br />
vorausgesagt werden. So gelang es der<br />
Chemie, bei Polymeren durch Ersatz<br />
von Kohlenstoff durch Silicium eine<br />
neue, vollsynthetische Stoffklasse mit<br />
teilweise überragenden Eigenschaften<br />
zu kreieren. Daraus ergaben sich auch<br />
neue, technisch und wirtschaftlich attraktive<br />
Nutzungsmöglichkeiten, neuartige<br />
Funktionen. Die Siliciumchemie, besonders<br />
die Siliconchemie erbrachte innovative<br />
Wertschöpfungsketten. Diese Entwicklung<br />
wird fortschreiten. Neue<br />
Funktionen werden erfolgreiche Anwendungen<br />
ermöglichen, neue funktionale<br />
Materialsysteme werden entstehen und<br />
unser Leben, die Biosphäre unseres<br />
Planeten verändern. Die bisherigen Erfahrungen<br />
mit den Siliconen machen<br />
aber deutlich, daß die so vielversprechenden<br />
Nutzungsweisen nur dann dauerhaft<br />
gewinnbringend werden können, wenn<br />
auch die durch sie entstehenden Risiken<br />
berücksichtigt werden. Die Komplexität<br />
der realen chemisch-physikalischen Umgebungen,<br />
denen die Silicone kurz- oder<br />
langfristig ausgesetzt werden, ist nicht<br />
vollends zu überblicken. Unvorhersehbare<br />
Wechselwirkungen werden auch<br />
weiterhin eintreten und mithin neue<br />
Kapitel der Silicongeschichte bescheren.<br />
Sie lassen sich auf der Grundlage des<br />
Denkens in Funktionen weder systematisieren<br />
noch quantifizieren. Obwohl<br />
die bisherige Strategie sehr viele erfolgreiche<br />
Umsetzungen von Stoffeigenschaften<br />
in nützliche Anwendungen oder<br />
Funktionen ermöglicht hat, ist sie limitiert:<br />
das Wirkungspotential von Stoffen<br />
in Zeit und Raum wird gegebenenfalls<br />
zu stark reduziert. Verläßt der Stoff die<br />
ihm zugedachte Laufbahn und entfaltet<br />
in anders stofflich-energetischer Umgebung<br />
aus seinen intrinsischen Eigenschaften<br />
andere Funktionen, so ist im
Umwelt-Stoffwechsel von Siliconprodukten<br />
schlimmsten Fall mit Schäden, im besten<br />
Fall mit neuen Erkenntnissen zu rechnen.<br />
Die Frage bleibt, inwiefern hier das<br />
Denken in Stoffgeschichten weiterhilft.<br />
Das Zuerkennen einer Historizität von<br />
Stoffen und Materialien bedeutet, daß<br />
Vorsicht und Voraussicht geboten sind:<br />
Vorsicht im Sinne eines Einsatzes von<br />
Materialien mit Reparaturmöglichkeiten<br />
und Abbruchszenarios, einer Technikfolgenabschätzung;<br />
Voraussicht mit dem<br />
aufmerksamen, findigen Ausdenken von<br />
potentiellen Wechselwirkungen, ein<br />
virtuelles Weiterschreiben der Stoffgeschichte,<br />
vergleichbar mit dem Entwerfen<br />
eines Science-fiction-Romans.<br />
Die von uns Menschen erdachte, erfundene<br />
und gestaltete, aber weder zu<br />
Ende gedachte noch zu Ende geführte<br />
Geschichte der Silicone ist nur ein Kapitel<br />
einer viel längeren, umfassenden<br />
Geschichte. Es ist die Geschichte dieser<br />
Erde, des Wassers, des Bodens, der Luft<br />
und der sie ständig bewegenden und<br />
verändernden Energien und Umwandlungen.<br />
Wir haben im Laufe der Kulturund<br />
Zivilisationsgeschichten vage Kenntnisse<br />
des Anfangs, der Wiege, stehen in<br />
der Mitte des Lebens mit seinen Freuden<br />
und Leiden, ahnen aber nur wenig<br />
von der Zukunft, obwohl wir so gerne<br />
mehr von ihr wissen und sie gestalten<br />
möchten. Es bleibt uns überlassen, unsere<br />
beschränkten Kenntnisse möglichst<br />
weise und umsichtig zu nutzen. Die<br />
Erfindung, Planung und Gestaltung von<br />
Stoff- und Materialgeschichten sind<br />
hilfreiche Antennen, mit denen wir auf-<br />
Armin <strong>Reller</strong>: Geboren 1952 in Winterthur, Kanton Zürich.<br />
Studium der Chemie und Promotion an der <strong>Universität</strong> Zürich;<br />
Postdoktorat an der Cambridge University in England;<br />
Forschungsaufenthalt am Indian <strong>Institut</strong>e of Science, Bangalore.<br />
Anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter am Anorganischchemischen<br />
<strong>Institut</strong> der <strong>Universität</strong> Zürich. 1988–1991 Koordinator<br />
<strong>für</strong> das Nebenfach Umweltlehre an dieser <strong>Universität</strong>;<br />
ab 1988 Übernahme der Leitung des Forschungsprogramms<br />
Thermochemie/Solarchemie (Bundesamt <strong>für</strong> Energiewirtschaft).<br />
1992–1998 ordentlicher Professor am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Anorganische<br />
und Angewandte Chemie der <strong>Universität</strong> Hamburg;<br />
daneben seit 1995 Leiter des Programms Solarchemie/Wasserstoff/<br />
Regenative Energieträger (BEW, Bern).<br />
1999 Übernahme des neu eingerichteten Lehrstuhls (C4-Professur) <strong>für</strong> Festkörperchemie<br />
im <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Physik</strong> der <strong>Universität</strong> <strong>Augsburg</strong> [http://www.physik.uni-augsburg.de/<br />
chemie/index.html].<br />
Michael Braungart: Geboren 1958 in Schwäbisch Gmünd, Württemberg.<br />
Studium der Chemie und Verfahrenstechnik in Konstanz und<br />
Darmstadt; Promotion 1985 am Fachbereich Chemie der <strong>Universität</strong><br />
Hannover. Ab 1982 Mitwirkung beim Aufbau des Bereichs Chemie<br />
von Greenpeace und 1985 mit dessen Leitung beauftragt.<br />
1987 gründete er in Hamburg ein Forschungs- und<br />
Beratungsinstitut, das seit 1994 als EPEA Internationale Umweltforschung<br />
GmbH firmiert. Darüber hinaus ist er Wissenschaftlicher<br />
Leiter des gemeinnützigen Hamburger Umweltinstituts e.V. und<br />
seit 1994 Professor an der Fachhochschule Nordostniedersachsen<br />
<strong>für</strong> das Fach Verfahrenstechnik. Arbeitsschwerpunkte: Realisierung<br />
zukunftstauglicher "intelligenter Produkte", Entwicklung und<br />
Umsetzung von Umweltschutzkonzepten, umweltverträgliche Produktionsverfahren,<br />
Ökobilanzen komplexer Gebrauchsgüter.<br />
Jens Soth: Geboren 1963 in Essen im Ruhrgebiet.<br />
Studierte Agrarwirtschaft und ökologische Umweltsicherung<br />
an der <strong>Universität</strong> Gesamthochschule Kassel. Mehrjährige<br />
Ingenieurtätigkeit in der Abfall- und Abwasserwirtschaft, danach<br />
Mitarbeit im BFT-Projekt "Umweltverträgliches Wirtschaftssystem<br />
in den Bereichen Abfall und Emissionen".<br />
Seit 1993 bei der EPEA Internationale Umweltforschung<br />
GmbH, Arbeitsgebiet Stoffströme;<br />
1995 in die Geschäftsleitung berufen.<br />
Ole von Uexküll: Geboren 1978 in Hamburg.<br />
Nach dem Abitur am Christianeum in Hamburg zunächst Praktika<br />
bei der Right Livelihood Award Foundation in Stockholm,<br />
die den sogenannten Alternativen Nobelpreis vergibt,<br />
und bei der EPEA Internationale Umweltforschung in Hamburg.<br />
1998 Aufnahme des Studiums der Umweltwissenschaft in Lund,<br />
Schweden; Schwerpunkt ist die Umweltphysik.<br />
24<br />
GAIA 9 (2000) no. 1<br />
grund historischer und aktueller Wahrnehmungen<br />
und Erfahrungen zukunftstaugliche<br />
Lösungen anpeilen können.<br />
Literaturverzeichnis<br />
[1] M. Huppenbauer, A. <strong>Reller</strong>: "Stoff, Zeit und<br />
Energie – Ein transdisziplinärer Beitrag zu<br />
ökologischen Fragen", GAIA 5/2 (1996)<br />
103–115.<br />
[2] J. Falbe, M. Regitz (Ed.): RÖMPP Lexikon<br />
Chemie, Band 5, 9. Auflage,<br />
Thieme, Stuttgart (1995), p. 4168–4172.<br />
[3] A. Tomanek: Silicone & Technik,<br />
Wacker-Chemie, München (1990).<br />
[4] Siehe im weiteren Ullmann's Encyclopedia<br />
of Industrial Chemistry, Vol. A 24:<br />
Silicon Compounds, 5. Edition,<br />
Wiley-VCH, Weinheim (1993), p. 57–93.<br />
[5] E.G. Rochow: Silicium und Silicone,<br />
Springer-Verlag, Berlin (1987).<br />
[6] Kirk-Othmer: Encyclopedia of Chemical<br />
Technology, Vol. 22, Wiley, New York<br />
(1997), p. 82–142.<br />
[7] Silikone – Eine Einführung in Eigenschaften,<br />
Technologien und Anwendungen,<br />
VEB Verlag <strong>für</strong> Grundstoffindustrie,<br />
Berlin (1981).<br />
[8] N. Auner, J. Weis (Ed.): Organosilicon<br />
Chemistry IV, Wiley-VCH, Weinheim (2000).<br />
[9] O. Hutzinger, G. Chandra (Ed.): The Handbook<br />
of Environmental Chemistry, Vol. 3:<br />
Anthropogenic Compounds, Part H,<br />
Springer-Verlag, Berlin (1997).<br />
[10] Z. Wolkober, I. Gyarmati, M. Farkas:<br />
Kunststoffe – Fortschrittsberichte 3 (1976) 45.<br />
[11] S.J. Bashir, H.I. Maibach:<br />
"Compound Allergy – An Overview",<br />
Contact Dermatitis 36 (1997) 179–183.<br />
[12] D. Buchwald, D. Garrity, R. Pascualy:<br />
"Chronic Fatigue Syndrome", Toxicology<br />
and Industrial Health 8 (1997) 157–174.<br />
[13] M. Braungart, I. Pott, C. Sinn, J. Soth:<br />
"Allergieprävention durch intelligentes<br />
Produkt-Design", Medizin und Umwelt 12<br />
(1999) 54–58.<br />
[14] Hollemann-Wiberg: Lehrbuch der<br />
Anorganischen Chemie, 101. Auflage,<br />
de Gruyter, Berlin (1995), p. 952–953.<br />
[15] K.H. Büchel, H.-H. Moretto, P. Woditsch:<br />
Industrielle Anorganische Chemie,<br />
3. Auflage, Wiley-VCH, Weinheim (1999),<br />
p. 313–333.<br />
[16] G. Chandra, L.D. Maxim, T. Sawano:<br />
"Organosilicon Materials", in The Handbook<br />
of Environmental Chemistry, Vol. 3, Part H,<br />
Springer-Verlag, Berlin (1997), p. 295–319.<br />
[17] H.-G. Sonntag: "Infektionsgefahren nehmen<br />
zu", Spektrum der Wissenschaft,<br />
Dossier Seuchen (1997) 110–113.<br />
[18] S.B Levy: "Antibiotikaresistenz –<br />
eine globale Herausforderung", Spektrum<br />
der Wissenschaft, Nr. 5 (1998) 34–41.<br />
[19] J.M. Jay: "Foods with low numbers of<br />
microorganisms may not be the safest foods<br />
or, why did human listeriosis and<br />
hemorrhagic colitis become foodborne<br />
diseases?", Dairy Food and Environmental<br />
Sanitation 15 (1995) 674–677.<br />
[20] M. Groß: "Bedrohlich schnelle Ausbreitung<br />
von Antibiotika-Resistenzen", Spektrum<br />
der Wissenschaft, Dossier Seuchen (1997)<br />
108–109.<br />
[21] Vergleiche auch M. Schweigkofler,<br />
R. Niessner: Environmental Science<br />
and Technology 33 (1999) 3680–3685.<br />
(Eingegangen am 14. Februar 2000; MOS)
Armin <strong>Reller</strong>*, Michael Braungart, Jens Soth und Ole von Uexküll<br />
Silicone – eine vollsynthetische Materialklasse macht Geschichte(n)<br />
GAIA 9/1 (2000) 13–24<br />
Abstract: Silicones are fully synthetic chemical compounds. Owing to their outstanding<br />
properties like chemical inertness, thermal stability, and versatile utilizability they became more<br />
and more integrated components of everyday products, be it food, garments, cosmetics,<br />
contact lenses, building materials or cars. Here the story of the silicones is presented. It is not<br />
only a historical synopsis of how they have been invented, improved and used. It is rather an<br />
attempt to describe the relevance of a class of materials designed for enormously widespread<br />
ways of utilization, that is to say of manifold practical functions. The reality, however,<br />
elucidates that the intrinsic properties of the silicones may also fulfil unexpected functions<br />
when exposed to unplanned conditions: In gas motors fuelled by biogas collected in<br />
communal waste disposal systems, glassy deposits were found in the cylinders. In some cases<br />
the motors were destroyed. The source for this solid deposits are volatile silicones (i.e.,<br />
siloxanes) from everyday utilizations. Obviously the materials make their own history. This fact<br />
is neither beneficial for a sustainable development nor advantageous for the risk-diminishing<br />
implementation of high-tech materials. Possibilities how to cope with these problems are<br />
outlined. The importance of the perception of so-called "Stoffgeschichten", by which is meant<br />
the partly fatal cradle-to-grave history of a man-made range of useful materials is emphasized<br />
and exemplified by the silicones.<br />
Keywords: cycles of matter, functional materials, silicones, "Stoffgeschichten",<br />
sustainable production and utilization<br />
*Postal address: Prof. Dr. A. <strong>Reller</strong><br />
Lehrstuhl <strong>für</strong> Festkörperchemie, <strong>Universität</strong> <strong>Augsburg</strong><br />
<strong>Universität</strong>sstraße 1, D-86159 <strong>Augsburg</strong> (Deutschland)<br />
E-Mail: armin.reller@physik.uni-augsburg.de