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Universität Hannover<br />

Exkursion Graubünden<br />

Sommersemester 2002


Programm:<br />

Montag, 20.05.<br />

Anreise<br />

Kunsthaus Bregenz<br />

Chur:<br />

Postautobus-Bahnhof Chur<br />

Bürogebäude Chur<br />

Schutzbauten für römische Funde<br />

Dienstag, 21.05.<br />

Unterwerk Seewis<br />

Gründerzentrum Grüsch<br />

Salginatobel-Brücke Schiers<br />

Sunnibergbrücke Klosters<br />

Davos:<br />

Kirchner Museum<br />

Sportzentrum<br />

Werkhof<br />

Restaurant Vinikus<br />

Schulhaus Alvaschein<br />

Mittwoch, 22.05.<br />

Brücke Reichenau<br />

Aufbahrungshalle Bonaduz<br />

Haus Truog „Gugalun“ Versam/Safiental<br />

Forstwerkhof Castrisch<br />

Gelbes Haus Flims<br />

Donnerstag, 23.05.<br />

Caplutta da S. Benedegt Sumvitg<br />

Schulerweiterung Vella<br />

Strickbauten Vrin<br />

Valserrheinbrücke Uors - Surcasti<br />

Felsentherme Vals<br />

Freitag, 24.05.<br />

Schulhaus Paspels<br />

Ev. Ref. Kirche Cazis<br />

Brücke Thusis<br />

Punt da Suransuns Viamala<br />

Val-Tschielbachbrücke Donath<br />

Rückreise<br />

Programm


Teilnehmer<br />

Exkursionsteilnehmer:<br />

Beard Adam<br />

Behmann Meike<br />

Böker Annika<br />

Bröcker Isabell<br />

Frerichs Gerd<br />

Frers Sibylle<br />

Fricke Johanna<br />

Furche Alexander<br />

Graff Maren<br />

Hellmers Philipp<br />

Hoffmann Birgit<br />

Janßen Imka<br />

Kalkühler Mirka<br />

Keil Leonie<br />

Kiesrau Grischa<br />

Lokitek Andreas<br />

Monamedi Adel<br />

Mulyanto<br />

von der Osten Peter<br />

Ostermeyer York<br />

Papenberg Gunnar<br />

Petersen Malte<br />

Petters Volker<br />

Raab Alexander<br />

Rau Ulrike<br />

Schmidt Andrea<br />

Schmidt Jan H.<br />

Schmidt Torsten<br />

Schubert Thomas<br />

Speth Martin<br />

Tokarz Bernhard<br />

Voss Jessica<br />

Wehrmann Christian<br />

Wendler Christina<br />

und der Fahrer des Busses


Inhalt:<br />

Graubünden 1<br />

Region, Ort, Architektur - ein Überblick 7<br />

Flims 14<br />

Die Architektur von Rudolf Olgiati 15<br />

Kunsthaus Bregenz 20<br />

Postautostation 27<br />

Verwaltungsgebäude in Chur 31<br />

Schutzbauten für römische Funde 36<br />

Totenhaus / Aufbahrungshalle 38<br />

Haus ´Truog Gugalun´ 41<br />

Forstwerkhof Castrisch 44<br />

´Gelbes Haus´ / Kulturzentrum / Museum 49<br />

Salginatobel-Brücke 54<br />

Gründerzentrum Grüsch 58<br />

Unterwerk Vorderprättigau 61<br />

Sunnibergbrücke 64<br />

Kirchner Museum 72<br />

Sportzentrum Davos 76<br />

Werkhof Davos 78<br />

Um- und Neubau Restaurant Vinikus 79<br />

Schulhaus mit Saal 81<br />

Caplutta Sogn Benedetg 86<br />

Schulanlage Vella 90<br />

Strickbauten Vrin 94<br />

Felsentherme Vals 102<br />

Oberstufenschulhaus Paspels 108<br />

ref. Evangelische Kirche Cazis 113<br />

Spannbandbrücke Pùnt da Suransums 115<br />

Val Tschielbach-Brücke 119<br />

Traversiner Steg 123<br />

Engadiner Nußkuchen 127<br />

Inhalt


Graubünden<br />

Das Land der 150 Täler<br />

Die „Ferienecke der<br />

Schweiz“ lockt mit Superlativen:<br />

150 Täler, 615 Seen,<br />

937 Gipfel. Alleine diese Aufzählung<br />

charakterisiert überdeutlich<br />

den östlichsten der<br />

vier Alpenkantone, der am<br />

Gotthardmassiv mit den anderen<br />

- Wallis, Tessin und<br />

Uri - zusammenstößt: „Eine<br />

eigene Schweiz in der<br />

Schweiz.“ Hier finden sich<br />

Gegensätze, wie sie selbst<br />

die vielfältige Eidgenossenschaft<br />

sonst nicht zu bieten<br />

hat: Ein Höhenunterschied<br />

von fast 3800 m liegt zwischen<br />

dem höchsten und<br />

dem niedrigsten Punkt<br />

Graubündens, der ewig<br />

weissen Spitze des Piz Bernina<br />

(4049 m) und den mediterranenKastanienwäldern<br />

bei San Vittore<br />

(260 m).<br />

Graubündens Enstehung ist<br />

eng mit der der Alpen verknüpft,<br />

die im Tertiär - vor 66<br />

bis 1,5 Mio. Jahren durch<br />

Auffaltung entstanden.<br />

Während der Eiszeiten wurden<br />

die groben Strukturen<br />

feingeschliffen. Bis vor etwa<br />

10.000 Jahren waren praktisch<br />

alle Alpentäler<br />

phasenweise vergletschert,<br />

darunter auch das Rheintal,<br />

dessen Eisstrom sich beim<br />

heutigen Sargans teilte und<br />

in Richtung Bodensee bzw.<br />

Walensee weiterfloss. Hier<br />

entstand ein typisches Trogtal<br />

mit weitem, flachem Boden<br />

und damit die einzige<br />

Stelle des Kantons, die die<br />

Ansiedlung von Industrie ermöglicht<br />

hat (Ems-Chemie<br />

bei Domat/Ems).<br />

Aber auch anderswo läßt<br />

sich die glaziale Vergangenheit<br />

gut erkennen: so z.B. an<br />

Julier- und Flüelapass, die<br />

früher als Transfluenzpässe<br />

die Verbindung zwischen<br />

zwei Gletscherströmen darstellten<br />

und denen die „überfließenden“<br />

Eismassen ihre<br />

charakteristische flache, mit<br />

vielen Seen durchsetzte<br />

Form verliehen. Die Schliffgrenze<br />

der Gletscher - besonders<br />

gut im Oberengadin<br />

am Übergang von rundbuckligen<br />

zu scharfkantigen<br />

Landschaftsformen etwa<br />

1000 m über der Talsohle zu<br />

erkennen - stellt heute meist<br />

Graubünden<br />

die Obergrenze von Skiund<br />

Wandertourismus dar.<br />

Wo früher Gletscher flossen,<br />

bestimmen heute Flüsse<br />

das Bild. Die Lebensader<br />

Graubündens ist der Rhein,<br />

der durch den Zusammenfluss<br />

von Vorder- und Hinterrhein<br />

bei Reichenau entsteht.<br />

Fast zwei Drittel der<br />

Fläche des Kantons liegen<br />

in seinem Einzugsgebiet, lediglich<br />

das Engadin und die<br />

Täler südlich des Alpenhauptkamms<br />

bleiben<br />

außen vor. Dadurch entsteht<br />

die europaweit einmalige<br />

Situation, dass die Gewässer<br />

eines relativ kleinen Gebietes<br />

in drei verschiedene<br />

Meere fließen: der Rhein in<br />

die Nordsee, der Inn (Engadin)<br />

über die Donau ins<br />

Schwarze Meer, Moesa<br />

(Misox), Poschiavino (Puschlav)<br />

und Maira (Bergell)<br />

über den Po und der Rom<br />

(Val Müstair) über die Etsch<br />

in die Adria. In der Nähe des<br />

Septimerpasses kann ein<br />

leichter Windstoß darüber<br />

entscheiden, ob ein Regentropfen<br />

seine Reise zur<br />

Nordsee, zum Schwarzen<br />

Meer oder zum Mittelmeer<br />

antritt.<br />

Über weite Strecken orientiert<br />

sich die politische Grenze<br />

Graubündens an natürlichen<br />

Gegebenheiten: im<br />

Norden an der Gipfelkette<br />

der Glarner Alpen, im Süden<br />

am Alpenhauptkamm. Ausnahmen<br />

bilden Val Müstair,<br />

Puschlav, Bergell und Misox,<br />

die die Südflanken von<br />

Ofen-, Bernina-, Maloja- und<br />

San-Bernardino-Pass sichern.<br />

Ihnen stehen zwei<br />

kleine italienische Enklaven<br />

nördlich der Wasserscheide<br />

gegenüber: das zollfreie Livigno<br />

und das unbesiedelte<br />

Valle di Lei, dessen Gewässer<br />

jedoch mit Hilfe großer<br />

Stauseen seitens der<br />

Schweiz zur Stromerzeugung<br />

genutzt werden. Auch<br />

in anderer Hinsicht spielt der<br />

Alpenhauptkamm für Graubünden<br />

eine entscheidende<br />

Rolle: als Trennlinie zwischen<br />

dem kontinentalen<br />

Klima auf seiner Nord- und<br />

dem mediterran beeinflussten<br />

auf seiner Südseite, der<br />

in diesem Fall auch das Engadin<br />

zuzurechnen ist.<br />

1


Graubünden<br />

2<br />

Durch die inneralpine Lage<br />

sind die Niederschläge insgesamt<br />

relativ niedrig, und<br />

das Unterengadin gehört<br />

neben dem mittleren Rhonetal<br />

zu den trockensten<br />

Regionen der Schweiz. Typisch<br />

für das kontinentale<br />

Klima sind auch die starken<br />

Temperaturunterschiede<br />

zwischen Sommer und<br />

Winter. Für die Temperatur<br />

spielt aber vor allem die<br />

Meereshöhe eine entscheidende<br />

Rolle: Nach einer<br />

Faustregel nimmt sie pro<br />

100 Höhenmeter um ca. 0,5<br />

°C ab. Ein aus dem gesamten<br />

Alpenraum bekanntes<br />

Phänomen ist der Föhn. Er<br />

entsteht, wenn sich die Luftmassen<br />

beim Aufsteigen an<br />

der Südseite der Bergkämme<br />

langsam abkühlen (um<br />

0,5 °C pro 100 m) und dadurch<br />

abregnen. Haben sie<br />

den Kamm überschritten,<br />

erwärmen sie sich auf der<br />

anderen Seite deutlich stärker<br />

(ca. 1 °C pro 100 m) und<br />

bringen trockene Luft und<br />

gute Sicht mit sich. Im Winter<br />

führt ein Föhneinbruch<br />

zum rapiden Abschmelzen<br />

der Schneedecke, doch lassen<br />

die warmen Fallwinde<br />

auch im Domleschg Edelkastanien<br />

wachsen und ermöglichen<br />

in der Bündner<br />

Herrschaft Wein-, Mais- und<br />

Tabakanbau. Chur verdankt<br />

ihnen seine durchschnittlich<br />

nur sieben Nebeltage im<br />

Jahr, die Zürcher oder Berner<br />

vor Neid erblassen lassen<br />

- dort legt sich nämlich<br />

an 34 bzw. 70 Tagen im Jahr<br />

Nebel über die Stadt. Südlich<br />

des Alpenhauptkamms,<br />

so z. B. im Bergell, führt die<br />

Föhnlage aber oft zu starker<br />

Bewölkung, da sich die Luftmassen<br />

an den Bergen<br />

stauen.<br />

Die extreme vertikale Ausdehung<br />

des Kantons - von den<br />

mediterranen Kastanienwäldern<br />

im Misox bis zum ewigen<br />

Eis in der Bernina - zudem<br />

die unterschiedlichen<br />

klimatischen Verhältnisse<br />

bringen es mit sich, dass die<br />

Tier- und Pflanzenwelt<br />

Graubündens sehr vielfältig<br />

ist. Es lassen sich mehr oder<br />

weniger deutlich fünf Vegetationsstufen<br />

unterscheiden:<br />

kolline, montane, subalpine,<br />

alpine und nivale Stufe.<br />

Die kolline Stufe (Hügel-,<br />

untere Waldstufe) unterhalb<br />

800 m macht nur einen sehr<br />

kleinen Bereich Graubündens<br />

aus: Bündner Rheintal,<br />

Domleschg und vorderes<br />

Prättigau sowie die unteren<br />

bis mittleren Regionen<br />

von Misox, Bergell und Puschlav.<br />

Ursprünglich waren<br />

diese Täler von ausgedehnten<br />

Laubmischwäldern bedeckt,<br />

deren Eichen und<br />

Buchen aber größtenteils<br />

der landwirtschaftlichen Nutzung<br />

weichen mussten. So<br />

dominieren heute beispielsweise<br />

in der Bündner<br />

Herrschaft Äcker, Obstgärten<br />

und Weinberge, die<br />

Wälder finden sich nur noch<br />

an den Hängen oder sind zu<br />

Inseln geschrumpft. In den<br />

drei „Südtälern“ nehmen die<br />

Kastanien- und Flaumeichenwälder<br />

immer noch<br />

großen Raum ein. Dies ist<br />

einerseits auf die dünnere<br />

Besiedlung, andererseits auf<br />

die schlechtere Eignung des<br />

Geländes für den Ackerbau<br />

zurückzuführen. Aber auch<br />

die wirtschaftliche Bedeutung<br />

der Edelkastanie als<br />

Nahrungsmittel spielte eine<br />

Rolle.<br />

Die meisten anderen Talund<br />

die unteren Hanglagen<br />

(800-1400 m) gehören der<br />

montanen Stufe (Berg-, mittlere<br />

Waldstufe) an. Die<br />

größtenteils aus Buchen<br />

bestehenden Laubwälder<br />

sind durchsetzt mit Weisstannen<br />

und Föhren. Die<br />

Obergrenze der Höhenstufe<br />

bildet zugleich die Laubwaldgrenze.<br />

Auch hier mussten<br />

die ursprünglichen<br />

Wälder der Landwirtschaft<br />

weichen, wobei mit zunehmender<br />

Höhe immer stärker<br />

die Viehzucht in den Vordergrund<br />

tritt. Nur in günstigen<br />

niedrigeren Lagen - z. B. im<br />

mittleren Prättigau und im<br />

Unterengadin - finden sich<br />

auch heute noch in größerem<br />

Maße Ackerflächen.<br />

Den größten Anteil an der<br />

Fläche des Kantons hat die<br />

subalpine Stufe (Gebirgs-,<br />

obere Waldstufe), der die<br />

mittleren Hanglagen und die<br />

Hochtäler zwischen 1400<br />

und 2400 m wie Engadin,<br />

Landschaft Davos und<br />

Rheinwald angehören. Die<br />

lichten Lärchen- und Arvenwälder<br />

wurden zur Schaffung<br />

von Weideland teil-


weise gerodet, was besonders<br />

deutlich in St. Antönien<br />

und im Rheinwald zu sehen<br />

ist, wo nun der Bannwald als<br />

Lawinenschutz fehlt. Diese<br />

Höhenstufe kann mit der<br />

vielfältigsten Flora aufwarten.<br />

Dazu tragen auch die<br />

von Menschenhand geschaffenen<br />

Fettwiesen bei,<br />

die durch regelmäßiges Mähen<br />

und Düngen entstehen.<br />

Oberhalb von 2400 m ist<br />

kein Wald mehr anzutreffen.<br />

In der alpinen Stufe (Hochgebirgs-,<br />

Rasenstufe) fristen<br />

allenfalls noch einzelne Arven,<br />

Föhren oder Erlen ein<br />

karges Dasein. Aber auch<br />

hier entfaltet sich noch eine<br />

reiche Blütenpracht, deren<br />

prominenteste Vertreter Enzian<br />

und Edelweiss sind. Die<br />

Sommer dauern im<br />

Hochgebirge teilweise nur<br />

drei bis vier Monate. Je weiter<br />

es hinauf geht, desto lükkenhafter<br />

werden die Rasen,<br />

nach und nach finden<br />

sich nur noch kleine Vegetationsinseln<br />

in Schutthalden<br />

und zwischen<br />

Gesteinsblöcken. In den<br />

obersten und exponiertesten<br />

Lagen der alpinen Stufe<br />

können nur noch Flechten<br />

und Moose existieren,<br />

dort dominiert die Hochgebirgstundra.<br />

Oberhalb von 3000 m geht<br />

dann nichts mehr: In der nivalen<br />

Stufe können selbst<br />

die anspruchslosesten und<br />

niedersten Pflanzen nicht<br />

mehr überleben. Hier gibt es<br />

nur noch Fels, Eis und<br />

Schnee.<br />

Insgesamt ist die Tierwelt<br />

Graubündens nicht nur weniger<br />

vielfältig als die Pflanzenwelt,<br />

sondern sie ist<br />

auch weniger auffällig. Zu<br />

den berühmtesten Vertretern<br />

der Tierwelt gehört das<br />

Wappentier Graubündens,<br />

der Steinbock, der in den<br />

unzugänglichen Felsregionen<br />

oberhalb der Baumgrenze<br />

lebt. Sein deutlich<br />

weniger klettergewandtes<br />

Gegenstück in den etwas<br />

tieferen Lagen ist die Gemse.<br />

Alpidylle im Schatten von<br />

Staudämmen - Wirtschaft<br />

Man könnte meinen, Graubünden<br />

habe das industrielle<br />

Zeitalter verschlafen, da<br />

kaum ein anderer Kanton<br />

Graubünden<br />

der Schweiz so wenig industrialisiert<br />

ist, was natürlich<br />

zu einem großen Teil an den<br />

bereits beschriebenen topographischen<br />

Bedingungen<br />

liegt. Der einzige nennenswerte<br />

Industriebetrieb ist die<br />

Ems-Chemie im Bündner<br />

Rheintal, die vor allem Fasern<br />

für die traditionell in der<br />

Ostschweiz (besonders um<br />

St. Gallen) starke Textilbranche<br />

herstellt. Von den mittelständischen<br />

Unternehmen,<br />

die sich größtenteils ebenfalls<br />

um Chur konzentrieren,<br />

ist die zum Heineken-Konzern<br />

gehörende Calanda-<br />

Brauerei eines der bekanntesten.<br />

Die wichtigste ökonomische<br />

Stütze des Kantons ist nach<br />

dem Tourismus die Stromwirtschaft.<br />

Nur in Österreich<br />

und Skandinavien wird ein<br />

ähnlich hoher Anteil des gesamten<br />

Energiebedarfs wie<br />

in der Schweiz (ca. 15 %)<br />

durch Wasserkraft erzeugt.<br />

Die größten und leistungsfähigsten<br />

Kraftwerke<br />

liegen im Wallis und in Graubünden<br />

und erzeugen zusammen<br />

etwa die Hälfte der<br />

hydroelektrischen Energie in<br />

der Schweiz. Die meisten<br />

der insgesamt 36 Speicherseen<br />

Graubündens liegen<br />

versteckt in abgeschiedenen,<br />

hochgelegenen Seitentälern.<br />

Einige andere, wie<br />

z.B. Lago Bianco am Berninapass,<br />

Sufner See im<br />

Rheinwald und Marmorera-<br />

See im Oberhalbstein, wurden<br />

so gut in die Landschaft<br />

eingepasst, dass sie ihr einen<br />

besonderen Reiz verleihen;<br />

der Heidsee auf der<br />

Lenzerheide ist als Freizeitfläche<br />

außerdem für den<br />

Tourismus von Bedeutung.<br />

Die beiden Talsperren mit<br />

dem größten Fassungsvermögen,<br />

Lago di Lei und<br />

Lago di Livigno, liegen zwar<br />

auf italienischem Gebiet, die<br />

Stromerzeugung erfolgt jedoch<br />

in der Schweiz.<br />

Megaprojekte bei Sils und<br />

im Rheinwald in der ersten<br />

Hälfte des 20. Jh. scheiterten<br />

am Widerstand der Bevölkerung.<br />

Teilweise wurden<br />

Täler zerstört oder verschandelt,<br />

wie das Spöltal<br />

Ende der 50er Jahre. Die<br />

ausgeprägte Nutzung regenerativer<br />

Energien leistet einen<br />

wichtigen Beitrag zum<br />

3


Graubünden<br />

4<br />

Umweltschutz. Einen weiteren<br />

Schritt in diese Richtung<br />

stellt das 1993 eröffnete erste<br />

Solarkraftwerk der<br />

Schweiz bei Disentis dar.<br />

Die lila Kuh kommt zwar aus<br />

dem Berner Oberland, doch<br />

auch in Graubünden gehören<br />

glückliche Kühe in einer<br />

idyllischen Alplandschaft<br />

zum Klischee. Immer noch<br />

ist die Viehwirtschaft hier ein<br />

wichtiger Wirtschaftszweig,<br />

in dem gleichwohl nur noch<br />

6 % der Beschäftigten tätig<br />

sind. Der Ackerbau hingegen<br />

konnte mit der ausländischen<br />

Konkurrenz nicht<br />

mithalten. Das Idyll vom heuenden<br />

Senn in der freien<br />

und gesunden Natur ist aber<br />

heute genauso eine Illusion<br />

wie vor 100 Jahren. Die<br />

Mechanisierung, deren Beginn<br />

Ende des 19. Jh. eine<br />

erste Krise und damit eine<br />

große Abwanderungsbewegung<br />

aus den<br />

abgelegenen Tälern auslöste,<br />

hat einiges verändert:<br />

Die Rinder müssen nicht<br />

mehr aufwendig auf den Alpen<br />

gesommert werden,<br />

sondern das Heu kann ins<br />

Tal transportiert werden,<br />

Käse- und Milchproduktion<br />

wurden vielfach rationalisiert.<br />

Dennoch hat sich vielerorts<br />

die traditionelle Alpwirtschaft<br />

erhalten.<br />

Generell sind zwei Trends<br />

zu beobachten. Einerseits<br />

hat sich die Zahl der landwirtschaftlichen<br />

Betriebe in<br />

den letzten 50 Jahren etwa<br />

halbiert, da sie trotz umfangreicher<br />

Subventionen nur ab<br />

einer gewissen Größe konkurrenzfähig<br />

sind. Andererseits<br />

ist eine immer stärkere<br />

Ablehnung moderner<br />

Errungenschaften in der<br />

Viehhaltung zu spüren. Was<br />

in den 70er Jahren damit<br />

begann, dass Aussteiger für<br />

einen oder zwei Sommer<br />

zum Senn mutierten, hat<br />

sich konsequent<br />

weiterentwickelt: Heute ist<br />

etwa ein Drittel aller landwirtschaftlichen<br />

Betriebe Graubündens<br />

biologisch ausgerichtet.<br />

Der Vergleich mit der<br />

gesamten Schweiz, wo es<br />

nur 5 % sind, verdeutlicht die<br />

Vorreiterrolle des Kantons.<br />

Die Speerspitze des ökologischen<br />

Fortschritts bildet<br />

dabei das Rheinwald, eine<br />

der am stärksten agrarisch<br />

geprägten Regionen, wo<br />

noch etwa ein Fünftel der<br />

Beschäftigten ihren Unterhalt<br />

im Primärsektor verdienen.<br />

Seit 1991 wurden hier<br />

konsequent Milch- und<br />

Fleischproduktion nach biologischen<br />

Kriterien eingeführt.<br />

Andere Gemeinden<br />

folgten dem Beispiel, als sich<br />

zeigte, dass die Konsumenten<br />

für natürlichere Qualität<br />

auch einen höheren Preis<br />

zu zahlen bereit waren.<br />

Doch der moderne Landwirt<br />

ist nicht nur Bauer, sondern<br />

er bekommt auch eine immer<br />

wichtigere Stellung im<br />

Tourismus - sei es als Veranstalter<br />

von Pferde- oder<br />

Maultiertrekking, als Betreiber<br />

einer touristisch erschlossenen<br />

Ziegenalp oder<br />

einfach, indem er Ferien auf<br />

dem Bauernhof anbietet.<br />

Wer neue Wege geht, soll<br />

aber nicht nur durch den<br />

wirtschaftlichen Erfolg belohnt<br />

werden. Einen zusätzlichen<br />

Anreiz stellt der 1995<br />

ins Leben gerufene, alle<br />

zwei Jahre verliehene lnnovationspreis<br />

Landwirtschaft<br />

und Tourismus dar.<br />

Die Entwicklung des Tourismus<br />

Die Wurzeln des Tourismus<br />

im heutigen Graubünden<br />

reichen bis ins 16. Jh. zurück,<br />

als Papst Leo X. allen<br />

Gläubigen beim Besuch der<br />

Quellen von St. Moritz die<br />

„volle Absolution sämtlicher<br />

Sünden“ versprach und der<br />

berühmte Arzt Paracelsus<br />

selbige Quellen sowie die<br />

von Scuol in den höchsten<br />

Tönen lobte. Insofern hat<br />

sich eigentlich bis heute<br />

nichts geändert: Die Mineralbäder<br />

von Scuol werden<br />

mehr denn je zur Steigerung<br />

des Wohlbefindens aufgesucht,<br />

und St. Moritz ist<br />

immer noch Pilgerziel - allerdings<br />

ohne die Absolution<br />

zu bekommen.<br />

Über Jahrhunderte blieben<br />

zunächst die Quellen Hauptanziehungspunkte<br />

in Graubünden.<br />

Neben dem Baden<br />

wurde besonders dem Trinken<br />

des mineral-haltigen<br />

Wassers eine große Bedeutung<br />

zugemessen. Bis Mitte<br />

des 19. Jhr. zog Graubünden<br />

aber insgesamt nur wenige<br />

Gäste an, sondern war<br />

aufgrund seiner Pässe vor


allem ein Transitland. Auch<br />

Goethe hielt sich 1788 auf<br />

seiner Rückreise von Italien<br />

dort nicht länger auf, obwohl<br />

er die Viamala passierte. Die<br />

wenigen frühen Reisenden,<br />

die aus Interesse an Land<br />

und Leuten kamen, waren<br />

zumeist Engländer. Ihrem<br />

Reisedrang ist es zu verdanken,<br />

dass in den 1860er<br />

Jahren in den Alpen überhaupt<br />

ein Tourismus entstand.<br />

Ein Gipfel nach dem<br />

anderen wurde von ihnen<br />

„erobert“. Das Goldene Zeitalter<br />

des Alpinismus, das<br />

auch an Orten wie Davos,<br />

St. Moritz und Pontresina<br />

nicht spurlos vorüberging,<br />

erlebte mit der Erstbesteigung<br />

des Matterhorns<br />

durch Edward Whymper<br />

1865 seinen Höhepunkt. Im<br />

selben Jahr begann in St.<br />

Moritz der Siegeszug des<br />

Wintersports, ausgelöst<br />

durch den Hotelier Johannes<br />

Badrutt.<br />

Um die gleiche Zeit aber<br />

begann es auch wieder vermehrt<br />

Patienten in die Berge<br />

zu ziehen, denn der Arzt<br />

Alexander Spengler hatte<br />

die heilende Wirkung des<br />

trockenen Hochgebirgsklimas<br />

für Tuberkulosekranke<br />

erkannt. Besonders um die<br />

Jahrhundertwende schossen<br />

die Sanatorien in Davos<br />

und Arosa wie Pilze aus<br />

dem Boden, und Thomas<br />

Mann setzte ihnen mit dem<br />

Roman „Zauberberg“ ein<br />

unsterbliches Denkmal.<br />

Bereits um 1900 war so aus<br />

dem Tourismus ein wichtiger<br />

Wirtschaftszweig für den<br />

Kanton geworden, der jedoch<br />

durch die beiden Weltkriege<br />

deutliche Einbrüche<br />

erlitt. In den 50er Jahren<br />

setzte dann der Boom ein:<br />

Das deutsche<br />

Wirtschaftswunder machte<br />

Auslandsreisen erschwinglicher,<br />

in den Bergen<br />

lockte eine vermeintlich<br />

heile Welt, und schließlich<br />

wurde auch der Wintersport<br />

immer populärer. Die folgenden<br />

goldenen Jahrzehnte<br />

verhalfen Graubünden zu<br />

einer guten allgemeinen Infrastruktur,<br />

doch hinterliessen<br />

sie auch tiefe Narben:<br />

Autolawinen schieben sich<br />

vielfach durch die Orte, planierte<br />

Skipisten und zerstörte<br />

Bergflora, Staudämme<br />

Graubünden<br />

riegeln entlegene Täler ab,<br />

historische Bausubstanz<br />

wich neuen Hotel- oder<br />

Apartmentkomplexen. Inzwischen<br />

kommen auf jeden<br />

Bündner sechs Gästebetten.<br />

Doch man hat aus<br />

Fehlern gelernt und versucht<br />

heute mehr Rücksicht<br />

auf die Umwelt zu nehmen.<br />

Natürlich sind nicht alle Sünden<br />

der vergangenen Jahrzehnte<br />

rückgängig zu machen.<br />

Dieser Aufschwung<br />

hat viele Bergdörfer gerettet,<br />

die andernfalls entvölkert<br />

dem Verfall preisgegeben<br />

wären, siehe die wirtschaftlich<br />

bedingte Abwanderungswelle<br />

Ende des 19.<br />

Jhr.. Jahrzehntelang war<br />

Graubünden im Sommer<br />

ein Land der Wanderer und<br />

Bergsteiger, im Winter der<br />

Skiläufer. Dass sich aber mit<br />

einem beschränkten Angebot<br />

immer weniger Menschen<br />

anziehen lassen, war<br />

die bittere Erkenntnis der<br />

späten 80er und frühen<br />

90er Jahre. Es wurde viel<br />

modernisiert, verändert, um<br />

den Gästen zu zeigen, dass<br />

die „Ferienecke der<br />

Schweiz“ mehr zu bieten hat<br />

als schöne Landschaft.<br />

Mountain- und Downhillbiking,<br />

Surfen, Rafting, Canyoning<br />

und Hydrospeed,<br />

Paragliding und Deltafliegen<br />

sind nur einige der angebotenen<br />

Trendsportarten. Im<br />

Winter tummeln sich heutzutage<br />

Snowboarder, Carver<br />

und Skwaler auf den Pisten.<br />

Nicht alles wird schneller<br />

und spektakulärer, sondern<br />

auch eine gegenläufige<br />

Entwicklung ist zu beobachten<br />

- eine Art Entdekkung<br />

der Langsamkeit - des<br />

ruhigen, teils nostalgischen<br />

Genießens. Es entstanden<br />

neue Golfplätze und im Bereich<br />

Wellness haben das<br />

Bogn Engiadina in Scuol<br />

und die Felsen-Therme in<br />

Vals neue Maßstäbe gesetzt.<br />

Die Rhätische Bahn<br />

mit ihrer beeindruckenden<br />

Streckenführung und den<br />

traditionell roten Zügen gewinnt<br />

immer mehr Freunde.<br />

Die Verbindung von<br />

Landwirtschaft und Tourismus<br />

wird auch immer enger,<br />

Ferien auf dem Bauernhof<br />

sind wieder „in“. Die Bauern<br />

verpachten nicht mehr nur<br />

im Winter ihre Wiesen an die<br />

5


Graubünden<br />

6<br />

Bergbahngesellschaften,<br />

sondern sie haben ihre<br />

Chancen entdeckt, schalten<br />

sich immer aktiver in das<br />

Geschehen ein, versuchen<br />

Marktlücken aufzuspüren.<br />

Aber nicht allein das Angebot<br />

wurde erweitert, sondern<br />

auch die Strukturen<br />

mussten sich verändern.<br />

Größere Hotels öffnen teilweise<br />

wegen der immens<br />

hohen Personalkosten ausschließlich<br />

in der rentableren<br />

Wintersaison oder nehmen<br />

zumindest im Sommer nur<br />

die Spitzenzeiten mit. Die<br />

Orte einer Region gehen<br />

eine engere Zusammenarbeit<br />

ein, um ihre Marktposition<br />

zu stärken; die einzelnen<br />

Orte werden immer<br />

mehr als Marken präsentiert.<br />

All diese Anstrengungen<br />

sind notwendig geworden,<br />

um das Überleben zu sichern,<br />

denn kantonsweit<br />

hängen über die Hälfte der<br />

Arbeitsplätze mehr oder<br />

weniger direkt vom Fremdenverkehr<br />

ab - in Arosa<br />

oder St. Moritz sind es sogar<br />

neun von zehn Stellen.<br />

Damit ist der Tourismus zum<br />

Lebenselixier einer ganzen<br />

Region geworden.<br />

Steckbrief Graubünden<br />

Lage:<br />

zwischen 46°10' und 47°4'<br />

nördl. Breite, 8°39' und<br />

10°29' östl. Länge;<br />

Nord-Süd-Ausdehnung 100<br />

km,<br />

Ost-West-Ausdehnung<br />

141km<br />

Fläche:<br />

mit 7106 km² der größte<br />

Kanton der Schweiz<br />

(17,21% der gesamten Landesfläche)<br />

Höchster Punkt:Piz Bernina<br />

(4049 m)<br />

Tiefster Punkt: Grenze<br />

zum Tessin bei San Vittore/<br />

Valle<br />

Mesoicina (260m)<br />

Einwohner:<br />

ca. 186.000; davon ca. 14%<br />

Ausländer<br />

Bevölkerungsdichte:<br />

mit etwa 26 Einwohnern/<br />

km² der am<br />

dünnsten besiedelte Kanton<br />

der Schweiz<br />

Hauptstadt:<br />

Chur (ca. 33 000 Einwohner)<br />

Gliederung:<br />

213 Gemeinden, 39 Kreise,<br />

14 Bezirke<br />

Sprachen:<br />

Deutsch ca. 65 %, Rätoromanisch<br />

ca. 17 %,<br />

Italienisch ca. 11 %, Sonstige<br />

knapp 7 %,<br />

tendenziell deutlicher Rückgang<br />

von Rätoromanisch<br />

und Italienisch<br />

Bodennutzung: landwirtschaftliche<br />

Nutzflächen ca.<br />

31 %,<br />

Wälder ca. 25 %, Siedlungsflächen<br />

knapp 2 %,<br />

unproduktive Flächen ca.<br />

42%<br />

Beschäftigungsstruktur:<br />

Landwirtschaft ca. 6 %,<br />

Industrie ca. 26 %,<br />

Dienstleistungen ca. 64 %<br />

etwa jeder 5. Arbeitsplatz ist<br />

unmittelbar, jeder 2. mittelbar<br />

vom Tourismus abhängig<br />

Tourismus:<br />

jährlich ca. 3,5 Mio. Gäste,<br />

die im Durchschnitt 3- 4<br />

Tage an einem Ort bleiben<br />

Pro-Kopf-Einkommen etwa<br />

37 500 SFr.<br />

(Gesamt-Schweiz: etwa<br />

42500 SFr.)


Region, Ort, Architek-<br />

tur – ein Überblick<br />

In letzter Zeit ist verschiedentlich<br />

von einer Bündner<br />

Architekturszene oder gar<br />

der Bündner Schule die<br />

Rede, die mit den Entwicklungen<br />

im Tessin und in Basel<br />

verglichen wird. Auftrieb<br />

erhielt das Interesse durch<br />

die Auszeichnungen und<br />

Publikationen zum Neuen<br />

Bauen in den AIpen. Tatsächlich<br />

lässt sich in Graubünden<br />

nach den international<br />

ausgerichteten Sechziger-<br />

und Siebzigerjahren<br />

eine wachsende Zahl von<br />

Bauten feststellen, die eine<br />

differenzierte Anknüpfung<br />

an Ort und Geschichte<br />

sucht. Quantitativ immer<br />

noch verschwindend klein,<br />

steht sie der Obermacht einer<br />

nostalgischen<br />

Tourismusarchitektur gegenüber,<br />

die Formen alter<br />

Bauernhäuser imitiert, aufbläst<br />

und verstümmelt. Die<br />

zwischen 1985 und 1988<br />

entstandenen Holzbauten<br />

von Peter Zumthor in Haldenstein,<br />

im Churer Welschdörfli<br />

und vor allem in Sogn<br />

Benedetg sind als Signale<br />

eines neuen Regionalismus<br />

verstanden und aufgenommen<br />

worden. Der Begriff der<br />

Ortsbezogenheit trifft die<br />

Sache allerdings besser, da<br />

nicht Vorstellungen regionaler<br />

Abgeschlossenheit gemeint<br />

sind. Die folgenden<br />

Zeilen möchten den architekturhistorischenHintergrund<br />

aktueller Haltungen<br />

beleuchten. Im Mittelpunkt<br />

steht dabei das Verhältnis<br />

der Architektur zu Region<br />

und Ort.<br />

Heimatstil<br />

Ansätze einer regionalen<br />

Architektur sind in Graubünden<br />

stets auf große Zustimmung<br />

gestossen.<br />

Dies hängt mit dem Geschichtsbewusstseineines<br />

Kantons zusammen,<br />

der bis zur Helvetik einen<br />

eigenen Staat bildete und<br />

als dreisprachiges Land<br />

auf seine Eigenart bedacht<br />

ist. 1905 wurde die<br />

Schweizerische Vereinigung<br />

für Heimatschutz gegründet<br />

und noch im gleichen<br />

Jahr die Bündner<br />

Sektion. Die Anfänge der<br />

Bewegung fielen mit der<br />

Graubünden<br />

Region, Ort, Architektur<br />

Blütezeit des Tourismus<br />

vor dem 1. Weltkrieg zusammen.<br />

Im Sinne des<br />

Gesamtkunstwerks entwickelte<br />

sich ein regionaler<br />

Heimatstil, der alle Gattungen<br />

der Bildenden Künste<br />

einbezog. Einflussreichste<br />

Architekten waren<br />

Nicolaus Hartmann jun. in<br />

St. Moritz sowie Otto Schäfer<br />

und Martin Risch in<br />

Chur. Als Vorbilder bevorzugte<br />

man malerische<br />

Beispiele einheimischer<br />

Architektur, in erster Linie<br />

alte Bauernhäuser und<br />

herrschaftliche Barockbauten.<br />

Auch bei den baulichen<br />

Anforderungen des<br />

Tourismus forderte der<br />

Heimatschutz eine Anpassung<br />

an die traditionelle<br />

Baukultur. Gepriesen wurde<br />

die Linienführung der<br />

Albulabahn zwischen Preda<br />

und Bergün, die mit ihren<br />

steinernen Brückenbauten<br />

und Viadukten die<br />

Landschaft nicht störe,<br />

sondern bereichere. Die<br />

stolzen Grand-Hotels der<br />

Gründerzeit, die die Verbreitung<br />

von städtischen<br />

Architekturvorstellungen in<br />

den Bergen repräsentieren,<br />

wurden zum Feindbild<br />

deklariert.<br />

Die auf regionale und nationale<br />

Eigenständigkeit bedachte<br />

romantische Richtung<br />

nach 1900 ist ein internationales<br />

Phänomen.<br />

Grundlage bildete die englische<br />

Kunstgewerbereform<br />

von John Ruskin und William<br />

Morris. Eine entscheidende<br />

Rolle spielte Finnlands<br />

„Nationale Romantik“,<br />

die Formen des Jugendstils<br />

mit solchen eigener Traditionen<br />

verband. Die Bündner<br />

Bewegung stand ideologisch<br />

unter dem Einfluss<br />

deutscher Kunsterziehung.<br />

Martin Risch und Nicolaus<br />

Hartmann waren von süddeutschenHochschullehrern<br />

geprägt: Risch studierte<br />

in München bei Friedrich<br />

von Thiersch, Hartmann in<br />

Stuttgart bei Theodor Fischer.<br />

Der Heimatstil jener Zeit hat<br />

seine schöpferischen und<br />

seine klischeehaften Seiten.<br />

Die Qualitäten zeigen sich<br />

7


Graubünden<br />

Region, Ort, Architektur<br />

8<br />

dort, wo freier mit baulichen<br />

Vorbildern umgegangen<br />

wird. Die Problematik<br />

liegt in der Stilisierung alter<br />

Bauernhäuser zum<br />

gültigen Bautypus einer<br />

Region und in der Ablehnung<br />

neuer Formen für<br />

neue Aufgaben. Diese Auffassung<br />

führte bei Hotelbauten<br />

im Engadin zur Kaschierung<br />

der großen Kubaturen<br />

durch hohe Dächer,<br />

Trichterfenster, Erker<br />

und altertümlich wirkende<br />

Unregelmäßigkeit. Die dadurch<br />

erzeugte malerische<br />

Wirkung wird durch das<br />

Vorzeigen einheimischer<br />

Baumaterialien wie Tuffstein,<br />

Granit und Fexer<br />

Steinplatten noch gesteigert.<br />

Der Widerspruch<br />

zwischen alten Formen<br />

und neuen Aufgaben zeugt<br />

von einer Identitätskrise.<br />

Auf der ästhetischen Ebene<br />

ist er Ausdruck der<br />

Sehnsucht nach einheitlichen<br />

Dorfbildern, die in der<br />

Vergangenheit einheitlichen<br />

Wirtschaftsweisen<br />

entsprachen. Auf der gesellschaftlichen<br />

Ebene erinnert<br />

er an verlorenes ursprüngliches<br />

Leben im Zustand<br />

bäuerlicher Selbstversorgung.<br />

Rationalismus in Davos<br />

Im Unterschied zur breiten<br />

Streuung des Heimatstils<br />

konnte sich das international<br />

ausgerichtete Neue Bauen<br />

der Zwischenkriegszeit in<br />

Graubünden nur punktuell<br />

entfalten. Dies hängt einerseits<br />

mit der Wirtschaftskrise,<br />

anderseits wohl mit mangelnder<br />

ästhetischer Annahme<br />

dieser Moderne zusammen.<br />

In Davos ist es dem<br />

Architekten Rudolf Gaberel<br />

zusammen mit dem Kunsthistoriker<br />

Erwin Poeschel<br />

und dem Landammann Erhard<br />

Branger gelungen, die<br />

rationale Richtung heimisch<br />

werden zu lassen. Die Begründungen<br />

für die neue<br />

Architektur erfolgten auf<br />

pragmatischer Ebene. Gaberel<br />

propagierte das durch<br />

einen niedrigen Hohlraum<br />

von der Decke des obersten<br />

Geschosses getrennte<br />

Flachdach als ideale Konstruktion<br />

für das Hochgebirgsklima.<br />

Charakteristikum<br />

seiner Architektur ist eine<br />

additive Gliederung durch<br />

Kuben sowie eine klassizistische<br />

Tendenz zu Symmetrisierung<br />

und Frontalität.<br />

Wahrzeichen der Davoser<br />

Moderne wurden neben<br />

den unterlüfteten Flachdächern<br />

integrierte, stützenlos<br />

durchlaufende Loggien.<br />

Die umfassendste Anwendung<br />

fanden diese Motive<br />

im Bautyp des Sanatoriums;<br />

das am klarsten ausformulierte<br />

Beispiel ist Gaberels<br />

Zürcher Heilstätte in Clavadel<br />

(1931-32). Die Loggien<br />

entsprechen lokaler Sanatoriumstradition.<br />

Als Räume<br />

der Freiluft-Liegekur und<br />

Heliotherapie stehen sie für<br />

den Kampf gegen die Tuberkulose.<br />

In einem direkten<br />

Sinn erfüllen sie die Hygieneforderung<br />

des Neuen<br />

Bauens nach Licht, Luft und<br />

Sonne. Die Berglandschaft<br />

mutiert von der sentimentalen<br />

Kulisse zum nützlichen<br />

Ort der Genesung.<br />

Nachkriegsregionalismus<br />

Im Wirtschaftsaufschwung<br />

der Nachkriegszeit bildete<br />

sich ein Regionalismus aus,<br />

der eine Synthese zwischen<br />

internationaler Moderne und<br />

alter Bauernhausarchitektur<br />

anstrebte. Beiträge dazu leisteten<br />

Ulrich Könz, Bruno<br />

Giacometti und Rudolf Olgiati.<br />

Auf der Suche nach<br />

Referenzbauten holte Olgiati<br />

am weitesten aus. Vorbilder<br />

waren neben der traditionellen<br />

Bauweise Graubündens<br />

die mediterrane Architektur<br />

Griechenlands und die Klassische<br />

Moderne Le Corbusiers.<br />

In der Verbindung dieser<br />

Einflüsse zu einem Individualstil<br />

äußert sich das<br />

Verlangen, das Regionale<br />

mit dem Allgemeinen zusammenzuführen.Während<br />

sich die Hochbauten<br />

der Rhätischen Bahn an die<br />

bäuerliche Bauweise der jeweiligen<br />

Täler halten, zeigen<br />

Olgiatis Bauten diese Unterscheidung<br />

nicht. Regionalismus<br />

bezieht sich hier auf<br />

den Kanton als Ganzes.<br />

Unabhängig vom Standort<br />

wurden traditionelle Elemente<br />

aus der Surselva, aus<br />

dem Engadin und aus den<br />

italienisch-sprachigen Südtälern<br />

eingesetzt.<br />

Gestalterisch ist die Synthe-


se Olgiatis vom Streben<br />

nach körperhafter Individualität<br />

geprägt, die auf unregelmäßigen<br />

Grundrissen<br />

und Massenverteilungen<br />

gründet. Die scharf begrenzten<br />

Mauerteile erscheinen<br />

glatt verputzt und<br />

weiß gekalkt. Das Dach tritt<br />

nur wenig vor oder bleibt<br />

hinter den aufragenden<br />

Fassaden zurück. Die<br />

Fenster variieren in Grösse<br />

und Anordnung, Korbbogen,<br />

Säulen sowie Fassaden-<br />

und Dachausschnitte<br />

tragen zur plastischen<br />

Wirkung bei. Eine<br />

sinnliche Beziehung zum<br />

Material drückt sich im Kalken,<br />

in der Vorliebe für Holzfenster,<br />

Steinplattendächer<br />

und alte Bauteile sowie in<br />

der gelegentlichen Verwendung<br />

von Sichtbeton aus.<br />

Das Dilemma des Heimatstils,<br />

neue Aufgaben in alte<br />

Formen zu hüllen, besteht<br />

auch bei Olgiati. Als Vorwärtsstrategie<br />

kann man die<br />

Unbefangenheit interpretieren,<br />

mit der er Ansprüche<br />

modernen Komforts wie<br />

Garage und Hallenbad integrierte.<br />

Die Wirkung des<br />

Körperhaften ist bei jenen<br />

Bauten am stärksten, die<br />

am zurückhaltendsten instrumentiert<br />

sind. Olgiatis<br />

Bedeutung für die Bündner<br />

Gegenwartsarchitektur liegt<br />

vor allem im Postulat der<br />

Plastizität, in der Betonung<br />

der Sinnlichkeit des Materials<br />

und in der Vermittlung<br />

des Interesses an der alten<br />

Baukultur. Die große Beachtung,<br />

die sein Werk<br />

fand, hat zudem gezeigt,<br />

dass es möglich ist, in<br />

Graubünden zu arbeiten<br />

und doch überregional<br />

wahrgenommen zu werden.<br />

Anschauung und Entwicklung<br />

In neuerer Zeit kann man<br />

eine Abkehr von der Konzeption<br />

der an Regionen<br />

gebundenen Bautypen feststellen.<br />

Neues Stichwort ist<br />

der Ort, der seine Überhöhung<br />

im Begriff des Genius<br />

loci fand. Vorerst mag es<br />

paradox erscheinen, dass<br />

die geographisch engere<br />

Bezeichnung welthaltiger<br />

ist: Ort meint nicht mehr die<br />

Idee des Sonderfalls eines<br />

bestimmten Landesteils,<br />

Graubünden<br />

Region, Ort, Architektur<br />

sondern die konkrete, erfahrene<br />

Wirklichkeit. Mit<br />

Region verbindet sich Kollektives,<br />

mit Ort auch Individuelles.<br />

Daraus leitet sich<br />

die Forderung ab, auf den<br />

Ort in seiner Alltäglichkeit<br />

und Erhabenheit einzugehen.<br />

Bedeutsam für diesen<br />

Ansatz waren die Erfahrungen<br />

der Tessiner Tendenza,<br />

die Stadttheorien von<br />

Aldo Rossi und die Analoge<br />

Architektur um Fabio<br />

Reinhart und Miroslav Sik.<br />

Bei den italienischsprachigen<br />

Tälern Graubündens<br />

stehen das Misox und das<br />

Puschlav unter Einfluss<br />

der Tessiner Architektur. Im<br />

nördlichen Graubünden<br />

wurde Peter Zumthor Protagonist<br />

einer phänomenologischen<br />

Auffassung, die<br />

in seinen Werken und Texten<br />

zum Ausdruck kommt.<br />

Zumthors Atelier in Haldenstein<br />

und die Analoge<br />

Schule an der ETH stellten<br />

sich als Ausgangspunkte<br />

für das Schaffen einiger<br />

jüngerer Architekten heraus.<br />

Der architektonischen<br />

Rhetorik hält Peter<br />

Zumthor in seinen Texten<br />

die Gegenwart der Dinge<br />

entgegen. Die Suche gilt<br />

dem Einfachen, Wesentlichen,<br />

Reduzierten. Die Zurückhaltung<br />

will Emotionen<br />

entstehen lassen,<br />

statt sie durch Zeichenhaftigkeit<br />

vorwegzunehmen.<br />

Zumthor scheut sich nicht,<br />

von Gefühlen zu sprechen,<br />

von der Gültigkeit des Subjektiven,<br />

Authentischen. Als<br />

Wurzeln des eigenen Ichs<br />

sind bei ihm Kindheitserinnerungen<br />

Wirklichkeit,<br />

nicht Anekdote. Die Naivität<br />

des Kindes steht für die<br />

entdeckende Neugierde.<br />

Dass die Bereitschaft zur<br />

Offenheit und Entwicklung<br />

kein leeres Wort ist, belegen<br />

die Bauten des Architekten.<br />

Das Interesse an<br />

der Versöhnung von Verstand<br />

und Gefühl drückt<br />

sich in der sinnlichen Beziehung<br />

zu Typologie, Konstruktion<br />

und Material, in<br />

der handwerklichen Umsetzung<br />

und im Blick auf<br />

die benachbarten Künste<br />

aus. Die Gedanken der<br />

Poesie, die der Stille bedarf,<br />

und des Bauwerks<br />

als Ort in der Unendlichkeit<br />

9


Graubünden<br />

Region, Ort, Architektur<br />

10<br />

verweisen auf Metaphysisches.<br />

Architektur wird<br />

zum melancholischen Gefäß<br />

für das vorbeiziehende<br />

Leben und zum Widerstand<br />

gegen das Unwesentliche.<br />

Bauen am Ort<br />

Die Anfänge der Architektur<br />

Peter Zumthors führen in<br />

die Val Lumnezia, wo der<br />

damalige Mitarbeiter der<br />

kantonalen Denkmalpflege<br />

in den Siebzigerjahren<br />

das Siedlungsinventar<br />

durchführte. Aus diesen<br />

Kontakten gingen die ersten<br />

Bauaufträge in Lumbrein<br />

(Umbau des Wohnturms<br />

„Chisti“) und in Vella<br />

(Umbau des „Café de<br />

Mont“) hervor. Das 1976<br />

publizierte Siedlungsinventar<br />

von Vrin sollte zum<br />

Grundstein für eine bewusste<br />

bauliche Auseinandersetzung<br />

mit dem Dorf werden,<br />

wie sie auch in Graubünden<br />

einzigartig ist. Die<br />

Bemühungen brachten der<br />

Gemeinde 1998 den Wakkerpreis<br />

des Schweizerischen<br />

Heimatschutzes für<br />

die vorbildliche Integration<br />

neuer landwirtschaftlicher<br />

Ökonomiegebäude ein.<br />

Treibende Kraft der Entwicklung<br />

ist der in Vrin-Cons ansässige<br />

Architekt Gion A.<br />

Caminada. Er versucht das<br />

Ortsbild und die Kulturlandschaft<br />

so unbefangen<br />

weiterzuentwickeln, wie<br />

man das in Vrin früher gemacht<br />

hat - jenseits von Imitation<br />

und Verniedlichung,<br />

jenseits auch der Kontrastidee<br />

der Siebziger- und<br />

Achtzigerjahre. Grundlage<br />

allen Bauens ist die Ökonomie<br />

und die Sozialpolitik. Im<br />

überschaubaren Rahmen<br />

eines Dorfes wirkt der Architekt<br />

auch als Kommunalpolitiker<br />

und Sozialarbeiter. Er<br />

interessiert sich für die Arbeitsmöglichkeiten<br />

und die<br />

Befindlichkeit der Gemeinschaft.<br />

Um einer Zersiedlung entgegenzuwirken,<br />

werden die<br />

Vriner Stallbauten weiterhin<br />

möglichst auf das Dorf und<br />

den Dorfrand konzentriert.<br />

„Den Bauer im Dorf behalten“<br />

heißt die Losung. Durch<br />

Erweiterung können bestehende<br />

Stallbauten in Betrieb<br />

bleiben. Der Bau zweier<br />

neuer, großer Stallbauten<br />

erfolgte in einer eigenen<br />

Stallbauzone unterhalb der<br />

Kirche. Hier wurde vor kurzem<br />

auch das regionale<br />

Schlachthaus „Mazlaria da<br />

Vrin“ eröffnet. Verhältnismäßig<br />

früh schon hat man<br />

in Vrin auf Bioproduktion,<br />

Hausmetzgerei und Direktvermarktung<br />

umgestellt,<br />

wodurch der teure Zwischenhandel<br />

entfällt. Die<br />

Verarbeitung an Ort bringt<br />

den Vrinern neue Verdienstmöglichkeiten.<br />

Zum Sortiment<br />

gehören neben dem<br />

Fleisch auch die Produkte<br />

der Käserei auf der Geisalp<br />

„Parvansauls“.<br />

In der Verwendung des Materials<br />

Holz bleibt Caminada<br />

bei der Tradition. Im Einbezug<br />

von Beton sowie in Anordnung<br />

und in der Konstruktion<br />

der Gebäude entwickelt<br />

er sie weiter. Seit einigen<br />

Jahren arbeitet Caminada<br />

an einem Systembau<br />

für Ställe und Scheunen,<br />

den er aus der Beobachtung<br />

verschalter Rundholzkonstruktionenweiterentwickelte.<br />

Ein Rahmen aus<br />

Holzbalken bildet das<br />

Grundgerüst. Innen wird<br />

dieses mit Spanplatten verkleidet,<br />

außen mit rohen<br />

Brettern. Der aus der Schalung<br />

hervortretende Eckverbund<br />

der überkreuzten Rahmen<br />

erinnert an jenen der<br />

Strickbauten. Damit wird ein<br />

Bild der Kontinuität evoziert:<br />

Vrin wird weitergestrickt. Eigentliche<br />

Bauten der Gemeinschaft<br />

sind das Gemeindehaus,<br />

die Mehrzweckhalle<br />

und die geplante<br />

Totenkapelle. Beim<br />

Gemeindehaus führte das<br />

Thema Alt-Neu zu einem<br />

kleinteiligen Dialog unter einheitlichem<br />

Dach, während<br />

sich die grosse Kubatur der<br />

verschindelten Mehrzweckhalle<br />

(Architekt Gion A. Caminada,<br />

Ingenieur Jürg<br />

Conzett) selbstverständlich<br />

an das gemauerte Schulhaus<br />

aus den frühen Sechzigerjahren<br />

anschließt.<br />

Viel Zeit ließ sich Gion A.<br />

Caminada mit der Totenkapelle,<br />

deren Notwendigkeit<br />

er in der Gemeinde<br />

immer wieder zur Diskussion<br />

stellte. Die bisher geübte<br />

Kultur des Abschiednehmens<br />

von den Toten in


ihren Stuben soll nicht einfach<br />

der städtischen Funktionalität<br />

einer Aufbahrungshalle<br />

geopfert werden.<br />

Große Sorgfalt wurde<br />

auf die Wahl des Bauplatzes<br />

gelegt. Er liegt am<br />

Rande des kirchlichen,<br />

aber innerhalb des dörflichen<br />

Bereichs. Der Abschied<br />

findet auf der Seite<br />

der Lebenden statt.<br />

Brücken<br />

Das Gebirgsland Graubünden<br />

ist ein Land der<br />

Brücken, Galerien, Tunnel<br />

und Kraftwerke. Zu den<br />

Pionieren des Ingenieurwesens<br />

im 19. und frühen<br />

20. Jahrhundert gehören<br />

Richard La Nicca, der Gerüstbauer<br />

Richard Coray,<br />

Robert Maillart sowie die<br />

Konstrukteure der Kunstbauten<br />

der Rhätischen<br />

Bahn. Im Bereich der 1910<br />

eröffneten Berninabahn<br />

entstand nach und nach<br />

ein gestalterisches Ensemble<br />

der malerisch-romantischen<br />

Richtung,<br />

dessen Höhepunkte das<br />

Kreisviadukt von Brusio,<br />

die Hochbauten von Nicolaus<br />

Hartmann in Bernina<br />

Hospiz und Alp Grüm sowie<br />

die Zentralen der Kraftwerke<br />

Brusio des gleichen<br />

Architekten in Palü und<br />

Cavaglia sind. Als bedeutendster<br />

Schweizer Brükkenbauer<br />

der zweiten Hälfte<br />

des 20. Jahrhunderts gilt<br />

Christian Menn, der 1957<br />

in Chur ein Ingenieurbüro<br />

gründete und von 1971 bis<br />

1992 ordentlicher Professor<br />

für Baustatik und Konstruktion<br />

an der ETH Zürich<br />

war. Menn hat in Graubünden<br />

eine Vielzahl von<br />

Stahlbetonbrücken erbaut.<br />

Interessant für den Aspekt<br />

der Ortsbezogenheit ist<br />

sein Gedanke, den Landschaftscharakter<br />

im Tragwerk<br />

zu übernehmen. Mit<br />

den seitlichen Scheiben<br />

und dem versteiften Stabbogen<br />

seiner frühen Bogenbrücken<br />

im Avers<br />

knüpfte er an die Leistungen<br />

Maillarts an. Landschaftsprägend<br />

wirkt die<br />

Rheinbrücke bei Tamins<br />

(1962-63), die den vereinigten<br />

Rhein mit einer Bogenspannweite<br />

von 100 m<br />

überquert. Die Spannweiten<br />

der Aufständerung zwi-<br />

Graubünden<br />

Region, Ort, Architektur<br />

schen 12 und 15 m ergeben<br />

ein ausgewogenes<br />

Tragwerk und tragen zur<br />

eleganten Geste des<br />

Flussüberschlags bei.<br />

Eine Neuerung bedeutete<br />

die teilweise Vorspannung<br />

des Fahrbahnträgers. Den<br />

Abschluss im Bau der Bogenbrücken<br />

bilden der<br />

Ponte Nanin (1966-67)<br />

und der Ponte Cascella<br />

(1967-68) an der Südrampe<br />

des San Bernardinos.<br />

Die zweifache Verwendung<br />

des Lehrgerüstes<br />

hatte es noch einmal möglich<br />

gemacht, die angesichts<br />

steigender Lohnkosten<br />

nur noch selten konkurrenzfähigeKonstruktionsweise<br />

anzuwenden.<br />

Die Zukunft gehörte nun<br />

den Balkenbrücken in Vorspanntechnik.<br />

Deren große<br />

Spannweiten und die<br />

damit verbundene Freiheit<br />

bei der Trassierung führten<br />

gemäss Heinrich Figi<br />

vom Tiefbauamt Graubünden<br />

oft zu einer ungenügenden<br />

Beachtung der<br />

Beziehung zur Umgebung.<br />

Gestalterisch bewusst erscheint<br />

demgegenüber<br />

die Sunnibergbrücke der<br />

Umfahrung Klosters konzipiert,<br />

die in ihrem Typus<br />

als Schrägkabelbrücke an<br />

die Spannweiten amerikanischer<br />

Monumente erinnert.<br />

Nicht mehr abstrakt,<br />

sondern sprechend wirken<br />

die nach außen geneigten<br />

Pylone und die Harfenkonfigurationen<br />

der Kabel.<br />

Unter den jüngeren Bauingenieuren<br />

ist Jürg Conzett<br />

einem internationalen<br />

Fachpublikum bekannt geworden.<br />

Conzett wirkt als<br />

Praktiker und auch als Verfasser<br />

historischer Arbeiten<br />

zum Ingenieurbau.<br />

1994 erhielt die Überführung<br />

Landquartlöser eine<br />

Auszeichnung als Guter<br />

Bau im Kanton Graubünden<br />

(Büro Branger und<br />

Conzett). Aufsehen erregte<br />

der Dreigurtträger des<br />

Traversiner Stegs in der<br />

Viamala, der 1999 durch<br />

Steinschlag zerstört wurde<br />

und nun durch eine Art<br />

hängende Treppe ersetzt<br />

werden soll.<br />

Wettbewerb<br />

Einer der Gründe für die<br />

11


Graubünden<br />

Region, Ort, Architektur<br />

12<br />

Existenz der viel beachteten<br />

Bündner Architekturszene<br />

liegt im Instrument<br />

des Architekturwettbewerbs.<br />

Wie aus einem<br />

Gespräch mit dem seit<br />

1975 amtierenden<br />

Kantonsbaumeister von<br />

Graubünden Erich Bandi<br />

hervorgeht, setzt dieser mit<br />

der konsequenten Anwendung<br />

des Instruments eine<br />

Politik fort, die bereits sein<br />

Vorgänger Hans Lorenz verfolgt<br />

hatte. Im Wettbewerb<br />

sieht Bandi ein objektives<br />

Verfahren, das dem Kulturauftrag<br />

nachkommt, gestalterisch<br />

und konstruktiv Dauerhaftes<br />

zu errichten. Die<br />

Einführung des GATT/<br />

WTO-Abkommens ist gemäss<br />

Bandi als Fortschritt zu<br />

werten, da es dem Architekturwettbewerb<br />

eine gesetzliche<br />

Grundlage gibt. Die<br />

Durchführung eines Wettbewerbs<br />

ist somit eine der<br />

Voraussetzungen, die die<br />

Gemeinden für den Erhalt<br />

kantonaler Subventionen zu<br />

erfüllen haben. Unter den<br />

Bauaufgaben betrifft es<br />

hauptsächlich Schulhäuser,<br />

Turn- und Mehrzweckhallen,<br />

gelegentlich Altersheime<br />

und eher selten Gemeindehäuser.Rekursmöglichkeiten<br />

bestehen nun nicht<br />

nur gegen den Wettbewerbsentscheid,<br />

sondern<br />

auch gegen die Ausschreibung<br />

und das Programm.<br />

Honorarwettbewerbe werden<br />

vom Kanton nur bei<br />

Umbauten durchgeführt. Im<br />

Vordergrund steht der<br />

Planungswettbewerb und<br />

hier wiederum das offene<br />

oder selektive Verfahren. Bei<br />

letzterem wird die Präqualifikation<br />

in der Praxis des<br />

kantonalen Hochbauamtes<br />

meistens aufgrund von Entwurfskonzeptenentschieden,<br />

die als anonyme Skizzen<br />

einzureichen sind. Für<br />

die Jury werden überwiegend<br />

auswärtige Architekten<br />

empfohlen, die selbst schon<br />

Wettbewerbserfolge zu verzeichnen<br />

haben.<br />

Wettbewerbe bieten jungen<br />

Architekten eine Chance,<br />

sich unabhängig von Seilschaften<br />

profilieren zu können.<br />

Eine weitere Ursache<br />

für das Aufblühen der Architektur<br />

in Graubünden vermutet<br />

Bandi in der flauen<br />

Wirtschaftskonjunktur der<br />

frühen Achtzigerjahre. Er<br />

erinnert an den Spruch,<br />

dass die besten Ideen in der<br />

Not entstehen. Die Bauten<br />

jener Jahre drücken nicht<br />

Wohlstand oder Interesse<br />

an Materiellem, sondern das<br />

Bemühen um Einfachheit<br />

und Zweckmäßigkeit aus.<br />

Dabei entstanden Solitäre,<br />

die in ihrer sozialen Funktion<br />

als öffentliche Bauten mit<br />

den alten Kirchen zu vergleichen<br />

sind. Günstig für<br />

den Start junger Architekten<br />

in Graubünden waren nach<br />

Ansicht von Erich Bandi<br />

aber auch die im Vergleich<br />

zu großstädtischen Agglomerationen<br />

bescheidenen<br />

Bauvolumen. Die oftmals<br />

bedeutend kleineren Bündner<br />

Schulhäuser lassen sich<br />

architektonisch leichter bewältigen<br />

als Großanlagen.<br />

Die Wettbewerbspolitik des<br />

kantonalen Hochbauamtes<br />

bot Architekten wie Peter<br />

Zumthor eine entscheidende<br />

Ausgangslage. Entsprechend<br />

hoch ist der Anteil<br />

öffentlicher Bauten, vor<br />

allem der Schulhäuser, am<br />

Bestand anspruchsvoller<br />

zeitgenössischer Architektur.<br />

Ein weiteres Instrument<br />

zur Thematisierung<br />

architektonischer Qualität ist<br />

die „Auszeichnung Guter<br />

Bauten“ der Bündner Fachverbände,<br />

die bisher 1987<br />

und 1994 durchgeführt wurde.<br />

Dass einige Architekten in<br />

Graubünden empfindsam<br />

auf den Ort und auf Konzeptionen<br />

des Ganzheitlichen<br />

reagieren, muss nicht überraschen.<br />

Motivierend für das<br />

Bauen in den Bergen ist die<br />

dramatische Topographie<br />

der Landschaft, die das Gebaute<br />

weithin sichtbar<br />

macht. In wenig verdorbenen<br />

Dörfern und Tälern, die<br />

es noch gibt, lohnt sich das<br />

Bemühen um Architektur in<br />

besonderem Maß. Breiter<br />

angelegte Arbeitsgebiete<br />

bleiben durch die im Vergleich<br />

zu den Wirtschaftszentren<br />

weniger weit getriebene<br />

Spezialisierung erhalten.<br />

Beschaulichkeit vermag<br />

der Hektik manchmal zu<br />

trotzen.<br />

Das, was man unter gestalterisch<br />

anspruchsvoller Gegenwartsarchitekturver-


steht, spielt sich in Graubünden<br />

hauptsächlich außerhalb<br />

der eigentlichen<br />

Tourismusorte ab. Die<br />

Tendenz zu wichtigen Ausnahmen,<br />

wie man sie in<br />

Davos und Vals vorfindet,<br />

scheint aber doch eher<br />

stärker zu werden. Der<br />

Grund für die im Allgemeinen<br />

schwierige Situation<br />

liegt wohl in der Klischee-<br />

Anfälligkeit des Tourismus.<br />

Die Gefahr historischer Verkürzung<br />

und oberflächlicher<br />

Übernahme von Vorbildern<br />

ist hier ähnlich gross wie bei<br />

der naiven Seite des Heimatstils.<br />

Wo Formen des<br />

Engadiner Hauses über<br />

alle möglichen neuen Aufgaben<br />

gestülpt werden,<br />

hat es die eigenständige<br />

Auseinandersetzung<br />

Graubünden<br />

Region, Ort, Architektur<br />

schwer. Der Gedanke eines<br />

Territorialprinzips der<br />

Formenwelt engt nicht nur<br />

ein, er widerspricht auch<br />

der historischen Realität<br />

der letzten Jahrtausende.<br />

Gerade die Engadiner<br />

Häuser selbst waren stark<br />

von außen beeinflusst;<br />

Kirchen, Herrschaftshäuser<br />

und Hotelbauten orientierten<br />

sich an den Leistungen<br />

der europäischen<br />

Zentren. Vertrautes und<br />

Fremdes standen in einem<br />

spannungsvollen und<br />

offenen Wechselspiel zueinander.<br />

Dieses dialektische<br />

Verhältnis kann auch heute<br />

noch Leitmotiv für eine Architektur<br />

sein, die sich sowohl<br />

dem Ort als auch der<br />

Welt verpflichtet fühlt.<br />

Leza Dosch<br />

13


Flims<br />

14<br />

Flims<br />

Ein paar Worte zu dem Ort<br />

unserer Unterkunft<br />

Der Höhenkurort Flims,<br />

1103 m über dem Meer, ist<br />

eine selbständige politische<br />

Gemeinde und besteht aus<br />

dem eigentlichen Kurzentrum<br />

„Waldhaus“ und dem<br />

Dorf. Die große Route Ostschweiz-Lukmanier-Oberalp<br />

berührt Flims und erschließt<br />

damit den Kurort<br />

dem Automobilverkehr. Ein<br />

direkter Bahnanschluss besteht<br />

nicht.<br />

Der Waldhügel von Flims<br />

entstand auf dem riesigen<br />

Schuttkegel eines voreiszeitlichen<br />

Bergsturzes. Charakteristisch<br />

sind die zahlreichen<br />

kleinen Seen, von denen<br />

die wichtigsten, der Lac<br />

la Cauma und der Lac la<br />

Cresta, beide mit kristallklarem<br />

Wasser und ohne<br />

sichtbaren Zu- und Abfluss,<br />

mitten im Wald liegen. Die<br />

Vegetation ist vielfältig. In<br />

den Wäldern herrschen<br />

Föhre und Lärche vor, gegen<br />

Rens finden sich prächtige<br />

Buchenbestände. Die<br />

lange Besonnungsdauer<br />

verdankt Films seiner Lage:<br />

auf einer nach Osten, Süden<br />

und Westen geöffneten<br />

freien Terrasse. Die Niederschläge<br />

sind gering, die<br />

Windverhältnisse günstig.<br />

Der Flimserstein und der<br />

Hochwald schützen das<br />

Dorf vor dem Nordwind.<br />

Das gemäßigte Hochgebirgsklima,<br />

der Reichtum an<br />

Wäldern, die zahlreichen<br />

ebenen Spazierwege, ein<br />

breites Spektrum von Sportmöglichkeiten<br />

und nicht zuletzt<br />

ein durch Seilbahnen<br />

vorzüglich erschlossenes<br />

Berggebiet machen Flims<br />

zum begehrten Ort für den<br />

Sommer- und Wintertourismus.<br />

Flims besitzt einige bemerkenswerte<br />

historische Bauwerke:<br />

die Alte Post (1588) in<br />

Waldhaus, die Casa Martin<br />

Ping (um 1570) in Fidaz;<br />

die Cas’AIva (um 1530),<br />

das Schlösschen (1682)<br />

und die Martinskirche<br />

(1512), alle in Flims-Dorf.


Die Architektur von<br />

Rudolf Olgiati<br />

Die Architektur von Rudolf<br />

Olgiati erleichtert einerseits<br />

die systematische Betrachtung<br />

durch die Gradlinigkeit<br />

ihrer Entwicklung, die Konsequenz<br />

ihrer Anwendung<br />

und die Beschränkung auf<br />

enge Bereiche. Ihre Intensität,<br />

ihr raffinierter Aufbau<br />

und ihre teilweise subjektive<br />

Grundlage beanspruchen<br />

aber das Mittel der verbalen<br />

Auseinandersetzung bis zur<br />

Grenze des Möglichen.<br />

Die Erkenntnisse über Erscheinung<br />

und Wirkung der<br />

Teile des Bauens und der<br />

Architektur als Ganzes fasst<br />

Olgiati in seiner Theorie der<br />

optischen Sachlichkeit zusammen.<br />

Er geht davon<br />

aus, dass Architektur durch<br />

die Sinne und nicht durch<br />

den Intellekt wahrgenommen<br />

wird. Er ordnet die<br />

Wahrnehmungseindrücke<br />

und baut sie in ein System<br />

ein, das eine Bewertung und<br />

eine rationale Begründung<br />

erlaubt. Damit sucht er Antwort<br />

zu geben auf eines der<br />

schwierigsten Probleme der<br />

Ästhetik, der Frage nach<br />

schön und hässlich. Sein<br />

Ziel ist, seine Formulierungen<br />

so zu präzisieren, dass<br />

ein gültiges theoretisches<br />

Gerüst entsteht, dessen<br />

richtige Anwendung das<br />

Schöne ermöglicht und das<br />

Hässliche vermeidet.<br />

Ein Grundelement seiner<br />

Architektur ist die umgrenzende<br />

Mauerschale, die das<br />

Innere als besonderen Bereich<br />

vom Außen abtrennt,<br />

schützend umschliesst und<br />

durch Bergen wertvoll<br />

macht. Urvorstellung ist der<br />

mauerumschlossene Paradiesgarten,<br />

Geheimnis und<br />

Verlockung zugleich, oder<br />

der Sesam, der ummauerte<br />

Schatz, nur dem Eingeweihten<br />

zugänglich. Der innere,<br />

vom Menschen kontrollierte<br />

und gestaltete Idealbereich<br />

ist Gegenstück zur äußeren,<br />

oft feindlichen oder hässli-<br />

Architektur<br />

Rudolf Olgiati<br />

chen Umwelt und wird so<br />

zum Symbol des geistigen<br />

und seelischen Behaust-<br />

Seins. Durch den Gegensatz<br />

zwischen Innen und<br />

Außen, dem Gehüteten und<br />

dem Preisgegebenen,<br />

schafft Olgiati eine Dimension,<br />

die in der heutigen Architektur<br />

durch die Manie<br />

der Transparenz weitgehend<br />

verloren gegangen<br />

ist.<br />

Die Mauerschale ist - wenn<br />

sie einen Wohnbereich umhüllt<br />

- verputztes und weissgekalktes<br />

Mauerwerk,<br />

gleichsam luxuriöser Mantel,<br />

der den Intimbereich des<br />

Menschen birgt. Sie passt<br />

sich in groben Zügen gestaffelt<br />

dem Terrain an und bildet<br />

durch den oberen horizontalen<br />

Abschluss ein kubisches<br />

Gebilde. Die notwendigen<br />

Öffnungen in der<br />

Schale werden so angeordnet,<br />

dass ihr zusammenhängender<br />

Charakter nicht verletzt<br />

wird. Fenster haben<br />

meist die Form eines dem<br />

Quadrat angenäherten<br />

Rechteckes, niemals werden<br />

sie zu langen Schlitzen,<br />

welche die Schale zerschneiden<br />

würden. Lediglich<br />

an den oberen Rändern<br />

nehmen die Ausschnitte<br />

breite, zinnenartige Form<br />

an. Regelmässige Fensteranordnungen<br />

werden vermieden,<br />

denn sie würden<br />

eine Auflösung der Schale in<br />

vertikale Pfeiler und horizontale<br />

Bänder bewirken. Jede<br />

Öffnung ist ein neues Ereignis<br />

und wird anders behandelt.<br />

Neben der rechteckigen<br />

Öffnung kleiner Dimension<br />

findet das trichterförmig<br />

vertiefte Fenster Anwendung,<br />

sowie die vertiefte Nische,<br />

bei welcher die Mauerschale<br />

gleichsam eingedrückt<br />

wird und sich in<br />

den meist schräg geführten<br />

Leibungen und der oft angeschrägten<br />

Untersicht fortsetzt.<br />

Eingänge als Durchgänge<br />

durch die Schale sind immer<br />

als Wölbungen ausgebildet,<br />

um die Mauerschale ungebrochen<br />

in den Boden führen<br />

zu können. Gleichzeitig<br />

betont der Bogen die Wichtigkeit<br />

des Ortes. Der Bogen<br />

15


Architektur<br />

Rudolf Olgiati<br />

16<br />

hat dabei nie statische, sondern<br />

optische Funktion. Er<br />

erweckt nie den Eindruck,<br />

als stemme er die Fassade<br />

nach oben, sondern er steht<br />

frei in dem durch einen Sturz<br />

entlasteten Mauerfeld. Oben<br />

wird die Mauerschale direkt<br />

mit dem Himmel konfrontiert<br />

und verträgt keine tafelartige<br />

Abdeckung, sei sie auch<br />

noch so dünn. Vor allem die<br />

Giebelfassaden stossen<br />

nach oben, das Dach ist vertieft<br />

und lappt nur dort über<br />

die Traufe, wo es eine<br />

zusätzliche Funktion des<br />

Deckens zu übernehmen<br />

hat. Die beiden Aufgaben<br />

der Schale, das Innen vom<br />

Außen abzutrennen und<br />

gleichzeitig das Innen nach<br />

dem Außen zu öffnen, werden<br />

bei Olgiati verschmolzen<br />

in der plastisch frei gestalteten<br />

Wand mit deutlicher<br />

Erscheinung nach außen<br />

und subtilem Lichtspiel<br />

nach innen.<br />

Ein weiteres Element der<br />

Architektur von Olgiati bilden<br />

die vollplastischen geometrischen<br />

Körper. Olgiati verwendet<br />

vor allem die liegende<br />

Tafel, die stehende Säule,<br />

den schwebenden Architrav<br />

und den kubischen Körper.<br />

Die Tafel dient als Sokkel<br />

oder zurückgestuft zur<br />

optischen Heraushebung<br />

des Objektes. Die Säule als<br />

stehender Zylinder dient der<br />

Zentrierung, der Regulierung<br />

des Raumflusses, zur<br />

Schaffung optischer Bezugspunkte,<br />

zur transparenten<br />

Abgrenzung und zur<br />

Betonung des Wichtigen.<br />

Der Architrav findet sich als<br />

schwebende Platte in Olgiatis<br />

Idealvorstellungen für<br />

Hochhäuser. Die Form des<br />

kubischen Körpers wird für<br />

innere und äußere Gebäudeteile<br />

verwendet, zum Beispiel<br />

als Kaminkörper frei in<br />

den Raum gestellt oder als<br />

prismatischer Kamin, der die<br />

Dachfläche deutlich sichtbar<br />

durchstößt. Die geometrischen<br />

Körper werden durch<br />

Bearbeitung und Unregel-<br />

mäßigkeiten belebt. Bei der<br />

Säule führen die leichte<br />

Schwellung und Verjüngung<br />

nach oben zur Betonung<br />

der harten Kreisform.<br />

Bei den kubischen Umhüllungen<br />

wird durch leichten<br />

Anzug im oberen Drittel die<br />

plastische Wirkung gesteigert.<br />

Das Innere von Olgiatis Häusern<br />

soll als Idealbereich das<br />

seelische Überleben des<br />

Bewohners ermöglichen.<br />

Durch die sorgfältige Auswahl<br />

der Ausschnitte aus<br />

der Außenwelt, die mit dem<br />

Inneren in Verbindung gebracht<br />

werden, wird Hässliches<br />

ferngehalten und<br />

Schönes betont und damit<br />

das Wohlbefinden des Bewohners<br />

gefördert. Die Folge<br />

der Innenräume ist dynamisch<br />

aufgebaut. Der Blick<br />

wird durch geknickte und<br />

geschwungene Mauern geführt,<br />

durch Säulen gebremst,<br />

er streicht an schrägen<br />

Flächen vorbei und wird<br />

in dunklen Nischen aufgesogen.<br />

Beim Durchschreiten<br />

des Hauses erfolgt ein<br />

Wechsel von eng zu weit,<br />

von dunkel zu hell, unerwartete<br />

Ausblicke treten zwischen<br />

ruhige Zonen. Das<br />

Licht dringt vielfältig in den<br />

Raum ein: ungehindert<br />

durch große, fassadenbündige<br />

Fenster, punktlichtartig<br />

gebündelt durch tiefe<br />

Trichter. Treppen haben fließende,<br />

funktionelle Formen,<br />

meist geknickt oder geschwungen<br />

und bestehen<br />

optisch aus übereinandergelegten<br />

Tafeln, also ohne<br />

überstehende Trittkanten.<br />

Ihr Beginn und ihr Ende ist<br />

harmonisch in den Raumfluss<br />

eingebaut.<br />

Die Komposition der raumbegrenzenden<br />

Materialien<br />

erfolgt mit subtilem Raffinement.<br />

Frische Lebendigkeit<br />

und Spannung wird erreicht<br />

durch die optisch richtige<br />

Anwendung von matt und<br />

glänzend, hart und weich,<br />

glatt und porös. Textilien<br />

sind wichtige Gestaltungsmittel.<br />

Gefutterte Vorhänge<br />

begleiten und mildern die<br />

Übergänge von Innen nach<br />

Außen. Farben dienen zur<br />

Schaffung von Schwerpunkten<br />

und werden nach<br />

ihrer Wirkung und Bedeutung<br />

angewendet. Sie be-


schränken sich auf bewegliche<br />

oder vertiefte Teile:<br />

Gegenstände, Textilien,<br />

Auskleidungen von Nischen.<br />

Die Materialklänge<br />

sind raffiniert und entspringen<br />

einem perfekten Geschmack:<br />

matte Säulen stehen<br />

vor glänzenden Nischen,<br />

rustikales Leinen<br />

dient als Träger für schimmernde<br />

Seide. Langfaserige<br />

Wollteppiche liegen auf weißen<br />

Marmorböden. Stumpfes<br />

Arvenholz stößt an geweißelte<br />

Putzflächen.<br />

Einzelne Raumteile erhalten<br />

besondere Bedeutung und<br />

tauchen immer wieder in<br />

leicht variierter Form auf. Die<br />

Feuerstelle ist als einfache,<br />

rechteckig in die Mauer geschnittene<br />

Öffnung um die<br />

rußige Nische ausgebildet.<br />

Sie beginnt unten, damit<br />

sich der Fußboden in die<br />

Feuernische fortsetzen<br />

kann. Sie bildet den Mittelpunkt<br />

des Wohnbereiches<br />

und wird von Sitzmöglichkeiten<br />

begleitet, oft auf einer<br />

Seite durch ein an die Wand<br />

angebautes, im Unterbau<br />

betoniertes Sofa.<br />

Die Kochstelle steht immer<br />

in direkter Beziehung zum<br />

Esstisch im Sinn einer<br />

Wohnküche. Sie ist nicht<br />

funktionell, sondern optisch<br />

konzipiert, das heißt, sie bildet<br />

einen bühnenmäßigen<br />

Rahmen für die Handlung<br />

der Speisenzubereitung, die<br />

dadurch besondere Bedeutung<br />

bekommt. Gleichzeitig<br />

bildet sie durch richtige und<br />

kompakte Anordnung aller<br />

Bereiche ein Optimum für<br />

rationelles Arbeiten. In früheren<br />

Häusern entwickelte Olgiati<br />

die Idee der Kochwand,<br />

eine lineare Anordnung der<br />

Einbauten in eine Nische,<br />

die vom Hauptraum durch<br />

einen schurzartigen Sturz<br />

getrennt ist. In späteren<br />

Bauten übernimmt er mehr<br />

die Form des Feuertisches<br />

und gruppiert die Arbeitsflächen<br />

auf einem harten kubischen<br />

Körper unter einem<br />

pyramidenförmigen Dunstfang.<br />

Olgiatis Innenräume haben<br />

oft Dimensionen, die unter<br />

den Normvorstellungen liegen.<br />

Durch eine intensive<br />

optische Gestaltung und<br />

optimale Ausnutzung wirken<br />

sie trotzdem angenehm und<br />

Architektur<br />

Rudolf Olgiati<br />

generös. Olgiati wendet Unterschiede<br />

im Maßstab von<br />

kleinen zu großen Räumen<br />

an, um die Raumwirkungen<br />

zu steigern. Er ist ein Meister<br />

in der Ausnutzung vorhandenen<br />

Raumes. Dachräume<br />

werden bis in die tiefste<br />

Ecke genutzt. Geschickt<br />

gestellte Brüstungen und<br />

Schranken vergrößern die<br />

Nutzfläche in Bezug auf die<br />

Höhe. Treppen werden so<br />

geschwungen, bis sich die<br />

scheinbar unmögliche Kopfhöhe<br />

ergibt. Böden werden<br />

aufgewölbt, bis darunter der<br />

notwendige Durchgang<br />

möglich wird. Olgiati hat einen<br />

ausgesprochenen Sinn<br />

für Komfort, der aber nie auf<br />

Kosten der Disziplin in der<br />

Materialanwendung erreicht<br />

wird. Seine Häuser sind außerordentlich<br />

bequem und<br />

wirken wohlig entspannend.<br />

Trotz der komplexen Form<br />

liegen die Erstellungskosten<br />

seiner Bauten dank extremer<br />

Raumausnutzung und<br />

einfacher Materialanwendung<br />

unter der Erwartung.<br />

Olgiati sucht in allen Wirkungen<br />

Unmittelbarkeit. Wichtige<br />

Teile werden durch elementar<br />

geometrische Betonung<br />

hervorgehoben, Nebensächliches<br />

wird weggelassen<br />

oder durch zurückweichende<br />

Formgebung<br />

unauffällig gemacht. In der<br />

Praxis ist er äußerst konsequent:<br />

Es gibt keine Rahmen<br />

und Deckleisten, welche<br />

Formen einschnüren,<br />

keine Raster, welche Flächen<br />

zerschneiden, keine<br />

Sockel und Abdeckungen,<br />

welche sich zwischen<br />

Hauptelemente schieben,<br />

auch keine Systeme, welche<br />

sinnliche Wahrnehmung<br />

durch Denkvorgänge ersetzen<br />

würden. Flächen und<br />

Körper werden durch sich<br />

selber begrenzt. Fassaden<br />

stoßen ohne Abdeckung in<br />

den Himmel. Die Reinheit<br />

der Einzelteile und die Unmittelbarkeit<br />

ihrer Beziehung<br />

ist Hauptgrund für das Gefühl<br />

von Eindeutigkeit und<br />

Freiheit, das Olgiatis Bauten<br />

ausstrahlen. Olgiati vermeidet<br />

monotone Wiederholungen.<br />

Jede Fensteröffnung<br />

ist ein neues Ereignis. Dort,<br />

wo Gruppenbildungen angestrebt<br />

werden, wie in den<br />

Säulenreihen seiner Portici,<br />

17


Architektur<br />

Rudolf Olgiati<br />

18<br />

individualisiert er die einzelnen<br />

Säulen - die übrigens<br />

aus der gleichen Schalung<br />

gegossen werden - durch<br />

Nischen wechselnder Form.<br />

Olgiatis Architektur lebt aus<br />

Gegensätzen. Geometrische<br />

Säulen stehen in freigeschnittenenMaueröffnungen.<br />

Weiche dunkle<br />

Dachflächen werden von<br />

den harten weißen Prismen<br />

der Kamine durchstoßen.<br />

Weite Vordächer kragen<br />

über knappe Kuben. Spannung<br />

spricht aus der Gliederung<br />

der Mauern mit ruhigen<br />

Flächen und konzentrierten<br />

Öffnungen. Überraschung<br />

begleitet den Besucher beim<br />

Durchschreiten der Räume.<br />

Nie aber entsteht das Gefühl<br />

der Verkrampfung. Die<br />

Pointierung der Gegensätze<br />

bewirkt im Gegenteil ein<br />

Gefühl von Befreiung, Entspannung,<br />

Lösung.<br />

Die Proportionen werden<br />

nicht nach der klassischen<br />

Methode der mathematischgeometrischenBeziehung<br />

durchgebildet. So<br />

steht die zurückweichende<br />

dunkle Nische im<br />

übersteigerten Verhältnis<br />

zum hervortretenden weißen<br />

Körper.<br />

Durch die konsequente Anwendung<br />

einfacher theoretischer<br />

Grundlagen sind Olgiatis<br />

Bauten ausgesprochen<br />

ganzheitlich, das heißt,<br />

jede Einzelform wird als Teil<br />

eines Ganzen empfunden.<br />

Die Formgebung ist so präzis,<br />

daß Verschiebungen<br />

undenkbar werden. Die starke<br />

Betonung des Ganzheitsaspekts<br />

bewirkt eine gewisse<br />

Empfindlichkeit und Verletzlichkeit<br />

gegenüber unrichtig<br />

vorgenommenen Ergänzungen<br />

und Änderungen<br />

wie unpassende Möblierung<br />

und falsche Bepflanzung.<br />

Alle Bauten von Olgiati basieren<br />

auf den beschriebe-<br />

nen Überlegungen und stellen<br />

damit Variationen eines<br />

Grundthemas dar. Sie erhalten<br />

ihre ausgesprochene<br />

Individualität durch die jeweilige<br />

Anpassung an die Gegebenheit<br />

der Topographie<br />

im weiteren Sinn. Neue Erkenntnisse,<br />

die bei einem<br />

Bau gewonnen werden,<br />

werden laufend in die Theorie<br />

eingebunden und führen<br />

damit zu einer kontinuierlichen<br />

Entwicklung. Diese<br />

zeichnet sich nicht durch<br />

eine Komplizierung aus,<br />

sondern durch eine Vereinfachung<br />

der Konzepte,<br />

durch eine Erhöhung der<br />

Unmittelbarkeit und eine<br />

Steigerung des Raffinements.<br />

Olgiati schöpft die Kraft und<br />

Klarheit seiner Konzepte<br />

zum großen Teil aus der<br />

kontinuierlichen intensiven<br />

Auseinandersetzung mit der<br />

Bautradition, von der griechischen<br />

Klassik über den<br />

Hellenismus bis zur alten<br />

Bündner Architektur. Durch<br />

eine Analyse und eine persönliche<br />

Interpretation gelangt<br />

er dabei zu überraschenden<br />

Resultaten. Er findet<br />

plausible, lebendige Erklärungen<br />

für formales Verhalten<br />

in der Vergangenheit<br />

und wendet die Erkenntnisse<br />

laufend für die<br />

eigene Arbeit an. Es gelingt<br />

ihm so, eine aktuelle Aussage<br />

in einer optischen Tradition<br />

zu verwurzeln. Durch<br />

das Begreifen aller Formen<br />

aus ihrer Wirkung auf den<br />

Menschen heraus rückt dieser<br />

automatisch in den Mittelpunkt<br />

der Architektur. Architektur<br />

wird dadurch nicht<br />

nur Zuflucht, sondern auch<br />

adäquater Rahmen für den<br />

Menschen. Ihre Aufgabe ist<br />

es, ihn zur Geltung kommen<br />

zu lassen, den für seine Erscheinung<br />

optimalen Hintergrund<br />

zu bilden. Sie befriedigt<br />

sein Bedürfnis nach<br />

echter Atmosphäre, körperlichem<br />

und geistigem Wohlbefinden.


Umbau Tschaler/Chur<br />

LasCaglias/Flims<br />

Architektur<br />

Rudolf Olgiati<br />

19


Bregenz<br />

Kunsthaus<br />

20<br />

Kunsthaus Bregenz<br />

Standort: Karl Tizian Platz, Bregenz<br />

Baujahr: 2/1994 – 7/1997<br />

Bauherr: Land Vorarlberg<br />

Architekt: Peter Zumthor, Haldenstein<br />

Ingenieur: Statik – Robert Manahl, Bregenz,<br />

Glas – Ernst Wächli, Langenthal,<br />

Energieplanung – Meierhans & Partner, Fällanden<br />

Literatur: Architektur Aktuell, 207, 1997,<br />

Baumeister, 9/97,<br />

Bauwelt Jg.88, Nr.35, 1997,<br />

Beratende – Ingenieure Jg.88, Nr.7/8, 1998,<br />

Das Architekten-Magazin, 1/98,<br />

Detail, Nr.8, 1997,<br />

Hochparterre Jg.10/9, 1997,<br />

Licht & Architektur, Nr.20, 1997,<br />

Peter Zumthor, Häuser 1979 – 1997, Zement und<br />

Beton, Nr.4, 1997<br />

Der Lichtkörper des Kunsthauses<br />

stellt sich selbstbewusst<br />

in die Reihe öffentlicher<br />

Bauten, welche die<br />

Seebucht säumen. Abgerückt<br />

von den kleinen Bauvolumen<br />

der Altstadt, definiert<br />

er zusammen mit dem<br />

Kornmarkttheater einen<br />

neuen Platzraum zwischen<br />

Altstadt und See. Die Gestaltung<br />

des Platzes arbeitet mit<br />

der Gegenüberstellung der<br />

Maßstäbe, der Kleinteiligkeit<br />

des Altstadtrandes und dem<br />

weiteren Rhythmus der Gebäude<br />

und Freiräume am<br />

See. Die Ausstrahlung und<br />

das Licht des Sees wirken<br />

durch die hohe Lücke zwischen<br />

dem Glaskörper des<br />

Museums und dem steinernen<br />

Bühnenturm des Theaters<br />

hindurch in den Platz<br />

hinein und geben dem Bild<br />

der Annäherung eine besondere<br />

Note.<br />

Das Kunsthaus steht im<br />

Licht des Bodensees. Sein<br />

Körper ist aus Glasplatten,<br />

Stahl und aus einer Steinmasse<br />

aus gegossenem<br />

Beton gebaut, die im Innern<br />

des Hauses Struktur und<br />

Raum bildet. Von außen<br />

betrachtet wirkt das Gebäude<br />

wie ein Leuchtkörper. Es<br />

nimmt das wechselnde Licht<br />

des Himmels, das Dunstlicht<br />

des Sees in sich auf, strahlt<br />

Licht und Farbe zurück und<br />

lässt je nach Blickwinkel,<br />

Tageszeit und Witterung etwas<br />

von seinem Innenleben<br />

erahnen. Denn die Haut des<br />

Gebäudekörpers besteht<br />

aus fein geätztem Glas. Sie<br />

wirkt wie ein leicht gesträubtes<br />

Gefieder oder eine aus<br />

großen gläsernen Tafeln<br />

gefügte Verschuppung. Die<br />

Glastafeln, alle vom gleichen<br />

Format (1,72m x 2,93m),<br />

sind weder gelocht noch<br />

beschnitten. Sie liegen auf<br />

Metallkonsolen auf. Große<br />

Klammern halten sie an ihrem<br />

Platz. Die Kanten der<br />

Gläser sind ungestört und<br />

liegen frei. Durch die offenen<br />

Fugen der Verschuppung<br />

streicht der Wind. Seeluft<br />

dringt in die feinmaschige<br />

Hüllkonstruktion ein, in die<br />

stählerne Struktur der<br />

selbsttragenden Fassade,<br />

die aus der Grube des Untergeschosses<br />

aufsteigt und<br />

die monolithische Raumskulptur<br />

im Innern mit einem<br />

differenzierten System von<br />

Fassadengläsern, Wärmedämmungen<br />

und Verschattungseinrichtungenumschließt,<br />

ohne mit ihr fest<br />

verbunden zu sein.<br />

Die mehrschichtige Fassadenkonstruktion<br />

ist ein auf<br />

das Innere abgestimmtes,<br />

konstruktiv autonomes<br />

Mantelbauwerk, das als<br />

Wetterhaut und Tageslichtmodulator,<br />

Sonnenschutz<br />

und Wärmedämmschicht<br />

funktioniert. Von diesen Aufgaben<br />

entlastet, kann sich


die raumbildende Anatomie<br />

des Gebäudes im Innern<br />

autonom entwickeln. Ein<br />

schmaler Zwischenraum, in<br />

den Stege führen, ermöglicht<br />

die Wartung und Reinigung<br />

der Glasschuppen.<br />

Die Eigenschaften der<br />

Gussmasse Beton, in komplexe<br />

Formen zu fließen,<br />

technische Installationen in<br />

sich aufzunehmen und<br />

schließlich eine monolithische<br />

Großform von annähernd<br />

skulpturalem Charakter<br />

zu bilden, werden ausgeschöpft.<br />

Das heißt, es gibt<br />

keine Verblendungen, Verkleidungen,Verspachtelungen<br />

oder Übermalungen.<br />

Die Entmaterialisierung<br />

der Oberflächen, die man<br />

bei additiven Bauweisen, die<br />

mit der Schichtung von Materialien<br />

arbeiten, häufig feststellen<br />

kann, ist vermieden.<br />

Statisch auf das Notwendige,<br />

von der Nutzung und<br />

Funktion her auf das Erwünschte<br />

und Brauchbare<br />

reduziert, fallen hier Konstruktion,<br />

Material und<br />

Erscheinungsform zusammen.<br />

Das Gebäude ist genau<br />

das, was man sieht, berühren<br />

kann und betritt: eine<br />

steinerne Gussmasse - geschliffen<br />

die Böden und<br />

Treppen, samtig glänzend<br />

die Wände und Decken.<br />

Exkurs Schalungs- und<br />

Betonarbeiten<br />

Um Sichtbetonflächen von<br />

aussergewöhnlicher Quali-<br />

tät zu erhalten, wurden seitens<br />

des Architekten und<br />

Auftraggebers sehr enge<br />

Maßtoleranzen verlangt und<br />

in der Ausschreibung klar<br />

definiert. Ein solches Maß<br />

an Genauigkeit bei den Beton-<br />

und Schalungsarbeiten<br />

konnte nur durch einen<br />

enormen Mehraufwand und<br />

ein speziell geschultes und<br />

eingearbeitetes Fachpersonal<br />

erbracht werden. Zur Erstellung<br />

der Wände im 1.<br />

Untergeschoss innen, im<br />

Erdgeschoss und den<br />

Obergeschossen wurden<br />

DOKA-Großflächenelemente<br />

als Grundschalung verwendet.<br />

Wegen der sehr<br />

dicken (bis zu 72 cm) und<br />

hohen Wandscheiben und<br />

aufgrund der vom Architekten<br />

vorgegebenen Bundstellen<br />

mussten diese Elemente<br />

überdimensioniert<br />

werden. Um ein exaktes,<br />

vom Architekten genau vorgegebenes<br />

Fugenbild zu<br />

erhalten, wurde bei den<br />

Schalungsarbeiten besonderes<br />

Augenmerk auf die<br />

Beplankung mit der<br />

Holzwerkstoffplatte (mit einer<br />

Kunststoffbeschichtung<br />

als eigentliche Schalhaut)<br />

gelegt, wobei alle Platten nur<br />

für einen einzigen Betoniervorgang<br />

verwendet werden<br />

konnten. Sämtliche Stöße<br />

wurden mit Silikon abgedichtet,<br />

um das Austreten<br />

von Zementleim und die daraus<br />

resultierende Bildung<br />

von Nestern zu vermeiden.<br />

Wegen der gewünschten<br />

Scharfkantigkeit belegte<br />

man die Ecken mit Dichtbändern.<br />

Anschließend wurde<br />

die Schalung sauber geschlossen.<br />

Die Ausschalungsfristen<br />

von drei Tagen<br />

für Sichtbeton mussten stets<br />

eingehalten werden. Nach<br />

dem Ausschalen war es notwendig,<br />

die Großflächen-<br />

Elemente der Grundschalung<br />

stehend zwischenzulagern,<br />

da bei einer horizontalen<br />

Lagerung die Gefahr<br />

des Verziehens während<br />

des Wiederaufhebens mit<br />

dem Kran zu groß gewesen<br />

wäre.<br />

Anhand einiger Muster erarbeitete<br />

ein Labor die genaue<br />

Rezeptur für den Beton. Um<br />

einen Beton von durchgehend<br />

gleicher Farbe und<br />

Qualität herstellen zu kön-<br />

Bregenz<br />

Kunsthaus<br />

21


Bregenz<br />

Kunsthaus<br />

22<br />

nen, stellte das Betonwerk<br />

Silos bereit, deren Inhalt genauestens<br />

auf die vorgegebene<br />

Menge an Zement und<br />

Zuschlagstoffen abgestimmt<br />

war. Durch die einmalige<br />

Lieferung der Zuschlagsstoffe<br />

konnte konstant<br />

das gleiche Mischungsverhältnis<br />

garantiert<br />

werden. Folgende, beim<br />

Betonieren maßgebliche<br />

Einflussfaktoren fanden besondere<br />

Beachtung: die<br />

Einbauhöhe des Betons,<br />

der w/z-Wert (< 0,5) sowie<br />

Temperatur und Witterung.<br />

Die Eintauchtiefe und die<br />

Abstände der Betonrüttler<br />

und der Rüttelflaschendurchmesser<br />

wurden auf<br />

die Wanddicken abgestimmt.<br />

Das Trennmittel<br />

wurde nach dem Aufsprühen<br />

auf die Sichtschalung<br />

mit einem Tuch verrieben,<br />

damit es an keiner Stelle zu<br />

dick aufgetragen war. Die<br />

Betoneinbringung geschah<br />

immer fortlaufend, lange<br />

Wartezeiten bei der Betonzufuhr<br />

mussten vermieden<br />

werden. Der Beton wurde in<br />

Lagen von 40 bis 50 cm<br />

eingebracht und anschließend<br />

gerüttelt. Die genaue<br />

Einhaltung der Rüttelzeiten<br />

wurde streng beachtet,<br />

denn eine zu lange<br />

Rüttelphase hätte eine Entmischung<br />

des Betons verursacht.<br />

Die Grobkörnungen<br />

wären dann an den Sichtflächen<br />

durch Schattierungen<br />

sichtbar geworden. Zu kurze<br />

Rüttelphasen dagegen<br />

hätten eine hohe Anzahl an<br />

Lunkern und eine starke Porenbildung<br />

bewirkt. Um eine<br />

zu große Fallhöhe des Betons<br />

zu vermeiden, kamen<br />

da, wo es notwendig war,<br />

Schüttrohre zum Einsatz.<br />

Nach Möglichkeit setzte<br />

man immer dieselbe Mannschaft<br />

beim Betonieren ein.<br />

Nach dem Ausschalen wurde<br />

der Beton lediglich gewaschen;<br />

eine weitere Nachbehandlung<br />

oder Imprägnierung<br />

erfolgte nicht.<br />

Die Terrazzo-Böden werden<br />

nicht in kleinteilige Felder<br />

zerlegt, sondern reichen fugenlos<br />

über 450m² (in verschiedenen<br />

Tonwerten je<br />

Saal). An den Aussenwänden<br />

(auch neben den Treppenläufen)<br />

trennt eine Fuge<br />

den Boden von der aufge-<br />

henden Wand. Dieser<br />

Schlitz dient der unsichtbaren<br />

Belüftung.<br />

Klimatisierung<br />

Die Kunstwerke profitieren<br />

von der sinnlichen Präsenz<br />

der raumbildenden Materialien.<br />

Mit dem Konzept der<br />

hohen Materialpräsenz im<br />

Innern eng verbunden ist<br />

der Umstand, daß die Betonmasse<br />

des Gebäudes<br />

sich gleichsam selbst nach<br />

den Erfordernissen des<br />

Museumsbetriebes richtig<br />

temperiert. Denn in die Massen<br />

der Wände und Decken<br />

sind wasserführende (insgesamt<br />

26 m³) Rohrsysteme<br />

eingegossen, die diese bei<br />

Bedarf abkühlen oder aufheizen,<br />

sowie Rohrsysteme,<br />

mit denen die Atemluft erneuert<br />

wird. Die Absorptions-<br />

und Speicherfähigkeit<br />

der unverkleideten, konstruktiven<br />

Baumasse wird<br />

ausgenutzt, um das Klima<br />

stabil zu halten. Die 25 m tiefen<br />

Schlitzwände werden<br />

als Betonabsorber verwendet,<br />

da in 10 m Tiefe die<br />

Grundwassertemperatur<br />

konstant ca. 12°C beträgt<br />

(diese Technologie wird<br />

„free cooling“ genannt). Als<br />

Wärmequelle dient ein Kondensations-Gasheizkessel.<br />

Voraussetzung für diese träge<br />

Konditionierung ist ein<br />

relativ breites Spektrum akzeptierter<br />

Temperatur- und<br />

Feuchtewerte. Die Klimaanlage<br />

üblichen Zuschnitts, mit<br />

ihren großen Rohren, die<br />

viel Luft transportieren müssen,<br />

um zu heizen oder zu<br />

kühlen, zu entfeuchten oder<br />

zu befeuchten, konnte entfallen.<br />

Die Decken der Ausstellungsräume<br />

in den Obergeschossen-<br />

geschossgroße<br />

Säle, gebaut in der Form<br />

von oben offenen Lichtauffangbehältern<br />

- bestehen<br />

aus Licht, das sich im Glas<br />

verfängt. Offen gefügte<br />

Glastafeln mit freiliegenden<br />

Kanten hängen an Hunderten<br />

von dünnen Stahlstäben<br />

von den Betondecken herunter,<br />

jede Tafel einzeln gehalten.<br />

Ein Meer von Glastafeln,<br />

raumseitig geätzt und<br />

in feinen Nuancen auf den<br />

Flächen und an den Kanten<br />

gläsern schimmernd, verteilt<br />

das Tageslicht im Raum, das


von allen vier Seiten des<br />

Gebäudes in den mannshohen<br />

Hohlraum über der<br />

Glasdecke einfällt. Man<br />

spürt, wie das Gebäude das<br />

Tageslicht in sich aufnimmt,<br />

man ahnt den Sonnenstand,<br />

die Himmelsrichtungen<br />

und erlebt Lichtmodulationen,<br />

verursacht durch<br />

die unsichtbare und doch<br />

spürbare Umgebung draußen.<br />

Und im Innern der Säle<br />

wird das Licht von den drei<br />

Wandscheiben moduliert,<br />

welche die Säle tragen. Die<br />

Konstellation dieser Scheiben<br />

im Raum gibt dem<br />

Lichteinfall unterschiedliche<br />

Richtungen, bewirkt<br />

verschiedenartige Abschattungen<br />

und Reflexionen. Die<br />

Lichtstimmung ist temperiert.<br />

Der Raum gewinnt Tiefe.<br />

Der ständig wechselnde<br />

Lichteinfall erzeugt den Eindruck,<br />

als ob das Gebäude<br />

atme. Alles erscheint durchlässig,<br />

durchlässig für das<br />

Licht, aber auch für den<br />

Wind und für das Wetter, als<br />

käme das Gebäude hier<br />

oben ohne luftdichte Hülle<br />

aus.<br />

Licht<br />

Während bei Tag das Licht<br />

sanft gefiltert in die Räume<br />

strömt, wird bei zunehmender<br />

Dunkelheit die künstliche<br />

Beleuchtung zugeschaltet<br />

und prägt das Erscheinungsbild<br />

des Hauses<br />

am See. Für die Kunstlichtplanung<br />

stellte sich die Aufgabe,<br />

diese Stimmung über<br />

den gesamten Tagesverlauf<br />

beizubehalten. Es galt, das<br />

Tageslichtangebot in den<br />

zentralen Bereichen bei wetter-<br />

und tagesablaufbedingtenHelligkeitsschwankungen<br />

zu ergänzen sowie in<br />

den Nachtstunden optimal<br />

zu ersetzen. Dazu musste<br />

die gläserne Decke möglichst<br />

gleichmäßig mit Licht<br />

bestrahlt werden. Die Lichtplaner<br />

entwickelten hierzu<br />

eine mit einer dimmbaren<br />

Leuchtstofflampe (58W)<br />

bestückte Pendelleuchte mit<br />

Bregenz<br />

Kunsthaus<br />

spezieller Diffusor-Optik, die<br />

die Konturen der Leuchten<br />

verwischt, so dass sie hinter<br />

den Glaselementen<br />

kaum erkennbar sind. Jedem<br />

Glaselement ist jeweils<br />

eine Leuchte zugeteilt (insgesamt<br />

666 Leuchten /<br />

computergesteuertes Lichtmanagement<br />

mit Tageslichtmesskopf<br />

auf dem Dach).<br />

Ihre Anordnung wechselt<br />

zwischen längs und quer,<br />

um eine möglichst gleichmäßige<br />

Lichtverteilung zu<br />

erreichen. Zur Ergänzung<br />

dieser Allgemeinbeleuchtung<br />

erhielten die Ausstellungsräume<br />

unauffällig zwischen<br />

die Glaselemente integrierte<br />

Chromschienen, in<br />

die sich nach Bedarf Strahler<br />

und Fluter als Akzentbeleuchtung<br />

integrieren lassen.<br />

Da in den Hallen nicht einmal<br />

Hängesysteme eingebaut<br />

wurden, die die Klarheit<br />

der Architektur gestört hätten,<br />

müssen die Bilder jedes<br />

Mal mit Dübeln an der Wand<br />

befestigt werden. Löcher<br />

über Löcher könnten so dereinst<br />

wie ein chronologisches<br />

Tagebuch über die<br />

vergangenen Ausstellungen<br />

und ihre Spuren berichten.<br />

Aber Peter Zumthor hat den<br />

Kuratoren und Restauratoren<br />

„einen Sack Zement“<br />

überlassen, dessen Bestandteile<br />

exakt denen des<br />

Wand-Betons entsprechen.<br />

So bleiben auch die originalen<br />

Beton-Farben erhalten<br />

und an der Wand keine einzige<br />

Spur.<br />

Die innere Seite des Fassadenmantels<br />

aus Stahl und<br />

Glas, in die die bautechnisch<br />

notwendigen Dichtungen<br />

und Dämmungen eingearbeitet<br />

sind, ist hier oben<br />

kaum spürbar. Man erlebt<br />

sie im Erdgeschoss, wenn<br />

man durch den tunnelartig<br />

gefassten Haupteingang<br />

hindurch die Foyerplatte<br />

betritt: einen glatten Schaft<br />

aus geätztem Glas, der aus<br />

dem Lichtgraben des Unter-<br />

23


Bregenz<br />

Kunsthaus<br />

24<br />

geschosses hochsteigt und<br />

nach oben verschwindet,<br />

mit einem knappen Abstand<br />

zur monolithischen Betonstruktur,<br />

die er umhüllt und<br />

schützt.<br />

Die massiven Aussenwände<br />

und Glasdecken, welche die<br />

Ausstellungsräume auszeichnen,<br />

fehlen in diesem<br />

Geschoss des Eintritts und<br />

Auftakts. Die drei, aus dem<br />

tief in den Boden eingelassenenFundamentkasten<br />

des zweiten Untergeschossesherauswachsenden<br />

Tragscheiben, die alle<br />

Geschosse durchstoßen<br />

und tragen, stehen hier frei<br />

im Raum. Die glatte Wand,<br />

der glatte Boden, die glatte<br />

Decke. Hier wirkt die Theke<br />

für Kasse und Buchverkauf<br />

wie ein in den feierlichen<br />

Raum hinein gestellter Altar.<br />

Die Wände schirmen die<br />

vertikalen Erschließungen<br />

des Gebäudes - Haupttreppe,<br />

Warenlift, Personenlift,<br />

Nottreppe, Steigleitungen -<br />

vom Hauptraum ab und sind<br />

so in das große Quadrat des<br />

Grundrisses eingeschrieben,<br />

dass sich in den Randzonen<br />

unterschiedliche<br />

räumliche Situationen ergeben.<br />

Es entsteht eine leichte<br />

Dynamik im Raum. Die<br />

Neugier ist geweckt. Sie ist<br />

das auslösende Moment einer<br />

spiralförmigen Bewegung,<br />

die einen durch das<br />

Haus hinaufführt, die einen<br />

erfasst beim Haupteingang<br />

und sanft in den Raum<br />

hineindreht. Jetzt erblickt<br />

man die Tür, den Eingang<br />

zum nächsten Geschoss,<br />

die Kaskade der Treppenflucht<br />

und die strahlende<br />

Tageslichtdecke des oberen<br />

Saales. Sie empfängt den<br />

Besucher gleich hinter der<br />

Tür und führt hinauf ins Licht<br />

der Ausstellung. So geht<br />

man von Geschoss zu Geschoss,<br />

wie von Raum zu<br />

Raum, und erfährt die charakteristische<br />

Stapelung der<br />

Geschosse, das turmartige<br />

des Museums, das sich aus<br />

der städtebaulichen Setzung<br />

ergibt. Dieses Konzept<br />

der „dynamisierten Statik“<br />

(als wollte Zumthor die feierliche<br />

Ruhe seiner Räume<br />

durch eine leichte Bewegung<br />

noch betonen) entspricht<br />

der „Gestimmtheit“<br />

eines Kunsthauses in einem<br />

besonderen Maße. Der<br />

Raum gibt gewissermaßen<br />

den Rhythmus und das<br />

Tempo vor, die beide dem<br />

kontemplativen Durchschreiten<br />

einer Kunstsammlung<br />

entsprechen. Was im<br />

konventionellen Museum<br />

dem Wechsel der Saalgrößen<br />

oder der Richtungsänderung<br />

entspricht, drückt<br />

sich hier in der Behandlung<br />

der Wände und in den Saalhöhen<br />

aus: Dem hohen Eingangsgeschoss<br />

folgen zwei<br />

fast gleiche Säle, deren Wiederholung<br />

durch das „Finale“<br />

eines höheren Saales abgeschlossen<br />

wird, eine subtile<br />

Reihe, die man in der<br />

Poetik mit der Folge a b b c<br />

charakterisieren würde. In<br />

den Obergeschossen ist die<br />

Decke gleich über der Betonwand<br />

am hellsten, dort<br />

wo sie aufliegen müsste, ist<br />

sie offensichtlich am<br />

schwächsten. Die massive<br />

Wand verliert sich in die Helle<br />

und man spürt, dass sie<br />

nicht trägt. Das ganze Gebäude<br />

wirkt trotz seiner<br />

schweren Betonmauern irgendwie<br />

leicht. Es fehlt der<br />

selbstverständliche Eindruck<br />

von übereinandergestellten<br />

Tragmauern. Ein Effekt,<br />

der im Untergeschoss<br />

noch einmal betont wird. Ein<br />

kleiner Veranstaltungssaal<br />

befindet sich im schwarz gehaltenen<br />

ersten Untergeschoss.<br />

Zwei durch Wände<br />

aus Glasbausteinen abgetrennte<br />

Kompartimente enthalten<br />

Sanitärbereiche, Lagerzonen<br />

und Vortragsraum,<br />

während Magazine<br />

und Technik in dem für Besucher<br />

unzugänglichen<br />

zweiten Untergeschoss untergebracht<br />

sind. Die innere


Fassadenschicht steht auf<br />

dem Untergeschossboden,<br />

und das Gestänge des Fassadengerüstes<br />

schiebt sich<br />

zwischen Grundwasserwanne<br />

und Kellerwand.<br />

Man wird irritiert und weiss<br />

nicht genau, worauf das<br />

Haus steht.<br />

Peter Zumthor verwehrt den<br />

Blick auf den See, weil ein<br />

Terrassencafé das Kunsthaus<br />

zu einem touristischen<br />

Aussichtsbau degradieren<br />

und die Allgegenwart des<br />

Bregenzer Seeblicks um<br />

nichts aufwerten würde. Das<br />

Bregenzer Kunsthaus ist ein<br />

Bau, der die Kunst in der<br />

radikalsten Form ernst<br />

nimmt, indem er sich selbst<br />

ihren Gesetzen unterwirft.<br />

Das als selbständiges Haus<br />

konzipierte Verwaltungsgebäude<br />

des Museums, in<br />

dem Räume, die nicht dem<br />

Betrachten von Kunstwerken<br />

dienen, ihren Platz gefunden<br />

haben, spielt im motivischen<br />

Aufbau der Kom-<br />

Schnitt A<br />

position des Platzes eine<br />

wichtige Rolle der Vermittlung.<br />

Die Größe des Gebäudes<br />

und seine Nutzung als<br />

kleines Bürohaus mit Bar<br />

und Museumsshop im Erdgeschoss<br />

passen zur Altstadt.<br />

Ob innen oder außen,<br />

sämtliche Wände bestehen<br />

aus schwarzem Sichtbeton,<br />

zu dem lediglich strahlend<br />

weiße Markisen in Kontrast<br />

treten. Das „Skelett“ des<br />

Verwaltungspavillons ist in<br />

Wirklichkeit eine nach außen<br />

sich abbildende Baustruktur<br />

mit starkem Relief.<br />

Seine Gestaltung dagegen<br />

vermittelt einen Hauch von<br />

überlokalem, urbanem Luxus<br />

und Extravaganz, deren<br />

Bedeutung sich nur aus der<br />

Zugehörigkeit des in vornehmem<br />

Schwarz gehaltenen<br />

Eingangsbauwerkes<br />

zum strahlenden Glaskörper<br />

des Hauptbaus im Hintergrund<br />

erschließt, mit dem es<br />

die Platzfläche teilt und auf<br />

dessen Eingang es mit seiner<br />

Hauptfront hinlenkt.<br />

Bregenz<br />

Kunsthaus<br />

25


Bregenz<br />

Kunsthaus<br />

26<br />

Oberlicht<br />

1.-3.OG<br />

EG


Postautostation<br />

Standort: Chur<br />

Baujahr: 1. Bauabschitt 1993, 2. bis 2005<br />

Bauherr: Schweizerische PTT-Betriebe<br />

Architekt: Richard Brosi, Chur<br />

Obrist & Partner, St. Moritz<br />

Ingenieur: Edy Toscano, Chur<br />

Hegland und Partner, Chur<br />

Tragwerk: Ove Arup & Partners, London<br />

Literatur: Bauwelt Jg. 85/1994, Nr. 23,<br />

Glasforum 3/1994,<br />

Schweizer Ingenieur u. Architekt 25/1993,<br />

Werk, Bauen + Wohnen 11/1993<br />

In der Gesamtüberbauung<br />

„Chur Bahnhofsgebiet“ ist<br />

ein markanter Baukörper<br />

der Nutzung übergeben<br />

worden. Die Architekten<br />

Brosi aus Chur und Obrist<br />

aus St. Moritz gingen 1985<br />

aus einem Wettbewerb mit<br />

ihrem Projekt „Connection“<br />

als Sieger hervor. Im Zentrum<br />

der Überbauung dominiert<br />

ein Glasgewölbe, ähnlich<br />

den Ende des 19.Jahrhunderts<br />

erstellten Bahnhofshallen,<br />

welches im<br />

Endausbau auf 300 m Länge<br />

die Gleisanlagen des<br />

Churer Bahnhofes überspannen<br />

wird. In einer ersten<br />

Etappe wurde von der<br />

PTT das Postautodeck über<br />

den Bahnsteigen erstellt und<br />

zum Schutz der Fahrgäste<br />

mit einer feingliedrigen<br />

Stahlrohrbogenkonstruktion<br />

in Form von zwölf „Zitronen<br />

schnitzen“ und einer<br />

Spezialverglasung auf 90 m<br />

Länge überdeckt. Reisende,<br />

die mit der Bahn ankommen,<br />

erreichen die neue<br />

Postautostation über Rolltreppen<br />

und genießen ungehindert<br />

die Kulisse der<br />

Bündner Bergwelt.<br />

Konzept<br />

und Konstruktion<br />

Eine weitgespannte transparente<br />

Halle überdeckt die<br />

Postautostation über dem<br />

Gleisfeld des Bahnhofs<br />

Chur. Die Haupttragelemente<br />

des Daches bestehen aus<br />

12 zitronenschnitzähnlichen<br />

Rohrbogenkonstruktionen,<br />

die mit Zugstangen unterspannt<br />

sind.<br />

Chur<br />

Postautostation<br />

Sie sind das Ergebnis einer<br />

längeren Entwicklungsarbeit,<br />

die alle denkbaren<br />

Varianten wie Fachwerke,<br />

Dreigurtträger,<br />

Raumfachwerke und Veloradbogen<br />

einschloss.<br />

Entscheidend für die Wahl<br />

war der hohe ästhetische<br />

Wert und die relativ geringen<br />

Mehrkosten gegenüber<br />

einer konventionellen<br />

Lösung. Aus der herstellungstechnischschwierigen<br />

Anordnung der Pfetten<br />

in der Binderebene zusammen<br />

mit den schräggestellten,<br />

gebogenen<br />

Hauptrohren, resultiert<br />

eine optimale räumliche<br />

Tragwirkung, so dass keine<br />

Verbände erforderlich<br />

sind. Damit wird eine klare<br />

gestalterische Lösung<br />

erreicht. Um die Auftriebskräfte<br />

aus Wind mit Eigengewichten<br />

kompensieren<br />

zu können, wurde eine 16<br />

mm dicke Glaseindekkung<br />

gewählt (auch für die<br />

gewählte Spannweite 948<br />

mm erforderlich). Zudem<br />

wurden die Endbogenrohre<br />

zur Gewichtserhöhung<br />

mit größerer Wandstärke<br />

ausgeführt (statt 12,5 mm<br />

20 mm). Zwei Hauptzugstangen<br />

nehmen die horizontalen<br />

Auflagerkräfte<br />

aus der Bogenwirkung auf.<br />

Im leicht erhöhten Zentrum<br />

aus Stahlguss strahlen<br />

zwölf Speichen aus, mit<br />

denen der Rohrbogen reguliert<br />

und den Hauptzugstangen<br />

eine Vorspannung<br />

gegeben wurde. Je-<br />

27


Chur<br />

Postautostation<br />

28<br />

der dieser „Zitronenschnitze“<br />

wurde pro Auflagerseite<br />

lediglich mit einem Bolzen<br />

an die Stützkonstruktion<br />

aufgehängt. Zehn Doppelstützen<br />

mit Dreieck-<br />

Kragarmen übernehmen<br />

die Dachlasten aus den<br />

Bogenträgern und führen<br />

sie in die Parkdeckstützen<br />

ein. Lediglich im östlichen<br />

Bereich leiten zwei freistehende<br />

Stützen von 16m<br />

Länge die Kräfte direkt in<br />

die Fundamente. Später<br />

wird diese freie Stützenkonstruktion<br />

auf über 200 m<br />

Länge im Perronbereich<br />

SBB-RhB die Großzügigkeit<br />

des Tonnengewölbes<br />

erst richtig zur Geltung bringen.<br />

Herstellung des<br />

Postautodecks<br />

Die Stützenstandorte auf<br />

den Bahnsteigen müssen<br />

dem Post- und Bahnbetrieb(Entgleisungsszenarien)<br />

sowie ästhetischen<br />

Ansprüchen Genüge<br />

tragen. Den Doppelstützen<br />

für die Postauto-<br />

Station auf den Mittelperrons<br />

bzw. Einfachstützen<br />

auf den Randperrons<br />

entstprechen doppelte<br />

bzw. einfache, parallel<br />

zu den Perrons verlaufende<br />

Hauptträger für das<br />

Postautodeck, eine reine<br />

Brückenkonstruktion über<br />

den Gleisen. Querträger<br />

sind rechtwinklig zu den<br />

Gleisen alle 2,4 m von<br />

Hauptträger zu Hauptträger<br />

gespannt. Durch<br />

den biegesteifen Stützenanschluss<br />

an die Hauptträger<br />

resultiert ein<br />

Rahmentragwerk, das vor<br />

allem auch in der Lage ist,<br />

die horizontalen Kräfte<br />

aus Wind, Erdbeben, einseitiger<br />

Schneelast aus<br />

dem Hallendach und allen<br />

Asymmetrien der Konstruktion<br />

in die Fundamente<br />

einzuleiten. Die große<br />

Ausdehnung des<br />

Postautodecks von 5000<br />

m² verbietet dessen Fixierung<br />

an Nachbarbauten.<br />

Das Rahmentragwerk ist<br />

schwimmend gelagert,<br />

was entsprechende Maßnahmen<br />

bei den Rolltreppen,<br />

Liften und Fugenübergängen<br />

unausweichlich<br />

macht, bewegen sich die<br />

Ecken des Postautodecks<br />

doch innerhalb eines Jahres<br />

um ± 3 cm. Die<br />

Deckenplatte ist als Beton-<br />

Verbunddecke mit rund 22<br />

cm Dicke auf verlorener<br />

Schalung aus Rippenblechen<br />

ausgeführt.<br />

Das Deck wurde mit einem<br />

Belag aus 14 cm dicken, armierten<br />

und gefugten Beton<br />

versehen. Das notwendige<br />

Gefälle zur Entsorgung des<br />

Meteor-Schnee- und<br />

Waschwassers wurde bereits<br />

in den Sekundär-Stahlträgern<br />

berücksichtigt. Zwischen<br />

Verbundbetondecke<br />

und Betonbelag liegt eine<br />

doppelte vollflächig verklebte<br />

Kunststoffbitumenbahn<br />

und ein Gussasphalt.<br />

Sämtliche Bauteile unter<br />

den Gleisen – das sind der<br />

Gepäcktunnel PTT quer zu<br />

den Gleisen, der Gepäcktunnel<br />

SBB parallel im Perron<br />

1 und die Rampen zu<br />

den Perrons - dienen gleichzeitig<br />

als Fundation für die<br />

Postautostation und das<br />

Hallendach.<br />

Herstellung des Stahlgerippes<br />

Die „Zitronenschnitze“ stellen<br />

große Anforderungen an<br />

die geometrische Systemberechnung:<br />

die dreidimensionale<br />

Darstellung wurde<br />

im CAD mit Zusatzprogrammen<br />

gelöst. Detaillierte<br />

Abklärungen erforderte<br />

die Wahl zwischen Stahlguss<br />

und Schweißkonstruktion<br />

für die Aufhängepunkte<br />

an den Enden<br />

der „Schnitze“. Die<br />

Schweißlösung wurde bevorzugt<br />

wegen besser beherrschbarer<br />

Toleranzen<br />

und Liefertermine sowie aus<br />

wirtschaftlichen Gründen:<br />

erhebliche Kosteneinsparungen<br />

und größere Wertschöpfung<br />

beim Stahlbau-<br />

Unternehmer. Die Maßtoleranzen<br />

der über 2600<br />

Auflager für die Dachverglasung<br />

am fertigen Bauwerk<br />

mussten innerhalb<br />

von ± 4 mm liegen.<br />

Die zwei Hauptzugstangen<br />

M 56 wurden an den Anschlussstellen<br />

mit Gelenken<br />

versehen. Im leicht erhöhten<br />

Zentrum in<br />

Stahlguss strahlen zwei-


mal sechs Speichen aus,<br />

mit denen der Rohrbogen<br />

leicht regulierbar und den<br />

Hauptzugstangen eine<br />

Vorspannung gegeben<br />

wird. Zur Erhöhung des<br />

Brandwiderstandes sind<br />

die Hauptzugstangen mit<br />

einem feuerhemmenden<br />

Anstrich (F30) versehen.<br />

Räumliches Denken war erste<br />

Bedingung, weil im<br />

Gegensatz zu einer konventionellenStahlkonstruktion<br />

für die Fabrikation<br />

keine ebenen oder<br />

rechtwinkligen Anhaltspunkte<br />

vorhanden waren.<br />

Montage des Stahldaches<br />

Als Montagefläche stand<br />

nur das Postautodeck, um<br />

einiges kleiner als die Dachfläche,<br />

zur Verfügung. Das<br />

östlich anschließende<br />

Gleisfeld mit den Fahrleitungen<br />

ließ keine normalen<br />

Baubedingungen<br />

zu, da der Bahnbetrieb<br />

nicht eingeschränkt werden<br />

durfte. Auch die Tivolibrücke<br />

am westlichen<br />

Ende war aus verkehrstechnischen<br />

Gründen nicht<br />

benutzbar. Daraus ergaben<br />

sich zwei unterschiedliche<br />

Arbeitsmethoden.<br />

Acht „Zitronenschnitze“ wurden<br />

etappenweise auf<br />

Hilfsgerüsten zusammengebaut<br />

und über eine Verschubbahn<br />

im Wochentakt<br />

in ihre endgültige Lage<br />

gezogen. Die Korrosionsschutzarbeiten<br />

und die<br />

Dachverglasungen wurden<br />

unmittelbar nach der<br />

Stahlmontage ausgeführt.<br />

Danach erfolgte die Montage<br />

der restlichen Schnitze<br />

am endgültigen Ort,<br />

wozu die Hilfsgerüste umgesetzt<br />

werden mussten.<br />

Die Stützen wurden in zwei<br />

Teilen antransportiert, zusammengebaut<br />

und auf<br />

die vorhandenen Busdeckstützenaufgeschweißt.<br />

Im östlichen Bereich<br />

konnten sie erst nach<br />

dem Verschieben des<br />

Daches montiert werden.<br />

Ein Nachregulieren der<br />

vollverschweißten Dachkonstruktion<br />

war nicht<br />

mehr möglich, und Bautoleranzen<br />

waren zu berücksichtigen,<br />

damit die Aufhängebolzen<br />

an den Stüt-<br />

Chur<br />

Postautostation<br />

zenarmen mühelos durch<br />

die Ösen der Schnitzenden<br />

gesteckt werden konnten.<br />

Zusammenbaulehren<br />

und laufende Maßkontrollen<br />

reduzierten die Abweichungen<br />

auf ein Minimum.<br />

Glaseindeckung<br />

Die aufgeständerte und in<br />

sich schwimmend gelagerte<br />

Glashaut (Verglasungsystem<br />

aus Chromnickelstahl)<br />

übernimmt<br />

keine Lasten der Haupttragkonstruktion.<br />

Die Glasscheiben<br />

der Abmessungen<br />

935 x 2000 mm verlaufen<br />

in polygonaler Anordnung<br />

quer über das Dach.<br />

Die kontinuierliche Auflagerung<br />

auf den alle 940 mm<br />

angeordneten Sprossen erlaubt<br />

die Übertragung der<br />

Schneelast von 2 kN/m². Die<br />

Längsfugen weisen eine<br />

Verkittung aus Silikon auf.<br />

Das Verbundglas Float 8<br />

mm PVB-Folie Float 8 mm<br />

erhöht die Absturzsicherheit<br />

der Einzelglasscheiben.<br />

Auf die Verwendung von<br />

Sicherheitsglas konnte<br />

wegen einer statistisch<br />

geringen Hagelwahrscheinlichkeit<br />

und Hagelintensität<br />

verzichtet werden.<br />

Die Widerstandsfähigkeit<br />

des Glases beim<br />

Begehen des Daches, z.B.<br />

bei der Reinigung, wurde<br />

getestet. Trotz einer unregelmäßigen<br />

Geometrie<br />

wurde Gleichheit in den<br />

Einzelteilen geschaffen,<br />

damit eine optimale Fabrikation<br />

und Montage möglich<br />

wurde. Die Schienen<br />

der maschinell betriebenenDachreinigungsanlage<br />

dienen gleichzeitig als<br />

Schneefänger.<br />

Das Bauwerk wirkt lichtund<br />

luftdurchflutet, leicht,<br />

elegant. Die Transparenz<br />

ermöglicht ein „Hindurchschauen“.<br />

In der Nacht<br />

wirkt die mit einer ausgeklügelten<br />

Beleuchtung versehene<br />

Glashalle als<br />

leuchtendes Wahrzeichen<br />

von Chur. Für den Benutzer<br />

spiegelt sich der Innenraum<br />

an der Glashaut und<br />

verstärkt somit den Hallen-<br />

Eindruck.<br />

29


Chur<br />

Postautostation<br />

30<br />

Schnitt<br />

Ansicht<br />

´Schnitze´


Verwaltungsgebäude in Chur<br />

Standort: Ottostraße 22-24, Chur<br />

Baujahr: 1995-98<br />

Bauherr: Gebäudeversicherung GR,<br />

Familienausgleichskasse GR<br />

Architekt: Dieter Jüngling, Andreas Hartmann<br />

Ingenieur: Conzett, Bronzini, Gartmann AG, Chur,<br />

Colenco Straub AG, Chur<br />

Literatur: Baumeister Jg 97, Nr.9 2000<br />

Nähert man sich zum ersten<br />

Mal dem Bürogebäude<br />

am Ottoplatz in dem vorwiegend<br />

mit Wohnhäusern<br />

bebauten Quartier am Rande<br />

der Altstadt, stellt sich<br />

das Gefühl eines Déjà-vu<br />

ein. Man hat diese Art Fassaden<br />

schon gesehen. Das<br />

Schachbrettmuster, das an<br />

verspielte Vorhangwände<br />

der sechziger Jahre erinnert,<br />

weist das Gebäude<br />

als Verwaltungsbau aus.<br />

Es markiert den Übergang<br />

zur Innenstadt und gibt sich<br />

gleichwohl kleinteilig, der<br />

benachbarten Wohnbebauung<br />

angepasst. Nach<br />

außen zeichnen sich vier<br />

prismatische Baukörper ab;<br />

sie staffeln sich in leichtem<br />

Schwung die Ottostraße<br />

entlang, treten auf der<br />

Rückseite am ruhigeren<br />

Calvenweg gar wie Einzelbauten<br />

stärker hervor.<br />

Erst der Grundriss verrät<br />

die Besonderheit dieses<br />

Gebäudes. Das Erdgeschoss<br />

ist zwischen den<br />

Querschotten komplett frei<br />

überspannt: Es gibt weder<br />

Chur<br />

Verwaltungsgebäude<br />

Stützen noch sonstige tragende<br />

Elemente - von den<br />

Kernen abgesehen. In den<br />

oberen Geschossen hingegen<br />

trifft man auf für heute<br />

übliche Bürogrundrisse<br />

stark segmentierte Raumaufteilungen;<br />

quer zu den<br />

Schotts stehende massive<br />

Wandscheiben - jeweils<br />

zwei Außen- und zwei Korridorwände,<br />

im regelmäßigen<br />

Rhythmus durch Fenster-<br />

und Türöffnungen<br />

durchbrochen - gliedern<br />

den Raum. Innenhöfe teilen<br />

die Gebäudetiefe in<br />

zwei jeweils zweihüftige<br />

Trakte.<br />

Dies lässt folgendes Nutzungskonzept<br />

erkennen:<br />

Die Erdgeschosszonen<br />

sind konsequent von jedem<br />

Tragelement freigehalten<br />

worden, um ein Höchstmaß<br />

an Flexibilität für die Raumaufteilung<br />

zu gewährleisten.<br />

Selbst die Fassaden<br />

des Erdgeschosses, wo<br />

Stützen diese Freiheit nicht<br />

eingeschränkt hätten, sind<br />

stützenlos überspannt.<br />

Die Obergeschosse sind in<br />

ihrer Nutzung hingegen als<br />

herkömmliche Einzelbüros<br />

31


Chur<br />

Verwaltungsgebäude<br />

32<br />

festgelegt. Kombi- oder<br />

Großraumlösungen sind für<br />

die Zukunft ausgeschlossen.<br />

Ein gewisser Flexibilitätsgrad<br />

bleibt dennoch erhalten,<br />

indem die leichten<br />

Trennwände zwischen den<br />

Büros beliebig angeordnet<br />

werden können.<br />

Konstruktion<br />

Das Gebäudetragwerk besteht<br />

ausschließlich aus<br />

Scheiben. Einige Scheiben<br />

sind „aufgehängt“ und wirken<br />

wie Balken auf zwei<br />

Auflagern mit großer statischer<br />

Höhe. Sie aktivieren<br />

so eine statische Ressource,<br />

die im Geschossbau in<br />

der Regel ungenutzt bleibt:<br />

die Geschosshöhe.<br />

So einfach und einleuchtend<br />

dies klingt, ist das<br />

Prinzip dennoch mit einigen<br />

Schwierigkeiten behaftet.<br />

Die freitragende Scheibe<br />

muss nutzungsbedingt<br />

durchbrochen sein; je<br />

durchlässiger das Lochgitter,<br />

desto besser. Sie<br />

könnte bei einer regelmäßigen<br />

orthogonalen Anordnung<br />

der Öffnungen ihre<br />

Wirkungsweise als<br />

„Vierendeelträger“ entfalten<br />

(Schema A), vorausgesetzt,<br />

es sind sowohl genügend<br />

breite senkrechte<br />

Streifen verfügbar (hier gegeben<br />

durch die Wandabschnitte),<br />

als auch waagerechte<br />

Stürze (hier nicht<br />

gegeben, da die Deckenstreifen<br />

zu dünn sind, siehe<br />

Schema B). Das Tragverhalten<br />

der perforierten<br />

Scheiben ist in diesem Fall<br />

ein anderes: Es beruht auf<br />

der Abtragung von abwechselnd<br />

Zug- und Druckkräften<br />

in diagonaler Richtung<br />

innerhalb der Wandabschnitte<br />

aus Beton<br />

(Schema C).<br />

Mithin gilt das Prinzip eines<br />

Fachwerkträgers mit diagonalen<br />

Füllstäben. Hieraus<br />

erklärt sich der schachbrettartige<br />

geschossweise<br />

Versatz der Fenster zueinander.<br />

Man kann sagen,<br />

dass die diagonalen Kraftpfade<br />

ihren Weg im zusammenhängenden<br />

Gerüst aus<br />

Wandabschnitten und Geschossdecken<br />

finden. In<br />

den verbleibenden rautenförmigen<br />

Feldern, die frei<br />

von Kraftlinien sind, liegen<br />

die Fensteröffnungen. Dieses<br />

Prinzip ist bei den Mittelflurwänden<br />

als monolithische<br />

Ortbetonkonstruktion<br />

umgesetzt, wobei die übliche<br />

Aufgabenzuweisung<br />

für Stahlbeton gilt: Druckkräfte<br />

werden im Beton,<br />

Zugkräfte in der stählernen<br />

Bewehrung aufgenommen.<br />

Die Außenwände sollten<br />

eine natursteinähnliche<br />

Oberfläche erhalten, die<br />

nur mit Fertigteilen zu verwirklichen<br />

war. Es wurde<br />

ein spezieller Zuschlag aus<br />

Muschelkalk verwendet,<br />

der nach Sandstrahlung<br />

eine angenehme warmgraue<br />

Oberfläche hinterließ.<br />

Hier wurde die Scheibenwirkung<br />

nicht monolithisch,<br />

sondern durch<br />

nachträgliche Vorspannung<br />

der Fertigteile realisiert.<br />

Besonders spektakulär findet<br />

diese Bauweise in der<br />

ebenfalls im Schachbrettmuster<br />

gestalteten Westfassade<br />

zur Hartbertstraße<br />

Anwendung, die über etwa<br />

30 Meter frei spannt.<br />

Form<br />

Das Gebäude gibt dem unkundigen<br />

Betrachter Rätsel<br />

auf: Trotz anderslautender<br />

Absichtserklärungen der<br />

Autoren, das Bild der steinernen<br />

„Lochfassade“ der<br />

umgebenden Bebauung<br />

aus der Jahrhundertwende<br />

übernommen zu haben,<br />

zeigt der Bau ein eigenwilliges<br />

Gesicht. Die Fenster<br />

sind keine Löcher in einer<br />

Mauerfläche. Eher umgekehrt:<br />

Sie sind Restflächen<br />

innerhalb eines Musters<br />

aus einzelnen zusammengesetztenWandabschnitten<br />

und Geschossdecken.<br />

Die Gebäudeansicht ist<br />

deshalb durchaus als „Rasterfassade“<br />

deutbar, wenn<br />

auch mit einem eher unge-


wöhnlichen Schachbrett-<br />

Arrangement. Aber auch<br />

dieses kennt man von<br />

nichttragenden Vorhangfassaden<br />

an Skelettbauten,<br />

provokant „frei“ gestaltet<br />

und bewusst als solche zelebriert.<br />

Gerade der geschossweise<br />

Versatz der Fensteröffnungen<br />

vollzog und proklamierte<br />

im Vokabular der Moderne<br />

ja den eklatanten Verstoß<br />

gegen die streng vertikale<br />

Fassadengliederung<br />

des tradierten Massivbaus.<br />

Was hier in der Tat die<br />

Scheibenwirkung der Außenwände<br />

erst ermöglicht<br />

- der diagonale Versatz -,<br />

entspringt ironischerweise<br />

der Grammatik der spielerisch<br />

frei gestalteten, weil<br />

von statischen Aufgaben<br />

entbundenen Fassade.<br />

Verwirrend auch die Tatsache,<br />

dass die Breiten der<br />

Wandabschnitte und Fensteröffnungen<br />

nach einem<br />

zunächst nicht erkennbaren<br />

Prinzip variieren. Dies<br />

unterstützt das ursprüngliche<br />

Bild des Spielerisch-<br />

Zufälligen. Erst später<br />

leuchtet der Grund hierfür<br />

ein: Der diagonale Verlauf<br />

der versteckt im Betonkörper<br />

geführten Spannstähle<br />

zwingt zu verschiedenen<br />

Breiten, je nachdem, ob sie<br />

im auflagernahen Bereich<br />

verlaufen oder in Feldmitte.<br />

Die Autoren wenden<br />

sich gegen jeden Versuch<br />

einer dogmatischen Klassifizierung<br />

oder zu engen<br />

Deutung ihres Projekts.<br />

Das Gebäude verschleiere<br />

eher bewusst seine strukturelle<br />

Wirkungsweise als<br />

sie zu offenbaren. Dies bewahrheitet<br />

sich in der Tat an<br />

einem anderen, sehr bedeutsamen<br />

Punkt: Kaum<br />

etwas unterscheidet die<br />

Verglasung der Erdgeschosszone<br />

von der eines<br />

konventionellen Skelettbaus<br />

mit Stützen hinter der<br />

Glasfläche. Wir sind es gewohnt,<br />

diese hinter den<br />

streifenförmigen senkrechten<br />

Feldern (hier sind es die<br />

Lüftungsflügel) der Verglasung<br />

zu vermuten. Erst der<br />

nähere Blick zeigt, dass die<br />

dahinterliegenden körperhaften<br />

Figuren keine Stüt-<br />

Chur<br />

Verwaltungsgebäude<br />

zen, sondern zusammengeraffte<br />

Gardinen sind, die<br />

Erdgeschosszone folglich<br />

komplett stützenfrei ist. Wir<br />

finden keine sprossenfreie<br />

Verglasung, die zumindest<br />

einen Hinweis auf diesen<br />

statischen Kraftakt gegeben<br />

hätte.<br />

Einmal auf die Fährte gebracht,<br />

richtet sich der Blick<br />

auf die breite Schattenfuge,<br />

die die Erdgeschossverglasung<br />

als „eingestelltes“ kastenartiges<br />

Element deutlich<br />

zeigt (leider an einigen<br />

Stellen verdeckt durch offenbar<br />

nachträglich montierten<br />

Sonnenschutz). Die<br />

sandgestrahlte „steinerne“<br />

Oberfläche der Fassade<br />

taucht im Innenraum des<br />

Erdgeschosses wieder an<br />

den massiven Wänden und<br />

Decken auf und suggeriert<br />

gleichsam den Außen- oder<br />

Hohlraum-Charakter diese<br />

stützenfreien Geschosses,<br />

verdeutlicht die Zusammengehörigkeit<br />

der darüberliegenden<br />

Stockwerke<br />

im freitragenden<br />

„Geschosskasten“.<br />

Der räumlich stark verschachtelteErdgeschossgrundriss<br />

verwirklicht - trotz<br />

der bewusst als eingestellte<br />

hölzerne Boxen gestalteten<br />

Raumzellen - nichts<br />

von der möglichen räumlichen<br />

Großzügigkeit.<br />

33


Chur<br />

Verwaltungsgebäude<br />

34<br />

Grundriss EG, OG<br />

System<br />

Schnitt


Chur<br />

Verwaltungsgebäude<br />

Längsschnitt<br />

35


Chur<br />

Schutzbauten f. römische Funde<br />

36<br />

Schutzbauten für römische Funde<br />

Standort: Welschdörfli bei Chur<br />

Baujahr: 1985-86<br />

Bauherr: Bundesamt – Amt für Bundesbauten<br />

Architekt: Peter Zumthor, Haldenstein<br />

Ingenieur: Jürg Buchli<br />

Literatur: Peter Zumthor, Häuser 1979 – 1997,<br />

Werk, Bauen + Wohnen 10/1997<br />

Von der römischen Anlage<br />

in der Nähe von Chur blieben<br />

lediglich die Fundamente<br />

und einige Mauerfragmente<br />

erhalten. Die<br />

Bauaufgabe bestand darin,<br />

diese archäologischen Reste<br />

zu schützen und zugleich<br />

ein kleines Museum<br />

zu schaffen. Zumthor verknüpfte<br />

diese zwei Anforderungen<br />

in einer Raumgruppe,<br />

deren Wände entlang<br />

der alten Fundamente verlaufen,<br />

sie zugleich schützen<br />

und darüber hinaus das<br />

ursprüngliche Volumen der<br />

römischen Anlage (als Hypothese)<br />

andeuten. Es handelt<br />

sich um eine abstrakte<br />

Rekonstruktion, die sich<br />

weder auf die Gebäudehöhe<br />

oder -form noch auf die<br />

Materialien bezieht, sondern<br />

lediglich eine Ahnung von<br />

der ursprünglichen Anlage<br />

vermittelt; sie dient als Idee<br />

und Anleitung zum Entwurf.<br />

Das Museum besteht aus<br />

zwei Teilen, aus der Gebäudehülle<br />

und einer Passerelle.<br />

Die Hülle umschliest - mit<br />

kleinem Abstand - die alten<br />

Fundamente und begrenzt<br />

mehrere Räume; durch<br />

schräg versetzte (gelbe)<br />

Holzlamellen dringt diffuses<br />

Licht. Diese halbtransparente<br />

Wand, die in der Nacht<br />

und von innen wie ein<br />

Schleier erscheint, deutet<br />

an, dass es sich nicht um ein<br />

richtiges Haus handelt - eher<br />

um Nippes, in denen sich<br />

etwas Wertvolles befindet.<br />

Mehrere „Schaufenster“ unterstreichen<br />

diesen Ein- und<br />

Ausdruck. Das von allen<br />

Seiten eindringende, gedämpfte<br />

Licht (die Öffnungen<br />

dienen auch dem klimatischen<br />

Gleichgewicht) wird<br />

durch einen Lichtkegel ergänzt,<br />

der von oben in die<br />

Raumzentren strahlt. Die<br />

Reduktion auf wesentliche<br />

architektonische Elemente -<br />

Wand, Raum und Lichtspiel<br />

- ergeben zusammen ein<br />

Ganzes als eine Erzählung,<br />

die vom (heute sehr sorgfältigen)<br />

Bewahren archäologischer<br />

Gegenstände berichtet.<br />

Der Passerelle wird eine rein<br />

funktionelle Aufgabe zugewiesen:<br />

sie ist ein Wanderweg<br />

durch die Archäologie.<br />

Die Distanz der Zeiten und<br />

der Besucher zu den Fundgegenständen<br />

wird durch<br />

die Eisenkonstruktion (die<br />

sowohl die Fundamentsteine<br />

als auch das<br />

sie schützende Holz kontrastiert)<br />

zum Ausdruck gebracht.<br />

Wenn man die Stahlpasserelle<br />

betreten hat, befindet<br />

man sich in einer<br />

ahistorischen Beobachtungssituation.<br />

Auf diesem<br />

Weg tritt man durch dunkle<br />

Verbindungstunnel von<br />

Raumeinheit zu Raumeinheit<br />

und über Treppen hinab<br />

auf das Grabungsniveau,<br />

den römischen Boden. Diese<br />

kleinen „Puffer“, Déjà vus,<br />

erinnern an Verbindungsteile<br />

von Zugwaggons oder -<br />

in allerdings kleineren Dimensionen<br />

- an den Balg<br />

eines Fotoapparates. Über<br />

den unmittelbaren Zweck<br />

hinaus hat Zumthor der<br />

Passerelle auch eine eher<br />

verschlüsselte Bedeutung<br />

gegeben, als Bilder, die ans<br />

Reisen und an Touristen erinnern.<br />

Den römischen Mauerzügen<br />

sind schwarze Tücher<br />

hinterlegt. Durch die Lamellenstruktur<br />

der Wände<br />

dringt der Lärm der Stadt.<br />

Man spürt den Stand der<br />

Sonne und den Wind und<br />

ist doch gleichzeitig eingehüllt<br />

und gefangen in einem<br />

geschichtlichen Raum.


Querschnitte<br />

Längsschnitt<br />

Grundriss<br />

Chur<br />

Schutzbauten f. römische Funde<br />

37


Bonaduz<br />

Totenhaus / Aufbahrungshalle<br />

38<br />

Totenhaus/Aufbahrungshalle<br />

Standort: Bonaduz<br />

Baujahr: 1993<br />

Bauherr: Gemeinde Bonaduz<br />

Architekt: Rudolf Fontana,<br />

Christian Kerez (Entwurf)<br />

Mitarbeiter: Leo Bihler<br />

Literatur: Baumeister 3/1995,<br />

Werk, Bauen + Wohnen 9/1994<br />

In den ländlichen Gemeinden<br />

Graubündens werden<br />

Tote in der Regel noch zu<br />

Hause aufgebahrt. Seit das<br />

Dorf Bonaduz zum Einzugsgebiet<br />

Churs gehört,<br />

sind viele Pendler mit kleinen<br />

Wohnungen hinzugekommen:<br />

eine Aufbahrungshalle<br />

wurde notwendig.<br />

Den ersten Entwurf, ein<br />

Totenhaus im Stil der örtlichen<br />

Wohnhäuser, lehnte<br />

die Gemeinde ab. Damit<br />

war der Weg frei für eine<br />

ungewöhnliche Lösung.<br />

Die Pfarrkirche stößt mit der<br />

Apsis an einen Felssturzhügel<br />

wie sie um Chur nach<br />

der letzten Eiszeit häufig<br />

von Felslawinen zurückgelassen<br />

wurden. Während<br />

sie sonst mit Kirchen oder<br />

Kapellen weithin sichtbar<br />

besetzt sind, liegt er in Bonaduz<br />

wie eine bewaldete<br />

Abraumhalde im Zentrum.<br />

Für eine Bebauung ist er zu<br />

klein. Kirche, Friedhof,<br />

Schule und Turnhalle sind<br />

um das Hindernis<br />

herumgruppiert. Die Gemeinde<br />

wollte diesen Raum<br />

nutzen und machte zur Auflage,<br />

die Aufbahrungshalle<br />

in den Hügel zu bauen. So<br />

hätte auch der Tod aus dem<br />

öffentlichen Gesichtskreis<br />

verdrängt werden können,<br />

wie bisher bei der privaten<br />

Aufbahrung.<br />

Christian Kerez, der mit der<br />

Planung beauftragte Mitarbeiter<br />

des Büros Rudolf<br />

Fontana, drehte mit seinem<br />

Entwurf diese Erwartungen<br />

gewissermaßen um. Die<br />

Totenhalle sollte nicht im<br />

Fels verschwinden, sondern<br />

ihn sichtbar krönen.<br />

Nicht eine Anbiederung, ein<br />

Verschmelzen mit der vorzeitlichen<br />

Natursituation,<br />

ein bewusster Kontrast zur<br />

Umgebung wurde bestimmend.<br />

Wie eine flache<br />

Kappe ragt die Halle aus<br />

dem Hügel hervor. Der<br />

Kranz aus Glasbausteinen<br />

und die Betondeckenplatte<br />

stehen in ihrer industriellen<br />

Nüchternheit in einem<br />

größtmöglichen Gegensatz<br />

zu den Steildächern der<br />

Kirche und dem natürlichen<br />

Bewuchs des Felsens.<br />

Durch die neue Nutzung<br />

scheint der Hügel erst als<br />

der Fremdkörper sichtbar<br />

gekennzeichnet zu sein,<br />

der er inmitten der Bebauung<br />

schon immer war. Es<br />

ist, als wäre ein Ufo gelandet.<br />

Jede Natürlichkeit wurde<br />

vermieden. Die Eingangstür<br />

aus Lärchenholz<br />

ist so ziemlich das einzige<br />

Zugeständnis an das Bedürfnis<br />

nach Heimeligkeit.<br />

Hinter ihr führt ein aufsteigender<br />

schachtartiger


Gang aus Ortbeton ins Hügelinnere.<br />

Die Milchglastür<br />

an seinem Ende scheint<br />

von überirdischem Licht<br />

erhellt. Die eigentliche Aufbahrungshalle<br />

beeindruckt<br />

vor allem als Lichtereignis<br />

- ganz in der Tradition der<br />

Kirchenbauten von Rudolf<br />

Schwarz, der auch Peter<br />

Zumthor, den führenden<br />

Bündner Architekten, immer<br />

wieder inspiriert.<br />

An trüben Wintertagen ist<br />

es im Innern heller als unter<br />

freiem Himmel. Der ovale<br />

Grundriss mit Achslängen<br />

von sechs und zwölf<br />

Metern - aus der Geometrisierung<br />

der Hügelform<br />

gewonnen - entzieht dem<br />

Blick klar bestimmbare Koordinaten.<br />

Das diffuse<br />

Licht, das durch den Kranz<br />

aus Glasbausteinen unterhalb<br />

der Decke nach unten<br />

fällt, löst das weiße Rund<br />

der siebeneinhalb Meter<br />

hohen Wand am Scheitelpunkt<br />

in eine scheinbar unbestimmbare<br />

Ferne auf.<br />

Jede Erdenschwere ist verschwunden.<br />

In der Geschlossenheit<br />

herrscht<br />

Weite. Dass man von Felsmasse<br />

umschlossen ist,<br />

scheint undenkbar.<br />

Da wird keine Trauer illustriert;<br />

vielmehr scheint der<br />

Bonaduz<br />

Totenhaus / Aufbahrungshalle<br />

physische Tod beinahe aufgelöst<br />

in Verklärung und<br />

Himmelfahrt. Einzig die<br />

Bodenplatten aus weißem<br />

Naxosmarmor geben mit<br />

dem klaren Linienmuster,<br />

das die nachgedunkelten<br />

Fugen ziehen, Verankerung.<br />

Gestört wird diese<br />

überirdische Heiterkeit lediglich<br />

durch die beiden<br />

Aufbahrungszellen, die in<br />

eine Bucht des Ovals gestellt<br />

sind, und es vor allem<br />

wegen der Künstlichkeit ihrer<br />

Materialien zum Container<br />

machen. In ihrer Enge<br />

können Angehörige die nötige<br />

Privatheit mit dem Toten<br />

finden. Ein Kühlraum<br />

zur Aufbewahrung weiterer<br />

Leichname ist wie die Anlage<br />

für die künstliche Belüftung,<br />

die Steuerung der<br />

Fußbodenheizung und<br />

eine Toilette in einem Nebenraum<br />

untergebracht,<br />

der durch den breit angelegten<br />

seitlichen Aushub<br />

des Felsmaterials neben<br />

dem Eingangsschacht gewonnen<br />

wurde. Mit 700.000<br />

Franken Baukosten liegt<br />

das ungewöhnliche Gebäude<br />

im üblichen Rahmen.<br />

Mit der Aufbahrungshalle<br />

wird ein durch Bäume gesäumtes<br />

Trottoir geschaffen,<br />

das die neuen Wohnquartiere<br />

im Südosten von<br />

Bonaduz mit dem alten<br />

Dorfkern verbindet.<br />

Der südliche Zugangsweg<br />

zwischen Friedhof und Kirche<br />

erfährt so ebenfalls<br />

eine Verbesserung, weil er<br />

als axiale Erschließung der<br />

geplanten Aufbahrungshalle<br />

eine neue Bedeutung<br />

gewinnt. Die Neugestaltung<br />

dieses Zugangsweges bedingt<br />

eine klare Trennung<br />

zwischen Friedhof und Kirche.<br />

Deshalb wird die alte<br />

Friedhofsmauer im<br />

39


Bonaduz<br />

Totenhaus / Aufbahrungshalle<br />

40<br />

Eingangsbereich korrigiert<br />

und erhält zudem neue<br />

Tore. Die Stützmauer entlang<br />

der Kirchenstraße<br />

wird in der vorhandenen<br />

Weise ergänzt bis hin zum<br />

neuen Kirchenzugang im<br />

Südosten, so dass die<br />

Pfarrkirche auf einem leicht<br />

erhöhten Plateau freigelegt<br />

wird.<br />

Schnitt<br />

Lageplan<br />

Grundriss<br />

Schnitt


Haus «Truog Gugalun»<br />

Standort: Safiental<br />

Baujahr: 1992-93<br />

Bauherr: Fam. Truog<br />

Architekt: Peter Zumthor, Haldenstein<br />

Mitarbeiter: Beat Müller und Zeno Vogel<br />

Literatur: Neues Bauen in den Alpen 1995, Archithese 5.95<br />

Ein kleiner Hof, schmale<br />

Existenzgrundlage einer<br />

Bergbauernfamilie über<br />

Generationen (der Stubenteil<br />

datiert von 1760), war<br />

für die Nachfahren, die das<br />

Gütchen geerbt haben, so<br />

zu erneuern, dass er zeitgemäß<br />

bewohnt werden<br />

kann, ohne seinen Zauber<br />

zu verlieren – den Zauber<br />

seiner abgeschiedenen<br />

Lage am Nordhang (gugalun<br />

= den Mond anschauen)<br />

unter einer baumbestandenen<br />

Krete, die Natürlichkeit<br />

des Fußpfades,<br />

der als einzige Erschliessung<br />

der Krete entlang<br />

zum Haus hinabführt, die<br />

Spuren des Alters: des<br />

schmalbrüstigen, auf<br />

schlechtem Fundament<br />

schief gewordenen Stubenteils<br />

mit seinen zahlreichen<br />

Flickstellen im Holzwerk,<br />

die erkennen lassen,<br />

wie klein die Fenster<br />

und wie niedrig die Dekken<br />

und Türen ursprünglich<br />

waren.<br />

Der Entwurf respektiert diese<br />

Dinge. Unter einem ge-<br />

Versam/Safiental<br />

Haus Truog<br />

meinsamen neuen Dach,<br />

auf das ursprüngliche Niveau<br />

heruntergesetzt, wurde<br />

dem Bestehenden nur<br />

das hinzugefügt, was ihm<br />

aus heutiger Sicht fehlte:<br />

eine moderne Küche, Bad<br />

und Toilette, zwei Kammern<br />

mit größeren Fenstern,<br />

eine zusätzliche Holzfeuerung.<br />

Dabei wurde versucht,<br />

darauf zu achten,<br />

dass eine neue Ganzheit<br />

entsteht, in der Alt und Neu<br />

aufgehen. Jetzt nach fast<br />

zehn Jahren, wenn die<br />

Sonne die neuen Holzbalken<br />

geschwärzt hat, wird<br />

man sehen, wie dieses<br />

Ziel erreicht wurde.<br />

«Strickbauten» heißen in<br />

Graubünden die aus massiven<br />

Holzbalken gefügten<br />

Blockhausbauten. Und<br />

Umstricken oder Weiterstricken<br />

war auch das Thema<br />

dieses Entwurfes.<br />

Der Grundriss ist so angelegt,<br />

dass im neuen Teil die<br />

für die alten Bauernhäuser<br />

41


Versam/Safiental<br />

Haus Truog<br />

42<br />

der Region klassische Abfolge<br />

von Stubenteil (alt),<br />

Quergang mit Treppe<br />

(neu), Küchenteil (neu)<br />

wieder aufscheint. Der<br />

ehemalige Küchenteil war<br />

nach diesem traditionellen<br />

Grundmuster gebaut. Historisch<br />

von geringerer Bedeutung<br />

und in einem<br />

schlechten Zustand wurde<br />

er zum Ort des Eingriffs.<br />

Die notwendige Vergrößerung<br />

des Baukörpers erfolgte<br />

hier, hinten am<br />

Hang. Der talseitige Stubenteil<br />

durfte seinen Ort<br />

behalten.<br />

Eine Wanne aus Beton<br />

fasst den neuen Einschnitt<br />

in den Hang ein. Die Holzschale<br />

der Aussenwände<br />

ist in diesen Einschnitt hineingestellt.<br />

Sie ist selbsttragend,<br />

durch die Dachkonstruktion<br />

gehalten und besteht<br />

aus balkenähnlichen<br />

Hohlkastenelementen,<br />

horizontal geschichtet,<br />

wärmegedämmt, mit abgesperrten<br />

Seitenteilen (keine<br />

Setzungen) und nach aussen<br />

simsartig vorspringenden<br />

Horizontalteilen aus<br />

Massivholz (Haltbarkeit im<br />

Wetter).<br />

Die neue Unterteilung im<br />

Inneren ist gebaut wie ein<br />

Kartenhaus, das in den von<br />

der Außenschale gebildeten<br />

Grossraum hineingestellt<br />

ist. Die «Karten» - vorgefertigte,<br />

abgesperrte<br />

Wand- und Deckenele-<br />

mente, belegt mit Erlenholz,<br />

sind sichtbar gefügt,<br />

so wie es die Raumteilung<br />

und die Statik erfordern.<br />

Sie schließen nahtlos an<br />

einen pilz-förmigen Bauteil<br />

aus Beton an, der in der<br />

hinteren Ecke des neuen<br />

Hausteiles steht.<br />

Dieser Bauteil, seiner<br />

komplexen und homogenen<br />

Form wegen liebevoll<br />

«Betontier» genannt,<br />

schwarz eingefärbt und<br />

eingeölt, ist selbsttragend.<br />

Er wächst aus der Bodenplatte,<br />

ohne die Holzteile<br />

der Außenschale zu berühren,<br />

überdeckt Teile der<br />

Küche und trägt - oder besser:<br />

bildet das Bad im<br />

Obergeschoss.<br />

Die vor Ort gegossene<br />

Konstruktion enthält die<br />

Wasserleitungen, den Kamin<br />

und die Holzfeuerung,<br />

die nach dem Hypokaust-<br />

Prinzip funktioniert. Die<br />

Betonmasse speichert die<br />

Wärme, die im integrierten<br />

System der Luftkanäle zirkuliert.


Versam/Safiental<br />

Haus Truog<br />

43


Castrisch<br />

Forstwerkhof<br />

44<br />

Forstwerkhof<br />

Standort: Castrisch<br />

Baujahr: 1996<br />

Bauherr: Gemeinde Castrisch,<br />

Forstrevierverband Riein<br />

Architekt: Rolf Gerstlauer und Inger Moine,<br />

Chur/Oslo<br />

Ingenieur: Walter Bieler, Bonaduz<br />

Literatur: Mikado Nr.3 1999<br />

Beim Neubau des Forstwerkhofes<br />

in Castrisch<br />

stand der traditionelle Blockholzbau<br />

Pate. Dabei setzten<br />

die Gemeindeväter ausschließlich<br />

Holz aus den<br />

dorfeigenen Wäldern ein.<br />

Die Tragstruktur der Einstellhalle<br />

wurde aus 12x12 cm<br />

messenden Kanthölzern<br />

nach dem „Lego-Prinzip“<br />

zusammengesetzt.<br />

Dank seiner ästhetischen<br />

und ökologischen Qualität<br />

hält der Holzbau auch im<br />

Gewerbebau vermehrt Einzug.<br />

Statt in Stahlbeton und<br />

Massivbauweise errichtete<br />

deshalb die Gemeinde Castrisch<br />

ihren Forstwerkhof<br />

nur unter der Verwendung<br />

des gemeindeeigenen „Kapitals“<br />

Holz. Zusammen mit<br />

der gewerblich genutzten<br />

Halle beauftragten Gemeinde<br />

und Forstrevierverband<br />

ein zweistöckiges, unterkellertes<br />

Aufenthaltsgebäude.<br />

Die gesamte Anlage sollte<br />

Platz bieten für Büros des<br />

Forstamts, Lager für Spitex<br />

und Gasschutz, sowie zwei<br />

große, mehrfach nutzbare<br />

Räume im Ober- und Untergeschoss<br />

sowie einem Saal<br />

für die Gemeindeversamm-<br />

lung und Vereinsräumlichkeiten.<br />

Der Werkhof integriert<br />

drei Bereiche unter einem<br />

Dach: die Gemeindewerkhalle,<br />

einen Trakt für<br />

die Feuerwehr und einen für<br />

die Unterbringung der forstwirtschaftlichen<br />

Maschinen<br />

und Fahrzeuge. Darin befindet<br />

sich zusätzlich ein Serviceraum<br />

und ein Treibstofflager.<br />

Die neue Anlage liegt am<br />

östlichen Dorfrand, an der<br />

Hauptstraße Ilanz-Versam,<br />

neben einer unter Naturschutz<br />

stehenden Wiese<br />

mit hochstämmigen Obstbäumen.<br />

Weil hier eine seltene<br />

Fledermausart beheimatet<br />

ist, durften keine Bäume<br />

gefällt werden, durfte die<br />

Umgebung durch die Neubauten<br />

nicht beeinträchtigt<br />

werden. Die Gebäude sollten<br />

statt dessen das Bebauungsmuster<br />

des angrenzenden<br />

Dorfkernes fortsetzen.<br />

Daher folgen beide Bauten<br />

unabhängig voneinander in<br />

erster Linie ihrer eigenen<br />

konstruktiven Logik. Straße,<br />

Weg und Hof entstehen als<br />

Restfläche. So wird der<br />

Kiesplatz zwischen den Gebäuden<br />

nur durch die auf<br />

ihm vorherrschenden Aktivitäten<br />

und durch wenige Akzente<br />

an den Fassaden der<br />

Gebäude definiert.


Er verbindet die eigenständigen<br />

Neubauten zu einer<br />

ganzheitlichen Komposition.<br />

Eine Hofzufahrt an der Ostseite<br />

des Platzes erschließt<br />

den Gewerbebau. Dieser<br />

verzichtet zur Straßenseite<br />

hin auf größere Attribute wie<br />

Garagentore und passt sich<br />

so in Form und Maßstäblichkeit<br />

dem bestehenden Ortsbild<br />

an.<br />

Der Hauptverkehrsweg liegt<br />

zwei Meter höher als der<br />

Hof, das Gelände steigt zur<br />

Kantonstraße an. Mittels<br />

Stützmauer schiebt sich die<br />

Werkhalle in die Böschung.<br />

Die anthrazitfarbige Stülpschalung<br />

betont die Standfestigkeit<br />

des in den Boden<br />

gedrückten Gewerbetrakts.<br />

Das Bürogebäude hingegen<br />

gibt sich durch ein leichtes<br />

Abheben vom Boden als<br />

eigenständiges pavillonartiges<br />

„Wohnhaus im Grünen“<br />

zu erkennen.<br />

Auf die erste Anfrage des<br />

Gemeindevorstandes arbeitete<br />

das Architekturbüro<br />

Gerstlauer und Moine eine<br />

Machbarkeitsstudie in zwei<br />

Varianten aus. Nachdem die<br />

Gemeindeversammlung<br />

Ende 1993 einen Projektvorschlag<br />

akzeptiert und einen<br />

Projektierungskredit<br />

genehmigt hatte, legten die<br />

Planer Mitte 1994 die Baueingabe<br />

für das Projekt vor.<br />

Es war ursprünglich mit 1,65<br />

Mio. Franken berechnet<br />

worden. Notwendige Kostensenkungen<br />

und damit<br />

verbundene Umplanungen,<br />

Probleme beim Landabtausch<br />

und Unstimmigkeiten<br />

wegen der Dachformen<br />

verzögerten den Baubeginn<br />

schließlich um knapp ein<br />

Jahr. Gut 13 Monate dauerte<br />

es vom ersten Spatenstich<br />

an bis die Gesamtanlage<br />

Ende 1996 bezogen<br />

werden konnte. Kredite von<br />

Bund und Kanton subventionierten<br />

den Bau des<br />

Werkhofes für das Forstrevier<br />

der Gemeinden Castrisch,<br />

Pitasch, Riein und<br />

Seveign. Als Bedingung für<br />

die Unterstützung forderten<br />

die Geldgeber, dass in der<br />

ganzen Anlage fast nur gemeindeeigenes<br />

Holz zur<br />

Anwendung gelangt. Die<br />

gestalterische Lösung der<br />

Castrisch<br />

Forstwerkhof<br />

Architekten sah fünflagige<br />

Gitterroste aus Holzlatten<br />

vor, welche auf Binder mit<br />

einem Abstand von max.<br />

3,30 m aufgelagert werden<br />

sollten. Weil diese Konstruktion<br />

jedoch nur bei quadratischen<br />

Feldern sinnvoll ist -<br />

der Rost trägt jeweils in beide<br />

Richtungen - musste das<br />

System geändert werden.<br />

Der zum Projekt hinzugezogene<br />

Holzbauingenieur<br />

Walter Bieler spielte zehn<br />

Variantenstudien vom Fachwerkbinder<br />

bis zum Sperrholzbinder<br />

durch und gab<br />

alle wieder auf. Sie scheiterten<br />

an der Grundsatzfrage:<br />

Ist es richtig für eine kleine<br />

Gemeinde, die eigenen<br />

Wald besitzt, Halbzeuge aus<br />

Holz für das Tragwerk einzusetzen?<br />

Halbzeuge sind<br />

mit großen Transportwegen<br />

verbunden, also ökologisch<br />

nicht sinnvoll und zudem<br />

teuer. Außerdem erfordert<br />

der Bau des Forstwerkhofes<br />

wegen der geringen Spannweite<br />

von nicht mehr als 10<br />

m keine extrem hochwertigen<br />

Materialien. Schließlich<br />

entschieden sich die Planer<br />

für eine konstruktive Lösung,<br />

die mit Castrischer<br />

Fichtenholz auskam.<br />

Das „Lego-Prinzip“<br />

Der Castrische Wald ist<br />

nicht sonderlich geeignet für<br />

das Erbringen von Konstruktionsholz.<br />

Es genügt<br />

weder den allgemein üblichen<br />

ästhetischen noch den<br />

erforderlichen konstruktiven<br />

Qualitätsanforderungen.<br />

Das Traggerippe der Werkhalle<br />

beruht deshalb auf<br />

sehr kleinen Querschnitten,<br />

um so den Imperfektionen<br />

des Baumes beim Einschneiden<br />

bestmöglich ausweichen<br />

zu können. Dadurch<br />

ist eine bessere Ausbeute<br />

des Rundholzes möglich.<br />

Das additive Prinzip ermöglicht<br />

die Vervielfachung<br />

der Stützungen bei großer<br />

Spannweite. Der strukturelle<br />

Aufbau des Holztragwerkes<br />

ähnelt dem „Lego-Prin-<br />

45


Castrisch<br />

Forstwerkhof<br />

46<br />

zip“. Dabei können die Stäbe<br />

dreidimensional und<br />

rechtwinklig zusammengesteckt<br />

werden. So ergibt<br />

sich eine Vielzahl von Kontaktflächen,<br />

die es erlauben,<br />

mit einfachen Verbindungsmitteln<br />

beachtliche Kräfte<br />

aufzunehmen. Die gesamte<br />

Struktur der Einstellhalle<br />

wurde aus einundderselben<br />

Holzdimension von 12x12<br />

cm und einem vorgebohrten<br />

Verbindungsnagel vom Typ<br />

8,5/300 mm erstellt. Hat die<br />

Struktur größere Lasten zu<br />

bewältigen, so werden keine<br />

stärkeren Bohlen gewählt,<br />

sondern die Zahl der<br />

Stäbe erhöht. Dieses Prinzip<br />

ist nicht neu, es findet bereits<br />

beim Holzrahmenbau seine<br />

Anwendung, stellt aber eine<br />

interessante Variante dar.<br />

Das Traggerippe wurde in<br />

Elementen vorbereitet und<br />

vor Ort mittels einfachem<br />

Gerberstoß verblattet. Ein<br />

umlaufender Frostriegel mit<br />

einbetonierten Stahlkonsolen<br />

dient der Holzkonstruktion<br />

als Auflager bzw. Fundament.<br />

Hangseitig gegen<br />

die Straße hin wurde eine<br />

Stützmauer betoniert. Ein in<br />

sich geschlossener Betonbehälter<br />

umschließt die feuergefährdeten<br />

Zonen wie<br />

Serviceraum und Treibstofflager.<br />

Das Holzgerippe ist<br />

dreiseitig bis 1 m unterhalb<br />

der Dachkonstruktion mit 4<br />

cm dicken Spanplatten verkleidet.<br />

Die Spanplatten<br />

übernehmen zusammen mit<br />

der Dachschalung die Aussteifung<br />

des Gebäudes. Alle<br />

eingebauten Trennwände<br />

sind hingegen verstellbar<br />

und jederzeit auswechselbar.<br />

Sie gehören nicht zur<br />

Tragkonstruktion.<br />

Eine oberhalb der Spanplatten<br />

umlaufende Festverglasung<br />

sorgt für genügend<br />

Tageslicht in der Halle. Um<br />

bei intensiver Sonneneinstrahlung<br />

das Überhitzen<br />

des Gebäudeinneren zu<br />

vermeiden, ist das Fensterband<br />

außen mit dunkelgestrichenen<br />

Fichtenbrettern<br />

verschattet. Die äußere Verkleidung<br />

besteht aus einer<br />

ebenfalls dunkel gestrichenen<br />

hinterlüfteten Stülpschalung<br />

aus Tanne, die auf<br />

Winddichtungspapier montiert<br />

wurde. Auf die mit Kerto-Platten<br />

ausgesteifte Dekkenkonstruktion<br />

ist ein<br />

schwachgeneigtes, durchlüftetes<br />

Satteldach aufgesetzt.<br />

Das Dach ist mit einer<br />

12 cm dicken Dämmung<br />

isoliert und mit verzinktem<br />

Blech gedeckt. Das ursprünglich<br />

vom Architekten<br />

vorgesehene Flachdach<br />

lehnte die Gemeindeversammlung<br />

wegen der Unterhaltskosten<br />

ab. Da bei<br />

dieser Konstruktion auf<br />

Halbzeuge verzichtet wurde,<br />

konnte eine extrem gute<br />

Wertschöpfung zugunsten<br />

der einheimischen Holzkette<br />

erzielt werden. Diese begann<br />

bei der Bereitstellung<br />

des einheimischen Fichtenholzes,<br />

lief über dessen Einschnitt<br />

und endete beim<br />

Abbund in der Zimmerei. So<br />

wurde der Rohstoff in Castrisch<br />

geschlagen und gelagert<br />

und in der benachbarten<br />

Sägerei Fritz Berger AG<br />

in Rhäzüns eingeschnitten.<br />

Das Bauholz aus den nahen<br />

Forstrevieren und dessen<br />

kurze Transportwege ergaben<br />

nicht nur wirtschaftliche,<br />

sondern auch ökologische<br />

Pluspunkte.


Aussenwand<br />

Schnitt<br />

Ansicht<br />

Castrisch<br />

Forstwerkhof<br />

Schnitte<br />

47


Castrisch<br />

Forstwerkhof<br />

48<br />

Grundrisse<br />

Lagepläne


„Gelbes Haus“ / Kulturzentrum / Museum<br />

Standort: Flims<br />

Baujahr: 1997-1999<br />

Bauherr: Politische Gemeinde Flims<br />

Architekt: Valerio Olgiati, Zürich<br />

Ingenieur: Conzett, Bronzini, Gartmann AG, Chur<br />

Auf der Durchfahrt durch<br />

Flims bleibt es niemandem<br />

verborgen: Das weiße ´Gelbe<br />

Haus´ ist der neue architektonische<br />

Höhepunkt von<br />

Flims. Mit den starrenden<br />

Lochfenstern, der grell weissen<br />

ruinös geglätteten Fassade<br />

und der monumentalen,<br />

kubischen Erscheinung<br />

bewegt und verwirrt es alle<br />

Sinne der Wahrnehmung.<br />

Mit dem weißen Klotz findet<br />

eine lange Planungsgeschichte<br />

ihr Ende, die gelegentlich<br />

Züge einer Provinzposse<br />

annahm, und zugleich<br />

nimmt hier ein neuer<br />

architektonischer Impetus<br />

seinen Anfang, jenseits alpen-ländischerBergromantik<br />

und jenseits der weißen,<br />

corbusianisch geprägten<br />

Nachmoderne, die in Flims<br />

ein jeder kennt. Die lange<br />

Baugeschichte des neuen<br />

´Gelben Hauses´ ist schnell<br />

erzählt: Es geht in der<br />

Grundsubstanz bis ins 16.<br />

Jahrhundert zurück, wurde<br />

im 19. Jahrhundert komplett<br />

umgebaut und war lange<br />

Zeit unbewohnt bis die Gemeinde<br />

den «Schandfleck»<br />

in den Siebzigerjahren erwarb.<br />

Das damals gelb<br />

gestrichene Haus stand ungefähr<br />

im Dorfzentrum von<br />

Flims, wenn denn Flims ein<br />

Dorfzentrum hätte. Der Skiort<br />

wird durchschnitten von<br />

der Kantonalstraße, einst<br />

willkommener Erschliessungsweg,<br />

heute eher über-<br />

Flims<br />

´Gelbes Haus´<br />

lastetes Dauerärgernis, ein<br />

Schicksal, das Flims mit unzähligen<br />

groß gewordenen<br />

Bergorten teilt. Schon früh<br />

hatte Rudolf Olgiati, der<br />

Grandseigneur des Flimser<br />

Baugeschehens, auf die<br />

städtebauliche Bedeutung<br />

der Lage des ´Gelben Hauses´<br />

hingewiesen. Er beteiligte<br />

sich 1986 an einem<br />

Projektwettbewerb für ein<br />

Kulturzentrum mit einem<br />

Entwurf, der das ´Gelbe<br />

Haus´ neben einem grossen<br />

Saalbau mit Vorhof zu einem<br />

neuen Dorfzentrum<br />

verband. Olgiati erhielt lediglich<br />

einen Ankauf, allerdings<br />

verzögerte sich das Projekt,<br />

weil es Schwierigkeiten mit<br />

dem Erwerb eines fehlenden<br />

Grundstücks gab. Inzwischen<br />

regte sich Widerstand<br />

gegen das erstrangierte<br />

Projekt. Olgiati (der<br />

nie einen öffentlichen Auftrag<br />

erhalten hatte) war nach<br />

einer Publikation mit international<br />

wandernder Ausstellung<br />

mittlerweile zu später<br />

überregionaler Anerkennung<br />

gelangt. Der Protest<br />

gipfelte in einer Petition,<br />

die forderte, Olgiati den Auftrag<br />

zu erteilen. Die Petition<br />

wurde abgelehnt, was zu<br />

einer langjährigen Verstimmung<br />

zwischen Behörden<br />

und Bürgern führte, aber inzwischen<br />

hatte der betagte<br />

Olgiati der Gemeinde seine<br />

große Sammlung von Altertümern,<br />

die er über Jahrzehnte<br />

teils aus Abbruchhäusernzusammengetragen<br />

hatte und die für die<br />

kulturelle und bauhistorische<br />

Geschichte der Region<br />

von unschätzbarem Wert<br />

ist, zu einem Vorzugspreis<br />

angeboten. Das Legat war<br />

aber an die Bedingung geknüpft,<br />

das ´Gelbe Haus´<br />

nach seiner Vorstellung umzubauen<br />

und ein Ortsmuseum<br />

darin einzurichten. Wiederum<br />

tat sich die Gemeinde<br />

schwer und erst als im<br />

Hotel Waldhaus auf Privatinitiative<br />

ein Olgiati-Museum<br />

eingerichtet werden sollte,<br />

49


Flims<br />

´Gelbes Haus´<br />

50<br />

lenkte die Gemeinde ein und<br />

beauftragte 1994 den nunmehr<br />

84-jährigen Olgiati mit<br />

einer erneuten Projektstudie<br />

auf der Grundlage des<br />

früheren Wettbewerbes.<br />

Ende 1995 starb Rudolf Olgiati,<br />

das Museum im Waldhaus<br />

wurde kurze Zeit später<br />

eröffnet, die Gemeinde<br />

erhielt die Sammlung und<br />

an den Sohn Valerio Olgiatti<br />

erging der Auftrag, das Gelbe<br />

Haus für die neue Nutzung<br />

herzurichten - entsprechend<br />

den Vorgaben seines<br />

Vaters.<br />

Wer sich heute dem einst<br />

„Gelben Haus“ nähert, wird<br />

seinen Augen kaum trauen.<br />

Die Folie der alten Strickbau-<br />

Scheunen im Hintergrund<br />

und die gesichtslosen<br />

Touris musbauten der sechziger-<br />

und siebziger Jahre<br />

ringsum lassen den Kontrast<br />

noch deutlicher zutage<br />

treten. Geht man näher heran,<br />

so wird aus der Idee eines<br />

idealen Gebäudes ein<br />

realer Bau; hinter der These<br />

vom zeitlosen Sein schimmert<br />

das historisch Gewordene<br />

hervor. Einem Palimpsest<br />

gleich ist hinter den mit<br />

weißer Mineralfarbe gestrichenen,<br />

unverputzten Fassaden<br />

die Struktur des vorhandenen<br />

Baus erkennbar:<br />

Natursteinmauer in den unteren<br />

Geschossen, eine mit<br />

Steinen ausgefachte<br />

Riegelkonstruktion in der<br />

obersten Ebene. Dass man<br />

das Gelbe Haus „nach meinem<br />

Geschmack umbaut<br />

und von oben bis unten<br />

schneeweiß streicht“, hatte<br />

Rudolf Olgiati im Stiftungsvertrag<br />

ergänzend gefordert.<br />

Sein Sohn Valerio, der<br />

mit dem Schulhaus in Paspels<br />

internationale Anerkennung<br />

erzielt hat, setzte<br />

das Vermächtnis seines Vaters<br />

in die Tat um. Ob in der<br />

Rolle des getreuen Testamentsvollstreckers<br />

oder in<br />

jener des perfiden Vatermörders,<br />

darüber mag man getrost<br />

streiten, erweist sich<br />

doch das Konzept als im<br />

wahrsten Sinne des Wortes<br />

„radikal“. Erhalten blieb lediglich<br />

der Mauerkranz der<br />

Umfassung, der gesamte Innenausbau<br />

wurde ebenso<br />

entfernt wie Portikus und<br />

Balkon: Sprossenfenster<br />

und Fensterläden, Giebel,<br />

Sockelzone und Dach. Der<br />

Eingang, einst in der Mittelachse<br />

der Straßenfront<br />

angeordnet, wurde auf die<br />

östliche Schmalseite verlegt,<br />

wo durch das Abtragen einer<br />

Gartenfläche ein Vorplatz<br />

entstehen konnte.<br />

Schließlich ließ der Architekt<br />

den Putz von den Fassaden<br />

schlagen, so dass nur noch<br />

die rohe Schale aus Bruchsteinmauern<br />

mit ihren gähnenden<br />

Fensteröffnungen<br />

zu sehen war.<br />

Über die Freilegung hinaus<br />

ließ Olgiati den groben<br />

Bruchstein mit dem Hammer<br />

bearbeiten, um die<br />

skulpturale Qualität des rauen<br />

Mauerwerkes noch zu<br />

steigern. So blieb die historische<br />

Substanz zwar erhalten,<br />

aber wohl kaum im Sinne<br />

der Denkmalpflege, die<br />

zumeist eher von historischen<br />

Bildern ausgeht als<br />

von der zeitgenössischen<br />

Auseinandersetzung mit<br />

den unterschiedlichen<br />

Schichten der Historie. Und<br />

genau das hat Olgiati hier<br />

getan, wenn auch in einer<br />

höchst eigenwilligen Weise,<br />

zudem in intimer Kenntnis<br />

des Flimser Umfeldes und<br />

nicht ohne selbstbetroffene<br />

Ironie.<br />

So ist die Erscheinung des<br />

klassizistischen Originals<br />

aufgelöst und ins Gegenteil<br />

gekehrt, und dennoch wird<br />

ständig auf den originalen<br />

Kern verwiesen. Zwar gibt<br />

es in der Architekturgeschichte<br />

viele Beispiele für<br />

diese kontradiktorische<br />

Vorgehensweise, sie wird<br />

aber unweigerlich jene auf<br />

den Plan rufen, die Wahrheiten<br />

und Prinzipien der<br />

Architektur für moralische<br />

Instanzen halten.<br />

Um die ruinöse Erscheinung<br />

des Hauses - die ja eigentlich<br />

von den Handwerkern<br />

erst hergestellt wurde -<br />

wieder aufzufangen, wurde


das enthäutete Haus mit einer<br />

beinahe künstlich wirkenden,<br />

neuen Haut aus<br />

weißer Farbe versehen. An<br />

die testamentarisch verfügte<br />

Vorgabe, dass das Haus<br />

weiß sein sollte, hat sich Valerio<br />

genau gehalten, bis hin<br />

zum flach geneigten Zeltdach,<br />

dessen traditionelle<br />

Schieferdeckung er ebenfalls<br />

- zum Entsetzen der<br />

Handwerker - weiß streichen<br />

liess.<br />

An die Stelle einer<br />

spätklassizistischen Fassadengliederung<br />

trat eine nahezu<br />

serielle Lochfassade:<br />

in Ortbeton entstanden die<br />

neuen, tiefen Laibungen der<br />

quadratischen Fenster: je<br />

drei mal drei an den Stirnseiten,<br />

fünf mal drei an der<br />

Straßenfront, ein vereinzeltes<br />

an der Rückseite. Innen<br />

akkurat umrissen, fransen<br />

die ausbetonierten<br />

Laibungen zum umgebenden<br />

Bruchsteinmauerwerk<br />

hin gleichsam aus und<br />

scheinen einer Rohbauästhetik<br />

verpflichtet. Kleine<br />

PVC-Röhrchen, die unterhalb<br />

der Fensteraussparung<br />

hervortreten, leiten das Regenwasser<br />

aus dem Laibungsbereich<br />

nach außen.<br />

Dadurch, dass Olgiati die<br />

Laibungen weit durch die<br />

Mauerschale hindurchstoßen<br />

ließ und sie an der<br />

Oberseite überdies leicht<br />

anschrägte, verbergen sich<br />

die Rahmen der innen angeschlagenen<br />

und sprossenfreien<br />

Fenster vor den Blikken<br />

der Passanten. Auch<br />

die Scheiben in den verschatteten<br />

Öffnungen sind<br />

kaum erkennbar; die Wände<br />

wirken stärker und mächtiger,<br />

als sie in Wirklichkeit<br />

sind. Zugleich entsteht ein<br />

harter Kontrast zwischen<br />

beinahe schwarzen Öffnungen<br />

und einer gleißend hellen<br />

Wand, welcher das Fassadenbild<br />

prägt. Der Charakter<br />

des Ruinösen bleibt<br />

Flims<br />

´Gelbes Haus´<br />

untergründig bewahrt. Im<br />

Streiflicht wird hinter dem<br />

nivellierenden weißen Anstrich<br />

die rüde Intervention<br />

aus Beton erkennbar: ein<br />

rationalistischer Gestaltungswille<br />

scheint die historische<br />

Konstruktion der Vision<br />

einer puristischen Architektur<br />

unterworfen zu haben.<br />

Die früheren Kelleröffnungen<br />

sind geschlossen,<br />

Eingangs- und Balkontür an<br />

der Straßenfront wurden<br />

entfernt und durch Fenster<br />

ersetzt, die sich dem Raster<br />

anpassen. Über das Mauergeviert<br />

legt sich eine Attika<br />

aus Beton, auf der das<br />

weiße Zeltdach ruht. Das<br />

Dach greift das Volumen<br />

des historischen Gebäudes<br />

auf, kragt aber nicht mehr<br />

vor - die Fassaden geraten<br />

aus der Nahsicht zu reinen<br />

Flächen, das Volumen erscheint<br />

als Kubus. So wird<br />

die plastische, von einer<br />

Tendenz zum Vernakulären<br />

nicht freie Formensprache<br />

von Rudolf Olgiati in der Arbeit<br />

seines Sohnes überspitzt<br />

und zugleich geläutert.<br />

Wenn Valerio Olgiati seine<br />

Vorgehensweise offenlegt<br />

und nicht verschleiert, dann<br />

zeigt sich darin, dass keineswegs<br />

ein antihistoristischer<br />

Impuls den Ausgangspunkt<br />

des Entwurfs<br />

bildete. Im Gegenteil: indem<br />

der Architekt das bauhistorisch<br />

wenig bemerkenswerte<br />

Gebäude auf sein<br />

materielles Substrat reduzierte,<br />

gelang ihm vielleicht<br />

ein ehrlicherer Dialog zwischen<br />

Alt und Neu, als es<br />

manche beschönigende<br />

Rekonstruktion vermag.<br />

Vereinheitlichend legt sich<br />

die weiße Schicht der Farbe<br />

über Schrunde und Brüche,<br />

Narben, Wunden und<br />

Ergänzungen. Die reine<br />

Form enttarnt sich als Flickwerk,<br />

als Resultat von Bricolage.<br />

Beim genauen Hinsehen<br />

indes wird deutlich,<br />

dass die Details keineswegs<br />

einer idealen Geometrie<br />

gehorchen - der Grundriss<br />

ist in Wahrheit ein Trapez,<br />

die Dachkante leicht geneigt.<br />

Ähnlich wie beim<br />

Schulhaus in Paspels besteht<br />

somit eine<br />

spannungsreiche Wechselbeziehung<br />

zwischen dem<br />

monolithisch-rigiden Urbild<br />

51


Flims<br />

´Gelbes Haus´<br />

52<br />

und einer auf Perfektion verzichtenden<br />

Realisierung.<br />

Wie in Paspels sind zudem<br />

Hülle und Kern voneinander<br />

getrennt. Eingestellt in den<br />

massiven Mauerkranz wurde<br />

eine Holzkonstruktion.<br />

Die Massivholzdecken aus<br />

Lärchenholz der geschossfüllenden<br />

Räume ruhen<br />

jeweils auf einem Balkenkreuz,<br />

das von einer<br />

exzentrisch angeordneten<br />

Stütze getragen wird. Im Bereich<br />

des offenen Dachstuhls<br />

ist das Balkenkreuz<br />

bloßgelegt, es hält die horizontalen<br />

Zug- und Druckkräfte<br />

der spektakulär<br />

schräg in die vertikale Stütze<br />

eingeleiteten Auflast des<br />

Firsts. Mit diesem «irrationalen<br />

Knick» - wo findet sich<br />

schon ein tragender, geknickter<br />

Holzbalken? - ist jedermann<br />

klar, wofür die Permanenz<br />

der Irritation letztlich<br />

steht: für die Auflösung der<br />

Prinzipien schlechthin.<br />

Alle Holzelemente sind weiß<br />

gestrichen: nur im Fußboden<br />

blieb die Material-Farbe<br />

der Bretter erhalten. Tischlerplatten<br />

verschleiern die<br />

hinter dem Mauerwerkskranz<br />

gelegene Ständerkonstruktion,<br />

auf der die Last<br />

der Decken ruht.<br />

Das Bekleidungsprinzip wird<br />

hier umgekehrt; während<br />

der ehemalige Kern außen<br />

freigelegt ist, werden die<br />

Räume gleichsam zur innen<br />

liegenden Hülle, als eigenständige<br />

konstruktive Einheit.<br />

Die Fensterrahmen<br />

sind flächenbündig<br />

eingelassen, treten somit<br />

auch hier kaum in Erscheinung.<br />

Inwieweit die durchfensterten,<br />

hell belichteten<br />

Räume sich allerdings als<br />

Ausstellungsflächen eignen,<br />

hängt vom Geschick des<br />

Kurators ab.<br />

Wider den Regionalismus<br />

Das ´Gelbe Haus´ ist dazu<br />

angetreten, einen Dorfkern<br />

zu bilden, wie es Rudolf Olgiati<br />

immer vorgeschwebt<br />

hatte. Eine erste, prägende<br />

Geste ist vorhanden, nun<br />

hängt das Weitere von folgenden<br />

baulichen Maßnahmen<br />

ab, welche die Gemeinde<br />

beschließen muss. Das<br />

neue Kult- und Kulturgebäude<br />

wird sich mit gezielten<br />

Ausstellungen eine Identität<br />

verleihen müssen, und<br />

es dürfte sich zeigen, ob die<br />

Inhalte mit der starken Hülle<br />

in einen sinnvollen Dialog<br />

treten können.<br />

Mit dem Umbau des ´Gelben<br />

Hauses´ hat sich Olgiati<br />

ebenso souverän über die<br />

Gepflogenheiten der illusionistischenBergarchitektur<br />

hinweggesetzt wie über<br />

das «Analogiegeflecht» der<br />

jüngeren Bündner Protagonisten.<br />

Er tut dies allerdings<br />

nicht mit leiser Geste, sondern<br />

mit schweren<br />

architekturtheoretischen<br />

Geschützen, von denen das<br />

Gebäude gelegentlich überfrachtet<br />

erscheint, deren<br />

rhetorische Schärfe jedoch<br />

immer wieder überzeugt. Mit<br />

diesem Kalkül scheint sich<br />

die Rationalität des Bauens<br />

aufzulösen, zugleich aber<br />

reiht sich Olgiati in die Flimser<br />

Tradition, denn auch Rudolf<br />

Olgiati wusste mit uneingeschränkterBeharrlichkeit<br />

immer genau, was er<br />

wollte. So hat nun die Gemeinde<br />

das, was sie jahrelang<br />

zu verhindern suchte:<br />

einen echten Olgiati mitten<br />

im Dorf.<br />

Lageplan


Schnitt, Grundrisse<br />

Detail<br />

Flims<br />

´Gelbes Haus´<br />

53


Schiers<br />

Salginatobel-Brücke<br />

54<br />

Salginatobel-Brücke<br />

Standort: bei Schiers<br />

Baujahr: 1929-30<br />

Bauherr: Kanton Graubünden, Gemeinde Schiers<br />

Ingenieur: Robert Maillart, Lehrgerüst: Richard Coray<br />

Literatur: Vom Holzsteg zum Weltmonument,<br />

Andreas Kessler, ‘96<br />

Robert Maillart – Brückenschläge, Höhere Schule<br />

für Gestaltung Zürich Schriftenreihe, 1990,<br />

Robert Maillart, v. Max Bill, 1949,<br />

Schweizer Baublatt, Jg. 109, Nr. 102, 1998,<br />

Schweizer Ingenieur und Architekt, Jg. 109, Nr.50,<br />

1991<br />

Die 1929/30 erbaute Salginatobel-Brücke<br />

zählt neben<br />

weiteren umgesetzten<br />

Brückenbauten zu den bekannteren<br />

Werken Robert<br />

Maillarts. Diese Brücke<br />

befindet sich in den Davoserbergen,<br />

zwischen den<br />

Ortschaften Schiers und<br />

Schuders. Sie überspannt<br />

eine etwa 90 m tiefe<br />

Schlucht mit einer Spannweite<br />

von 90,04 m. Die<br />

Gesamtlänge der Brükkenkonstruktion<br />

beträgt<br />

133,00 m, ihre Breite 3,80<br />

m an der schmalsten Stelle.<br />

Die Pfeilhöhe misst<br />

12,99 m und der Wert, der<br />

die Kühnheit der Brücke<br />

ausmacht, ist das Verhältnis<br />

von f : l (Stich : Länge)<br />

= 1:6,9.<br />

Nach Maillarts Aussage liegt<br />

folgende Lastannahme<br />

seinen Berechnungen, die<br />

im allgemeinen nur die<br />

notwendigsten Schritte<br />

enthielten, zu Grunde: „für<br />

300 kg/m² Menschengedränge<br />

und einem 7 t Lastwagen...“.<br />

Die Salginatobel-Brücke,<br />

eine Nachfolgerin der eingespannten<br />

Tavanasa-Brücke,<br />

ist eine Dreigelenkbogen-<br />

Brücke, deren Bogen samt<br />

Rippen die Fahrbahn trägt<br />

bzw. die (vertikalen) Auflasten<br />

aus der Fahrbahn aufnimmt<br />

und in die Widerlager<br />

ableitet. Die Fahrbahn ist<br />

biegesteif ausgebildet. Sie<br />

entlastet dadurch die Bogenrippenkonstruktion,<br />

so<br />

dass diese, frei von Biegemomenten,<br />

fast ausschließlich<br />

zentrische Normalkräfte<br />

aufnimmt und<br />

weiterleitet. Die Querschnittshöhe<br />

(ca. 40 cm)<br />

des Bogengewölbes<br />

nimmt vom Kämpfer zum<br />

Viertelpunkt hin ab und<br />

verjüngt sich im Scheitel<br />

bis auf 24 cm. In diesem<br />

Bereich wachsen Bogenund<br />

Fahrbahnquerschnitt<br />

in Form eines Kastenträgers<br />

monolithisch zusammen<br />

und bilden aus der<br />

sich überkreuzenden Bewehrung<br />

das Scheitelgelenk.<br />

Der Kastenträger<br />

wird von zwei parallel verlaufenden<br />

Bogenrippen,<br />

die auf der Bogenplatte liegen<br />

und deren Steifigkeit<br />

gewährleisten, gebildet.<br />

Diese Bogenrippen wiederum<br />

stellen mit etwa 4<br />

m Höhe im Viertelpunkt die<br />

höchste Stelle der Konstruktion<br />

dar. Von diesem<br />

Punkt ausgehend zu den<br />

Widerlagern hin, sind in 6<br />

m Abstand zueinander die<br />

Fahrbahn tragenden Stützen<br />

in Scheibenform senkrecht<br />

zur Bogenlängsachse<br />

angeordnet, welche<br />

den Bogen bei einseitiger<br />

Verkehrslast vertikal halten.<br />

Die Breite der Bogenplatte<br />

beträgt im Scheitelpunkt 3,8<br />

m, verbreitert sich aber zum<br />

Kämpfer auf 6 m, um aus<br />

horizontaler Windlast wirkende<br />

Kräfte aus dem gesamten<br />

Brückenaufbau aufzunehmen.<br />

Wenn man von dem Brükkenbauer<br />

Maillart spricht, so<br />

darf doch nicht die Mithilfe<br />

des Ingenieurs R. Coray vergessen<br />

werden. Corays<br />

Wissen und Können war für<br />

die Realisierung des Vorhabens<br />

genauso wichtig, da<br />

Coray für die Berechnung


und Ausführung des Lehrgerüstes<br />

verantwortlich<br />

war. Dem Lehrgerüst kam<br />

die Aufgabe der Lastaufnahme<br />

und die Erhöhung<br />

der Eigensteifigkeit des zu<br />

bauenden Bogens zu. Maillart<br />

beschreibt in seinem<br />

Aufsatz: „Es ist nämlich<br />

durchaus nicht nötig, das<br />

Lehrgerüst für das ganze<br />

Gewicht des Tragwerkes<br />

zu berechnen, sondern es<br />

genügt die Berücksichtigung<br />

der Gewölbeplatte.<br />

Diese wurde zunächst in<br />

einem Zuge symmetrisch<br />

betoniert, wobei die Kämpfergelenke<br />

mit erstellt wurden.<br />

Das Scheitelgelenk dagegen,<br />

das höher liegt als die<br />

Gewölbeplatte, konnte erst<br />

später fertiggestellt werden<br />

und wurde provisorisch ersetzt<br />

durch ein die untere<br />

Gelenkfuge ausfüllendes<br />

Hartholzbrett, das später,<br />

nach Fertigstellung des Gelenkes<br />

und Ausrüstung automatisch<br />

entlastet wird.<br />

Allerdings ist diese Gewölbeschale<br />

an sich trotz tunlichst<br />

gleichmäßiger Ausführung<br />

des Aufbaues mangels<br />

Eigensteifigkeit nicht ohne<br />

weiteres tragfähig. Aber so-<br />

Schiers<br />

Salginatobel-Brücke<br />

bald die Mehrbelastung auf<br />

eine Vergrößerung der Einsenkung<br />

des Lehrgerüstes<br />

hinwirkt, tritt die Gewölbeschale<br />

unter Aufnahme<br />

von zentrischen Kräften<br />

in Tätigkeit, so dass die<br />

Mehrbelastung des Gerüstes<br />

eine beschränkte und<br />

keinesfalls gefährliche<br />

war. Dem Gerüst kommt<br />

dabei die Rolle des die<br />

Gewölbeplatte versteifenden<br />

Elementes zu, so<br />

dass diese von Biegung<br />

und Knickgefahr verschont<br />

bleibt.“<br />

Die Salginatobel-Brücke<br />

stellte nicht nur mit ihrem<br />

Aussehen eine Neuerung<br />

dar, sondern zeigt in finanzieller<br />

Hinsicht im Vergleich<br />

zu den zeitgenössischen<br />

Brücken mit dem eingesetzten<br />

Materialaufwand neue<br />

Wege auf. Die Gesamtkosten<br />

der Brücke beliefen<br />

sich auf rd. 300 Schweizer<br />

Franken pro m² Grundfläche.<br />

Dies ist nach Maillart<br />

„angesichts der Spannweite,<br />

der Tiefe der Schlucht und<br />

der schwierigen Zufuhrverhältnisse<br />

gewiß ein bemerkenswertes<br />

Ergebnis“, zumal<br />

schon das Lehrgerüst<br />

mit einem Drittel der Gesamtkosten<br />

zu Buche<br />

schlägt. Für die Wirtschaftlichkeit<br />

dieser Brücke können<br />

u.a. die sparsame Konstruktion,<br />

gute Dimensionierung<br />

der einzelnen Bauteile<br />

und der kostengünstige<br />

Baustoff Stahlbeton angeführt<br />

werden.<br />

Stahlbeton ist geeignet für<br />

Gewölbebrücken bzw. Bogenbrücken,<br />

aber erst durch<br />

eine Gliederung des „wirksamen<br />

Querschnittes“ (die statische<br />

Tragfähigkeit betreffend),<br />

in eine Zug-, Druckund<br />

Neutralzone.<br />

Entscheidend kommt die<br />

statisch wirksame Verknüpfung<br />

von Fahrbahn und<br />

Gewölbe hinzu, bei der die<br />

Fahrbahn vom passiven Eigengewichtselement<br />

zum<br />

aktiven Tragwerkselement<br />

wird und zusammen mit<br />

dem Bogen eine Einheit bildet.<br />

Erste Fortschritte in dieser<br />

Art und Weise ergaben die<br />

breite Auflösung des Rechteckgewölbes<br />

in mehrere<br />

schmale Streifen zu Rippen,<br />

die durch bewehrte Riegel<br />

55


Schiers<br />

Salginatobel-Brücke<br />

56<br />

gehalten und deren seitliches<br />

Ausknicken durch Haltekräfte<br />

so vermieden wurden.<br />

Zusätzlich wird der gesamte<br />

Brückenkörper dadurch<br />

auch torsionsteifer.<br />

Durch Einbeziehung der<br />

statischen Wirksamkeit<br />

der sonst nur passiven<br />

Fahrbahn werden die<br />

Spannungen im Bogen reduziert.<br />

Rechnungen und<br />

Versuche sprechen dem<br />

Gewölbe mit Einbeziehung<br />

des „durchbrochenen“ Aufbaus<br />

50% mehr Verkehrslast<br />

zu.<br />

Die Reduzierung der erforderlichen<br />

Querschnitte und<br />

die Aussparungen zwischen<br />

Bogen und Fahrbahn erhöhen<br />

die Wirtschaftlichkeit<br />

durch Vermeiden von Materialverschwendung.<br />

Dies<br />

trifft bei kleineren und mittleren<br />

Brücken weniger zu,<br />

da die Vorteile der seitlichen<br />

Aussparungen durch den<br />

Mehraufwand im Eisenlegen<br />

(Bewehren) und Verschalen<br />

aufgehoben werden.<br />

Die so konstruierten hohlkastenförmigenGewölbequerschnitte<br />

bestehen aus<br />

Gewölbeplatte, Längswänden<br />

und Fahrbahnplatte, die<br />

in ihrer Gesamtheit als ein<br />

steifes Element wirken.<br />

Baugrund-, Temperaturund<br />

Schwindspannungen<br />

verursachen beim eingespannten<br />

Bogen Biegebeanspruchungen,<br />

die Maillart<br />

durch Gelenke im Kämpferbereich<br />

und im Scheitel vermied.<br />

Hierbei kreuzte er, wie<br />

zuvor der französische Ingenieur<br />

Mesnagier, die Stahleinlagen,<br />

um dem Querschnitt<br />

seine Biegefestigkeit<br />

zu nehmen und die Spannungen<br />

in minimale Hebungen<br />

und Senkungen aufzunehmen.<br />

Messungen ergaben<br />

bei einem 20 t schweren<br />

Rollwagenzug eine<br />

Scheitelsenkung von 1,8<br />

mm und eine Viertelsenkung<br />

von 1,2 mm. Dies entspricht<br />

Drehungen im<br />

Scheitel von 29 sec, im Vier-<br />

telbogen von 12 sec. und<br />

an den Kämpfern von 15<br />

sec. Die gekreuzten Armierungseisen<br />

als Gelenke<br />

sind ebenfalls so bemessen<br />

worden, dass die auftretenden<br />

Pressungen alleine<br />

durch den Stahl aufgenommen<br />

werden können.<br />

Die Schubwirkung<br />

des Bogens auf den Baugrund<br />

in den Widerlagern<br />

konnte Maillart durch die<br />

starren Felswände vernachlässigen.<br />

Sanierung<br />

Im Jahre 1991 erhielt die<br />

Salginatobelbrücke die<br />

höchste Auszeichnung, die<br />

einem Bauwerk weltweit verliehen<br />

wird: Die ASCE<br />

(American Society of Civil<br />

Engineers) ernannte sie zu<br />

einem „Internationalen Historischen<br />

Wahrzeichen der<br />

Ingenieurkunst“.<br />

Nach 60 Jahren intensiver<br />

Benutzung der Brücke wurden<br />

bei den periodischen<br />

Kontrollen verschiedene<br />

Schäden festgestellt. Am<br />

offensichtlichsten waren,<br />

neben den zahlreichen Rissen,<br />

die Abplatzungen an<br />

der Betonoberfläche, besonders<br />

an den Brüstungen.<br />

Unter diesen Ausbrüchen<br />

kamen meistens angerostete<br />

Bewehrungsstäbe<br />

zum Vorschein. Trotz regelmässiger<br />

Unterhaltung war<br />

eine Instandsetzung erforderlich.<br />

Das Brückenende<br />

auf der Seite Schiers wurde<br />

schon vorher umgebaut, um<br />

zu verhindern, dass der in<br />

diesem Abschnitt rutschende<br />

Hang nicht mehr als sicheres<br />

Widerlager der Brükke<br />

dient.<br />

Das Erscheinungsbild des<br />

Weltmonumentes sollte<br />

durch die Sanierung nicht<br />

beeinträchtigt werden. Da<br />

die Brücke die einzige Verkehrsverbindung<br />

nach<br />

Schuders ist, mussten alle<br />

Arbeiten so geplant und<br />

ausgeführt werden, dass die<br />

Durchfahrt – nur mit kurzzeitigen<br />

Behinderungen – aufrechterhalten<br />

werden konnte.<br />

Die erste Bauetappe umfasste<br />

einerseits den Ersatz der<br />

beiden Brüstungen und die<br />

komplette Instandsetzung<br />

der 32 m langen Vorlandbrücke<br />

Seite Schiers. Die


alten Brüstungen wurden<br />

mittels Diamantfräsen in<br />

Stücke geschnitten, von<br />

der Fahrbahnplatte abgetrennt<br />

und abtransportiert.<br />

Die entstandene Lücke<br />

wurde eingeschalt, armiert<br />

und betoniert. Für all diese<br />

Arbeiten kam ein speziell<br />

für das Objekt konstruiertes<br />

Gerüst zum Einsatz,<br />

womit pro Woche etwa 20<br />

m neue Brüstungen produziert<br />

wurden. Parallel zum<br />

Brüstungsersatz begann<br />

die Instandsetzung der<br />

Tragkonstruktion. Dabei<br />

wurden 1 bis 2 cm Altbeton<br />

mittels Wasserhöchstdruck<br />

abgetragen.<br />

In der letzten Phase wurden<br />

der ganze Bogenbereich<br />

mit den Stützen,<br />

Scheiben sowie die Fahr-<br />

Schiers<br />

Salginatobel-Brücke<br />

bahnuntersicht saniert.<br />

Das Bogengerüst, diente<br />

zusätzlich auch als „Einhausung“<br />

für die Spritzbetonarbeiten.<br />

Nach dem<br />

Betonabtrag wurden auf<br />

allen Flächen 30 mm<br />

Spritzbeton aufgetragen,<br />

um aber weiterhin den<br />

Charakter einer geschalten<br />

Brücke zu erhalten,<br />

wurde am frischen Spritzbeton<br />

eine Brettschalung<br />

rekonstruiert. Nur wegen<br />

der enormen Bedeutung<br />

habe man eine solche<br />

„denkmalpflegerische“<br />

Maßnahme durchgeführt.<br />

Damit die Maillart-Brücke<br />

auch langfristig gegen das<br />

Eindringen von Wasser<br />

geschützt ist, erhielt die<br />

Fahrbahnplatte ein modernes<br />

Belagsystem mit einer<br />

Abdichtung. Eine Brückenentwässerung<br />

stellt zudem<br />

sicher, dass das<br />

Wasser von der Fahrbahn<br />

rasch abfließen kann.<br />

Markus Menzler,<br />

Silke Wollenweber<br />

57


Grüsch<br />

Gründerzentrum<br />

58<br />

Gründerzentrum<br />

Standort: Grüsch<br />

Baujahr: 2001/02<br />

Bauherr: Trumpf Grüsch AG<br />

Architekt: Barkow Leibinger, Aves Architekturbüro<br />

Ingenieur: Conzett Bronzini Gartmann AG<br />

Literatur: Barkow Leibinger, Werkbericht 1993-2001<br />

Das 3.500 qm große Zentrum<br />

liegt in einem hochgelegenen<br />

Alpental zwischen<br />

Landquart und dem Skiort<br />

Davos in Graubünden. Diese<br />

Landschaft ist in den tieferen<br />

Lagen von Landwirtschaft<br />

geprägt, während die<br />

höheren Lagen, umgeben<br />

von Bergen und Gletschern,<br />

von Skipisten, Wald und<br />

Bergdörfern gekennzeichnet<br />

sind. Die Talsohle bei<br />

Grüsch ist der landwirtschaftlichen<br />

und industriellen<br />

Nutzung vorbehalten.<br />

Robert Maillarts berühmte<br />

Betonbrücke in Schiers ist<br />

nicht weit entfernt.<br />

Das Bauprogramm umfasst<br />

Werkstätten, Büros, Besprechungsräume,<br />

ein Café<br />

und eine Küche. Das neue<br />

Gebäude ist ein freistehender<br />

Pavillon, der durch einen<br />

Tunnel mit der bestehenden<br />

Fabrik für elektrische Werkzeuge<br />

verbunden ist.<br />

Der Entwurf ist von der Geschichte<br />

der Schweizer<br />

Ingenieurbaukunst inspiriert.<br />

Einige der besten Beispiele<br />

Schweizer Bautätigkeit der<br />

letzten 100 Jahre - Tunnel,<br />

Brücken, Stützmauern,<br />

Lawinensperren, Straßen<br />

und Infrastruktur für den<br />

Skitourismus - wurden als<br />

Antwort auf die radikalen<br />

Bedingungen der schweizerischen<br />

Alpentopografie entwickelt.<br />

Das Projekt greift die<br />

tektonische Sprache der örtlichen<br />

Ingenieurbaukunst<br />

auf.<br />

Das Gebäude besteht aus<br />

einem Betonkern mit vorgespannten,<br />

auskragenden<br />

Dachterrassen. Der Beton<br />

ist entweder als Sichtbeton,<br />

an dem man die verspringende,<br />

glatte Schalung ablesen<br />

kann, oder, im Falle<br />

der Stützmauern, als<br />

Waschbeton hergestellt. Die<br />

oberen Büroetagen sind mit<br />

örtlichem Lärchenholz verkleidet,<br />

das rotbraun lasiert<br />

ist. Außenliegende Dachflächen<br />

sind mit Wildblumen<br />

bepflanzt. Die Betonflächen<br />

der Eingangsbrücke zeigen<br />

den Abdruck von Tannenzweigen.<br />

Dieser Raum wird<br />

von den auskragenden Volumen<br />

der darüberliegenden<br />

Büros überdacht. Die angrenzenden<br />

Talwiesen mit<br />

Gras und Blumen falten sich<br />

in die geneigten Rampenräume<br />

hinein, die mit Gletschergeröll<br />

bestückt sind,<br />

das auf dem Gelände vorgefunden<br />

wurden. Ausgangspunkt<br />

für das ganze Gebäude<br />

ist eine ausgeschachtete,<br />

breite Rampe, die Licht<br />

und Zugang in die tiefer gelegene<br />

Tunnel- und Caféebene<br />

bringt. Dieser Einschnitt<br />

liegt parallel zum Tal<br />

und reduziert die Gebäudehöhe,<br />

wie von den Bauvorschriften<br />

gefordert. Der Einschnitt<br />

wird von den Erdgeschossflächen<br />

mit Werkstätten<br />

und dem Eingangsbereich<br />

überbrückt. Das oberste<br />

Gebäudevolumen besteht<br />

aus zwei Etagen mit<br />

Büroräumen.


Grüsch<br />

Gründerzentrum<br />

59


Grüsch<br />

Gründerzentrum<br />

60


Unterwerk Vorderprättigau<br />

Standort: Seewis<br />

Baujahr: 1993-94<br />

Bauherr: AG Bündner Kraftwerke, Klosters<br />

Architekt: Conradin Clavuot<br />

Ingenieure: Jürg Conzett<br />

Literatur: archithese Band 26 Heft 5/96 ,<br />

Neues Bauen in den Alpen 1995<br />

Hrsg. von Christoph Mayr Fingerle,<br />

Junge Schweizer Architekten<br />

Hrsg. Christoph Bürkle u. Architektur Forum<br />

Zürich<br />

Elektrisch:<br />

Für die Übertragung der<br />

elektrischen Energie vom<br />

Erzeuger (Kraftwerkzentrale)<br />

bis zum Verbraucher<br />

sind aus wirtschaftlichen<br />

Gründen verschiedene<br />

Spannungsebenen notwendig.<br />

Die Funktion eines<br />

Unterwerkes besteht darin,<br />

diese elektrische Energie<br />

von einer Spannungsebene<br />

auf eine andere - zumeist<br />

niedrigere - zu transformieren.<br />

Im Unterwerk befinden<br />

sich Schaltanlagen und<br />

Transformatoren, die diese<br />

rein technische Funktion<br />

ausführen. Die elektrische<br />

Energie erreicht mit einer<br />

hohen Spannung das<br />

Unterwerk und verlässt dieses<br />

mit einer niedrigeren<br />

Spannung in Richtung Versorgungsgebiet.<br />

Die Maschinen<br />

werden allesamt<br />

von einer weit entfernt liegenden<br />

Kraftwerkzentrale<br />

aus gesteuert, so dass die<br />

Station weitgehend ohne<br />

menschliche Präsenz auskommt.<br />

Im Bereich Grüsch-<br />

Seewis/Station-Valzeina<br />

musste ein geeigneter<br />

Standort gefunden werden.<br />

Das gewählte Bauland liegt<br />

ideal unter der 50-KV-Leitung<br />

und ebenfalls in einem<br />

Knotenpunkt der 10-KV-Leitung<br />

(Regionalversorgung).<br />

Dieser Punkt befindet sich<br />

im Niemandsland zwischen<br />

den Fahrbahnen einer viel<br />

befahrenen Kreuzung der<br />

Prättigauerstraße. Das Gebäude<br />

wird umfasst von der<br />

Rampe der kreuzungsfrei<br />

abzweigenden Nebenstraße.<br />

Die Bedingungen der<br />

Vorderprättigau<br />

Unterwerk<br />

Bauherrschaft, der AG<br />

Bündner Kraftwerke, Klosters,<br />

waren optimaler<br />

Schutz der Maschinen vor<br />

äußeren Einflüssen (Wasser,<br />

Schnee, Straße) und<br />

Übersichtlichkeit im Verkehrsknotenpunkt.<br />

Monolithisch:<br />

Ein derartiger Ort in einer<br />

Verkehrsschlaufe ist üblicherweise<br />

reserviert für<br />

«straßenbegleitendes<br />

Grün», das bevorzugt mit<br />

einem Findling geschmückt<br />

wird. Einem mächtigen Felsbrocken<br />

gleicht denn auch<br />

das Gebäude aus Sichtbeton,<br />

ein steinernes Zeichen<br />

für die weitgehend unsichtbare<br />

Infrastruktur der Stromversorgung.<br />

Nicht die architektonischen<br />

Uraufgaben<br />

des Schützens und<br />

Schmückens, auch nicht<br />

der Widerstand gegen die<br />

Schwerkraft werden thematisiert,<br />

sondern die exakten<br />

Raumbedürfnisse der umhüllten<br />

Maschinen in ihrer<br />

technisch- ökonomisch optimalen<br />

Disposition. Um sie<br />

schließt sich der Beton «wie<br />

eine Tüte unter Vakuum».<br />

Der Baukörper erhält so<br />

eine charakteristische Form,<br />

die zwingend wirkt, obwohl<br />

ihre Gesetzmäßigkeit nicht<br />

unmittelbar erkennbar ist.<br />

Es fehlen auf den Menschen<br />

zugeschnittene Räume und<br />

somit auch der menschliche<br />

61


Vorderprättigau<br />

Unterwerk<br />

62<br />

Maßstab, wobei diese<br />

Fremdheit durch den Verzicht<br />

auf vertraute Formen<br />

zusätzlich betont wird. Mit<br />

konventioneller Architektur<br />

hat der Bau entsprechend<br />

wenig gemeinsam. Dafür<br />

erinnert er umso mehr an<br />

die eindrucksvollen Räume,<br />

die zum Beispiel in den Bauten<br />

der Kraftwerke quasi beiläufig<br />

und als Nebenprodukte<br />

der Ingenieurskunst entstehen.<br />

Alle Mittel der Architektur<br />

werden genutzt, um<br />

diese Charakteristik zu stärken.<br />

Kein Dachblech und<br />

keine Tropfnase stört die<br />

Kubatur, die mit ihren Abstufungen<br />

in der Horizontalen<br />

und der Vertikalen als<br />

monolithisch, aber auch als<br />

zusammengesetzt gelesen<br />

werden kann. Eine zwar regelmäßige<br />

und sorgfältig<br />

ausgeführte, aber bewusst<br />

rohe Betonschalung - es<br />

wurden aufgequollene<br />

Schalungsbretter verwendet<br />

- und tief eingeschnittene<br />

Lüftungs- und Fensterschlitze<br />

betonen die Massivität<br />

und Schwere des Körpers.<br />

Schwer sind auch die Türen<br />

und die Tore: bündig in die<br />

Fassade eingesetzt sind sie<br />

ebenfalls aus Beton. Sie<br />

werden von einem verdeckten<br />

Stahlrahmen gehalten,<br />

so dass von außen nur ein<br />

schmaler Spalt und die Beschläge<br />

sichtbar sind. Besonders<br />

die zwei riesigen,<br />

mehr als dreieinhalb mal fünf<br />

Meter großen Tore für die<br />

Transformatoren wirken dadurch<br />

trotz ihres Gewichts<br />

von je etwa vier Tonnen wie<br />

Tapetentüren und lassen<br />

den massiven und groben<br />

Beton plötzlich als feine<br />

Membrane erscheinen. Beinahe<br />

ist man erstaunt, wie<br />

enorm schwer sie sind, wo<br />

man doch verblüfft sein<br />

müsste, dass sie sich mühelos<br />

von einer Person bewegen<br />

lassen.


Vorderprättigau<br />

Unterwerk<br />

63


Klosters<br />

Sunnibergbrücke<br />

64<br />

Sunnibergbrücke<br />

Standort: Umfahrung bei Klosters<br />

Bauherr: Tiefbauamt Graubünden<br />

Architekt: Entwurf: Tiefbauamt Graubünden,<br />

Beratung: Andrea Deplazes, Chur,<br />

Konzept: Christian Menn, Chur<br />

Ingenieur: Christian Menn, Chur<br />

Literatur: db 5/98, Detail, Nr.8, 1999,<br />

Schweizer Ingenieur und Architekt,<br />

Nr.19, 7. Mai, 1998<br />

Die Sunnibergbrücke der<br />

Prättigauerstrasse Landquart-Davos<br />

ist das „sichtbare“<br />

Kernstück der 10 km<br />

langen und 800 Mio. Franken<br />

teuren UmfahrungsstreckeKüblis-Saas-Klosters.<br />

Die 526 m lange<br />

Brücke überquert das Tal in<br />

60 m Höhe in einer Kurve<br />

mit 503 m Radius. Die<br />

Brücke ist sehr exponiert<br />

und von weither sichtbar.<br />

Mit Blick auf die Sensibilität<br />

der Anwohner, insbesondere<br />

jener von Klosters,<br />

die bezüglich Umweltschutz<br />

mit den langen Tunneln<br />

sehr hohe und sehr<br />

teure Forderungen gestellt<br />

hatten, aber auch mit Blick<br />

auf die zahlreichen Benutzer<br />

der Umfahrungsstraße<br />

aus dem In- und Ausland<br />

wurde größter Wert auf<br />

hohe ästhetische Qualität<br />

gelegt. Das als fünffeldrige<br />

Schrägseilbrücke ausgebildete<br />

Tragwerk stellt eine<br />

technisch innovative Konstruktion<br />

dar, die auch in<br />

ästhetischer Hinsicht überzeugt.<br />

Die schlanke Ausbildung<br />

der hohen Pfeiler wird<br />

möglich, weil die Pfeilerköpfe<br />

durch die fugenlos in<br />

die Widerlager eingespannte<br />

Fahrbahnplatte<br />

stabilisiert werden.<br />

Die Brücke sollte das Tal<br />

nicht abriegeln; sie sollte<br />

vielmehr eine hohe Transparenz<br />

aufweisen und da<br />

sie talaufwärts in der Verkürzung<br />

gesehen wird, waren<br />

Spannweiten von deutlich<br />

über 100 m wünschenswert.<br />

Mit einem eleganten,<br />

modernen und originellen<br />

Bauwerk sollte gezeigt<br />

werden, dass in die-<br />

ser Gegend neben Berglandwirtschaft,Massenund<br />

Kongresstourismus<br />

auch technisch und kulturell<br />

hochwertige Leistungen<br />

erbracht werden können.<br />

Das heißt nichts anderes,<br />

als dass - in der Balance<br />

von Wirtschaftlichkeit und<br />

Ästhetik - bei absolut überzeugender<br />

Gestaltqualität<br />

an die Grenze des zulässigen<br />

finanziellen Mehraufwands<br />

von rund 15% gegangen<br />

werden konnte.<br />

Der Auftrag für die Projektierung<br />

und technische<br />

Bauleitung der Sunnibergbrücke<br />

wurde Ende Oktober<br />

1995, das heißt lediglich<br />

7 Monate vor Baubeginn,<br />

erteilt. In kurzer Zeit<br />

mussten nacheinander das<br />

Bauprojekt, die Ausschreibung,<br />

und anschließend<br />

sofort die Bearbeitung der<br />

Ausführungspläne<br />

durchgeführt werden.<br />

Nebst der umfangreichen<br />

Berechnung hat sich die Erarbeitung<br />

der Baupläne infolge<br />

der komplexen<br />

Geometrie als sehr anspruchsvoll<br />

erwiesen.<br />

Da sich Topographie und<br />

Linienführung nicht für ein<br />

Bogentragwerk eignen, ließen<br />

sich die erwünschte<br />

Transparenz und die relativ<br />

großen Spannweiten im<br />

Grunde genommen nur mit<br />

einer mehrfeldrigen<br />

Schrägkabelbrücke befriedigend<br />

erreichen. Mehrfeldrige<br />

Schrägkabelbrücken<br />

auf hohen Pfeilern weisen<br />

ein statisches und ein formales<br />

Problem auf. Das<br />

statische Problem besteht<br />

darin, dass die einzelnen<br />

Kragsysteme in Bezug auf<br />

feldweise Verkehrslast stabilisiert<br />

werden müssen;<br />

das formale Problem liegt<br />

im unharmonischen, wenig<br />

überzeugenden Verhältnis<br />

der hohen Pfeiler zu den<br />

üblichen (statisch effizienten)<br />

ebenfalls hohen Pylonen.


Für das statische Problem<br />

bieten sich drei Lösungen<br />

an:<br />

a) Stabilisierung der Pylonspitzen<br />

mit massiver Reduktion<br />

der Pylonmomente<br />

durch Stabilisierungskabel<br />

zu den benachbartenPylonfüssen.<br />

b) Stabilisierung der Pylonspitzen<br />

mit massiver Reduktion<br />

der Pylonmomente<br />

durch Überspannung<br />

mit Stabilisierungskabeln,<br />

die<br />

hinter den Endwiderlagern<br />

fest verankert sind.<br />

c) Stabilisierung jedes einzelnen<br />

Kragsystems mit<br />

biegesteifen Pylonen.<br />

Die ersten beiden Stabilisierungsvarianten<br />

sind bei<br />

kurzen Pylonen nicht effizient.<br />

Das formale Problem<br />

besteht darin, hohe Pfeiler<br />

und kurze Pylone zu einer<br />

überzeugenden Einheit zu<br />

verbinden.<br />

Bei einem freistehenden<br />

Kragsystem sind die Pylonmomente<br />

infolge einseitiger<br />

Verkehrslast unabhängig<br />

von der Pylonhöhe. Die<br />

reinen Pylonkosten sind<br />

deshalb bei kurzen Pylonen<br />

deutlich kleiner als bei hohen<br />

Pylonen; demgegenüber<br />

sind aber die Kabelkosten<br />

(wegen der höheren<br />

Kabelkräfte) wesentlich<br />

größer. Mit der flacheren<br />

Kabelneigung nehmen natürlich<br />

auch die Druckkräfte<br />

im Träger zu, und dadurch<br />

wird die Spannweite<br />

begrenzt. Das Hauptproblem<br />

der niedrigen Pylone<br />

und flachen Kabel sind<br />

aber die Durchbiegungen.<br />

Die wichtigsten Anteile an<br />

die Durchbiegungen liefern<br />

einerseits die Kabeldehnungen<br />

und andererseits<br />

die Pylon- und Pfeilerbiegung.<br />

Im Prinzip weisen Freivorbau-(Krag-)<br />

Träger eine<br />

noch viel flachere Kabelneigung<br />

auf. Hier dienen aber<br />

die Kabel zur Vorspannung<br />

des Beton-(Zug-)Gurts, der<br />

eine sehr hohe Steifigkeit<br />

und dementsprechend kleine<br />

Dehnungen aufweist.<br />

Das gilt auch, wenn die<br />

Spannkabel nicht im Verbund<br />

wirken. Erst wenn der<br />

Zuggurt dekomprimiert ist,<br />

Klosters<br />

Sunnibergbrücke<br />

wirkt sich die starke Kabeldehnung<br />

(dann aber massiv)<br />

auf die Durchbiegungen<br />

aus. Ein ähnliches<br />

durchbiegungsunempfindliches<br />

Verhalten (wie Kragträger)<br />

zeigen Zügelgurtbrücken<br />

wie z.B. die Ganterbrücke,<br />

eine Brücke mit<br />

betonummantelten Schrägkabeln.<br />

Bei aller vordergründigen<br />

Ähnlichkeit darf man einen<br />

für die Tragwirkung wesentlichen<br />

Unterschied nicht<br />

übersehen: Die Schrägkabel<br />

der Ganterbrücke dienen<br />

der Vorspannung der<br />

Stahlbeton-Zugscheiben<br />

(Zügelgurtbrücke) und reagieren<br />

daher auf einseitige<br />

Verkehrslasten, die zunächst<br />

nur die Vorspannung<br />

„aufzehren“, nicht so<br />

empfindlich wie offene<br />

Schrägkabel. Um so wichtiger<br />

war es bei der Sunnibergbrücke,<br />

die Durchbiegung<br />

im Feld über einen<br />

anderen Parameter der<br />

Konstruktion zu steuern:<br />

Die Ausbildung der Pylone<br />

und ihre Stabilisierung beeinflussen<br />

die Durchbiegung<br />

im Feld.<br />

Bei normalen Schrägkabelbrücken<br />

ist eine Kabelverstärkung<br />

(über die erforderliche<br />

Sicherheit hinaus)<br />

ausschließlich zur Verminderung<br />

der Durchbiegungen<br />

unwirtschaftlich. Einfach<br />

und sinnvoll ist eine,<br />

soweit formal möglich, Pylon/Pfeiler-Verstärkung.<br />

Man erhält somit die „optimal“<br />

niedrigste Pylonhöhe,<br />

indem man die Kabel<br />

auf Tragsicherheit bemisst<br />

und Pylon und Pfeiler steif,<br />

aber formal überzeugend<br />

gestaltet.<br />

Pfeiler und Pylone<br />

Die Pfeiler stellen die markantesten<br />

Bauteile der<br />

Sunnibergbrücke dar. Die<br />

Formgebung hatte deshalb<br />

nicht nur den technischen,<br />

sondern vor allem auch<br />

den ästhetischen Anforderungen<br />

zu genügen.<br />

In Brückenlängsrichtung<br />

65


Klosters<br />

Sunnibergbrücke<br />

66<br />

müssen die Pfeiler genügend<br />

steif ausgebildet sein,<br />

damit die Trägerverformungen<br />

bei feldweiser Belastung<br />

in zulässigen Grenzen<br />

bleiben. In Querrichtung<br />

muss der Pfeiler eine<br />

möglichst zwängungsfreie<br />

Längenänderung des als in<br />

den Widerlagern eingespannter<br />

Bogen wirkenden<br />

Brückenträgers ermöglichen.<br />

Trotzdem muss das<br />

Rahmensystem die im<br />

Bauzustand auftretenden<br />

Windbeanspruchungen sicher<br />

abtragen. Die Ausarbeitung<br />

der Feingeometrie<br />

wurde an dem mit 77m<br />

höchsten Pfeiler P2 durchgeführt<br />

und anschließend<br />

auf die übrigen drei Pfeiler<br />

übertragen. Die Neigung<br />

der beiden Pylonflügel wurde<br />

unter Berücksichtigung<br />

der Geometrie der Schrägseile<br />

am gekrümmten<br />

Überbau optimiert. Die definitive<br />

Formfindung erfolgte<br />

an einem speziell<br />

hergestellten räumlichen<br />

Modell im Massstab 1:200.<br />

Die gekrümmten Ecklinien<br />

in der Ansicht längs und<br />

quer wurden anschliessend<br />

in mathematisch geschlossener<br />

Form ausgedrückt<br />

(Parabeln 2. und 3. Ordnung).<br />

Mit diesen Formeln<br />

konnten die Querschnitte<br />

am Ende der durch den<br />

Unternehmer gewählten<br />

Betonieretappen genau definiert<br />

und planlich dargestellt<br />

werden. Die Herstellung<br />

der Pfeiler erfolgte polygonal<br />

zwischen den Betonierfugen.<br />

Wenn der Pfeilerkopf (beim<br />

Trägeranschluss) gehalten<br />

ist, wird der Einfluss auf die<br />

Durchbiegungen viel kleiner<br />

als bei verschieblichem<br />

Pfeilerkopf. Bei der Sunnibergbrücke<br />

ließ sich die Fixierung<br />

der Pfeilerköpfe -<br />

wegen der Brückenkrümmung<br />

im Grundriss - durch<br />

die fugenlose, monolithische<br />

Verbindung des<br />

Trägers mit den Endwiderlagern<br />

sehr einfach realisieren.Temperaturänderungen<br />

wirken sich hauptsächlich<br />

durch horizontale<br />

Trägerverformungen senkrecht<br />

zur Brückenachse<br />

aus, und die Pfeiler erfahren<br />

in dieser Richtung<br />

Zwangsverformungen. Da-<br />

mit der Pfeilerwiderstand<br />

nicht zu groß wird, dürfen<br />

die Pfeiler nicht als Scheiben<br />

in Querrichtung ausgebildet<br />

werden. Durch die<br />

Auflösung der Pfeiler in ein<br />

Vierendeelsystem kann der<br />

Pfeilerwiderstand deutlich<br />

vermindert werden. In der<br />

Brückenansicht sind die<br />

Pfeiler nach unten verjüngt,<br />

was genau dem Kraftfluss<br />

bzw. dem Momentenverlauf<br />

bei einseitiger Verkehrslast<br />

entspricht; die<br />

größte Biegebeanspruchung<br />

tritt am Pfeilerkopf<br />

bzw. Pylonfuß auf. Die sich<br />

nach oben erweiternden<br />

Pfeiler vermitteln den Eindruck,<br />

dass die Brücke<br />

ganz natürlich aus dem Auenwald<br />

herauswächst und<br />

nicht in den Wald hineingestellt<br />

wurde.<br />

Der Pfeilerquerschnitt wird<br />

konsequent in die Pylone<br />

verlängert. Die vierendeelartigen<br />

Pfeiler finden in den<br />

Pylonen eine natürliche<br />

und funktionelle Fortsetzung.<br />

Die Pylone müssen<br />

zur Gewährleistung<br />

des Lichtraumprofils der<br />

gekrümmten Fahrbahn<br />

nach außen geneigt werden;<br />

damit wird aber auch<br />

nach unten die Pfeilerform<br />

(Abstand zwischen den<br />

Pfeilergurtungen) bestimmt.<br />

Die Brük-kenkrümmung<br />

verursacht eine starke<br />

Querbiegung in den Pylonen<br />

mit dem Maximum in<br />

den Fusspunkten.<br />

Überbau<br />

Die Fahrbahnoberfläche<br />

stellt infolge der Kombination<br />

von Krümmung,<br />

Längs- und Quergefälle<br />

eine verwundene räumliche<br />

Fläche dar. Die Hauptschwierigkeit<br />

bestand darin,<br />

die Kabellängen genau<br />

zu bestimmen (Toleranz<br />

der vorgefertigten Schrägkabel<br />

± 5cm) und gleichzeitig<br />

die sich bei jeder Verankerung<br />

ändernden Horizontalwinkel<br />

zwischen der<br />

Projektion der Kabelachse<br />

in die Schalungsfläche und<br />

der Tangente an die Fahrbahnachse<br />

zu ermitteln.<br />

Die Verankerungspunkte<br />

im Pylon liegen auf einer<br />

Geraden und können somit<br />

auf einfache Art konstruiert<br />

werden. Viel schwieriger ist


die Bestimmung der Verankerungspunkte<br />

am Brükkenträger.<br />

Durch einen massiven<br />

Querträger unter dem Fahrbahnträger<br />

wird die Querbiegung<br />

in ein Kräftepaar in<br />

den beiden Pfeilergurtungen<br />

umgewandelt. Die<br />

Fortsetzung des Pfeilerquerschnitts<br />

in die Pylone<br />

ergibt wieder auf natürliche<br />

Art die optimale Gestaltung<br />

für die Kabelverankerung.<br />

Die Schrägkabel bestehen<br />

aus verzinkten Paralleldrähten<br />

in „gefetteten“ Hüllrohren.<br />

Der Brückenträger<br />

ist als Platte mit Randverstärkungen<br />

ausgebildet;<br />

die Querschnitte der Pfeiler,<br />

Pylone und Fahrbahn<br />

weisen somit die gleiche<br />

Querschnittstypologie auf<br />

und unterstreichen damit<br />

die Einheitlichkeit und die<br />

Ganzheitlichkeit des gesamten<br />

Brückentragwerks.<br />

Bemerkungen zur Gestaltung<br />

Die grundlegende Gestaltungsidee<br />

bestand im Entwurf<br />

einer mehrfeldrigen,<br />

(bezüglich Landschaft)<br />

maßstäblichen, topographisch<br />

gut eingepassten<br />

Schrägkabelbrücke mit<br />

möglichst kurzen Pylonen.<br />

Damit ließen sich die erwünschte<br />

Transparenz und<br />

Schlankheit, die eine hohe<br />

technische Effizienz visualisieren,<br />

am besten erreichen.<br />

Die immer wieder<br />

betonten Kriterien für eine<br />

gute formale Gestaltung<br />

wurden konsequent berücksichtigt:<br />

- Visualisierung der ganzheitlichen,monolithischen<br />

und räumlichen<br />

Tragwirkung<br />

- klare Organisation und<br />

Anordnung der Systemelemente<br />

- einheitliche, kohärente<br />

Gestaltung der Tragelemente<br />

und Querschnitte<br />

- Visualisierung des Kraftflusses<br />

und der speziellen<br />

Systemstabilisierung<br />

(insbesondere dank<br />

Pfeilerform)<br />

- künstlerische Ornamentik<br />

durch Verfeinerung<br />

der Form und räumliche,<br />

lichtplastische Querschnittsgestaltung(ins-<br />

besondere Pfeiler).<br />

Klosters<br />

Sunnibergbrücke<br />

Gründungen<br />

Da die Zufahrtsmöglichkeit<br />

zum Pfeiler P1 für eine<br />

Bohrpfahlmaschine nicht<br />

gegeben war, wurden zwei<br />

Kleinschächte errichtet. Im<br />

Unterfangungsverfahren<br />

wurden die beiden Schächte<br />

(d =3.5 m) parallel zueinander<br />

in Etappen von 1,5<br />

m bis auf 17 bzw. 19 m abgeteuft.<br />

Bis zu einer Tiefe<br />

von rund 10 m konnte der<br />

Aushub mit einem Hydraulikbagger<br />

und Greiferverlängerungen<br />

bewerkstelligt<br />

werden. Ab dieser Kote<br />

kam ein Minibagger zum<br />

Einsatz, der das Aushubmaterial<br />

in einen Erdkübel<br />

lud. Ein Pneukran zog den<br />

Kübel hoch und entleerte<br />

ihn. Vorhandene Blöcke<br />

mussten gespitzt oder gesprengt<br />

werden. In einer<br />

Tiefe von 15 m drang sehr<br />

viel Hangwasser in den<br />

bergseitigen Schacht. Ausschwemmungen<br />

des lehmigen<br />

Erdmaterials waren die<br />

Folge. Das anfallende<br />

Wasser musste sauber gefasst<br />

und in mehreren Stufen<br />

abgepumpt werden.<br />

Die Bohrpfähle als Fundation<br />

von Pfeiler P2, P5 und<br />

P4 (je sechs Stück) wurden<br />

im Trockenbohrverfahren<br />

mit einem kombinierten<br />

Bohr- und Verrohrungsgerät<br />

ausgehoben und im<br />

Kontraktorverfahren ausbetoniert.<br />

Aufgrund des geologischen<br />

Berichts und der Beurteilung<br />

der Situation vor Ort<br />

musste im Bereich der Fundationen<br />

für den Pfeiler P2<br />

mit einem erheblichen Anteil<br />

von mittleren bis großen<br />

Felsblöcken gerechnet<br />

werden, die sich am Fuße<br />

eines Bergsturzhangs angesammelt<br />

hatten. Um zeitaufwendige<br />

und kostspielige<br />

Meißelarbeiten für das<br />

Durchörtern von Felsen<br />

und Blöcken zu minimieren,<br />

und um Stillstandszeiten<br />

der teuren Installationen<br />

und Geräte<br />

während möglicher<br />

Lockerungssprengungen<br />

im Bohrrohr zu vermeiden,<br />

wurde das sogenannte Presplittingverfahrenangewandt.<br />

Mit diesem Verfahren<br />

werden Fels und Blök-<br />

67


Klosters<br />

Sunnibergbrücke<br />

68<br />

ke vor der eigentlichen Herstellung<br />

des Bohrpfahls im<br />

Bereich des Pfahlumfangs<br />

gezielt gesprengt und somit<br />

zermürbt und gespalten.<br />

Dabei wird als erstes eine<br />

Sondierbohrung (d = 140<br />

mm), meistens in Pfahlmitte<br />

bis auf die Solltiefe des<br />

Großbohrpfahls erstellt. Mit<br />

den Aufschlüssen aus dieser<br />

Bohrung werden dann,<br />

je nach Art und Anzahl der<br />

aufgespürten Blöcke, weitere<br />

Kleinbohrungen am<br />

Umfang des Großbohrpfahls<br />

angeordnet. Aufgrund<br />

der Bohrprotokolle<br />

werden die Sprengladungen<br />

berechnet, in den mit<br />

PVC-Rohren versehenen<br />

Bohrlöchern entsprechend<br />

angebracht und verzögert<br />

gezündet.<br />

Schalung für Pfeiler und<br />

Pylon<br />

Die Pfeiler, bestehend aus<br />

zwei mit Querholmen verbundenen<br />

Stielen sowie die<br />

über die Brückenplatte ragenden<br />

Pylone weisen einen<br />

äußerst komplizierten<br />

Querschnitt auf. der sich in<br />

Brückenlängsrichtung mit<br />

zunehmender Höhe stetig<br />

verbreitert. Zudem sind die<br />

einzelnen Stiele im obersten<br />

Teil des Pfeilers in<br />

Brückenquerrichtung zunehmend<br />

gegen außen bis<br />

zu einer maximalen Neigung<br />

der Pylone von 8:1<br />

geneigt, wodurch an das<br />

Schalungskonzept von<br />

Pfeiler und Pylon bezüglich<br />

Anpassungsfähigkeit, Bedienungsfreundlichkeit,<br />

Neigungsverstellbarkeit,<br />

Sicherheit, Belastbarkeit<br />

und Wirtschaftlichkeit größte<br />

Anforderungen gestellt<br />

wurden. Technische und<br />

bauterminliche Überlegungen<br />

führten zu einer Auftei-<br />

lung der Pfeiler und Pylone<br />

in drei Bereiche mit voneinander<br />

unabhängigen<br />

Kletterschalungen für jeden<br />

Stiel (d.h. 3x2 Schalungen).<br />

Schalungspaar 1 und 2<br />

deckten die Pfeilerbereiche<br />

„OK Pfahlbankett bis UK<br />

oberer Holm“ bzw. „oberer<br />

Holm bis UK Querträger“<br />

ab. Für den Bereich 3<br />

(Querträger bis OK Pylon)<br />

mussten auf der Außenseite<br />

infolge der großen Vorneigung<br />

spezielle Sperrenkonsolen<br />

angewendet werden.<br />

Die elegante Form der Pfeiler-<br />

und Pylonstiele konnte<br />

verständlicherweise nicht<br />

exakt der vorgegebenen<br />

Kurve nachgebaut werden.<br />

Mit polygonal erstellten<br />

Etappen von rund 4m Höhe<br />

ergab sich dennoch ein geschwungenes,abgerundetes<br />

Gesamtbild.<br />

Besonderen Augenmerks<br />

bedurfte die Konzipierung<br />

der eigentlichen Schalung.<br />

Dabei war unter anderem<br />

auf ein einheitliches Schalungsbild<br />

von unten bis<br />

oben (Schaltafelstöße, Farbe<br />

des Betons), auf eine<br />

saubere Ausbildung der Arbeitsfugen<br />

(Einlage von<br />

Trapezleisten) und auf eine<br />

funktionelle und schalmaterial-schonende<br />

Herstellung<br />

zu achten. Die Schalungen<br />

bestanden aus vier, ein<br />

Rechteck bildenden Grundelementen.<br />

Die eigentliche<br />

Querschnittsform der Pfeiler-<br />

und Pylonstiele wurde<br />

mit Schalungseinlagen<br />

(massiv ausgebildeten Kisten)<br />

erstellt. Für die Anpassung<br />

der Schalung an<br />

die stetig ändernden Abmessungen<br />

der Stiele<br />

konnten die Schalungseinlagen<br />

auf einer Schaltafelgrundbelegung<br />

der seitlichen<br />

Schalungselemente<br />

leicht verschoben und wieder<br />

fixiert werden. Dies<br />

sparte nicht nur Zeit, sondern<br />

vermied ein ständiges<br />

Zuschneiden von neuen<br />

Schaltafelteilen und deren<br />

Einpassen in das Grundelement<br />

mit der damit verbundenen<br />

Gefahr von unterschiedlichenBetonfärbungen.<br />

Die von Schalungstechnikern<br />

erwarteten<br />

Probleme beim Binden dieses<br />

Schalungskonzepts


(ungenügende Vorspannmöglichkeit<br />

der Bindstäbe<br />

zur Aufnahme der Frischbetondrücke)<br />

konnten auf<br />

der Baustelle von Beginn<br />

an einwandfrei gelöst werden.<br />

Freivorbau<br />

Für die Erstellung des<br />

Fahrbahnträgers hatten<br />

Christian Menn und sein<br />

Team infolge verschiedener<br />

Überlegungen zusätzlich<br />

zur ausgeschriebenen<br />

Ausführungsmethode des<br />

Freivorbaus einen Variantenvorschlag<br />

eingereicht,<br />

der dann auch ausgeführt<br />

wurde. Ausgeschrieben<br />

war das Freivorbausystem<br />

in Anlehnung an die Ausführung<br />

der Rheinbrücke in<br />

Diepoldsau. Dabei wurden<br />

nach dem Vorfahren des<br />

Wagens die Schrägseile<br />

der folgenden Etappe an<br />

vorfabrizierten Betonelementen<br />

montiert. Das Betonelement<br />

und die<br />

Wagenkonstruktion wurden<br />

auf Zug und Druck miteinander<br />

verbunden und<br />

vorne an den Schrägseilen<br />

aufgehängt. Um das ganze<br />

System in der Sollage zu<br />

halten, musste es massiv<br />

ballastiert werden. Während<br />

des Betonierens war<br />

der Ballast sukzessive zu<br />

reduzieren, um vertikale<br />

Verschiebungen vorne so<br />

gering wie möglich zu halten.<br />

Das Betonelement<br />

wurde in den definitiven<br />

Fahrbahnträgerquerschnitt<br />

einbetoniert.<br />

Bei der Sunnibergbrücke<br />

wäre die oben beschriebene<br />

Methode durch die sehr<br />

flache Schrägseilanordnung<br />

und durch die Krümmung<br />

im Grundriss relativ<br />

heikel auszuführen gewesen.<br />

Bei Längenänderungen<br />

der<br />

Schrägseile im Bauzustand<br />

infolge Temperatur oder<br />

zunehmender Last beim<br />

Betonieren wären die Bewegungen<br />

vorne am Vorbauwagen<br />

und damit auch<br />

die Winkeländerungen in<br />

der Anschlussfuge größer<br />

ausgefallen. Ebenso sind<br />

die Druckkräfte im Betonelement<br />

größer, und die Ablenkungskräfte<br />

aufgrund<br />

der starken horizontalen<br />

Krümmung des Fahrbahn-<br />

Klosters<br />

Sunnibergbrücke<br />

trägers mussten ebenfalls<br />

in den Anschlussgelenken<br />

des Betonelementes aufgenommen<br />

werden.<br />

Beim Variantenvorschlag<br />

wird der Fahrbahnträger-<br />

Querschnitt in zwei Teilen<br />

betoniert:<br />

- vorne die beiden seitlichen<br />

Längsträger<br />

- hinten, um eine Etappe<br />

zurückversetzt, die<br />

Fahrbahnplatte<br />

Somit erstreckt sich dieser<br />

Freivorbauwagen über<br />

zwei Betonieretappen hinweg<br />

und ist doppelt so lang<br />

wie der ausgeschriebene<br />

Wagen. Dies ergibt folgende<br />

wesentliche Vorteile:<br />

- Das ganze System des<br />

Freivorbauwagens ist<br />

besser ausbalanciert.<br />

- Der ganze Wagen kann<br />

am bereits betonierten<br />

Fahrbahnträgerteil besser<br />

eingespannt werden,<br />

was geringere Bewegungen<br />

in der Anschlussfuge<br />

bewirkt.<br />

- Auf ein vorfabriziertes<br />

Element kann verzichtet<br />

werden, und somit sind<br />

keine Anschlussgelenke<br />

mehr notwendig, was<br />

eine wesentliche Qualitätsverbesserung<br />

des<br />

Längsträgerquerschnitts<br />

bedeutet.<br />

- Die Schrägkabel müssen<br />

erst nach dem Betonieren<br />

eine Tragfunktion<br />

übernehmen.<br />

- Auf eine ständige, komplizierte<br />

Ballastierung<br />

des Vorbauwagens<br />

kann größtenteils verzichtet<br />

werden.<br />

Selbstverständlich war die<br />

Herstellung des Fahrbahnträgers<br />

im Wochentakt<br />

auch für diesen Variantenvorschlag<br />

eine Voraussetzung.<br />

69


Klosters<br />

Sunnibergbrücke<br />

70<br />

Beton<br />

Bei vorhergehenden Brükkenbauten<br />

bezog Christian<br />

Menn den Beton immer von<br />

Fertigbetonanlagen. Bestens<br />

eingerichtet für die<br />

Produktion von qualitativ<br />

hochstehendem Beton und<br />

infolge großer Werksdichte<br />

immer in der Nähe der<br />

Objekte war der Entscheid<br />

für den Bezug von Beton ab<br />

Fertigbetonwerk sowohl<br />

bezüglich Qualität wie auch<br />

bezüglich Wirtschaftlichkeit<br />

naheliegend. Entgegen<br />

diesen Gewohnheiten wurde<br />

beim Bau der<br />

Sunnibergbrücke erstmals<br />

für die Herstellung von Beton<br />

auf der Baustelle eine<br />

Ortbetonanlage verwendet.<br />

Die größtmögliche Qualität<br />

des Betons und eine größere<br />

Flexibilität und Effizienz<br />

der Baustelle waren für<br />

diesen Entschluss maßgebend.<br />

Die Transportzeit für Fertigbeton<br />

ab dem nächstgelegenen<br />

Werk hätte eine halbe<br />

bis dreiviertel Stunden<br />

betragen, was für einen<br />

qualitativ hochstehenden<br />

Beton, wie er im Brückenbau<br />

verwendet wird, schon<br />

bei normalen äußeren<br />

Bedingungen zu lange ist.<br />

Selbstverständlich konnte<br />

nicht irgendeine Betonanlage<br />

erstellt werden, sondern<br />

die Anlage musste einige<br />

wesentliche Bedingungen<br />

erfüllen:<br />

Steuerung der Anlage mit<br />

Mikroprozessoren<br />

Ausdruck von Chargenprotokollen<br />

Dosiermöglichkeit von mindestens<br />

drei Zusatzmitteln<br />

Vierkomponenten-Kiessilo<br />

Feuchtemesssonde für die<br />

relevanten Zuschlagstoffkomponenten<br />

Winterbetrieb, d.h. Kiessiloheizung,Warmwasseraufbereitung<br />

Feinwasserdosierung<br />

Für eine qualitativ und terminlich<br />

optimale Ausführung,<br />

insbesondere für den<br />

Freivorbautakt des Fahrbahnträgers,<br />

ergaben sich<br />

weitere Anforderungen an<br />

den Frisch- bzw. an den<br />

Festbeton: gute Verarbeitbarkeit<br />

bei niedrigem w/z-<br />

Wert, lange Offenzeit, hohe<br />

Frühfestigkeiten (Wochentakt<br />

Freivorbau) und genügend<br />

Festigkeitsreserven.<br />

Schlussbemerkung<br />

Bei einem optimalen Konzept<br />

ergibt sich die Form im<br />

wesentlichen fast<br />

zwangsläufig aus Statik<br />

und Konstruktion. Die bewusste<br />

architektonische<br />

Gestaltung reduziert sich<br />

auf sehr wenige Visualisierungs-<br />

und Ornamentikaufgaben.<br />

Hohe ästhetische<br />

Qualität ist nicht gratis. Im<br />

vorliegenden Fall sind die<br />

Mehrkosten von 15% gegenüber<br />

der wirtschaftlichsten<br />

Lösung an der zulässigen<br />

Grenze aber gerechtfertigt.<br />

Die Kosten pro<br />

Laufmeter Brücke liegen<br />

weit unter dem Mittelwert<br />

für die gesamte Umfahrungsstrecke<br />

von Küblis bis<br />

Klosters-Selfranga. Die<br />

neuartige Brücke stellte<br />

sehr hohe Anforderungen<br />

an die Planbearbeitung und<br />

vor allem auch an die Ausführung,<br />

die nur dank motivierter<br />

und sorgfältiger<br />

Qualitätsarbeit aller Beteiligten<br />

erfüllt werden konnte.


Klosters<br />

Sunnibergbrücke<br />

71


Davos<br />

Kirchner Museum<br />

72<br />

Kirchner Museum<br />

Standort: Davos<br />

Baujahr: 1991-92<br />

Bauherr: Kirchner-Stiftung, Davos<br />

Architekt: Annette Gigon und Mike Guyer Zürich<br />

Ingenieure: Davoser Ingenieure AG (DIAG)<br />

Literatur: Architektur & Technik 3/94, db Jg. 128 Nr.8 1994<br />

Werk, Bauen + Wohnen 12/1992<br />

Gigon Guyer Architekten 1989–2000<br />

Neues Bauen in den Alpen 1995<br />

Die Familienstiftung Benevenua<br />

in Vaduz, Roman<br />

Nobert und Rosemarie Ketterer,<br />

langjährige Nachlassverwalter<br />

von Ernst Ludwig<br />

Kirchners Werk, ließen<br />

1990 verlauten, dass sie<br />

dem Ort Davos 400 Originalwerke<br />

des Malers, 160 Skizzenbücher<br />

und eine umfangreicheSachbuchbibliothek<br />

schenken wollten, mit<br />

der Auflage dafür ein adäquates<br />

Museum zu errichten.<br />

Für die Projektierung<br />

wurden vier Architekten eingeladen.<br />

Die Jury sprach<br />

sich einstimmig für den Vorschlag<br />

der jungen Züricher<br />

Architekten Annette Gigon<br />

und Mike Guyer aus.<br />

Da Kirchner selbst diplomierter<br />

Architekt war und<br />

aufgrund seines Hanges zur<br />

angewandten Kunst taucht<br />

zwangsläufig die Frage auf,<br />

wie Kirchner sein Museum<br />

gebaut hätte; Kirchner gehörte<br />

zu den Künstlern, die<br />

„ihr Ambiente als eine Aufgabe<br />

der Kunst ansehen<br />

und sich ihren persönlichen<br />

Lebensraum sozusagen<br />

nach ihrem Ebenbild schaffen“.<br />

Die Suche nach einem<br />

Museum „im Sinne Kirchners“<br />

als Ausgangspunkt für<br />

die Arbeit ist aber untauglich.<br />

Ein derartiges Museum würde<br />

in Konkurrenz treten zu<br />

seinem Werk, weil es vorgäbe,<br />

gleich wie sein Werk seine<br />

Schöpfung zu sein. Die<br />

gegenteilige Haltung - verwirklicht<br />

in den selbstinszenatorischenMuseumsarchitekturen<br />

– erzeugt ebenfalls<br />

keine Museumsräume, die<br />

ihrer primären Aufgabe genügen,<br />

„Orte der Kunst“ zu<br />

sein. Nach mehr als zwanzigjähriger<br />

Sensibilisierung<br />

durch die Concept und Minimal<br />

Art - welche gerade die<br />

Grenze zwischen künstlerischen<br />

und alltäglichen Äußerungen<br />

erkundet haben -<br />

scheint das „Zutun“ der Architektur<br />

in Ausstellungsräumen<br />

problematisch oder<br />

schlicht überflüssig.<br />

Über die vermehrte Kritik<br />

von Künstlern und Museumsleuten<br />

an zeitgenössischen<br />

Museumsbauten hinaus<br />

formulierte der Basler<br />

Künstler Remy Zaugg poetisch<br />

und radikal, wie Ausstellungsräume<br />

beschaffen<br />

sein sollten. Diese Vision<br />

lässt sich im Grunde interpretieren<br />

als Wunsch nach<br />

einem künstlerischen Vakuum<br />

- für die Kunst. Der geforderte<br />

Ausschluss künstlerischer<br />

Intentionen aus der<br />

Architektur von Ausstellungsräumen<br />

ist vergleichbar<br />

mit der Verdunkelung<br />

von Kino- und Theaterräumen,<br />

die so der Wahrnehmung<br />

während der Dauer<br />

der Aufführung entzogen<br />

sind. Ein Ausstellungsraum<br />

eines Kunstmuseums kann<br />

aber nicht verdunkelt werden,<br />

da die Werke nur unter<br />

tageslichtähnlichen Bedingungen<br />

betrachtet werden<br />

können und der Besucher<br />

sich im Raum bewegt<br />

und orientiert. Eine<br />

„Ausblendung“ des Ausstel-


lungsraumes zugunsten<br />

der Kunstwerke könnte<br />

sich einstellen, wenn der<br />

Raum so beschaffen wäre,<br />

dass er gleichsam ins Bekannte,Selbstverständliche,<br />

Fraglose zurückfällt.<br />

Ausstellungsräume<br />

Die vier Ausstellungsräume<br />

im Erdgeschoss, die Kerne<br />

des Gebäudes, bleiben ausschließlich<br />

dem Kunstwerk<br />

und seinem Betrachter vorbehalten.<br />

Es sind einfache,<br />

rechtwinklige Räume - sowohl<br />

im Grundriss, als auch<br />

im Schnitt. Die Wände der<br />

Ausstellungsräume sind<br />

massiv und tragen die Konstruktion<br />

der Oberlichtlaterne<br />

und des Daches. Sie bestehen<br />

aus Beton, sind verschalt<br />

mit Holz-Gips-Paneelen<br />

und weiß gestrichen. So<br />

bilden sie einen ruhigen,<br />

neutralen Hintergrund für die<br />

Bilder. Der Boden, vom Besucher<br />

begangen und strapaziert,<br />

besteht aus großteiligem,<br />

rechtwinklig zur Wand<br />

verlegtem, massivem Holzparkett.<br />

Die Glasdecke, die<br />

den Ausstellungsraum jeweils<br />

nach oben begrenzt, ist<br />

durchlässig für das Tageslicht.<br />

Sie filtert das Licht und<br />

verbirgt daneben die Installationen<br />

für das Kunstlicht.<br />

Die Decke besteht analog zu<br />

den tradierten Glasdecken<br />

der Museen aus der Zeit der<br />

Jahrhundertwende aus feinen<br />

Stahlprofilen und darin<br />

eingelegtem mattiertem (geätztem)<br />

Glas. Diese gläserne<br />

Decke spannt sich von<br />

Wand zu Wand. Das Licht<br />

in den Ausstellungsräumen<br />

Davos<br />

Kirchner Museum<br />

ist gleichmäßig - vergleichbar<br />

dem diffusen Licht im<br />

Freien an einem bedeckten<br />

Tag. Unbeeinträchtigt<br />

durch liegenden Schnee<br />

dringt das Tageslicht seitlich<br />

durch die vertikale,<br />

mattierte Verglasung der<br />

Oberlichtaufbauten und<br />

fällt von dort durch die Mattgläser<br />

der Staubdecke in<br />

die darunter liegenden<br />

Ausstellungsräume.<br />

Lamellenstores im Bereich<br />

der Vertikalverglasung erlauben<br />

eine Regulierung des<br />

Tageslichts entsprechend<br />

den Witterungsverhältnissen<br />

und eine Verdunkelung<br />

für die lichtempfindliche<br />

Graphik. Kunstlicht<br />

oberhalb der Staubdecke<br />

ergänzt abends das Tageslicht.<br />

Ein weiterer kleiner<br />

Ausstellungsraum befindet<br />

sich im Untergeschoss. Er<br />

eignet sich durch seine Lage<br />

für didaktische Nutzungen<br />

wie Video- und Filmvorführungen.<br />

Erschließungshalle<br />

Vergleichbar einer teilweise<br />

auskristallisierten und teilweise<br />

flüssig erstarrten Materie<br />

formen die geometrisch<br />

einfachen Kuben der Ausstellungsräume<br />

mit den entstehendenZwischenräumen<br />

das komplexe Volumen<br />

der Halle, die vorwiegend<br />

dem Museumsbesucher zugedacht<br />

ist. Sie bildet den<br />

Ort der Ankunft, der<br />

Information und der Orientierung<br />

und enthält somit die<br />

verschiedenen Elemente<br />

wie Kasse, Büchertisch, Biographie<br />

des Künstlers und<br />

Stiftertafel. Von der Halle aus<br />

ist jeder Ausstellungsraum<br />

einzeln zugänglich. Auf dem<br />

Rundgang von Saal zu Saal<br />

ist also immer die Halle<br />

zwischengeschaltet, so<br />

dass die Ausstellungsräume<br />

ausschließlich das Ziel<br />

und nicht die Zirkulationszone<br />

für den nächsten<br />

73


Davos<br />

Kirchner Museum<br />

74<br />

Raum bilden. Die Hallenfenster<br />

erlauben den Blick<br />

des Besuchers in den<br />

Park, auf die Landschaft<br />

und auf die städtische Bebauung<br />

der Hauptstraße -<br />

auf die Sujets von Kirchners<br />

Malerei.<br />

Äußere Gestalt des Museums<br />

Die Volumina des Museums<br />

sind mit unterschiedlich<br />

transparenten und<br />

unterschiedlich matten<br />

oder glänzenden Gläsern<br />

verkleidet - in ihrer Erscheinung<br />

vergleichbar den verschiedenenAggregatszuständen<br />

von Wasser:<br />

Durchsichtiges, spiegelglattes<br />

Fensterglas im Bereich<br />

der Erschließungshalle<br />

ermöglicht dem Passanten<br />

auf der Straße, an<br />

einigen Stellen in das Museum<br />

hinein und durch<br />

das Museum hindurch auf<br />

die Landschaft zu blicken.<br />

Mattiertes Isolierglas lässt<br />

das Licht gefiltert seitlich in<br />

die Oberlichter über den<br />

Ausstellungsräumen fallen<br />

und von dort über die<br />

innere Glasdecke den<br />

Bildersaal natürlich erhellen.<br />

Profiliertes und mattiertes<br />

Glas verkleidet die<br />

Betonwände der Kunstsäle<br />

und lässt die durchschimmerndeWärmedämmung<br />

vor den Betonwänden<br />

erahnen. Glasscherben<br />

(Abfallglas), der<br />

quasi unbrauchbare „letzte“<br />

Zustand des Glases,<br />

beschweren als glitzernder<br />

Kies das Dach.<br />

Die gläserne Gebäudehülle<br />

ist inspiriert vom hellen al-<br />

pinen Licht des Davoser<br />

Tals. Das Gebäude spielt<br />

und arbeitet mit diesem<br />

Licht. Die verschiedenen<br />

Erscheinungsformen des<br />

Glases im Licht - spiegelnd,<br />

leuchtend, matt<br />

schimmernd und glitzernd<br />

- sind abhängig von den<br />

unterschiedlichen Funktionen<br />

des Glases: der Lichtführung<br />

ins Innere des<br />

Museums wie auch der Eröffnung<br />

von Ein- und Ausblicken.<br />

Glas ist darüber<br />

hinaus ein tradiertes Material<br />

musealer Praxis,<br />

da es die Eigenschaft hat,<br />

den Blick auf wertvolle Gegenstände<br />

zu gewähren,<br />

diese Objekte aber gleichzeitig<br />

zu schützen. Glas bildet<br />

somit beim Kirchner<br />

Museum die Außenhülle<br />

des Gebäudes zum<br />

Schutz des Werks und seiner<br />

Betrachter.<br />

Situation - Situierung<br />

Volumen und Materialisierung<br />

des Gebäudes nehmen<br />

Bezug auf die prominente<br />

städtische Lage des<br />

Museums in einem kleinen<br />

Park, in direkter Nachbarschaft<br />

zum mächtigen<br />

Grandhotel an der Hauptstraße.<br />

Die Kernstücke<br />

des Museums, die hohen<br />

Kuben der Ausstellungsräume,<br />

sind innerhalb der<br />

kleinen Parkanlage zwischen<br />

die bestehende<br />

Baumbepflanzung gestellt.<br />

Sie widerspiegeln in<br />

ihrer Anlage gleichsam die<br />

Davoser Siedlungsstruktur<br />

mit deren lose nebeneinander<br />

gestellten Flachdachgebäuden.


Grundriss<br />

Schnitt<br />

Lageplan<br />

Fassadenschnitt<br />

Davos<br />

Kirchner Museum<br />

75


Davos<br />

Sportzenrum<br />

76<br />

Sportzentrum Davos<br />

Standort: Davos<br />

Baujahr: 1993-96<br />

Bauherr: Kur- und Verkehrsverein, Davos<br />

Architekt: Annette Gigon, Mike Guyer, Zürich,<br />

Adrian Schiess (Farbgebung),<br />

Trix Wetter (Grafik/Beschriftung), Zürich<br />

Ingenieur: DIAG, Davos (Ausführung),<br />

Branger + Conzett, Chur (Tribüne)<br />

Literatur: Archithese, 2 / 97, Bauwelt, Nr. 14 / 1997,<br />

Domus, Nr. 806 / 1998<br />

Gigon Guyer Architekten 1989-2000, Niggli 2000<br />

Das Sportzentrum ersetzt<br />

das 1991 einer Brandstiftung<br />

zum Opfer gefallene,<br />

hölzerne Eisbahngebäude<br />

des Davoser Architekten<br />

Rudolf Gaberel.<br />

Nach Errichtung eines Provisoriums<br />

zur Unterbringung<br />

der für den Betrieb<br />

der Eisbahnen nötigen Infrastrukturen<br />

lud der Verkehrsverein<br />

Davos neun<br />

Architekturbüros zu einem<br />

Wettbewerb ein, in dem<br />

Gigon + Guyer sich durchsetzen<br />

konnten. Aufgrund<br />

eines auf 19 Millionen SFR<br />

reduzierten Budgets musste<br />

der klare Riegel überarbeitet<br />

werden. Eine Reduzierung<br />

der Geschossanzahl<br />

bedingte den Verzicht<br />

auf eine obere Tribüne.<br />

Das neue Gebäude begrenzt<br />

gleich dem Vorgängerbau<br />

das Feld der Eisschnelllaufbahn<br />

bzw. der<br />

Sportanlagen gegen Norden<br />

und fasst den rückwärtigen<br />

Ankunftsraum. Gegenüber<br />

diesen beiden<br />

Außenräumen reagiert<br />

das Bauvolumen jeweils<br />

anders: mit einer zweigeschossigen,vorgelagerten,<br />

licht-, luft- und sichtdurchlässigen<br />

Tribüne gegen<br />

das Eisfeld und mit<br />

einer eingeschossigen,<br />

kompakten Ausstülpung<br />

gegen die Ankunftsseite.<br />

Bei niedrigerer Bauhöhe<br />

erwies sich die Wärmeabstrahlung<br />

auf die Eisbahn<br />

als geringeres Problem,<br />

zumal das Volumen um<br />

einige Meter nach Osten<br />

verschoben und somit von<br />

der Sportfläche abgerückt<br />

ist.<br />

Im prismatischen Bauvolumen<br />

sind eine Vielzahl<br />

von unterschiedlichen<br />

Nutzungen dicht und effizient<br />

zusammengefasst -<br />

Großgarderobe, Restaurants,<br />

Küche, Büros, Maschineneinstellhalle,<br />

Sportmedizinräume, Clubgarderoben,<br />

eine Wohnung<br />

und Kursgästezimmer.<br />

Die schmale Tribüne<br />

steht in enger räumlicher<br />

und funktionaler Beziehung<br />

zu den angrenzenden<br />

öffentlichen Räumen des<br />

Restaurants und der Großgarderobe.<br />

Sie beschattet<br />

deren großflächige Verglasungen<br />

ähnlich einem Brise-Soleil.<br />

Die Tribüne<br />

selbst wird von den Besuchern<br />

über ihren eigentlichen<br />

Zweck hinaus als<br />

Aussichts-, Freiluft- und<br />

Sonnenbalkon benutzt. Die<br />

Tragpfeiler der Tribüne<br />

bestehen aus Beton. Sie<br />

lassen den konstruktiven<br />

Aufbau des gesamten Gebäudes<br />

erkennen - einen<br />

je nach Nutzung verkleideten<br />

oder roh belassenen<br />

Betonbau.<br />

Außen wird der isolierte<br />

Baukörper von einer zweischichtigen,<br />

hölzernen<br />

Fassadenverkleidung -<br />

ähnlich zweier sich überlagernder<br />

Holzzäune - umhüllt.<br />

Aus diesem Konstruktionsprinzip<br />

der Fassade<br />

entwickeln sich die Geländer,<br />

die Schiebeläden,<br />

aber auch die Fenster. Die<br />

innere Lattung der Fassadenverkleidung<br />

aus gehobeltem<br />

Tannenholz ist farbig<br />

gestrichen, die äußere,<br />

durch horizontale<br />

Eisenprofile gehaltene<br />

und distanzierte Lattung<br />

aus Lärchenholz roh.<br />

Die Verfärbungen des rohen<br />

Holzes durch die Witterung<br />

kontrastieren mit<br />

der Farbigkeit des Anstriches<br />

auf der inneren Fas-


sadenschicht. Im Laufe<br />

der Zeit wird dieser Kontrast<br />

stärker, da die äußere<br />

Lattung jenen braunschwarzen<br />

Farbton annehmen<br />

wird, den Gaberels<br />

lärchenholzverschindeltes<br />

Eisbahnhaus zeigte. Der<br />

Farbanstrich soll einerseits<br />

die innere Lattung<br />

und die Fenster schützen,<br />

aber insbesondere die farbige<br />

Welt des Sports widerspiegeln.<br />

In Zusammenarbeit<br />

mit dem Künstler<br />

Adrian Schiess wurden<br />

für die Fassade drei Farben<br />

gewählt, die sich<br />

großflächig über die Gebäudeseiten<br />

ausbreiten -<br />

ein Farbklang aus einem<br />

hellen Orange, einem<br />

komplementären Blau und<br />

einem leuchtenden<br />

Gelb.Eine um sechs zusätzliche<br />

Farbtöne erweiterte<br />

Farbpalette - Dunkelblau,<br />

Framboise, Weiß,<br />

Apricot, Hellgrün und Türkis<br />

- setzt die Farbigkeit<br />

des Gebäudes in den Innenräumen<br />

fort und steigert<br />

sie noch. Ausschliesslich<br />

hölzerne Elemente -<br />

Fensterrahmen, Türen sowie<br />

Wand- und Deckenpaneele<br />

für die Schallabsorption<br />

und die Verkleidung<br />

der Installationen -<br />

sind Farbträger. Sie stehen<br />

Davos<br />

Sportzentrum<br />

im Gegensatz zu den roh<br />

belassenen oder verputzten<br />

Betonwänden der<br />

Tragkonstruktion. Nur im<br />

zweiten Obergeschoss,<br />

der Hotelebene, weichen<br />

Gigon + Guyer von diesem<br />

Prinizip ab: In Feldern reihen<br />

sich sämtliche Farben<br />

entlang der Nordwand des<br />

langen Erschliessungsgangs.<br />

Das von oben<br />

durch Schächte einfallende<br />

Licht wirft Farbreflexe<br />

auf die gegenüberliegende<br />

Wand. Man bewegt sich<br />

gleichsam durch einen<br />

Farbkorridor.<br />

Ähnlich den aufgedruckten<br />

Signeten und Nummern<br />

der Sportlerbekleidung ist<br />

die Beschriftung des Gebäudes<br />

innen wie außen<br />

großmaßstäblich direkt<br />

auf die Gebäudeteile gemalt.<br />

So auch der Schriftzug<br />

DAVOS auf der Frontfassade,<br />

der auf künftigen<br />

Postkarten und Siegerehrungsfotos<br />

für den Ferien-<br />

Sportort werben soll.<br />

Je nach Lichtverhältnissen<br />

ändert sich der Eindruck<br />

des Sportzentrums.<br />

Abends dringt die Farbigkeit<br />

des Inneren nach außen.<br />

Da sich das Gebäude<br />

von der weißen Bebauung,<br />

welche den Ortskern<br />

von Davos prägt, dezidiert<br />

absetzt, stieß das Projekt<br />

von Gigon + Guyer anfangs<br />

auf Widerstand. Doch inzwischen<br />

spricht auch der<br />

Verkehrsverein von einem<br />

wohlgelungenen Gesamtwerk.<br />

77


Davos<br />

Werkhof<br />

78<br />

Werkhof Davos<br />

Standort: Davos<br />

Baujahr: 1998-99<br />

Bauherr: Davos Tourismus<br />

Architekt: Annette Gigon, Mike Guyer, Zürich,<br />

In AG mit Othmar Brügger, Davos<br />

Ingenieur: Conzett, Bronzini, Gartmann AG, Chur,<br />

Peter Flütsch, Chur<br />

Literatur: Gigon Guyer Architekten 1989-2000, Niggli 2000<br />

Der städtebauliche Ansatz<br />

des Projektes zeigt sich in<br />

der Situierung des Werkhofes<br />

und seiner<br />

Materialisierung. Zum einen<br />

schliesst das neue Gebäude<br />

den Ankunftsraum des<br />

Sportzentrums gegen die<br />

Talstrasse, um die räumliche<br />

Verbindung zum Kurpark<br />

hin zu akzentuieren und zu<br />

präzisieren. Zum anderen<br />

wird - als Referenz zum bestehenden<br />

Bau - das Thema<br />

der Holzfassaden aufgegriffen.<br />

Die Standfläche des<br />

zweigeschossigen Volumens<br />

ist auf jene Räume<br />

reduziert, die notwendigerweise<br />

im Erdgeschoss liegen<br />

müssen - die Garagen<br />

für die Lastwagen und<br />

Schneefahrzeuge, die Autowerkstatt<br />

und -Waschanlage<br />

und die Schreinerei.<br />

Die übrigen Räume, die Lager<br />

und Büros, sind im<br />

Obergeschoss angeordnet.<br />

Diese ungleiche Nutzungsverteilung<br />

erzeugt im ersten<br />

Obergeschoss Auskragungen<br />

an den beiden Längsseiten,<br />

welche dazu dienen,<br />

die darunter gelegenen Ausfahrten<br />

der Einstellhallen<br />

und Werkstätten zu schützen.<br />

Die Tragstruktur ist ein Kombination<br />

aus Skelett und<br />

Schottenbauweise mit vorgespannten<br />

Deckenplatten<br />

auf Betonstützen. Die<br />

grosse Auskragung zur Talstrasse<br />

hin wird durch<br />

Stahlbetonscheiben bewerkstelligt,<br />

welche zwischen<br />

Decken- und Dachplatte<br />

eingespannt als wandartige<br />

Träger (Überzüge)<br />

wirken. Die Aussenwände<br />

und Trennwände bestehen<br />

aus vorfabrizierten,<br />

geschosshohen, isolierten<br />

Holzplatten-Elementen.<br />

Eine hinterlüftete Verkleidung<br />

aus horizontalen Holzbrettern<br />

bildet den äußeren<br />

Wetterschutz. Die verschieden<br />

breiten Bretter der parallel<br />

aufgesägten Baumstämme<br />

sind nach der Reihenfolge<br />

des Schnitts montiert.<br />

Analog zu den Fassaden<br />

besteht das Flachdach<br />

aus einer hinterlüfteten Konstruktion<br />

aus Holz, Wärmedämmung<br />

und Beton - ein<br />

„Davoser Dach“. Die Fenster<br />

sind in der Regel bündig<br />

in die Verkleidung gesetzt.<br />

Bei jenen Fenstern,<br />

die keine Einsicht gewähren<br />

sollen, dienen aufgeklappte<br />

Verkleidungsbretter als fixe<br />

Lamellen. Die sich nach außen<br />

öffnenden, verglasten<br />

Stahlflügeltore der Einstellhallen<br />

werden durch die<br />

Gebäudeauskragungen<br />

überdeckt und somit vor<br />

Schnee geschützt. Feuerverzinkte<br />

Bleche verkleiden<br />

die Untersichten der Auskragungen<br />

und reflektieren diffus<br />

Licht in die zurückversetzten<br />

Arbeitsräume.


Um- und Neubau Restaurant Vinikus<br />

Standort: Promenadenstraße in Davos<br />

Baujahr: 1991-1992<br />

Bauherr: Christoph Künzli für Schiabach AG<br />

Scala Vini, Davos<br />

Architekten: Annette Gigon und Mike Guyer, Zürich<br />

Grafik: Lars Müller, Baden<br />

Ingenieur: DIAG, Davos<br />

Literatur: Gigon Guyer Architekten, Niggli, Archithese Jg. 25 1 / 95<br />

Die eindrückliche und ungewohnte<br />

Gestalt des Grundstückes<br />

am Schiabach und<br />

seiner heutigen Bebauung<br />

sind das Resultat einer mehr<br />

als hundertjährigen Nutzung<br />

und Urbarmachung<br />

durch die ehemalige Besitzerin,<br />

eine Bauunternehmung.<br />

Sukzessive wurde<br />

auf der Bachparzelle Kies<br />

abgebaut und damit einhergehend<br />

entstanden Stützmauern.Wasserauffangbecken<br />

für den Rüfenbach<br />

und eine Bachkanalisierung.<br />

Die gewerbliche Bebauung<br />

wurde Stück für Stück ergänzt<br />

zu einer geschlossenen<br />

zweiseitigen Hofbebauung<br />

– raumhaltigen Stützmauern<br />

gleich.<br />

Mit dem Restaurant Vinikus<br />

galt es einen Anfangspunkt<br />

zu setzen im langfristigen<br />

Bestreben der heutigen<br />

Bauherrschaft, den gewerblichen<br />

Hofraum mitten in<br />

Davos Schritt für Schritt in<br />

einen öffentlichen und kulturellen<br />

Raum zu wandeln.<br />

Die Hälfte der vordersten<br />

Liegenschaft - bereits vorher<br />

als Pizzeria genutzt - sollte<br />

umgewandelt werden, um<br />

entsprechend der Leidenschaft<br />

eines Exponenten<br />

der Bauherrschaft, des<br />

jungen Weinhändlers Christoph<br />

Künzli, als Standort für<br />

ein neues Wein- und Speiserestaurant<br />

zu dienen. Die<br />

Grundfläche des früheren<br />

Restaurants wurde in der<br />

Folge unterkellert, um Räume<br />

für den Wein zu gewinnen,<br />

und das oberirdische<br />

Volumen des ehemaligen<br />

eingeschossigen Restaurants<br />

wurde innerhalb der<br />

gesetzlichen Grenzabstän-<br />

Davos<br />

Restaurant Vinikus<br />

de vergrößert, um im Innern<br />

Platz zu schaffen für einen<br />

neuen Gastraum mit angemessener<br />

Höhe.<br />

Die Unterkellerung besteht<br />

aus Beton, während die aufsteigenden<br />

Wände aus<br />

massivem Mauerwerk gebaut<br />

sind. Im Bereich der<br />

großen Fensteröffnung liegt<br />

das Mauerwerk auf einem<br />

im engen Raster abgestützten<br />

Stahlrahmen auf. Gleich<br />

wie die Oberflächen der<br />

bestehenden Hofbebauung<br />

sind die Außenfassaden verputzt.<br />

Auszeichnend wirkt<br />

lediglich, was dieses Gebäude<br />

bezeichnen muss - die<br />

Beschriftung des Restaurants.<br />

In die gemauerte Architektur<br />

eingebaut - ähnlich wie ein<br />

Kuckucksei eingesetzt - ist<br />

der Gastraum aus Holz.<br />

Großflächige, mehrheitlich<br />

furnierte, durch Fugen<br />

rhythmisierte Holzfaserplatten<br />

bilden die Decken, Wände,<br />

Türen und Schränke -<br />

Parkettriemen den Fußboden.<br />

Das innere Holzgehäuse<br />

lässt sich im Bereich<br />

der Fensterfront mit schmalen,<br />

beweglich befestigten<br />

Holzplatten - inneren Fensterläden<br />

- öffnen und in der<br />

Nacht wieder schließen. Aus<br />

dem Hohlraum zwischen<br />

dem hölzernen Kubus und<br />

der Backsteinarchitektur<br />

79


Davos<br />

Restaurant Vinikus<br />

80<br />

wird der Gastraum durch die<br />

offenen Plattenfugen mit<br />

Luft und Elektrizität versorgt.<br />

Eichenfassholz erzeugt die<br />

farbliche Stimmung im Restaurantinnern:<br />

mit millimeterdünnen<br />

Furnieren und<br />

zentimeterdicken Parkettbrettern.<br />

Das Prinzip des Verkleidens<br />

im Gastraum wird im Kellergeschoss<br />

aufgelöst zugunsten<br />

eines Nebeneinanders<br />

von Raum und Möblierung<br />

und deren Materialität. Die<br />

einzelnen Elemente sind so<br />

roh belassen, wie die noch<br />

nicht zur Speise verarbeiteten<br />

Zutaten eines Rezepts.<br />

Zwei in den Rohbau<br />

eingebaute WC-Häuschen<br />

bestätigen als Ausnahme<br />

die Regel. Die Wände sind<br />

aus Beton, wie auch die<br />

Decke und der Boden. Das<br />

begehbare Weingestell aus<br />

Holzfaserplatten im Degustationsraum<br />

ist unverkleidet,<br />

und die Tische aus Eichenholz<br />

sind massiv.<br />

Kleiner Exkurs zur Schriftgestaltung<br />

an Bauwerken:<br />

Oft verunglimpft die Beschriftung<br />

als nachträglicher<br />

Eingriff das Programm und<br />

die Typologie der Architektur.<br />

In der Grenzlage zwischen<br />

„idealer“ Architektur-<br />

Gestalt und einer vorgegebenen<br />

populistischen Werbeform<br />

prallen unvereinba-<br />

re ästhetische Systeme aufeinander<br />

– oder werden<br />

durch massive Trägerkonstruktionen<br />

auf minimale Distanz<br />

gehalten. Das ist die<br />

Regel. Das Kirchner Museum<br />

und das Restaurant Vinikus<br />

bilden eine Ausnahme.<br />

Die Intention der Architekten<br />

zielt auf eine trägerfreie, sich<br />

gewissermaßen mit der Architektur<br />

verbindende Beschriftung<br />

ab, als Analogie<br />

auch zur Bündner Tradition<br />

der direkt aufgemalten Häusernamen.<br />

Für den neu geschaffenen<br />

Schriftzug „Vinikus“<br />

wurden die Proportionen<br />

des Fassadenfeldes<br />

über dem Fensterband der<br />

Gestaltung zugrundegelegt.<br />

Das auf der Basis von<br />

verschiedenen schmal-fetten<br />

Schrifttypen gezeichnete<br />

Logo musste ästhetisch<br />

ausgewogen und robust<br />

genug sein, um sich neben<br />

der üblichen Verwendung<br />

auf Drucksachen auch für<br />

eine monumentale Fassadenschrift<br />

zu eignen. In der<br />

ersten Ausführung (1992)<br />

wurde der Schriftzug mit<br />

geringem Helligkeitskontrast<br />

Ton-in-Ton mit der Fassadenfarbe<br />

direkt auf den Verputz<br />

aufgebracht. Seit der<br />

1994 erfolgten Konzeptänderung<br />

von einem Restaurant<br />

in ein Laden-Restaurant<br />

erscheint die Schrift in einem<br />

kräftigen Rot.


Schulhaus mit Saal<br />

Davos<br />

Schulhaus Alvaschein<br />

Standort: Alvaschein<br />

Baujahr: 1988-89<br />

Bauherr: Gemeinde Alvaschein<br />

Architekt: Valentin Bearth, Andrea Deplazes, Chur<br />

Ingenieur:<br />

Literatur: Junge Schweizer Architekten/innen, Artemis, 1995,<br />

Neues Bauen in den Alpen, 1992,<br />

Räumlinge, 1 de aedibus, 1999,<br />

Werk, Bauen + Wohnen 1/2, 1993<br />

Valentin Bearth und Andrea<br />

Deplazes haben für<br />

ein kleines Bergdorf ein<br />

Schulhaus geschaffen,<br />

dessen Lösung von einem<br />

weitreichenden Verständnis<br />

für den Charakter einer<br />

solchen Aufgabe zeugt. Die<br />

Schule in Alvaschein<br />

dokumentiert nicht allein<br />

eine Vorstellung „vom Ort“,<br />

sondern sie belegt darüber<br />

hinaus ein Gespür für<br />

die Spannweite des Eingriffes,<br />

den ein solches<br />

Bauwerk ins Leben einer<br />

kleinen Gemeinde darstellt.<br />

Entstanden ist eine<br />

Architektur, die schlüssiger<br />

Aufgabe und Auftraggeber<br />

reflektiert, als es im ersten<br />

Moment erscheinen mag.<br />

Die knappen Platzverhältnisse<br />

im Dorfkern zwangen<br />

dazu, die neue Schul- und<br />

Mehrzweckanlage am Dorfende<br />

an der ehemaligen<br />

Landstraße zu errichten.<br />

Einerseits sollte die Wichtigkeit<br />

und die öffentliche<br />

Funktion der Anlage als<br />

‘Dorfschule’ ihren klaren architektonischen<br />

Ausdruck<br />

erhalten, anderseits sollte sie<br />

durch die Aufteilung in zwei<br />

Baukörper - Schulhaus und<br />

Mehrzweckhalle - als eine<br />

Art „Gehöft“ - in Erscheinung<br />

treten. Die Lage<br />

am Dorfrand wird dadurch<br />

thematisiert und verständlich<br />

gemacht.<br />

In einer einfachen Geste<br />

schaffen der gedrungene<br />

Klassenkörper und ein Saalanbau<br />

eine Art Platz im steilen<br />

Gelände. Damit entsteht<br />

eine große, geschützte<br />

Terrasse, gegen Süden<br />

und gegen das Tal hin geöffnet.<br />

Eine der wenigen<br />

ebenen Flächen in der bewegten<br />

Topographie wird<br />

gleichzeitig zum Spielfeld<br />

und zum Aussichtspunkt,<br />

welcher aus der in sich<br />

gekehrten Struktur des<br />

Dorfes hinausweist. Dieser<br />

Platz verbindet sich mit<br />

dem flach gewordenen<br />

Hang zu einer Weite, die<br />

dem Dorf bisher nicht eigen<br />

war. Dieser Ort, der<br />

sich mindestens ebenso<br />

stark gegen das Dorf behauptet<br />

wie er darin eingebunden<br />

ist, wurde möglich,<br />

weil sich im Ensemble drei<br />

typische, aber gegensätzliche<br />

topographische Entwurfsbewegungen<br />

auf<br />

überlegte Art begegnen:<br />

die Aufschüttung, der Einschnitt<br />

in das Gelände und<br />

das Haus am Hang, das<br />

sich erst durch den Gewinn<br />

des Sockels turmartig<br />

aufzurichten beginnt,<br />

um das Gelände zu beherrschen.<br />

In diesem Haus, dem Klassentrakt,<br />

wird besonders<br />

deutlich, dass der Entwurf<br />

seine Qualität eher in einer<br />

Abfolge von Überlegungen<br />

zum Gebrauch und zu<br />

dessen kultureller Begründung<br />

sucht, als in riskanten<br />

formalen Spekulationen.<br />

Der Trakt beherbergt<br />

auf zwei Geschossen ein<br />

großes Klassenzimmer<br />

mit zudienendem Raum,<br />

81


Davos<br />

Schulhaus Alvaschein<br />

82<br />

im Erdgeschoss eine weite<br />

Eingangshalle, die zunächst<br />

zu groß erscheinen<br />

mag. Die Form dieser<br />

Räume macht aber die<br />

Bedeutung einer Schule<br />

an diesem Ort klar. Es treffen<br />

sich darin auch die<br />

Politik des Dorfes oder die<br />

Vereine, und im Winter ist<br />

die Halle der Schulhof und<br />

auch ein wenig der Platz<br />

der Gemeinde. Es macht<br />

dies ja die „Modernität“<br />

auch vieler traditioneller<br />

Bauten in den Bergen aus,<br />

dass sie Hüllen für viele<br />

Zwecke sein müssen. Solche<br />

Transparenz und Klarheit<br />

greift die Schule auf:<br />

der Körper ist fast mit dem<br />

Raum identisch, und was<br />

es darin an räumlicher<br />

Spezifizierung braucht, das<br />

entsteht durch Teilung und<br />

nicht durch Addition.<br />

Gerade die Auslegung dieser<br />

Innenräume wird den<br />

Architekten zum Bekenntnis.<br />

Nicht nur das Betonskelett,<br />

dessen Kassetten an ein<br />

abstraktes Raumgitter anspielen,<br />

erinnert an die moderne<br />

Tradition des Schulhausbaues.<br />

Es findet sich<br />

diese auch in den doppelseitig<br />

belichteten Schulzimmern,<br />

in deren großflächigen<br />

Fenstern sich der Bergund<br />

der Talblick auf eindrückliche<br />

Art wie in Bilderrahmen<br />

gegenüberstehen.<br />

Und selbstverständlich weist<br />

auch die Beweglichkeit der<br />

Bühne im Saal in die gleiche<br />

Richtung: sie kann für Feste<br />

mittels Schiebetor gegen<br />

außen gewendet werden.<br />

Erkennt man schließlich<br />

die aufmerksame Behandlung<br />

der meist glatten<br />

und feinen (Holz-) Teile im<br />

Innern, die fast wie Intarsi-<br />

en zwischen der Struktur<br />

einliegen, so mag einem<br />

sogar wieder die Behauptung<br />

vom erzieherischen<br />

Wert einer richtigen und<br />

sorgfältigen Konstruktion<br />

in den Sinn kommen.<br />

Dass man solche Qualität<br />

in der Tragstruktur des<br />

Saales wiederfindet, in<br />

Form einer bemerkenswertenRahmenkonstruktion,<br />

erstaunt weniger, sind<br />

doch die jüngeren Architekten<br />

und Ingenieure der<br />

Region dabei, eine unsentimentale<br />

Technologie des<br />

Holzbaues mit den breiten<br />

Assoziationen dieses Materiales<br />

zu einem sehr freien<br />

entwerferischen Umgang<br />

zu verbinden.<br />

Insgesamt haben die Architekten<br />

in ihrem Projekt<br />

zwei verschiedene Absichten<br />

zueinandergeführt. Die<br />

Qualität der Lösung liegt<br />

darin, wie sich diese beiden<br />

Gebärden zu einer<br />

zusammenhängenden Interpretation<br />

ergänzen. Zum<br />

einen kommen sie ohne<br />

vordergründige bildliche<br />

und atmosphärische Anbiederung<br />

aus, um trotzdem<br />

eine so klare Vorstellung<br />

von der Spezifität der<br />

Aufgabe in dieser Landschaft<br />

zu vermitteln. Zum<br />

andern gerät ihnen dann<br />

der Gegensatz zwischen<br />

dem Direkten, fast Rohen<br />

der Hülle und dem scharf<br />

erdachten inneren Reichtum<br />

doch noch zu einer<br />

Metapher des Ortes.<br />

Konstruktion<br />

Die Mehrzweckhalle wurde<br />

außchließlich in Holz konstruiert.<br />

Die drei Rahmenbinder,<br />

welche die Halle<br />

überspannen, sind als Hohlkastenträger<br />

ausgeführt. Sie


estehen aus zwei großformatigenFurnierschichtholzplatten,<br />

die durch aufgeleimte<br />

Kanthölzer verstärkt<br />

sind. In den U-förmigen<br />

Rahmenstützen lassen<br />

sich die Turngeräte<br />

bequem unterbringen. Der<br />

Rahmenriegel wirkt statisch<br />

als „versteifter Stabbogen“:<br />

Wände und Gurtungen<br />

bilden einen geschlossenen<br />

Kasten, in<br />

den ein dünner Brettschichtholzbogeneingeleimt<br />

ist. Von außen ist dieser<br />

Bogen durch die kreisförmig<br />

angeordneten<br />

Schrauben erkennbar. Dadurch<br />

wurde es möglich,<br />

die Stärke der Schichtholzplatten<br />

auf 27mm zu beschränken.<br />

Der Kastenträger<br />

ist derart steif, dass<br />

auch die horizontal wirkenden<br />

Kräfte der Sportgeräte<br />

ohne zusätzliche Abspannungen<br />

aufgenommen<br />

werden können.<br />

Für die Dachkonstruktion<br />

Lageplan<br />

Davos<br />

Schulhaus Alvaschein<br />

wurden vorfabrizierte Tafelelemente<br />

mit Wärmedämmung<br />

und Unterdachschalung<br />

verwendet. Auch<br />

sie bestehen aus Schichtholzplatten<br />

mit aufgeleimten<br />

Verstärkungsrippen.<br />

Die Elemente laufen über<br />

jeweils zwei Binderfelder<br />

durch, die Längsstöße<br />

sind versetzt. Die Tafeln<br />

sind mit den Bindern durch<br />

Nägel und Schrauben verbunden,<br />

so dass das ganze<br />

Dach zu einer einzigen<br />

Scheibe wird. Spezielle<br />

Windverbände sind nicht<br />

mehr nötig. Die Tafelelemente<br />

wurden vom Unternehmer<br />

in der Werkstatt<br />

mit Wärmedämmung und<br />

Unterdachschalung versehen.<br />

Auch die Außenwände<br />

sind aus vorfabrizierten<br />

Kantholzelementen mit<br />

aufgenagelter Blindschalung<br />

zusammengesetzt.<br />

Das Aufrichten der Binder<br />

und Wandelemente dauerte<br />

fünf Tage, das Eindekken<br />

des Daches mit den<br />

Tafelelementen konnte in<br />

einem einzigen Tag ausgeführt<br />

werden.<br />

83


Davos<br />

Schulhaus Alvaschein<br />

84<br />

Querschnitt


EG<br />

1.OG<br />

2.OG<br />

Längsschnitt<br />

Davos<br />

Schulhaus Alvaschein<br />

85


Sumvitg<br />

Caplutta Sogn Benedetg<br />

86<br />

Caplutta Sogn Benedetg<br />

Standort: Sumvitg<br />

Baujahr: 1987-88<br />

Bauherr: Kirchengemeinde Sumvitg<br />

Architekt: Peter Zumthor, Haldenstein<br />

Ingenieure: Jürg Buchli<br />

Literatur: Architektur und Technik 1 / 1990 – 12 / 1996,<br />

Archithese 6 / 90,<br />

Caplutta Sogn Benedetg, Gedanken und Bilder zur<br />

Architektur und Symbolik, von Daniel Schönbächler,<br />

Kunst und Kirche 1 / 90,<br />

Neues Bauen in den Alpen – Architekturpreis 1992,<br />

Peter Zumthor, Häuser 1979 – 1997,Werk, Bauen<br />

und Wohnen Jg. 76 / 43 Nr. 4 1989<br />

Geschichte<br />

Die alte Kapelle im Weiler<br />

Sogn Benedetg über Sumvitg<br />

hatte einen gotischen<br />

Chor aus dem 16. und eine<br />

barocke Ausstattung aus<br />

dem 17. Jahrhundert. Sie<br />

war im Besitz des Klosters<br />

Disentis und gehörte im späten<br />

Mittelalter zu einem Beginenklösterchen.<br />

Begine<br />

war eine im 12./13. Jahrhundert<br />

aufkommende Laiengemeinschaft.<br />

Eine begüterte<br />

Witwe (Rigenza) verhalf<br />

der Gemeinschaft zum<br />

Klösterchen. Archäologische<br />

Untersuchungen lassen<br />

vermuten, dass schon<br />

im 9. Jahrhundert eine kleine<br />

Saalkirche an diesem Ort<br />

stand.<br />

Zerstörung<br />

Mehrmals wurde die Kapelle<br />

durch Lawinenniedergänge<br />

beschädigt und im Jahre<br />

1984 komplett zerstört. Ein<br />

zivilisatorischer Eingriff<br />

(Parkplätze) führte zum Lawinenunglück.<br />

Das Geld der<br />

Versicherung reichte für einen<br />

Neubau nicht aus.<br />

Dazu brauchte es das Engagement<br />

der Kirchengemeinde<br />

Sumvitg und des<br />

Klosters von Disentis. Die<br />

Denkmalpflege hielt lange<br />

an der Rekonstruktion der<br />

zerstörten Kapelle fest. Die<br />

Entscheidung fiel schliesslich<br />

zugunsten einer neuen<br />

Kapelle an einem sicheren<br />

Ort im Schutze des Bannwaldes,<br />

mit dem Zugeständnis<br />

an die Denkmalpflege,<br />

die verfallenen Mauerreste<br />

liegen zu lassen.<br />

Das Bauwerk und sein Ort<br />

Auf einer Kuppe über den<br />

Häusern von Sogn Benedetg<br />

steht die neue Kapelle,<br />

deren Schutzpatron dem<br />

Weiler den Namen gegeben<br />

hat. Ihr Baukörper ist wie bei<br />

vielen älteren Kapellen von<br />

Wiesen umschlossen.<br />

Ihr Chor zeigt, wie es die<br />

Tradition will, nach Osten,<br />

und ihr Eingang steht am<br />

Ende der Windung einer alten<br />

Wegspur, die von den<br />

Häusern aufsteigt wie ein<br />

alter Kirchweg.<br />

Die maßstabslose Überhöhe,<br />

wie sie von unten wahrgenommen<br />

wird, reduziert<br />

sich entlang dieses Weges<br />

auf das Mass einer Geschoßhöhe<br />

beim Eingang.<br />

In der gleichen Bewegung<br />

vermag man ein Empfinden<br />

für die Himmelsrichtungen<br />

und für die Steilheit und Beschaffenheit<br />

des Bodens zu<br />

entwickeln. Die Farbe der


Schindeln verwandelt sich<br />

vom Schwarzgrau der Wetterseite<br />

entlang der Krümmung<br />

langsam in ein helles<br />

Braun auf der Zugangsseite.<br />

Über dem schräg angezogenen<br />

Streifenfundament<br />

wirft sich die Schindelhaut<br />

leicht auf, wie ein abstehender<br />

Saum, und zeichnet dabei<br />

mit dem Schatten die<br />

Geländelinie nach.<br />

Das Bild der Kirche im<br />

Dorf<br />

Viele Ortsbilder in der Surselva<br />

sind geprägt von der<br />

besonderen Spannung, die<br />

zwischen der entworfenen<br />

Architektur der Kirche und<br />

den herkömmlichen Formen<br />

der profanen Bauten<br />

entsteht: Ein weißes Gotteshaus<br />

aus Stein, in seiner<br />

Gestaltung einem weltläufigen<br />

Baustil - dem Barock -<br />

verpflichtet, überstrahlt die<br />

dunklen Holzbauten der<br />

Bauern, deren Formen in<br />

regionalen Baugewohnheiten<br />

verankert sind.<br />

Wir haben uns daran gewöhnt,<br />

dieses Nebeneinander<br />

im Bild der Siedlungen<br />

als Einheit und Ausdruck einer<br />

historischen Ordnung zu<br />

sehen. Die Kirche als Verkünderin<br />

einer Weltreligion<br />

in den Dörfern. Sie tut dies<br />

mit dem Wort. Und sie stellt<br />

dies dar mit ihrer Architektur.<br />

Die neue Kapelle in Sogn<br />

Benedetg wächst aus dieser<br />

Tradition heraus. Wie die<br />

alten Kirchenbauten verfügt<br />

sie als Heiligtum über eine<br />

besondere architektonische<br />

Form, die sie gegenüber<br />

den profanen Bauten auszeichnet;<br />

und sie steht, wie<br />

dies aus historischen Ortsbildern<br />

bekannt ist, an einer<br />

ausgewählten Stelle der Topographie.<br />

In einem Punkt jedoch wird<br />

die Tradition verlassen: Die<br />

Kapelle ist aus Holz gebaut.<br />

Sie wird im Licht der Sonne<br />

Sumvitg<br />

Caplutta Sogn Benedetg<br />

dunkel werden. Schwarz im<br />

Süden, silbergrau im Norden,<br />

wie die alten Bauernhäuser.<br />

Das traditionelle<br />

Baumaterial der Bevölkerung<br />

ist in Sogn Benedetg<br />

auch das Baumaterial der<br />

Kirche. Die einheimische<br />

Tradition des Bauens mit<br />

Holz und die Fähigkeit der<br />

Leute, mit diesem Werkstoff<br />

umzugehen, sind im neuen<br />

Bauwerk präsent.<br />

Verwandschaften<br />

Zumthor hat in der Klosterkirche<br />

von Disentis auf dem<br />

Deckengemälde eine Himmelsleiter<br />

und einen kleinen<br />

hölzernen Glockenträger<br />

auf einem Bauernhaus entdeckt.<br />

Diese Darstellungen<br />

haben ihn bei der Entwicklung<br />

des Glockenturms inspiriert.<br />

Ein leiternartiges<br />

Stabwerk aus Holz, das sich<br />

beim Näherkommen auf<br />

dem Kirchweg vom Hintergrund<br />

löst und in den Himmel<br />

zu ragen beginnt. Erinnerungen<br />

dieser Art, in denen<br />

Bilder von erlebten und<br />

neu gedachten architektonischen<br />

Formen sich verbinden,<br />

sind für Zumthor<br />

Grundlagen des Entwerfens.<br />

Die Kapelle von Sogn Benedetg<br />

wurde erdacht, um diese<br />

besondere Ausstrahlung<br />

zu haben: Die Präsenz eines<br />

zeitgenössischen architektonischen<br />

Objektes, das<br />

noch nie so gebaut wurde,<br />

dessen Wurzeln aber doch<br />

so tief in die Geschichte der<br />

Bauformen zurückreichen,<br />

dass das neue Objekt in all<br />

seiner Fremdheit Erinnerungen<br />

weckt, die Zumthor<br />

wertvoller erscheinen als jedes<br />

direkte Zitat einer alten<br />

Form.<br />

Form und Bewegung<br />

Die Kapelle ist ein einräumiges<br />

Gebäude. Ihre Außenform<br />

und ihre Innenform<br />

entsprechen sich. Diese<br />

Entsprechung ist zugleich<br />

einfach und komplex. Die<br />

87


Sumvitg<br />

Caplutta Sogn Benedetg<br />

88<br />

schlanke äußere Erscheinung<br />

des Baukörpers, der<br />

sich auf einem blatt- oder<br />

tropfenförmigen Grundriss<br />

erhebt - geometrisch betrachtet<br />

beruht die Grundform<br />

der Kapelle auf einer<br />

Lemniskate, einer algebraischen<br />

Kurve vierter Ordnung<br />

(Hälfte einer liegenden<br />

Acht), die in proportionalen<br />

Verkürzungen auch den<br />

Längsschnitt und den Querschnitt<br />

der Kapelle bestimmt,<br />

birgt überraschenderweise<br />

keinen ebenso<br />

schlanken, sondern einen<br />

ausgerundeten und in sich<br />

konzentrierten Innenraum.<br />

Dieser Innenraum erinnert<br />

an ältere kirchliche Zentralbauten<br />

der Region, wie die<br />

Kapellen von Disla oder Vattiz,<br />

wirkt wegen seiner biomorphen<br />

Blattform jedoch<br />

weicher und fließender.<br />

Wenn es stimmt, dass Räume,<br />

die rechtwinklig mit dominierenden<br />

und sich kreuzenden<br />

Bauachsen geordnet<br />

sind, etwas Beherrschendes,<br />

„Männliches“<br />

ausstrahlen können, dann<br />

ist die Form dieser Kapelle<br />

eine bergende, weibliche -<br />

eine „forma materna», die<br />

das Bild der Mutter Kirche<br />

anklingen lässt und die Stimmung<br />

der klassischen, belehrenden<br />

Kirche vermeidet.<br />

Und diese bergende Raumform<br />

ist in Bewegung. Sie<br />

entsteht durch die Ausrichtung<br />

des blattförmigen<br />

Grundrisses von Westen<br />

nach Osten und wird spürbar<br />

in der nach vorne drängenden<br />

Rundung des Chorbezirks.<br />

Sie erfasst den<br />

Raum jedoch nicht in der Art<br />

eines perspektivischen<br />

Sogs. Der Raum bleibt auf<br />

seine schwerpunktartige<br />

Mitte bezogen.<br />

Einkehr und Sammlung<br />

Der Eingang hat als Vorraum<br />

eine konische Form.<br />

Er gibt den Einblick frei in die<br />

Kapelle, indem er sich in dieser<br />

Richtung trichterförmig<br />

ausweitet. Ein Vordergrund<br />

aus vier Stützen des Tragwerkes,<br />

verwandelt diesen<br />

Einblick in einen Durchblick.<br />

Danach betritt man den Kapellenraum,<br />

gegenüber dem<br />

Vorraum um eine Stufe erhöht,<br />

verlässt den festen<br />

Grund und steigt in den hölzernen<br />

Körper. Man muss<br />

sich allerdings noch nach<br />

der innewohnenden Ordnung<br />

ausrichten, weil der<br />

Eingang asymmetrisch angeordnet<br />

ist und nicht die<br />

Richtung auf den Altar aufnimmt.<br />

Ein kurzer Wegabschnitt<br />

wird zu einem Erlebnis.<br />

Der leicht gewölbte Bretterboden<br />

im Innern, der frei<br />

im Gerippe der Balken liegt,<br />

gibt federnd nach unter der<br />

Last des Trittes. 37 freistehende<br />

Holzstützen umgeben<br />

die Blattform des Bodens<br />

und markieren den<br />

Raum. Sie tragen das Dach,<br />

ein Stabwerk aus Holz, das<br />

geformt ist nach dem Bild<br />

der Adern und Nerven eines<br />

Baumblattes oder der Spanten<br />

im Innern eines Bootskörpers.<br />

Hinter den Stützen<br />

verläuft die Rundung einer<br />

silbernen Wand, die als abstraktes<br />

Panorama aus<br />

Licht und Schatten gebaut<br />

und bemalt ist. Vor dem Hintergrund<br />

dieses Panoramas<br />

erscheint die Einheit von<br />

Dach und Stützen als grosser<br />

Baldachin. Ein Kranz<br />

von feinen Lamellen vor den<br />

Fenstern modelliert das von<br />

oben unter den Baldachin<br />

einfallende Licht. Die Wand<br />

hat eine doppelte Aufgabe<br />

zu erfüllen, die Umgebung<br />

so gut wie möglich auszublenden<br />

und gleichzeitig<br />

doch spürbar zu belassen.<br />

Diesem Widerspruch will die<br />

Lichtführung durch den<br />

Fensterkranz und die Silberschicht<br />

der Wand gerecht<br />

werden.<br />

Die Farbgebung wurde zusammen<br />

mit dem Kunstmaler<br />

Jean Pfaff, Matzendorf/<br />

Ventalló, konzipiert und<br />

durch Gieri Schmed, Trun,<br />

ausgeführt. Auf farbliche<br />

Abtönungen konnte verzichtet<br />

werden, denn auf dem<br />

Lascaux-Silbergrau auf<br />

mehrschichtigem Kreidegrund<br />

spielen die vielfältigsten<br />

Farbreflexe des Rau-


mes. Nur die Rückseiten der<br />

Tragstützen wurden weiß<br />

gestrichen, um den harten<br />

Schattenwurf zu dämpfen.<br />

Man fühlt sich geborgen, in<br />

sich ruhend in dieser Schale.<br />

Die architektonische<br />

Form und die Struktur des<br />

Innenraumes wird zum Träger<br />

symbolischer Botschaften,<br />

geschichtlicher Zitate<br />

oder autobiografischer Be-<br />

Sumvitg<br />

Caplutta Sogn Benedetg<br />

findlichkeiten. Erinnerungen<br />

an die Jugend tauchen auf.<br />

Zumthor versteht Architektur<br />

als eine Beschwörung alter<br />

verlorengegangener Stimmungen<br />

und Gefühle. Architektur<br />

ist dem Leben ausgesetzt.<br />

Für Zumthor hat die<br />

gebaute Architektur ihren<br />

Ort in der konkreten Welt.<br />

Dort spricht sie für sich. Die<br />

Kapelle besitzt die Fähigkeit,<br />

Gefühle und Verstand auf<br />

vielfältige Weise anzusprechen.<br />

Sie wirkt daher in sich<br />

ruhend und scheint im Boden<br />

verankert, verwachsen<br />

zu sein.<br />

Der Leitspruch von Bruno<br />

Taut trifft auf dieses Gebäude<br />

zu:„ Wir müssen ständig<br />

den Weg suchen, bei dem<br />

die Wahrheit nicht leidet und<br />

das Gefühl nicht hungert.“<br />

89


Vella<br />

Schulanlage<br />

90<br />

Schulanlage<br />

Standort: Vella<br />

Baujahr: 1994-97<br />

Bauherr: Politische Gemeinde Vella,<br />

Lugnez/GR, Oberstufen- Schulverband<br />

Architekt: Valentin Bearth, Andrea Deplazes, Chur,<br />

Daniel Ladner, Chur<br />

Ingenieur: Blumenthal & Casanova, Ilanz,<br />

Cavigelli & Partner, Ilanz,<br />

Andrea Gustav Rüedi, Chur, (Energiekonzept)<br />

Literatur: Architektur- Aktuell, Nr. 233/234, 1999,<br />

Baudoc-Bulletin, Jg. 26, Nr. 11, 1997,<br />

Bauwelt, Jg. 89, Nr. 15, 1998,<br />

db-deutsche-bauzeitung, Jg. 133, Nr. 5, 1999,<br />

Haus-Tech, Jg. 11, Nr. 11, 1998,<br />

Hochparterre, Jg. 11, Nr. 9, 1998,<br />

Räumlinge, Luzern: Quart Verlag, 1999,<br />

Werk, Bauen + Wohnen, 85 / 1 / 2 1998<br />

Vella ist eines der baulich<br />

weitgehend intakten Dörfer<br />

im Lugnez. Es liegt auf einem<br />

stark besonnten Plateau,<br />

das steil abfällt hinunter<br />

zum Valserrhein, der<br />

nach Ilanz fließt. Am unteren<br />

Rand der Siedlung mit ihren<br />

massigen Bürger- und Bauernhäusern<br />

stehen in einer<br />

geraden Linie das alte, in<br />

den 50er Jahren errichtete<br />

Schulhaus und eine Turnhalle.<br />

Quer dazu erweitern<br />

nun das neue Oberstufenschulhaus<br />

und die Mehrzweckhalle<br />

die bestehenden<br />

Gebäude. Wo es zuvor ausfranste,<br />

ist eine Gesamtanlage<br />

enstanden, hat das<br />

Dorf einen Rand bekommen.<br />

Der Standort befindet<br />

sich am Rande des heutigen<br />

Dorfes, jedoch in der Umgebung<br />

des historischen<br />

Kerns mit seinen stattlichen<br />

Bürgerhäusern, aus denen<br />

man die damalige Weltoffenheit<br />

der Lugnezer Talschaft<br />

ablesen kann. Die erweiterte<br />

Schulanlage soll<br />

gleichzeitig als neues Ortszentrum<br />

dienen, das dank<br />

seiner Infrastrukturen auch<br />

größere kulturelle Anlässe -<br />

zum Beispiel das traditionelle<br />

Sänger- und Chorfest -<br />

übernehmen kann und damit<br />

regionale Bedeutung für<br />

die Talschaft Lugnez erhält.<br />

Das bestehende Primarschulgebäude<br />

samt Aula<br />

stammt aus den fünfziger<br />

Jahren und war renovie-<br />

rungsbedürftig. Für die<br />

Schulhauserweiterung und<br />

Sanierung der Altbauten<br />

hatte die Gemeinde unter<br />

zwölf Architekten einen<br />

Wettbewerb veranstaltet,<br />

den Bearth/Deplazes/Ladner<br />

1994 gewannen.<br />

Die Erweiterung ergänzt die<br />

fragmentarisch wirkend bestehende<br />

Anlage zu einem<br />

neuen Ganzen, so dass zwischen<br />

Alt- und Neubauten<br />

ein Pausen- und Sportplatz<br />

entsteht. Es handelt sich dabei<br />

weniger um einen „urbanen“<br />

Platz, sondern um eine<br />

zwischen die Gebäude eingespannte,<br />

sehr verschieden<br />

nutzbare große Fläche.<br />

Der Eingangsbereich als<br />

Bindeglied der beiden neuen<br />

Baukörper ist direkt von<br />

dieser Fläche aus zugänglich.<br />

Durch die Verteilung<br />

des Programms auf verschiedene<br />

Bauten konnten<br />

die Volumina im Dorf untergeordnet<br />

werden. Der nach<br />

Süden geneigte Hang wird<br />

zur Ausbildung einer Split-<br />

Level-Lösung genutzt; mit<br />

dreigeschossigem Klassenzimmertrakt<br />

talwärts und<br />

der leicht in den Hang eingesenkten<br />

Mehrzweckhalle<br />

mit darunterliegender Zivilschutzanlage<br />

bergwärts.<br />

Dank günstiger Orientierung<br />

und offener, unverbaubarer<br />

Hanglage kann passive<br />

Sonnenenergie ideal genutzt<br />

werden. Das Konzept


für die Neubauten stützt sich<br />

dementsprechend auf diese<br />

Möglichkeit, jedoch nicht,<br />

indem ein komplizierter<br />

technologischer Apparat mit<br />

aufwendigen Detaillösungen<br />

installiert würde, sondern<br />

gerade im Gegenteil,<br />

indem nämlich verschiedene<br />

Parameter möglichst<br />

weitgehend integriert und<br />

die Lösungen vereinfacht<br />

werden. Das Resultat ist<br />

eine zwar schlicht wirkende,<br />

in sich aber hochkomplexe<br />

Architektur.<br />

Masse und Umhüllung<br />

Ausdrücklicher Wunsch der<br />

Bauherren war, dass die<br />

sonnenverwöhnte Lage zu<br />

nutzen sei. Man dachte an<br />

Sonnenkollektoren. Doch<br />

den Projektierenden schien<br />

das Nächstliegende nicht<br />

unbedingt das Beste zu<br />

sein. So entstand das Konzept,<br />

Sonnenwärme passiv<br />

zu nutzen. Durch ein ausgeklügeltes<br />

System baulicher<br />

und haustechnischer Vorkehrungen<br />

konnte der sonst<br />

übliche Heizenergieverbrauch<br />

auf ein Fünftel gedrosselt<br />

werden.<br />

Für die optimale Nutzung<br />

der Passiv-Solarenergie<br />

sind einerseits eine sehr<br />

gute äußere Wärmedämmung<br />

(12cm Steinwolleplatten<br />

ockerfarbig verputzt),<br />

andererseits möglichst<br />

viel nicht verkleidete<br />

Masse im Innern erforderlich.<br />

Masse und Umhüllung<br />

- Außendämmung auf Beton,<br />

Verputzschicht als<br />

Membran - sind die Themen<br />

des Baus und leiten, neben<br />

den funktionalen Anforderungen,<br />

die Motive der Details.<br />

Der Niedrigenergie-<br />

Spezialist Andrea Rüedi<br />

schrieb den Architekten und<br />

Handwerkern ins Pflichtenheft:<br />

“Zwischen Warm und<br />

Kalt dürfen keine Bauteile<br />

außer Dämmstoffe verbaut<br />

werden.“ Die Tragstruktur<br />

wird als massive Schale mit<br />

versteifendem Gerippe<br />

behandelt, entsprechend<br />

Vella<br />

Schulanlage<br />

sind alle Fenster und Türen<br />

im Innern wie Intarsien flächenbündig<br />

im Beton eingelassen,<br />

um die Wanddicken<br />

möglichst nicht zur Erscheinung<br />

zu bringen. Außen<br />

hingegen entwickelt der<br />

Bau eine verhaltene Plastizität.<br />

Die Putzschicht wird<br />

dank der schräg eingezogenen<br />

Leibungen und Stürze<br />

in die Fensterebene - Fenster<br />

mit außen minimal sichtbaren<br />

Rahmen - überführt.<br />

Putz- und Glasflächen bilden<br />

zusammen eine wellenförmig<br />

bewegte Haut.<br />

Selbstverständlich beeinflussten<br />

regionaltypische<br />

Variationen von verputzten<br />

Strickbauten und die Formen<br />

massiver Bündner<br />

Wohnhäuser die Architektur<br />

der Schulhauserweiterung<br />

in Vella. Gemeint sind dabei<br />

außer „formalen“ vor allem<br />

„praktische“ Aspekte, ist<br />

doch in der traditionellen<br />

Bauweise ein großer Erfahrungsschatz<br />

im Umgang mit<br />

und bezüglich der Anpassung<br />

an die lokalen klimatischen<br />

Gegebenheiten abgelagert.<br />

Tatsächlich entwikkelten<br />

sich bei der Schulhauserweiterung<br />

die Formen<br />

aus den praktischen<br />

Parametern heraus. Käme<br />

es nur auf den Energiegewinn<br />

an, müssten die Südfenster<br />

mit der Fassade<br />

bündig sein. Die Abschrägung<br />

der weißgestrichenen<br />

Brüstungen lässt so weniger<br />

Schatten auf die Scheiben<br />

fallen und deshalb bleiben<br />

die Sonnenenergieverluste<br />

im Winter klein. Beispielhaft<br />

sind auch die Beton-Rippendecken.<br />

Beton-Rippendecken<br />

Alle tektonischen Elemente<br />

des Neubaus sind im Interesse<br />

guter Speicherwirkung<br />

massiv: die Wände aus<br />

Sichtbeton mit Großtafelstruktur,<br />

die Decken als Betonrippen,<br />

die Böden aus<br />

grünen Valser Quarzit-Platten,<br />

auch in den Schulzimmern<br />

(ein günstiger Restposten<br />

aus Zumthors Therme<br />

im Nachbartal). Insbesondere<br />

die Betonrippendecken<br />

sind für die Speicherung der<br />

Passivenergie wichtig; ihr<br />

Querschnitt ergibt sich in<br />

Funktion des optimalen<br />

Speichervermögens, wobei<br />

91


Vella<br />

Schulanlage<br />

92<br />

von einer Eindringtiefe von<br />

10 cm ausgegangen wurde,<br />

sowie der optimalen statischen<br />

Bemessung bei<br />

Spannweiten zwischen sieben<br />

und acht Metern (Klassenzimmerbreite).<br />

Das<br />

Sonnenlicht wird im Winter<br />

über innenliegende, umgedrehte<br />

Rafflamellen-Stores<br />

zur Rippendecke reflektiert,<br />

wobei die trichterförmigen<br />

Einzüge von Sturz und Leibung<br />

der Fenster Einstrahldauer<br />

und -wirkung stark<br />

verbessern. Die Lamellenstores<br />

dienen gleichzeitig als<br />

Blendschutz, und die Raumausleuchtung<br />

profitiert von<br />

der Deckenreflexion. Für die<br />

Beschattung im Sommer<br />

kommen die außenliegenden<br />

Stoffstores zum Einsatz.<br />

Die Lehrer hätten ein anderes<br />

System vorgezogen, das<br />

den Blick nach draußen<br />

nicht verwehrt, weil sogar im<br />

Winter die Sonne oft soviel<br />

„Kraft“ hat, dass die Außenstores<br />

unten bleiben müssen.<br />

Die Rippendecke ist unschwer<br />

als Vergrößerung<br />

der Deckenoberfläche zu<br />

verstehen, was ihr neben<br />

einem Mehrangebot an<br />

Speicherfläche zusätzliche<br />

Qualitäten verleiht. So mussten<br />

keinerlei weitere Massnahmen<br />

zur Verbesserung<br />

der akustischen Verhältnisse<br />

in den Klassenzimmern<br />

vorgesehen werden, die<br />

Rippendecke verhindert<br />

Flatterechos und Nachhall.<br />

Die Rippen bilden einen optimalen<br />

Blendschutz, weshalb<br />

die Beleuchtung mit<br />

einfachsten, zwischen die<br />

Rippen montierten Neon-<br />

Sparleuchten ohne Blendraster,<br />

auskommt. Zudem sind<br />

die Leuchtkörper in der Dekkenstruktur<br />

eingelassen und<br />

hängen nicht im Raum, was<br />

der Decke eine gelassene<br />

Wirkung verleiht, trotz ihres<br />

stark modulierten Querschnitts.<br />

Letzterer wiederum<br />

setzt einen rhythmischen<br />

Kontrast zu den harten, glatten<br />

Flächen von Wänden,<br />

Böden und Einbauten.<br />

Als Konsequenz dieses<br />

Konzeptes von ineinander<br />

greifenden, spezifischen<br />

Ausbildungen von Decken,<br />

Wänden, Böden, Fenstern<br />

usw. konnte auf eine Heizungsinstallation<br />

verzichtet<br />

werden. Zur Nachführung<br />

von Frischluft wird im Winter<br />

eine Quell-Lüftung zugeschaltet;<br />

die Speicherwärme<br />

wird mittels der langsam vorbeiströmenden<br />

Luft im Gebäude<br />

verteilt und mittels eines<br />

Wärmetauschers der<br />

neuen Frischluft (über Düsen<br />

im oberen Teil der Wände)<br />

zugeführt. Im Sommer<br />

kann umgekehrt die Nachtkühle<br />

im Gebäude<br />

eingespeichert werden. Ein<br />

solches Konzept der Speicherung<br />

ohne Heizsystem<br />

wurde in dieser Form für ein<br />

öffentliches Gebäude bisher<br />

noch nicht angewandt.<br />

Die Wände der Turnhalle<br />

sind ganz mit Holz verkleidet<br />

und die Decke besteht aus<br />

einer feingliedrigen Sparrenkonstruktion<br />

mit dazwischen<br />

liegenden durchhängenden<br />

Deckenfeldern. Diese dienen<br />

technisch nur der Akustik.<br />

Das Dach wird hingegen<br />

durch die darüberliegenden<br />

Holzplatten gebildet,<br />

die zusammen mit zwei<br />

Zugstangen einen unterspannten<br />

Träger bilden.<br />

Doch die Decke ist nicht das<br />

Dach. Und die Balkenkonstruktion<br />

vermag die tragenden<br />

und deckenden Funktionen<br />

viel „wirklicher“ zu<br />

vermitteln als das Dach.<br />

Verzicht als Strategie<br />

Dass es aus ökologischen<br />

Gründen heute angezeigt<br />

und möglich ist, wärmetechnisch<br />

und damit energiemässig<br />

optimiert zu bauen,<br />

ist ein Gemeinplatz. Wie<br />

dies umgesetzt wird, ist allerdings<br />

überhaupt nicht<br />

ausgemacht. Das Schulhaus<br />

in Vella beschreitet<br />

diesbezüglich einen besonders<br />

interessanten Weg: Es<br />

geht hier nicht darum, mittels<br />

aufwendiger Technologie<br />

möglichst niedrige Verbrauchswerte<br />

zu erzielen,<br />

sondern gerade darum, alles<br />

nicht unbedingt notwendige<br />

Technische wegzulassen<br />

und das, was an


architektonischem Material<br />

ohnehin vorhanden ist<br />

(eben: Tragstruktur, Wände,<br />

Decken, Böden, Fenster<br />

usw.), optimal zu nutzen. Es<br />

ist dies mit anderen Worten<br />

weder eine Strategie des<br />

Verdeckens und Verstekkens<br />

ungeliebter technischer<br />

Installationen (einzige<br />

Ausnahme sind die<br />

Lüftungsinstallationen) im<br />

Namen einer unverstellten<br />

ästhetischen Wirkung von<br />

Materialien und Oberflächen,<br />

noch eine Strategie,<br />

die die Materialien und<br />

Oberflächen im Namen einer<br />

akkuraten Sinnlichkeitserfahrung<br />

als „isolierte Kostbarkeiten“<br />

behandeln wür-<br />

Vella<br />

Schulanlage<br />

den. Entscheidend ist vielmehr,<br />

dass unverstellte Materialien,<br />

rohe Oberflächen,<br />

speziell plastisch ausgebildete<br />

Elemente - Rippendecke,<br />

Außenhaut - in<br />

ihrem komplexen Zusammenspiel<br />

(und damit der gesamte<br />

Entwurf) einen Sinn<br />

bekommen. Das sollte das<br />

Ziel einer jeden architektonischen<br />

Arbeit sein.<br />

93


Vrin<br />

Strickbauten<br />

94<br />

Strickbauten<br />

Standort: Vrin<br />

Architekt: Gion Caminada, Vrin<br />

Ingenieur: u.a. Jürg Conzett, Chur<br />

Literatur: archithese, Nr. 5, 1995,<br />

db-deutsche Bauzeitung, 7+10, 1998,<br />

DBZ-Deutsche Bauzeitschrift, Jg. 44, Nr. 34, 1996,<br />

Deutsches Architektenblatt, 32, 1, 2000,<br />

Mikado, Nr. 1, 2001<br />

Neues Bauen in den Alpen 1999<br />

Vrin, eine kleine Gemeinde<br />

im Graubündner Val Lumnezia,<br />

wie das Lugnezer Tal auf<br />

rätoromanisch heißt, hat<br />

ihre über Jahrhunderte gewachsene<br />

Dorfstruktur bewahrt.<br />

Holz prägt das Ortsbild<br />

in vielen Variationen und<br />

liebevollen Details, bei den<br />

alten Bauernhäusern ebenso<br />

wie bei den Neubauten.<br />

Mit behutsamer Anpassung<br />

an zeitgemäße Anforderungen<br />

wird die vorhandene<br />

Bausubstanz erhalten und<br />

die zurückhaltend moderne<br />

Architektur führt die traditionellen<br />

Holzbauweisen weiter.<br />

Wettergegerbte Holzhäuser,<br />

deren Dächer sich fast berühren,<br />

schmale Wege, Gemüsegärten,<br />

Misthaufen,<br />

Blumenbeete, Brunnentröge.<br />

Vrin, weltabgeschieden<br />

am Talschluss auf 1400 m<br />

gelegen, wirkt wie ein Dorf<br />

aus einer anderen Zeit.<br />

Doch der Ort mit seinen 280<br />

Einwohnern ist kein<br />

Freilichtmuseum, sondern<br />

vielmehr eine vitale Gemeinschaft,<br />

die mit einer Reihe<br />

von Initiativen an die eigenen<br />

Traditionen anknüpft<br />

und daraus Wege für die<br />

Zukunft entwickelt. Eines<br />

dieser Projekte ist die Erhaltung<br />

der gewachsenen<br />

Dorfstruktur und die Anpassung<br />

an die Bedürfnisse der<br />

heutigen Bergbauern-Land-<br />

wirtschaft. Seit vielen Jahren<br />

engagiert sich der Architekt<br />

Gion A. Caminada, der in<br />

Vrin lebt und arbeitet, dafür,<br />

die Bausubstanz zu bewahren<br />

und die Neubauten in<br />

das Dorfgefüge zu integrieren.<br />

Für die vorbildliche Ortsplanung<br />

wurde die Gemeinde<br />

1998 mit dem renommierten<br />

Wakker-Preis des<br />

Schweizer Heimatschutzes<br />

ausgezeichnet.<br />

Wesentliches Verdienst,<br />

dass dies erreicht wurde,<br />

haben ein Denkmalpfleger<br />

und ein Architekt: Der eine,<br />

von 1968 an zehn Jahre im<br />

Graubündner Denkmalamt<br />

für das Ortsbild mitverantwortlich,<br />

war Peter Zumthor.<br />

Erst danach als Architekt<br />

tätig, entwarf er 1983 ein<br />

multifunktionales Gebäude<br />

für eine moderne Bäckerei<br />

und das einzige Café im Ort.<br />

In der Tradition des steinernen<br />

Sockelgeschosses und<br />

darauf ruhender Holzkonstruktion<br />

steht das breit ausladende<br />

Gebäude giebelständig<br />

zur Straße. Vier Etagen<br />

hoch, beherbergt es im<br />

hofseitig ebenerdigen Souterrain<br />

die Backstube, darüber<br />

Laden und Café, in den<br />

beiden Obergeschossen die<br />

Wohnungen der Geschäftsinhaber.<br />

Damit war ein neuer<br />

Typus ins Dorf gezogen:<br />

das urbane Geschäftshaus.<br />

Zugleich dorffähig machte<br />

Zumthor den Baustoff Beton.<br />

Waren die Sockelgeschosse<br />

einst roh gemauert<br />

und verputzt, lässt das Neue<br />

Bauen in den Bergen den<br />

„gegossenen Stein“ sichtbar.<br />

Sauber verarbeitet<br />

bleibt der vom autochthonen<br />

Gneis lichtgraue Beton


so materialehrlich unverhüllt<br />

wie das seit je hier heimische<br />

Holz. Der Andere für<br />

das Ortsbild mitverantwortliche<br />

ist der Architekt Gion A.<br />

Caminada. Auch er verwendet<br />

beide Baustoffe.<br />

Zu den Wurzeln:<br />

Von Zürich nach Vrin<br />

Der Bauernsohn mit dem<br />

neben Casanova häufigsten<br />

Familiennamen am Ort war<br />

zu dem Zeitpunkt zurückgekehrt<br />

ins heimatliche Dorf,<br />

an dem die Bäckerei eröffnet<br />

wurde. Nach Lehr- und<br />

Wanderjahren, unter anderem<br />

als Möbel- und Bauschreiner<br />

sowie dem Studium<br />

von Architektur und<br />

Holzbau an der eidgenössischen<br />

Technischen Hochschule<br />

(ETH) in Zürich, eröffnet<br />

er ein eigenes Architekturbüro.<br />

Und baute von<br />

Anfang an ausschließlich<br />

mit lokal verfügbaren Materialien<br />

in den tradierten Techniken<br />

wie dem Strickbau: ein<br />

langbewährtes Verfahren,<br />

bis zu hauslange, rechteckig<br />

geschnittene und glatt gehobelte<br />

Stämme hochkant liegend<br />

aufeinander zu schichten<br />

und ineinander verschränkt<br />

über Eck zu verbinden,<br />

dass sie eine horizontal<br />

wie vertikal verwindungssteife<br />

Zelle bilden. Diese<br />

Zimmermannshäuser, materialgerecht,<br />

robust und<br />

bodenständig charmant,<br />

bestimmen das historische<br />

Ortsbild mit ihrem warmen<br />

Holzton, welcher, je länger<br />

vom intensiven ultravioletten<br />

Licht gebeizt, umso dunkler<br />

zwischen hellbraun bis<br />

schwarz changiert.<br />

Umbauten im Dorfkern<br />

Neben den Bauernhäusern<br />

bestimmen zahlreiche Ställe<br />

und Scheunen in traditioneller<br />

Holzbauweise das<br />

Ortsbild. Noch heute lebt die<br />

Hälfte der Einwohner Vrins<br />

von der Landwirtschaft, insbesondere<br />

von der Rinderund<br />

Ziegenhaltung. Da nicht<br />

alle Wirtschaftsgebäude den<br />

heutigen technischen Anfor-<br />

Vrin<br />

Strickbauten<br />

derungen entsprechen oder<br />

zu klein sind, wurden sie<br />

behutsam umgebaut oder<br />

erweitert. So wird versucht,<br />

die Bauern im Dorfkern zu<br />

halten und die Abwanderung<br />

und damit die Zersiedlung<br />

der Landschaft zu verhindern.<br />

Die erforderlichen<br />

größeren Ställe wurden als<br />

Gebäudegruppe unterhalb<br />

der Kirche am Ortsrand errichtet,<br />

gemeinsam mit einem<br />

Neubau für ein<br />

Schlachthaus.<br />

In Form und Konstruktion<br />

sind sie unschwer als moderne<br />

Gebäude zu erkennen.<br />

Sie sind eigenständige,<br />

neue Elemente im Dorfbild,<br />

wirken jedoch in ihren Proportionen<br />

und der Holzbauweise<br />

nicht als Fremdkörper.<br />

Ganz aus Holz gebaut sind<br />

die Ställe und ihre darüber<br />

lagernden Heuschober; die<br />

hölzernen Partien der<br />

Wohngebäude lagern auf<br />

steinernen Sockelgeschossen.<br />

Der dafür erforderliche<br />

Bruchstein ist hier äußerst<br />

selten und war daher kaum<br />

erschwinglich. Die nackten<br />

Balken außen, im Verbund<br />

mit der thermischen Haut<br />

aus Holzfaserplatten im Innern<br />

liefern hervorragende<br />

Dämmwerte. Doch sind damit<br />

die konstruktiven Möglichkeiten<br />

des Baumaterials<br />

Holz und seiner Derivate keineswegs<br />

ausgereizt. Ist<br />

beim Bauen im Bestand des<br />

historischen Ortskerns angezeigt,<br />

die tradierten Techniken,<br />

Dimensionen und<br />

Formen mimetisch aufzunehmen,<br />

bieten neue am<br />

95


Vrin<br />

Strickbauten<br />

96<br />

Ortsrand angesiedelte<br />

Strukturen und Funktionen<br />

größeren Spielraum für Experimente.<br />

Wurde früher<br />

das Heu auf der Wiese gedörrt<br />

und trocken in die<br />

Schober gebracht, die daher<br />

luftdurchlässige Gitterkonstruktionen<br />

waren, kommen<br />

die Futtervorräte heute<br />

bloß angetrocknet in die<br />

Scheuer, wo ihnen per Heizgebläse<br />

die Restfeuchte entzogen<br />

wird. Das erfordert<br />

einen winddichten Wandaufbau.<br />

Für die dazu neu zu<br />

errichtenden größeren Ställe<br />

und Scheunen hat Caminada<br />

den herkömmlichen<br />

Strickbau fortentwickelt und<br />

ein Modulsystem ersonnen.<br />

Der erforderliche Dämmwert<br />

wird dort erreicht durch die<br />

gewählte Dicke des Holzes.<br />

Mehrschichtige Konstruktionen<br />

fallen weg. Die rohe<br />

Konstruktion gibt dem Bau<br />

das Gesicht. Gerade beim<br />

Stallbau kommen die physikalischen<br />

Eigenschaften<br />

des Holzes besonders zum<br />

Tragen.<br />

Doch (nicht nur) für die traditionellen<br />

Weisen der Konservierung<br />

war es sinnvoll,<br />

die Lebensmittel in ganzjährigniedertemperaturkonstanten<br />

Räumen zu lagern.<br />

Also leisteten sich selbst die<br />

armen Bauern wenigstens<br />

steinerne Keller; einzig dem<br />

höchsten Herrn errichteten<br />

sie von 1598-1694 die barocke<br />

Kirche und den nach<br />

italienischer Manier freistehenden<br />

Campanile mit zweistöckigemGlockengeschoss<br />

ganz aus Stein.<br />

Den Bauern im Dorf<br />

lassen<br />

Vor dem Hintergrund des<br />

fragilen Existenzgrundes der<br />

alpinen Landwirtschaft, deren<br />

zeitgenössische Schwächephase<br />

Vrin mindestens<br />

zu entstellen drohte, ist<br />

Caminada einst angetreten<br />

unter dem Motto „Den Bauern<br />

im Dorf lassen“. Darum<br />

herum entwickelte er - nicht<br />

allein als Gemeinderat im-<br />

mer im Gespräch mit der<br />

Dorfgemeinschaft und der<br />

für sie zuständigen Administration<br />

in Kanton und Bund<br />

- eine „vrino-zentrische Architekturtheorie“.<br />

Sie beinhaltet<br />

Leitlinien, von denen<br />

einige, wie der konkurrenzlose<br />

Einsatz von Holz und<br />

Sichtbeton unumstößlich<br />

sind, andere mit fortschreitender<br />

Entwicklung indes<br />

hinterfragt werden und gegebenenfalls<br />

neuen Einsichten<br />

weichen müssen: So<br />

war es mit den Balkonen.<br />

Obwohl gedeckte Laubengänge<br />

und Freisitze seit<br />

Jahrhunderten zu den Requisiten<br />

des regionalen<br />

Wohnhauses gehören, vermittelte<br />

der einheimische<br />

Baumeister, bäuerliche Architektur<br />

bedürfe solch inszenatorischer<br />

Mittel nicht:<br />

Der Landmann ist der Landschaft<br />

bis zum Überdruss<br />

ausgesetzt, und genießt zurückgezogen<br />

in seiner dunklen<br />

Kammer ihre sichtbare<br />

Abwesenheit nachgerade<br />

als Kontrastprogramm. Aus<br />

eben diesem Grunde werde<br />

es in seinen Häusern auch<br />

keine panoramischen Fenster<br />

geben. Wenn auch die<br />

Altvorderen weniger der erdrückenden<br />

Natur wegen,<br />

sondern als Tribut an Heizprobleme<br />

und unerschwinglich<br />

teures Glas, nur<br />

schmale Lichtöffnungen in<br />

ihre schnitzwerkverzierten<br />

Blockhäuser schnitten.<br />

Um Zersiedlung zu verhindern,<br />

wurde die tradierte<br />

Hofeinheit (Haus, Stall, Garten)<br />

im Dorfinnern gefestigt.<br />

Neue Stallungen sollen innerhalb<br />

des Siedlungsgebietes<br />

oder am Dorfrand erstellt<br />

werden, bestehende<br />

Ställe dürfen nach Möglichkeit<br />

erweitert werden. Statt<br />

eine geplante Umfahrungsstraße<br />

im Weiler Cons zu<br />

realisieren, wurde so ein<br />

Stall bis 1,20 Meter an die<br />

Kantonsstraße herangerückt.<br />

Die Strasse soll<br />

nach wie vor die Lebensader<br />

bleiben: Spielplatz der<br />

Kinder, auch Tummelplatz


der Haustiere, und selbst die<br />

wenigen Automobile sind<br />

hier oben Idylle. Architektonisch<br />

betont festigt der Stallneubau<br />

die charakteristische<br />

Staffelung der Strassenstruktur.<br />

Die Analyse ergab,<br />

dass alte und kleine<br />

Ställe sich vorwiegend für<br />

die Kleinviehzucht und -haltung<br />

eignen, wie auch die<br />

topographischen Gegebenheiten<br />

die Förderung der<br />

Ziegenhaltung favorisieren.<br />

Ein entsprechendes Projekt<br />

bedingte für die Arbeit eines<br />

Architekten aber wiederum<br />

mehr als nur die Planung<br />

der neuen Stallungen, der<br />

Sennerei und der Hirtenunterkunft.<br />

Gion A. Caminada<br />

war von Beginn an involviert:<br />

von der eigentlichen Motivation<br />

zur Ziegenhaltung<br />

über die Arbeit an der Sanierung<br />

der CAE-Krankheit bis<br />

hin zum Marketing. Der ganze<br />

Werdegang prägte die<br />

architektonische Umsetzung<br />

nachhaltig, und zwar<br />

im Sinne einer ganzheitlichen<br />

Planung.<br />

Nicht das Bausystem ist<br />

der Stagnation unterworfen<br />

Holz wird in Vrin fast überall<br />

verwendet. Im Vordergrund<br />

steht also nicht eine<br />

grundsätzliche Diskussion<br />

zur Wahl des Materials, es<br />

geht um die Wiederentdekkung<br />

der grundlegenden<br />

Eigenschaften von Holz und<br />

den daraus resultierenden<br />

Einsatz. Holz ist nicht Trend,<br />

sondern banale Tradition,<br />

ein natürlicher Sachzwang.<br />

Bei der Verwendung ist es<br />

aber wichtig, dass man sich<br />

nicht auf ein bestimmtes<br />

Konstruktionssystem fixiert;<br />

die Kunst des Bauens nutzt<br />

gerade diesen Spielraum.<br />

So ist es beim traditionellen<br />

Strickbau von spezifischem<br />

Interesse, was mit dieser<br />

Bauweise noch möglich ist.<br />

Es hat sich gezeigt, dass es<br />

heikel ist, eine bauliche Entwicklung<br />

einfach als tot zu<br />

erklären. Denn nicht das<br />

Bausystem ist der Stagnation<br />

unterworfen, sondern<br />

dessen Verwendung.<br />

Holz für zeitgemäße Architektur<br />

Fichte ist das heimische<br />

Baumaterial, das sich im<br />

Vrin<br />

Strickbauten<br />

trockenen Gebirgsklima<br />

Vrins seit Jahrhunderten bewährt<br />

hat. Alle Gebäude,<br />

außer der Kirche und der<br />

Schule, sind aus Holz. Für<br />

die Bewohner ist Holz auch<br />

heute noch ein selbstverständliches<br />

und vertrautes<br />

Baumaterial, das zudem in<br />

ausreichender Menge vorhanden<br />

und relativ preiswert<br />

ist. Holz ist der dem Ort entsprechende<br />

Baustoff und<br />

Gion A. Caminada setzt die<br />

Holzbautradition in seinen<br />

Projekten für Vrin und die<br />

Nachbargemeinden mit modifizierten<br />

Konstruktionen<br />

fort: bei Ställen und Scheunen<br />

ebenso wie bei neuen<br />

Wohnhäusern und öffentlichen<br />

Bauten.<br />

Für die Wohnhäuser adaptiert<br />

Caminada die traditionelle<br />

Strickbauweise, bei der<br />

Kanthölzer, 12 x 20 cm, horizontal<br />

übereinander gelegt<br />

und an den Ecken überblattet<br />

werden. Wie bei den alten<br />

Häusern bleiben die<br />

massiven Holzwände außen<br />

sichtbar, innen werden jedoch<br />

Wärmedämmung und<br />

Bretterschalung vorgesetzt.<br />

Die Häuser sind in Grundriss<br />

und Raumhöhen modernen<br />

Wohnvorstellungen<br />

angepasst, ohne den Maßstab<br />

der umgebenden Bebauung<br />

zu sprengen. Die<br />

Hausfassaden sind weder<br />

gestrichen noch imprägniert.<br />

Dank der geringen<br />

Luftfeuchte trocknet das<br />

Holz immer wieder von<br />

selbst ab. Es wird über die<br />

Jahre verwittern und unter<br />

der Sonneneinstrahlung<br />

nachdunkeln. Bei den Wirtschaftsgebäuden<br />

hat Caminada<br />

den Strickbau zu einer<br />

rahmenähnlichen Systembauweise<br />

weiterentwickelt.<br />

Hier sind die sichtbaren Eckverbindungen<br />

und die senkrechte<br />

Verschalung der traditionellen<br />

Bauart mit einem<br />

zeitgemäßen, kostengünstigen<br />

Konstruktionssystem<br />

kombiniert. Statt einzelner<br />

Bohlen werden hölzerne<br />

Rahmen zusammengefügt,<br />

1,20 m hoch und bis zu 12<br />

m lang, und innenseitig mit<br />

Spanplatten zur Aussteifung<br />

beplankt. Für Caminada ist<br />

es von Interesse, zu zeigen,<br />

wie der Bau gemacht ist.<br />

Dabei geht es vorab um das<br />

Gleichgewicht zwischen<br />

97


Vrin<br />

Strickbauten<br />

98<br />

Konstruktion und Verkleidung.<br />

Die Konstruktion ist<br />

die eigentliche Realität, und<br />

darum muss der Ausdruck<br />

über das rein Bildnerische<br />

hinausgehen.<br />

Selbst das Telefonhäuschen<br />

kreiert er in Übereinstimmung<br />

mit dem spezifischen<br />

„Vrin-Feeling“, ohne einem<br />

heimattümelnden Baustil zu<br />

verfallen. Unbehandelte<br />

Bretter wurden, wechselseitig<br />

versetzt, Lage um Lage<br />

aufeinander genagelt. Für<br />

die individuelle Kabine anstelle<br />

einer Normzelle aus<br />

Glas wurde lange mit der<br />

Schweizer Telecom verhandelt.<br />

Mehrzweckhalle Vrin<br />

Die im Jahre 1963 erstellte<br />

Schulanlage steht an einer<br />

der empfindlichsten Stellen<br />

des Dorfes. Schule und Kirche<br />

dominieren das Dorfbild.<br />

Die Schulanlage wird<br />

nun durch eine parallel dazugeschobeneMehrzweckhalle,<br />

(Turn-, Versammlungs-<br />

und Festhalle) nach<br />

der Kirche zweitgrößtes<br />

Gebäude im Ort, erweitert.<br />

Diese Methode der baulichen<br />

Ergänzung entspricht<br />

dem tradierten An- und Weiterbauen<br />

innerhalb der bestehenden<br />

Dorfstruktur. Für<br />

diesen Gemeindesaal am<br />

Schulhaus galt es, große<br />

Spannweiten stützenfrei zu<br />

überbrücken. Zusammen<br />

mit dem Ingenieur Jürg<br />

Conzett aus Chur erfand<br />

Caminada eine neue Unterspannkonstruktion<br />

für das<br />

Dachtragwerk. Nicht die be-<br />

kannt schweren, verleimten<br />

Holzbinder sollten über den<br />

Köpfen der Nutzer verlaufen,<br />

sondern leichte, schwebende<br />

Bänder den Kräftefluss<br />

visualisieren.<br />

Gewählt wurde ein unterspanntes<br />

System, bei dem<br />

nur zwei Knotenpunkte - die<br />

Anschlüsse des Zugbandes<br />

- große Zugkräfte übertragen<br />

müssen. Die leicht gebauchte<br />

Anordnung des<br />

Zugbandes mit den dichten<br />

Ständern drückt die Binderstreben<br />

im Randbereich<br />

nach oben und reduziert<br />

dadurch die Biegemomente<br />

beträchtlich. Die Zugbänder<br />

bestehen aus je fünf Brettern<br />

von 24 mm Dicke, die<br />

sich problemlos in die gekrümmte<br />

Form biegen lassen.<br />

Hier wird das Holz als<br />

Bündel zugbeanspruchter<br />

Fasern eingesetzt, was<br />

durch die konstruktionsbedingteAufspaltung<br />

in einzelne Lamellen<br />

bei den Auflagerstellen augenfällig<br />

wird. An den fünf<br />

fächerförmig gespreizten<br />

Bohlenenden, die mittels<br />

Metallbändern und -stiften<br />

Zug und Last zwischen Horizontale<br />

und Vertikale vermitteln<br />

und übertragen, wird<br />

die Kraftübertragung optisch<br />

„einsichtig“. Aufgelagert<br />

auf senkrechten Holzpfeilern<br />

in der Außenflucht,<br />

die die Dachlasten aufnehmen,<br />

kragen die konkav gebogenen<br />

Bänder beidseitig<br />

ihrer zwölf Meter Spannweite<br />

noch um Armeslänge<br />

über den Auflagerpunkt aus.<br />

Um diese Funktionen sichtbar<br />

zu lassen, öffnet sich die<br />

Halle im Deckenbereich in<br />

einem über die äußere Fassade<br />

auskragenden Vitrinenfensterband<br />

auf der gesamten<br />

Gebäudelänge.<br />

Nach Süden gerichtet, wird<br />

von dorther und von einem<br />

Panoramafenster gen Westen<br />

das honigfarbene<br />

Leuchten des Innenraums<br />

inszeniert: Tannenholz an allen<br />

Seiten; allein das Sockelgeschoss<br />

ist in Sichtbeton


ausgeführt. Worin neben<br />

anderer Technik die Holzschnitzel-Feuerungsanlage<br />

für den gesamten Schulbereich<br />

und das benachbarte<br />

Gemeinde-, Rathaus untergebracht<br />

ist. Dieses ist eine<br />

überzeugende Intervention<br />

in bestehende Substanz.<br />

Einst ein Aschenputtel unter<br />

den Bauernhäusern, putzte<br />

es Caminada durch Abriss<br />

maroder Partien und zeitgenössische<br />

Interpretation der<br />

neu aufgeführten Haushälfte<br />

heraus zur Dorfschönheit.<br />

Schulhaus Duvin<br />

Das neue „Schulhaus“ bildet<br />

mit der Kirche, dem Friedhof<br />

und der alten Schule (Post<br />

und Kanzlei) das eigentliche<br />

Zentrum des Dorfes. Bei der<br />

Ausformung dieses Zentrums<br />

beschränkte man sich<br />

einzig auf die Baukörper<br />

und auf das kontroverse<br />

Spiel von engen und weiten<br />

Flächen. Die Bauten scheinen<br />

sich über Eck fast zu<br />

berühren. Fließende Übergänge<br />

verbinden Pausenplatz,<br />

Strasse und den öffentlichen<br />

Raum. Die vorgefundene<br />

Identität zu erhalten,<br />

war beim Entwurf das<br />

höchste Ziel.<br />

Der romanische Turm, das<br />

alte behäbige Schulgebäude<br />

und die Wohnhäuser mit<br />

Vrin<br />

Strickbauten<br />

den Ställen vermitteln Beständigkeit.<br />

Als Konstruktion,<br />

die dieser ruhenden<br />

Kraft standhält, fiel die<br />

Wahl auf die Strickbauweise.<br />

Die Gemeinde Duvin lieferte<br />

dazu das Lärchenholz.<br />

Die Lösung vereint traditionelleKonstruktionsmethoden<br />

und den Einsatz moderner<br />

technischer Mittel.<br />

Der Grundriss besteht auf<br />

allen drei Etagen aus zwei<br />

Räumen (Vorraum und<br />

Hauptraum). Die Geschosse<br />

sind durch einläufige<br />

Treppen verbunden. Das<br />

Gebäude ist auch im Innern<br />

aus Holz. Die Schulzimmer<br />

haben eher den Charakter<br />

großzügiger Stuben. Für<br />

stark beanspruchte Teile<br />

(Konstruktion, Fenster, Böden)<br />

wurde Lärchenholz<br />

verwendet, für Verkleidungen<br />

und Möbel Tannenholz<br />

Für einen Strickbau relativ<br />

ungewöhnlich sind die<br />

Spannweiten von acht bis<br />

neun Metern und die großen,<br />

nicht ausgesteiften<br />

Wandflächen. Deshalb wurde<br />

für die Decken ein Holz-<br />

Beton-Verbundsystem gewählt,<br />

das die Lasten vorwiegend<br />

in der Nähe der<br />

steifen Ecken auf die Wände<br />

abgibt und gleichzeitig<br />

genügend Masse für eine<br />

ausreichende Schalldämmung<br />

besitzt. Die untere,<br />

zugbeanspruchte Partie der<br />

Decke besteht aus einer<br />

„Strickdecke“: 14 cm dicke<br />

und 20 cm breite Kanthölzer,<br />

die mit Nut und Kamm<br />

untereinander verbunden<br />

sind. Darüber wurde eine<br />

ebenfalls 14 cm dicke Betonschicht<br />

gegossen. Für<br />

den Verbund wurden in jeden<br />

Balken vier Löcher gestemmt:<br />

zwei tiefere am<br />

Rand, zwei flachere in der<br />

Mitte. Der einfliessende Beton<br />

bildet an diesen Stellen<br />

Schubnocken, die für eine<br />

direkte Kraftübertragung<br />

zwischen den beiden Materialien<br />

sorgen. Über den großen<br />

Fenstern sind die Dekken<br />

mit Zugstangen an die<br />

darüberliegenden Brüstungen<br />

aufgehängt. Pro Wandfeld<br />

wurde nur eine einzige<br />

große Öffnung angeordnet.<br />

Damit ist jeder Wandteil zumindest<br />

einseitig über eine<br />

Eckverblattung gehalten<br />

99


Vrin<br />

Strickbauten<br />

100<br />

und ausgesteift.<br />

Für den Ingenieur stand hier<br />

die Betrachtung von „Grenzzuständen“<br />

im Vordergrund.<br />

Es ging also nicht darum,<br />

„wirkliche“ Spannungs- und<br />

Kräfteverhältnisse zu untersuchen<br />

- das wäre in jedem<br />

Fall illusorisch gewesen -,<br />

sondern „mögliche“ Wege<br />

der Lastableitung zu finden.<br />

Dies entspricht den Grundgedanken<br />

der Plastizitätstheorie.<br />

Eine vorindustrielle<br />

Technik - der Strickbau -<br />

zeigt unter der Anwendung<br />

moderner Ingenieurmethodik<br />

auf einmal ganz neue<br />

Qualitäten.<br />

Ewigkeitsfragen<br />

So weit man hier zurückdenken<br />

kann, ist es Sitte, die<br />

Toten drei Tage lang in der<br />

Stube aufzubahren, dem<br />

schönsten Raum des eigenen<br />

Hauses. Eine spezielle<br />

Kultur des Abschieds hat<br />

sich darum entwickelt, die<br />

inkompatibel zu den modernen<br />

Zeiten scheint. Neuere<br />

fordern deshalb eine Aussegnungshalle,<br />

da die überkommenenTrennungszeremonien<br />

die Leidensbereitschaft<br />

der Zeitgenossen<br />

übersteigen. Die Fraktion<br />

der Bewahrer, an ihrer Spitze<br />

der Architekt, mahnt, die<br />

herkömmliche Trauerkultur<br />

nicht besinnungslos aufzugeben.<br />

Ohne die innige Referenz,<br />

die ihnen in der täglichen<br />

Begegnung erwiesen<br />

werde, würden die Verstorbenen<br />

eher virtuell denn<br />

wirklich verabschiedet. Der<br />

Tod aber sei Teil des Lebens,<br />

und die Neigung, dies<br />

zu verdrängen, könne nur<br />

beitragen zur fortschreitenden<br />

Banalisierung des Lebens.<br />

Gion A. Caminada ist zuversichtlich,<br />

einen Mittelweg<br />

ebnen zu können. „In der<br />

Tradition ist die architektonische<br />

Lösung immer auch<br />

Ausdruck einer Haltung“,<br />

und er verweist auf die der<br />

Vorfahren: Ohnegleichen im<br />

weiteren Alpenraum, erwartet<br />

das Beinhaus neben<br />

der Kirche die Friedhofsbesucher<br />

mit einem unter dem<br />

Dach umlaufenden Fries.<br />

Dieser ist ein vierreihiges<br />

Memento mori menschlicher<br />

Totenschädel, die zur<br />

Erhöhung der Aura Verbli-<br />

chener blendendweiß gekalkt<br />

sind. Der Aufbahrungsraum<br />

hingegen soll ein Ort<br />

sein, „der Trost und Hoffnung<br />

vermittelt. Wo wir ohne<br />

Angst Abschied nehmen<br />

können von unseren Toten“.<br />

Es soll „ein alltäglicher Raum<br />

für die Lebenden sein. Und<br />

unter alltäglich verstehen die<br />

Vriner die Intimität einer warmen<br />

Stube mit Blick durch<br />

das Fenster auf das Treiben<br />

im Dorf. Das Material für die<br />

Totenstube ist gegeben; als<br />

Bindeglied zur steinernen<br />

Kirche: Holz.“<br />

Handwerkliche Erfahrung<br />

Die meisten Holzbauten<br />

werden vom ortsansässigen<br />

Zimmerei- und Schreinereibetrieb<br />

errichtet, der die angelieferten<br />

Balken abbindet<br />

und hobelt. Noch immer<br />

wird viel mit traditionellen<br />

Holzverbindungen gearbeitet.<br />

Wenn möglich wird das<br />

Holz aus der Umgebung<br />

verwendet. Plant ein Bauherr<br />

einen Neubau schon<br />

zwei bis drei Jahre im Voraus,<br />

wird gemeindeeigenes<br />

Holz geschlagen, das in der<br />

Zwischenzeit trocknen<br />

kann.<br />

Umfassende Konzepte<br />

für die Dorfentwicklung<br />

Doch nicht nur Holz wird vor<br />

Ort verarbeitet. Auch die<br />

landwirtschaftlichen Erzeugnisse<br />

werden selbst vermarktet,<br />

beispielsweise in<br />

der dorfeigenen Metzgerei.<br />

Die gewachsenen Strukturen<br />

als Grundlage für künftige<br />

Dorfentwicklung sind<br />

das Ziel weiterer, ineinander<br />

greifender Strategien. So<br />

sollen die Einwohner im Dorf<br />

arbeiten können, um nicht<br />

bis ins Tal pendeln zu müssen.<br />

Vrin ist mit der Futterproduktion<br />

für seine Viehbestände<br />

an Rindern, Schweinen,<br />

Ziegen und Schafen<br />

sowie mit der Viktualienversorgung<br />

für die eigene Bevölkerung<br />

weitgehend autark;<br />

man strebt danach,<br />

auch die Vermarktung in eigener<br />

Regie zu betreiben.<br />

Nach der Leitidee „ausgewogener<br />

Doppelnutzung“,<br />

die überregionale Arbeitstellung<br />

sowie darauf bezogenen<br />

Güteraustausch im Zeitalter<br />

der Globalisierung<br />

auch für die Alpenwirtschaft


als Überlebensmodell beschreibt,<br />

erschließt sich hiermit<br />

eine ergiebigere<br />

Wertschöpfung als in der<br />

bloßen Nutzung von Naturalien.<br />

Dem „Ausverkauf“ des Ortes<br />

als Wochenend-Domizil<br />

ist ein Riegel vorgeschoben:<br />

Grundstücke werden nur an<br />

diejenigen vergeben, die ih-<br />

Vrin<br />

Strickbauten<br />

ren Wohnsitz langjährig hier<br />

nehmen. Vrin ist keine konservierte,zurechtgezimmerte<br />

Bergbauernidylle für<br />

den Massentourismus. Die<br />

Gemeinde vermittelt das Bild<br />

eines intakten Dorflebens, in<br />

das der Tourismus in einer<br />

sanften Form - gedacht ist<br />

vor allem an Wanderer - integriert<br />

ist.<br />

Schlachthaus: Grundrisse, Schnitt, Ansichten<br />

101


Vals<br />

Felsentherm<br />

102<br />

Therme Vals<br />

Standort: Vals<br />

Baujahr: 1994-96<br />

Bauherr: Gemeinde Vals<br />

Architekt: Peter Zumthor, Haldenstein-Chur<br />

Ingenieur: Blumenthal + Buchli, Illanz/Haldenstein<br />

Literatur: Architektur & Technik, Nr. 4, 1998,<br />

Archithese Jg. 26, Nr. 5, 1996,<br />

Baudoc Bulletin, Nr. 11, 1997,<br />

Bauwelt, Jg. 88, Nr. 14, 1997,<br />

Drei Konzepte,<br />

Edition Architekturgalerie Luzern, 1997,<br />

Peter Zumthor, Häuser 1979 – 1997,<br />

Stein, Jg. 113, Nr. 8, 1997,<br />

Werk, Bauen + Wohnen, Nr. 7/8, 1997<br />

Im graubündnerischen<br />

Sport- und Feriendorf Vals<br />

ist keines dieser landläufig<br />

schrillen und lauten Erlebnisbäder<br />

entstanden, sondern<br />

ein einzigartiger Ort der<br />

Ruhe und Erholung. Der<br />

Schweizer Architekt Peter<br />

Zumthor setzt damit neue<br />

Maßstäbe für mutiges Bauen<br />

in der Alpenlandschaft,<br />

ebenso wie für das Bauen<br />

mit massivem Naturstein.<br />

Vals liegt weit hinten im „wilden“<br />

Valsertal, 20 Kilometer<br />

südlich des Bezirkshauptortes<br />

Illanz. Typisch<br />

für die etwa 1000 Einwohner<br />

zählende Bergsiedlung<br />

sind die mit handgespaltenen,<br />

roh zugerichteten<br />

Platten aus lokalem<br />

Gneis (Valser Quarzit) eingedeckten<br />

einfachen Häuser.<br />

Entscheidend zum hohen<br />

Bekanntheitsgrad des<br />

Dorfes trägt das hier gefasste<br />

und abgefüllte<br />

Mineralwasser bei, das sich<br />

in der Schweiz auf der Getränkekarte<br />

nahezu jeder<br />

Gaststätte aufgelistet findet.<br />

An diesen beiden lokalen<br />

Charakteristika - an Stein<br />

und an Wasser - orientiert<br />

sind auch die im Dezember<br />

1996 eröffnete erste Felsen-<br />

Therme der Schweiz, welche<br />

die Gemeinde Vals als<br />

Bauherrin durch Peter<br />

Zumthor mit Kosten von 26<br />

Millionen Franken hat erbauen<br />

lassen. Zumthor<br />

schuf in einem streng geometrischen,<br />

in mehrere Kuben<br />

gegliederten Bau eine<br />

einzigartige archaische<br />

Bade- und Therapielandschaft<br />

voll stiller Sinnlichkeit.<br />

Wichtigste Elemente bilden<br />

dabei ein durch raffinierte<br />

Deckenöffnungen bestrahltes<br />

Innenbad, eine mystisch<br />

anmutende, über einen<br />

schmalen Eingang erreichbare<br />

Felsengrotte, ein Feuer-<br />

und Eisbad, einen Trinkstein,<br />

einen Duschstein, drei<br />

Ruheräume und ein<br />

Klangstein. Hinzu kommen<br />

als weiteres Raumprogramm<br />

mehrere Seminarund<br />

Sitzungsräume.<br />

Historie<br />

30 Grad warm ist das Wasser<br />

der Quelle, die im gut<br />

1200 Meter über dem Meer<br />

gelegenen Talkessel von<br />

Vals aus der Ostflanke des<br />

Berges heraustritt. Bis in die<br />

sechziger Jahre unseres<br />

Jahrhunderts stand bei der<br />

Quelle vor dem Dorfe, das<br />

mit seinen aus Holzbalken<br />

gebauten und mit rohen<br />

Steinplatten bedeckten Bauernhäusern<br />

den schmalen<br />

Talgrund entlang des<br />

Valserrheines belegt, ein<br />

bescheidenes Kurhaus von<br />

1893. Es enthielt eine Anzahl<br />

schön eingerichteter<br />

Badezellen und Duschzimmer,<br />

berichtet ein Chronist.<br />

Etwa ab 1930 hatten die mit<br />

der Zeit immer seltener gewordenen<br />

Gäste des Kurhauses<br />

auch die Möglichkeit,<br />

im sich an der Luft rot<br />

verfärbenden Thermalwasser<br />

eines kleinen Schwimmbeckens<br />

im Freien zu baden.<br />

Um 1960, also noch vor der<br />

Welle des volkstümlichen<br />

rustikalen Alpenstils, der<br />

seither die meisten Neubauten<br />

für den Tourismus in den


Alpentälern stilistisch prägt,<br />

entstand die heute bestehende<br />

Thermalbadanlage.<br />

Obwohl einfach gebaut und<br />

mit vielen architektonischen<br />

und bautechnischen Mängeln<br />

behaftet, wirkt sie erfreulich<br />

direkt und lässt sogar<br />

einen schwachen Abglanz<br />

der hierzulande lange<br />

schon verlorenen Leichtigkeit<br />

des Bauens der fünfziger<br />

Jahre erkennen.<br />

Das neue Thermalbad, das<br />

die bereits obsolet gewordenen<br />

und zudem zu kleinen<br />

Badeanlagen der sechziger<br />

Jahre seit Ende 1996 ersetzt,<br />

wurde in der Südwestecke<br />

des bestehenden Hotelareals<br />

als eigenständiges<br />

Bauwerk in den Hang gebaut.<br />

Man erreicht den neuen<br />

Solitärbau - einen großen,<br />

grasüberwachsenen,<br />

tief in die Hangkante eingelassenen<br />

und mit der Flanke<br />

des Berges verzahnten<br />

Steinkörper - über einen<br />

unterirdischen Verbindungsgang<br />

vom bestehenden<br />

Hotel her und betritt<br />

eine Architektur, die sich der<br />

formalen Eingliederung in<br />

den heutigen Baubestand<br />

entzieht, um tiefer zu fassen<br />

und um anklingen zu lassen,<br />

was im Zusammenhang mit<br />

der Bauaufgabe wesentlicher<br />

schien: das neue Thermalbad<br />

in ein besonderes<br />

Verhältnis zur ursprünglichen<br />

Kraft und geologischen<br />

Substanz der Berglandschaft<br />

und zum eindrücklichen<br />

Relief der Topographie<br />

zu setzen. Vor dem<br />

Hintergrund dieses Anspruchs<br />

gefällt Zumthor der<br />

Gedanke, das neue Bauwerk<br />

vermittle das Gefühl, es<br />

sei älter als seine bereits<br />

bestehenden Nachbarn, sei<br />

in dieser Landschaft schon<br />

immer dagewesen. Berg,<br />

Stein, Wasser - Bauen im<br />

Stein, Bauen mit Stein, in<br />

den Berg hineinbauen, aus<br />

dem Berg herausbauen, im<br />

Berg drinnen sein - wie lassen<br />

sich die Bedeutungen<br />

und die Sinnlichkeit, die in<br />

der Verbindung dieser Wörter<br />

stecken, architektonisch<br />

interpretieren und in Architektur<br />

umsetzen? Entlang<br />

diesen Fragestellungen<br />

wurde das Bauwerk entworfen,<br />

hat es Schritt für Schritt<br />

Gestalt angenommen.<br />

Vals<br />

Felsentherme<br />

Konzept<br />

Der Entwurfsprozess war<br />

dabei für Peter Zumthor immer<br />

wieder ein Prozess des<br />

spielerischen Entdeckens,<br />

des geduldigen und lustvollen<br />

Herausfindens jenseits<br />

von engen formalen Vorbildern.<br />

Das Gefühl für die<br />

mystischen Eigenschaften<br />

einer Welt aus Stein im Innern<br />

des Berges, für Dunkelheit<br />

und Helle, für Lichtreflexe<br />

auf dem Wasser und<br />

in dampfgesättigter Luft, für<br />

die verschiedenen Geräusche<br />

des Wassers in einer<br />

Umgebung aus Stein, für<br />

warme Steine und nackte<br />

Haut, für das Rituelle des<br />

Badens - die Freude, mit<br />

diesen Dingen zu arbeiten,<br />

sie bewusst einzusetzen,<br />

war von Anfang an da. Erst<br />

viel später, als der Entwurf<br />

schon fast fertig war, hat<br />

Zumthor die alten Bäder in<br />

Budapest, Istanbul und Bursa<br />

besucht und dann besser<br />

verstanden, woher diese<br />

Bilder vermutlich kommen,<br />

die wir offenbar alle irgendwie<br />

kennen, und auch,<br />

wie archaisch sie wohl sind.<br />

So ist das Bad denn auch<br />

kein Jahrmarkt der neuesten<br />

technischen Wasserspiele,<br />

der Düsen, Brausen<br />

und Rutschen geworden,<br />

sondern setzt auf die gleichsam<br />

stille, primäre Erfahrung<br />

des Badens, des Sichreinigens,<br />

des Sichentspannens<br />

im Wasser, auf den Kontakt<br />

des Körpers mit dem Wasser<br />

in verschiedenen Temperaturen<br />

und räumlichen<br />

Situationen, auf die Berührung<br />

von Stein.<br />

In der Art eines geometrischen<br />

Höhlensystems mäandriert<br />

ein kontinuierlicher<br />

Innenraum durch die Steinstruktur<br />

des Bades, die aus<br />

103


Vals<br />

Felsentherm<br />

104<br />

großen Blöcken besteht,<br />

entwickelt sich aus engen<br />

Kavernen auf der Bergseite<br />

in größer werdenden<br />

Dimensionen nach vorne<br />

ans Tageslicht. Hier, am vorderen<br />

Rand des Gebäudes,<br />

verändert sich die Wahrnehmung.<br />

Der Außenraum<br />

dringt in die großen Öffnungen<br />

des Gebäudes ein und<br />

verbindet sich mit dem Hohlsystem<br />

der Kavernen. Das<br />

Gebäude als Ganzes erscheint<br />

wie ein großer, poröser<br />

Stein. Präzise geschnitten<br />

dort, wo der „große<br />

Stein“ aus der Hangkante<br />

herausragt, wird die angeschnitteneKavernenstruktur<br />

zur Fassade.<br />

Eine Idee aus der Natur<br />

Und dieser Stein ist aus<br />

Stein gebaut. Eine durchgehende<br />

Schichtenfolge aus<br />

Natursteinen - Valser Gneisplatten.<br />

Die Therme Vals ist<br />

somit ein Beispiel dafür, wie<br />

auch heute noch - oder wieder<br />

- mit massivem Natursteinmauerwerk<br />

gebaut und<br />

gestaltet werden kann. Auf<br />

die Idee der Schichtung<br />

kam Peter Zumthor im weiter<br />

taleinwärts gelegenen<br />

Steinbruch. Dort liegt der<br />

Fels - ganz natürlich - in<br />

ähnlichem Gefüge offen zutage.<br />

In vielen Lagen aufeinander-geschichtet,abgebaut<br />

und rund 1000 Meter<br />

weiter vorne im selben Hang<br />

wieder eingebaut, bestimmt<br />

der Stein Schnitt und Aufriss<br />

der gesamten Struktur. Konstruktiv<br />

sind die Wände eine<br />

statisch wirksame Verbundkonstruktion<br />

aus geschichteten<br />

Steinplatten (10 und<br />

30 cm dick) und armiertem<br />

Beton, mittlerweilen von den<br />

Bauleuten als „Valser-Verbundmauerwerk“bezeichnet.<br />

Sie wurde in Anlehnung<br />

an ältere Stützmauern von<br />

Bergstraßen speziell für das<br />

Gebäude entwickelt.<br />

Zumthor wählte für seinen<br />

Bau drei verschiedene Plattendicken<br />

(31, 47 und 63<br />

mm), die er Schicht um<br />

Schicht in regelmäßiger Abfolge<br />

übereinanderlegen<br />

ließ.<br />

Valser Quarzit<br />

Der Valser Quarzit ist ein<br />

feinkörniger, geschieferter<br />

Glimmerquarzit mit grober<br />

Bänderung. Er besteht je<br />

nach Varietät aus grauen<br />

oder graugrünlichen, zum<br />

Teil augigen, glimmerreichen<br />

Lagen, abwechselnd<br />

mit hellgrauen bis weißen<br />

Quarzlagen. Hauptbestandteile<br />

sind Quarz (0,03-0,4<br />

mm), Kalifeldspat (0,3-0,6<br />

mm) und Hellglimmer (0,05-<br />

0,3 mm). Die Porenausbildung<br />

beschränkt sich auf<br />

Korngrenzen (keine Luftporenausbildung).<br />

Das Gestein<br />

wird lokal seit Jahrhunderten<br />

als Dachbelag,<br />

Mauerstein und Bodenbelag<br />

verwendet. Heute werden<br />

daraus hauptsächlich Fassadenplatten,<br />

Bodenbeläge<br />

und Treppenbeläge hergestellt.<br />

Der einzige Abbauort<br />

befindet sich am südlichen<br />

Dorfausgang von Vals auf<br />

der westlichen Talseite. Die<br />

Firma Truffer AG gewinnt<br />

dort mittels Sprengungen<br />

jährlich zirka 2000 m³ Valser<br />

Quarzit. Sämtliches Material<br />

wird im gleich nebenan liegenden<br />

modernen Werk<br />

verarbeitet.<br />

Präzision in Stein<br />

Die Behauptung sei gewagt:<br />

Noch nie wurde in der für<br />

Präzision bekannten<br />

Schweiz ein Naturstein-<br />

Mauerwerk mit einer solchen<br />

Genauigkeit errichtet<br />

wie dieses Bad in Vals.<br />

Selbst die engen Toleranzen<br />

der schweizerischen SIA-<br />

Mauerwerksnormen genügten<br />

dem Architekten bei weitem<br />

nicht. Für die gesägten<br />

Platten verlangte er vom Naturstein-Lieferanten<br />

eine<br />

Fertigungstoleranz von 1


mm - und dies bei Plattenlängen<br />

von bis zu 320 cm<br />

und Plattenbreiten zwischen<br />

10 und 30 cm. Ungewöhnliche<br />

Exaktheit, die manchem<br />

der beteiligten Handwerker<br />

wohl als Pingeligkeit erschienen<br />

haben mag, war<br />

auch von dem ausführenden<br />

Baunternehmen gefordert.<br />

Die lediglich 1,5 mm<br />

dicken Klebefugen zwischen<br />

den einzelnen Plattenschichten<br />

treffen in allen<br />

Gebäudeecken, ohne<br />

irgendwelche Versätze, millimetergenau<br />

aufeinander.<br />

60 000 Steinplatten<br />

Für das Mauerwerk benötigte<br />

man 60.000 Platten, insgesamt<br />

etwa 4000 t. Diese<br />

wurden im nur wenige hundert<br />

Meter entfernten Steinverarbeitungswerk<br />

der Firma<br />

Truffer AG auf modernstenMaschinenanlagen<br />

gefertigt. Das Werk war<br />

erst kurz vorher für mehrere<br />

Millionen Franken ausgebaut<br />

und modernisiert<br />

worden, so dass die Abwicklung<br />

des Großauftrages keinerlei<br />

besondere Probleme<br />

darstellte.<br />

Mit Valser Quarzit sind auch<br />

die Innenbeläge im Bad selber<br />

und in allen angegliederten<br />

Räumen ausgeführt. Die<br />

Beläge bestehen aus 2 cm<br />

dicken Platten in Längen bis<br />

320 cm und Breiten von<br />

8,33 und 110 cm, die im Klebeverfahren<br />

verlegt und<br />

ausgefugt wurden. Die<br />

Oberfläche ist je nach Benutzerbereich<br />

poliert, geschliffen<br />

oder geflammt.<br />

Normalerweise lassen sich<br />

Natursteinplatten in den genannten<br />

Längen nicht<br />

ohne sogenannte Schüsselungen<br />

(Aufbiegungen)<br />

verlegen. Vorhergehend<br />

durchgeführte Versuche<br />

haben aber gezeigt, dass<br />

dies mit dem Valser Quarzit<br />

durchaus möglich ist. Neben<br />

geschichtetem Naturstein<br />

finden sich im Innern<br />

auch verschiedene massiv<br />

gearbeitete Elemente in<br />

Form von bis zu einem Kubikmeter<br />

großen, lose<br />

aufeinandergelegten Blökken.<br />

Details<br />

Architektonisch betrachtet,<br />

erzeugt die einheitliche<br />

Vals<br />

Felsentherme<br />

Steinschichtung einen in fast<br />

wörtlichem Sinne monolithischen<br />

Eindruck. Gehflächen,<br />

Beckenböden, Dekken,<br />

Treppen, Steinbänke,<br />

Türöffnungen - alles entwikkelt<br />

sich aus demselben<br />

durchgehenden Schichtungsprinzip.<br />

Steinschicht<br />

lagert über Steinschicht. Die<br />

Übergänge vom Boden zur<br />

Wand und von der Wand<br />

zur Decke sind entsprechend<br />

detailliert. Und auch<br />

die technischen Lösungen<br />

für die Wasserabdichtung<br />

der Becken und Böden, die<br />

Beckenüberläufe, die Reinigungsabläufe,<br />

die Heizung,<br />

die Luftaufbereitung, die<br />

Wärmedämmung und die<br />

Bewegungsfugen des Bauwerkes<br />

wurden dem monolithisch-homogenenEindruck<br />

der Gesamtstruktur<br />

zuliebe so entwickelt, dass<br />

sie entweder aufgehen im<br />

Muster der Schichtung und<br />

Fügung der Steinmasse<br />

(Wasserüberläufe, Putzrinnen,<br />

vertikale Bewegungsfugen<br />

usw.) oder innerhalb<br />

der Verbundkonstruktion<br />

von Stein und Beton<br />

(Abdichtungen, Wärmedämmung,<br />

horizontale Bewegungsfugen<br />

usw.) gelöst<br />

werden konnten.<br />

Deckenschalung<br />

So ist mit Abschluss des<br />

Rohbaus das Gebäude eigentlich<br />

schon fast fertig,<br />

zeigt das fertige Bad nur<br />

wenige primäre Details, die<br />

sich ganz direkt aus ihrem<br />

Gebrauch erklären, wie die<br />

aus der Masse des Steinbodens<br />

herausgearbeiteten<br />

Wasserrinnen, die bewusst<br />

gesetzten Armaturen der<br />

Handläufe und Haltestangen<br />

oder die das Mauerwerk<br />

durchstossenden Messingrohre,<br />

aus denen das natürliche<br />

und das aufbereitete<br />

Thermalwasser in die verschiedenen<br />

Becken und<br />

Rinnen fließt.<br />

Obwohl das Bauwerk als<br />

gebaute architektonischtechnische<br />

Struktur gestaltet<br />

ist und naturähnliche Formen<br />

vermeidet, spürt man in<br />

105


Vals<br />

Felsentherm<br />

106<br />

dem Bemühen um den lapidaren<br />

und homogenen Eindruck<br />

der steinernen Masse<br />

noch deutlich das wohl<br />

stärkste der ersten ursprünglichenEntwurfsbilder,<br />

nämlich das des Aushöhlens.<br />

Der mäandrierende<br />

Innenraum mit seinen<br />

Vertiefungen im Boden in<br />

der Form von Becken und<br />

Rinnen, in denen das Quellwasser<br />

sich sammelt, musste<br />

so aussehen, als wäre er<br />

aus dem kompakten Fels<br />

herausgemeißelt worden.<br />

Die Vorstellung, einen riesigen<br />

Monolithen auszuhöhlen,<br />

diesen mit Kavernen,<br />

Vertiefungen und Kerben zu<br />

versehen, hat geholfen, die<br />

Steinmasse nach oben, zum<br />

Licht hin, sorgfältig aufzuschneiden<br />

und damit ein<br />

Netz von Fugen in der Dekke<br />

einzuführen, das so auf<br />

die großen Blöcke im<br />

Grundriss abgestimmt ist,<br />

dass jeweils eine Seite eines<br />

jeden Blockes Streiflicht erhält.<br />

Entstanden ist dabei<br />

eine neue räumliche Dimension,<br />

die den Bereich der<br />

Badeebene auszeichnet<br />

und die eine zusätzliche<br />

Lesart des Bauwerkes ermöglicht:<br />

Große „Tische“<br />

aus Stein, zu einem geometrischen<br />

Muster gefügt, formulieren<br />

hier den mäandrierenden<br />

Innenraum. So wie<br />

jeder Block homogen mit<br />

einem Steinfeld des Bodens<br />

in der Art einer Fußplatte<br />

verbunden ist, so trägt er<br />

auch eine mächtige Platte<br />

aus Beton. Durch die<br />

schmalen Fugen zwischen<br />

den einzelnen Deckenplatten<br />

sickert Tageslicht ein.<br />

Regie<br />

Die Besucher erleben dies,<br />

wenn sie das künstlich beleuchtete<br />

Kavernensystem<br />

des Zugangs und die dunkel<br />

ausgeschlagene Umkleidekammer<br />

verlassen und -<br />

nun als Badegäste - auf dem<br />

erhöhten Felsband stehend,<br />

zum ersten Mal das Raumkontinuum<br />

der Badeebene<br />

vor sich liegen sehen. Und<br />

wenn man beginnt, in die<br />

Landschaft der Blöcke hinabzusteigen,<br />

und anfängt,<br />

die ineinander übergehenden,<br />

sich öffnenden und<br />

wieder schliessenden<br />

Raumzonen zu durchwandern,<br />

wird man gewahr,<br />

dass Türöffnungen in die<br />

Blöcke hineinführen, dass<br />

jeder Block einen besonderen<br />

Hohlraum in sich birgt.<br />

In diesen Räumen werden<br />

Nutzungen angeboten, die<br />

der Intimität bedürfen oder<br />

die von dieser profitieren.<br />

Die Namen, die sich für die<br />

verschiedenen Blöcke im<br />

Verlauf der Arbeit am Gebäude<br />

eingebürgert haben,<br />

weisen auf diese Funktionen<br />

hin: Schwitzstein,<br />

Duschstein, Massageblock,<br />

Trinkstein, Ruheraum, Feuerbad,<br />

Blütenbad, Kaltbad,<br />

Klangstein. Hinter dem lokker<br />

gesetzten Grundmuster<br />

der Blöcke, das in verschiedene<br />

orthogonale Ordnungslinien<br />

eingebunden ist<br />

und mit sich wiederholenden<br />

figürlichen Konstellationen<br />

arbeitet, steht eine Ablaufregie,<br />

die die Badegäste<br />

einmal auf bestimmte Punkte<br />

hinführt und sie in anderen<br />

Bereichen frei schlendern<br />

und entdecken lässt.<br />

Der zusammenhängende<br />

Großraum zwischen den<br />

Blöcken ist sequentiell aufgebaut.<br />

Die Perspektive ist<br />

immer kontrolliert. Sie gewährt<br />

Ausblicke oder verwehrt<br />

diese in einem Maß,<br />

das der räumlichen Fassung,<br />

dem räumlichen Bild<br />

der einzelnen Raumsequenz<br />

Sorge trägt und auf<br />

dessen Bedeutung im Ganzen<br />

achtet.<br />

Bodenbelag


Vals<br />

Felsentherme<br />

107


Paspels<br />

Oberstufenschulhaus<br />

108<br />

Oberstufenschulhaus<br />

Standort: Paspels<br />

Baujahr: 1997-98<br />

Bauherr: Politische Gemeinde Paspels<br />

Architekt: Valerio Olgiati, Zürich<br />

Ingenieure: Gebhard Decasper, Chur<br />

Literatur: Architektur Aktuell 1999 Mai 228/0,<br />

Baumeister 2000/1 Jg. 97,<br />

Bauwelt 1999 Heft 37,<br />

Detail 2001 Nr. 1,<br />

Hochparterre 1998 11/12, Hochparterre 1998 6/7<br />

Ein fertiger Rohbau<br />

Paspels, ein Dorf im<br />

Domleschg, genauer ein<br />

Vorort von Chur, wächst und<br />

braucht ein neues Schulhaus.<br />

Zudem haben sich<br />

acht weitere Berggemeinden,<br />

was den Schulunterricht<br />

betrifft, angeschlossen<br />

und schicken ihre<br />

Kinder nach Paspels, der<br />

größten der Gemeinden mit<br />

ungefähr 400 Einwohnern.<br />

Es wurde ein regional beschränkter<br />

Wettbewerb<br />

ausgeschrieben, den der<br />

Architekt Valerio Olgiati gewann,<br />

der zwischen Flims<br />

und Zürich pendelt.<br />

Paspels liegt auf einer Hangschulter<br />

über dem Tal (800<br />

ü. NN.). Es gibt schon ein<br />

Schulhaus aus der Gründerzeit,<br />

das zweimal erweitert<br />

wurde. Es steht parallel zu<br />

einer Quartierstraße, die<br />

den Höhenkurven folgt. Sittlich-ländliche<br />

Ruhe herrscht<br />

weit herum. Der Blick<br />

schweift über ein sanft ansteigendes<br />

Feld zum Waldrand<br />

und darüber hinweg zu<br />

den Bergen. Auf der anderen<br />

Seite der Straße steht<br />

ein sonderbares Objekt, der<br />

Neubau der Volksschule.<br />

Ein scharf geschnittener<br />

Betonwürfel, oben der<br />

Hangneigung folgend<br />

schräg abgeschnitten. Mit<br />

der Wucht eines erratischen<br />

Blocks wirkt der Bau wie ein<br />

ausgehöhlter Fels.<br />

Irritierend und fremd, aber<br />

von fern wirkend wie eine<br />

der Burgruinen, die in der<br />

Gegend die Merkpunkte der<br />

Betrachtung bilden. Das<br />

kleine Schulhaus beeindruckt.<br />

Solide verankert, wie<br />

die ehemaligen Burgen,<br />

steht es da, als ob etwas zu<br />

verteidigen wäre. Und tatsächlich:<br />

das Schulhaus<br />

verteidigt die Lust, zur Schule<br />

zu gehen. Der Architekt<br />

Valerio Olgiati schuf hier Innenräume,<br />

die dem Vernehmen<br />

nach Schüler begeistern<br />

und Lehrer stolz machen,<br />

darin zu unterrichten.<br />

Systematik und Irritation<br />

Der Bau schweigt bis man<br />

ihn befragt. In jeder Fassade<br />

sitzen zwei tiefe Fensterbänder,<br />

die in den Hausecken<br />

ansetzen und in der<br />

Gebäudemitte von einem<br />

wandbündigen Einzelfenster<br />

begleitet werden. Die<br />

Wiederholung des Motivs<br />

lässt das Bildungsgesetz<br />

erahnen, aber nicht entschlüsseln.<br />

Kein Dachvorsprung,<br />

keine Gesimse, der<br />

Baukörper bleibt glatt und<br />

geschlossen. Massiv und<br />

schwer will er zäh der Zeit<br />

Widerstand entgegensetzen.<br />

Nur an den Ecken, wo<br />

das Fenster den Block aufschlitzt,<br />

wird die Mauer dünn<br />

und die Irritation findet einen<br />

Durchschlupf.<br />

Entwurfsgrundlagen<br />

Ausgangspunkt des Entwurfs<br />

ist nicht die Suche<br />

nach allgemeingültigen Analogien,<br />

sondern sind die<br />

Konstanten des Orts: die<br />

Berglandschaft mit ihren<br />

Ausblicken, die Neigung des<br />

Hangs, die Streusiedlung.


Der Baukörper greift diese<br />

Merkpunkte auf; das Quadrat<br />

wertet jede Himmelsrichtung<br />

gleich, die Dachschräge<br />

folgt dem Hangverlauf,<br />

das Volumen steht frei<br />

in der Landschaft, ein unterirdischer<br />

Gang verbindet<br />

das neue mit dem alten<br />

Schulhaus. Die eingeschnittenen<br />

Fensterbänder aber<br />

zeigen, dass das Haus trotz<br />

des massiven Auftritts letztlich<br />

kein trutziger Keil in der<br />

Landschaft ist, sondern ein<br />

Hohlkörper, der dem Druck<br />

des Hangs nachgibt. Leicht<br />

verzogen zeigt sich denn<br />

auch der Bau, wobei der<br />

Architekt mit der Ästhetik<br />

des Regelmäßigen bricht.<br />

Die Verzerrung simulierte<br />

Valerio Olgiati erst am Computer<br />

und überprüfte sie anschließend<br />

im Modell. Dabei<br />

spielte er mit der Willkür der<br />

Maschine und entschied<br />

schließlich doch aus dem<br />

Bauch heraus. Beim Hinschauen<br />

vor Ort stellt sich<br />

ein leises Gefühl des Unberechenbaren<br />

ein. Erst beim<br />

Blick auf die Grundrisse sind<br />

die vier Grad Abweichung<br />

vom rechten Winkel ablesbar.<br />

Valerio Olgiati sucht das<br />

Moment der Irritation, sein<br />

Bau widersetzt sich dem<br />

schnellen Verstehen.<br />

Das Besondere des Baus<br />

begründet sich zunächst<br />

aus dem neuartigen Grundriss:<br />

Statt dem üblichen<br />

Zweispänner mit einer<br />

Gang- und einer Zimmerzone,<br />

definiert Olgiati hier ein<br />

Erschließungskreuz in einem<br />

(ungefähren) Quadrat<br />

von 20 Meter Kantenlänge.<br />

Es ist eine Volksschule nach<br />

den Richtlinien des Kantons<br />

Graubünden. Das Verhältnis<br />

von Erschliessungsflächen<br />

zu Unterrichtsräumen<br />

ist sogar besser als in einer<br />

üblichen Korridorschule.<br />

Die einläufigen Treppen sind<br />

übereinander geschichtet<br />

und bilden den Angelpunkt<br />

für das Erschließungskreuz.<br />

Dieses stößt in den Obergeschossen<br />

in allen Himmelsrichtungen<br />

an die Außenwand<br />

und öffnet von Stockwerk<br />

zu Stockwerk<br />

veränderte, eigenwillig verzogene<br />

Raumfiguren. Im Innenraum<br />

ist erlebbar, was<br />

von außen her gesehen<br />

Paspels<br />

Oberstufenschulhaus<br />

vage bleibt - die Räume<br />

sind aus dem rechten Winkel<br />

gerückt und wirken<br />

deshalb dynamisch.<br />

Eine solche Geometrie<br />

schafft die Möglichkeit, die<br />

Erschließungswege mit Tageslicht<br />

zu versorgen. Die<br />

Restfläche in den vier Ecken<br />

des Quadrates definiert die<br />

Fläche der Schulzimmer, in<br />

jeder Ecke befindet sich also<br />

ein Raum. Auf zwei Geschossen<br />

entstehen acht<br />

Räume, die sich in sechs<br />

Schulzimmer und zwei kleinere,<br />

sogenannte Vorbereitungsräume<br />

gliedern. Bei<br />

genauerem Betrachten der<br />

Grundrisspläne, stellt man<br />

fest, dass jedes Schulzimmer<br />

über eine andere Geometrie<br />

verfügt. Jedes Element<br />

ist einmalig: die Position<br />

der Eingangstüre, die<br />

Ausrichtung zwischen Lehrer<br />

und Schüler, das Fenster<br />

jedes Schulzimmers und die<br />

Orientierung des Ausblicks.<br />

Auch die feinen Details<br />

überzeugen. Dies beginnt<br />

mit der Eingangstür aus<br />

Bronze und Glas. Jedes Teil<br />

des Türrahmens wurde im<br />

Bronzewerk von Dornach<br />

einzeln gezogen. Die einzelnen<br />

Teile des Türrahmens<br />

differenzieren auch farblich,<br />

weil schon kleine Unterschiede<br />

in der Mischung das<br />

Metall verändern.<br />

Architecture pure<br />

Man betritt das Schulhaus<br />

durch einen großzügigen<br />

Windfang und kommt in einen<br />

Vorraum, der durch die<br />

ganze Gebäudetiefe geht.<br />

Das Licht sickert von hinten<br />

und von oben in den Raum<br />

und die Treppe saugt die<br />

Bewegung nach oben.<br />

Oben angekommen, betritt<br />

man eine Wiese. So ist jedenfalls<br />

der Eindruck, den<br />

man vor dem breiten Fensterband<br />

hat. Alle Fenster<br />

des Hauses sind Würfe in<br />

die Landschaft. Die Vorzone,<br />

die auch als Pausenhal-<br />

109


Paspels<br />

Oberstufenschulhaus<br />

110<br />

le dient, ist „architecture<br />

pure“, wie sich Olgiati ausdrückt.<br />

Hier sind die elementaren<br />

Mittel der Architektur<br />

direkt eingesetzt: Licht,<br />

Raum und Körper. „Kein<br />

Spiel mit der Materialität, keine<br />

Erzählungen, kein Fries,<br />

kein Rahmen, keine<br />

Fußleiste, kein Materialwechsel.<br />

Nichts als Oberflächen<br />

im Licht. Mit dem<br />

Minimum an Mitteln wird<br />

das Maximum an Wirkung<br />

erzielt. Ein Raumkreuz aus<br />

Beton endet mit Ausblicken<br />

in die Landschaft. Boden,<br />

Wände, Decken sind karg<br />

und glatt und doch: der<br />

Beton leuchtet.<br />

Im Stock darüber wiederholt<br />

sich’s und ist trotzdem ganz<br />

anders. Das liegt nicht nur<br />

an der Pultdecke, sondern<br />

daran, dass die Grundfigur<br />

des Raumkreuzes gespiegelt<br />

wurde. Nirgends sind<br />

die Wände der Kreuzarme<br />

parallel, was überraschende<br />

perspektivische Wirkungen<br />

ergibt. Der Gang, der von<br />

der Mitte her kurz aussieht,<br />

wird plötzlich von der anderen<br />

Seite her lang.<br />

Aufbau<br />

Die Kinder und die Lehrer<br />

werden kaum wissen, wie<br />

das Haus aufgebaut ist. Es<br />

ist ohne Modell schwer zu<br />

erklären, obschon die Organisation<br />

eigentlich einfach<br />

ist. Es gilt das Prinzip der<br />

Schachteln in der Schachtel.<br />

In die große Schachtel<br />

der äußeren Betonmauern<br />

stellt Olgiati die kleineren<br />

Schachteln der Klassenzimmer.<br />

Das Quadrat des<br />

Grundrisses ist, wie bereits<br />

erwähnt, leicht verzogen,<br />

nirgends bleibt ein rechter<br />

Winkel. Die drei Klassenräume<br />

und das halb so große<br />

Sammlungszimmer hingegen<br />

haben je einen rechten<br />

Winkel, der im Hausinnern<br />

liegt. Rechtwinklig ist auch<br />

der Anschluss der kürzeren<br />

Wand, in der auch die Tür<br />

liegt, an die Fassade. Dadurch<br />

entstehen die schräg<br />

zueinander stehenden Korridorwände<br />

des Raumkreuzes.<br />

Eigentlich handelt es<br />

sich um einen Windmühlengrundriss.<br />

Jedes Schulzimmer<br />

blickt in eine andere<br />

Richtung. Das Erd- und das<br />

Obergeschoss sind gegen-<br />

einander versetzt, die Treppe<br />

steht unten links und<br />

oben rechts im Aufenthaltsraum.<br />

Keine innere Wand<br />

steht übereinander. Damit<br />

hat sich auch die Systematik<br />

der Fassaden entschlüsselt.<br />

Die Fenster folgen der<br />

«Drehung der Klassenzimmer<br />

um die Ecke». Die große<br />

Schachtel ist innen mit<br />

der durchgehenden Wärmedämmung<br />

ausgekleidet,<br />

die Wände und die Decken<br />

sind nur mit einem ausgetüftelten<br />

System von Metallankern<br />

mit der Außenschale<br />

verbunden. Auch die Klassenzimmer<br />

sind mit einem<br />

Holzmantel aus Lärchenholz<br />

ausgeschlagen. Sie<br />

funktionieren wie Zigarrenschachteln,<br />

denn sie lassen<br />

sich ganz ausräumen.<br />

Alle Zutaten in den Schulräumen<br />

wie Wandtafel,<br />

Heizkörper, Lampen und<br />

Lavabo sind nachträglich<br />

aufgeschraubt. Die Möbel<br />

stehen lose im Raum, Ablagefläche<br />

bieten Aluminiumgestelle<br />

auf Rädern. Olgiati<br />

will den Innenraum nicht mit<br />

bündigen Einbauten zum<br />

Design zwingen, er bietet<br />

eine präzis gearbeitete Hülle,<br />

nicht mehr, aber auch<br />

nicht weniger. Innenarchitektur<br />

im klassischen Sinn<br />

interessiert ihn nicht. Ob aus<br />

den Räumen Gerümpelkammern<br />

oder ein stimmiges<br />

Ganzes werde, hänge<br />

von den Bewohnern ab, von<br />

Lehrern und Schülern.<br />

Der von Wand zu Wand<br />

durchgehende Fensterschlitz<br />

reißt ein Landschaftsloch<br />

in die Holzschale<br />

und rettet so den Raum<br />

vor der „Alphüttendumpfheit“.<br />

Der Unterschied zwischen<br />

der dämmrigen Intensität<br />

der Vorräume und der<br />

heiteren Wohnlichkeit der<br />

Schulstuben ist frappierend.<br />

Es gibt ein ‚Inneninnen’ und<br />

ein ‚Außeninnen’ im<br />

Schulhaus Paspels.<br />

Die kühle Betonwelt der Erschließung<br />

aber wünscht<br />

sich Valerio Olgiati leer. Es


gibt eine Uhr, einen Papiereimer,<br />

Fenster und schwere<br />

Eichentüren, die rahmenlos<br />

in der Betonwand liegen.<br />

Auf den ersten Blick sieht es<br />

nach Rohbau aus, nach<br />

ungebändigter Architektur.<br />

Hier wirken die Schattenfugen,<br />

die in die Decke eingelassenen<br />

Lampen, die samtene<br />

Oberfläche des Betons<br />

und das Grün der Wiesen,<br />

das durch die Fenster leuchtet.<br />

Die Dramaturgie, die sich in<br />

diesem Schulhaus entfaltet,<br />

prägt sich jedem Besucher<br />

ein. Im Gang ist es kühl,<br />

dunkel, hallig, und es riecht<br />

nach Zement. Im Schulzimmer<br />

ist es warm, hell, schallschluckend,<br />

und es riecht<br />

nach Bündner Stube.<br />

Dem fremdartigen Äußeren<br />

hat Valerio Olgiati die vertraute<br />

Bauernstube eingesetzt,<br />

was bei den Einwohnern<br />

erst nach einiger Zeit<br />

auf Akzeptanz stieß. Diese<br />

Tatsache realisierten auch<br />

die Verantwortlichen: Sie<br />

veranstalteten das Einweihungsfest<br />

nicht zum Zeitpunkt<br />

der Fertigstellung,<br />

sondern erst drei Monate<br />

später. Mit Erfolg, weil die<br />

Jugendlichen ihren positiven<br />

Eindruck in die Dörfer getragen<br />

und damit jede Kritik in<br />

Kürze abgefangen haben.<br />

Konstruktion<br />

Die Konstruktion gehorcht<br />

konsequent dem Prinzip<br />

des Hineinstellens. Nirgends<br />

gibt es einen Widerspruch.<br />

Dennoch musste die BaukommissionÜberzeugungsarbeit<br />

auch während der<br />

Bauzeit unter den Bauschaffenden<br />

leisten. Es wurden<br />

von dem Bauleiter nur<br />

minimalste Abweichungen<br />

vom Planmaß toleriert und<br />

der Sichtbeton in einer hohen<br />

Qualität verlangt. Z.B.:<br />

Auf die Höhe eines Geschosses<br />

weichen die Betonwände<br />

nur 2 bis 3 Millimeter<br />

ab: dies ist ein Zehntel<br />

des üblichen Toleranz-<br />

Paspels<br />

Oberstufenschulhaus<br />

maßes. Um messerscharfe<br />

Betonkanten zu erhalten,<br />

mussten die Bauarbeiter<br />

in die Schalung klettern<br />

und die Stöße mit Kitt<br />

verfugen, damit kein Zementwasser<br />

auslaufe und<br />

sich zu unregelmäßigen<br />

Konturen verhärte. Durch<br />

Motivation und der Begeisterung<br />

für Maßarbeit konnte<br />

solch ein Einsatz erreicht<br />

werden. Dies hat rund drei<br />

Wochen gedauert und war<br />

nicht ohne Konflikte: Die erste<br />

Betonwand wurde wieder<br />

abgebrochen, weil sie<br />

nicht den erwähnten Anforderungen<br />

genügte. Um<br />

Baukommission, Gemeinderat<br />

und die Bauleute zu<br />

überzeugen, dass nichts<br />

Unmenschliches verlangt<br />

werde, unternahm die ganze<br />

Truppe einen Ausflug<br />

nach Bregenz. Am Beispiel<br />

des Kunstmuseums von<br />

Peter Zumthor sollte die gewünschte<br />

Qualität des<br />

Sichtbetons demonstriert<br />

werden. Die Reaktion der<br />

Beteiligten fiel besser als erwartet<br />

aus. Das Motto der<br />

Bauarbeiter „Die schlagen<br />

wir noch lange“ trieb zu<br />

Höchstleistungen an. Die<br />

Baukommission entschied<br />

auf Anraten von Valerio Olgiati,<br />

dass man auf wartungsintensiveDilatationsfugen<br />

verzichtet und mit Rissen<br />

in der Betonschale zu<br />

leben wäre, die es aber<br />

trotzdem zu vermeiden galt.<br />

Architekt und Ingenieure<br />

haben gerechnet und beim<br />

Betonieren darauf geachtet,<br />

dass die Mauern angemessen<br />

schwinden können. Die<br />

sorgfältige Konstruktionsweise<br />

ermöglicht den fugenlosen<br />

Auftritt und unterstützt<br />

die Wirkung eines Baus, der<br />

aus einem Guss gedacht<br />

worden ist und eine entsprechende<br />

Umsetzung findet.<br />

So treffen in Paspels der<br />

Mut einer Gemeinde und die<br />

radikale Haltung des Architekten<br />

zu einem außergewöhnlichen<br />

Betonbau zusammen.<br />

Die mit Konsequenz zu<br />

Ende gedachte Konstruktion,<br />

die das gewählte Material<br />

Beton zwingend erfordert,<br />

führte dazu, dass jede<br />

Mauer nicht nur optisch richtig<br />

erscheint, sondern auch<br />

konstruktiv notwendig ist.<br />

111


Paspels<br />

Oberstufenschulhaus<br />

112<br />

Ein radikaler Betonbau<br />

also, dessen Erschließungskreuz<br />

als eigener<br />

Baukörper in die Hülle gestellt<br />

ist und zusammen<br />

mit den Geschossdecken<br />

einen tragenden, geschlossenen<br />

Kern bildet.<br />

Dieser Kern ist mit der Außenwand,<br />

aufgrund der<br />

thermischen Trennung,<br />

mit sogenannten ‚Schubdornen’<br />

(Metallankern)<br />

kraftschlüssig verbunden<br />

und wirkt erst als Ganzes<br />

stabil.<br />

Das Schulhaus von Paspels<br />

lebt von der Spannung der<br />

Gegensätze, von den<br />

Holzstuben und der kühlen<br />

Betonwelt, vom Schein des<br />

Kubischen und der Abwei-<br />

chung vom rechten Winkel,<br />

vom Archaischen des Betons<br />

und dem mondänen<br />

Auftritt der Baubronzerahmen.<br />

Der Bau besticht<br />

durch die Durchdringung<br />

von Konstruktion und<br />

Materialität. Von Stil hält<br />

Valerio Olgiati nichts, weil er<br />

damit nur eine Fixiertheit auf<br />

die Oberfläche verbindet.<br />

Die alleinige Inszenierung<br />

des Äußerlichen widerspricht<br />

aber seinem Verständnis<br />

von Architektur. Er<br />

vergleicht hingegen die Architektur<br />

mit Mathematik, die<br />

ihren eigenen unumstößlichen<br />

Regeln gehorcht. Dabei<br />

gibt es zwar verschiedene,<br />

aber jeweils folgerichtige<br />

Wege, die zur Lösung einer<br />

Aufgabe führen können.


ef. Evangelische Kirche<br />

Standort: Cazis<br />

Baujahr: 1996 -<br />

Bauherr: ref. Evang. Kirchengemeinde Cazis<br />

Architekt: Werner Schmidt<br />

Ingenieur: Heinz Isler<br />

Literatur: DBZ 47/6.1999, Hochparterre 2001 14, 1/2,<br />

Architektur u. Technik 12/1996<br />

´Ab ovo erzählen´. Es begann<br />

1952, als die rund 100<br />

Mitglieder umfassende reformierte<br />

Gemeinde<br />

Summaprada in Graubünden<br />

eine Wiese erwarb, um<br />

das hier stehende Bauernhaus<br />

in ein Pfarrhaus umzubauen.<br />

1968 wurde die eigenständige<br />

Gemeinde<br />

Cazis gegründet und das<br />

Pfarrhaus verkauft; der Verkaufserlös<br />

sicherte der<br />

Gemeinde ein großes<br />

Grundstück am Dorfrand.<br />

1984 wurde im Grundsatz<br />

beschlossen, eine Kirche zu<br />

bauen, was zunächst 1987<br />

abgelehnt wurde; die Kosten<br />

waren zu hoch. In den<br />

Folgejahren konnte die Gemeinde<br />

die Arrondierung ihres<br />

Geländes in die landwirtschaftliche<br />

Nutzzone verhindern,<br />

1994 bewilligte die<br />

Kirchengemeindeversammlung<br />

einen Kredit<br />

für 7 Projektaufträge an<br />

Architekturbüros aus der<br />

Region und Graubünden.<br />

Im März 1996 wurde der<br />

ungewöhnliche Entwurf von<br />

Werner Schmidt zur Realisierung<br />

angenommen, im<br />

April erfolgte der erste Spatenstich.<br />

Ab ovo ist lateinisch<br />

und bedeutet so viel wie<br />

»vom Anfang her«, wörtlich<br />

übersetzt hieße es »vom<br />

Ei«, also vom Ursprung an.<br />

Die Einführung dieses auch<br />

in der Literaturwissenschaft<br />

gängigen Begriffes (ab ovo<br />

erzählen heißt, eine Geschichte<br />

von ihrem möglichst<br />

frühen Anfang her zu<br />

erzählen) bietet sich in naheliegender<br />

Weise auch<br />

wegen des Gegenstandes<br />

an, von dem erzählt wird:<br />

der Neubau der reformierten<br />

Kirche in Cazis.<br />

Werner Schmidt gebrauchte<br />

in der Beschreibung seines<br />

Entwurfes die Metaphern<br />

Stein, Gebärmutter,<br />

Ei. Angesichts der drei, nahe<br />

der Hauptstraße lagernden,<br />

dem Sonnenverlauf folgend<br />

eingekerbten und sich<br />

verschneidenden eiförmigen<br />

Gebilde, deren<br />

ungeometrische Schalenstruktur<br />

das Abbild eines<br />

idealen, weil natürlich geformten<br />

Volumens darstellt,<br />

drängt sich das Bild vom Ei<br />

deutlich auf. Was sich ändern<br />

wird, sind die drei noch<br />

glatten Außenseiten: erst<br />

bemoost, zeigen sie<br />

Wasserspuren, Rostspuren,<br />

Risse gar. Und: Sie werden<br />

- wenn denn das benötigte<br />

Geld noch aufgetrieben wird<br />

- in den entwurflichen Gesamtzusammenhanggestellt:<br />

mit freistehendem gläsernen<br />

Glockenturm mit einer<br />

hölzernen Tragkonstruktion,glasüberdachtem,langgestreckten<br />

Verbindungstrakt,<br />

Gemeindeterrasse und Nebengebäuden.<br />

Ab ovo heißt<br />

ganz deutlich auch, dass der<br />

Architekt keiner liturgischen<br />

Form Gestalt zu geben hatte,<br />

er also vom weißen Blatt<br />

Papier und dem weiteren<br />

natürlichen wie städtebaulichen<br />

Kontext aus lediglich<br />

dem Raumprogramm folgen<br />

musste. Und das verlangte<br />

einen in seiner Größe<br />

flexibel gestaltbaren Sakralbau,<br />

dessen kleinste<br />

Einheit dem alltäglichen Nutzen<br />

genügen und dessen<br />

Potential dem sonntäglichen<br />

Anspruch leicht Raum<br />

hinzufügen können sollte.<br />

So wurde aus dem maximal<br />

geforderten Kirchenraum<br />

einer mit zwei Ergänzungen,<br />

jede zuschaltbar durch zwei<br />

in den Boden absenkbare<br />

Wände. Bei größeren Hochzeiten<br />

oder Konzerten finden<br />

so mehr als 300 Menschen<br />

Raum, der wöchentliche<br />

Gottesdienst dagegen<br />

Cazis<br />

ev. ref. Kirche<br />

113


Cazis<br />

ev. ref. Kirche<br />

114<br />

findet im intimen Rahmen<br />

einer 50-plätzigen Kapelle<br />

statt.<br />

Über alle Faszination der Erscheinung<br />

des Neubaus<br />

hinaus erregt seine technische<br />

Lösung nicht mindere<br />

Aufmerksamkeit. Ausgehend<br />

von der dreidimensionalen<br />

Darstellung über ein<br />

Modell 1 :100 wurden von<br />

dem wesentlich genaueren<br />

zweiten Modell 1 : 50<br />

Horizontalschnitte (Scheibchen)<br />

genommen, deren<br />

Umrisse über einen Scanner<br />

digital aufbereitet wurden.<br />

In enger Abstimmung<br />

mit dem Schalenbauingenieur<br />

Heinz Isler erfolgten<br />

nun - da die Kugeln<br />

in Spritzbetontechnik ausgeführt<br />

werden sollten - die<br />

Korrekturen. Hieraus ergab<br />

sich wiederum ein Modell (1<br />

:20), an dem die endgültige<br />

Form der drei Steine definiert<br />

wurde. Wieder zerschnitten,<br />

wieder gescannt,<br />

wurden alle weiteren<br />

Planungen ausschließlich<br />

über CAD geleistet und die<br />

folgende praktische Ausführung<br />

kontrolliert; eine<br />

Vorgehensweise, die angesichts<br />

der schwierigen weil<br />

nichtgeometrischen Figuren<br />

wohl die effektivste war.<br />

Für jeden der Steine wurden<br />

32 formgebende Holzbinder<br />

individuell gefertigt und auf<br />

der Baustelle aufgestellt. Auf<br />

diese von einem Stütz- und<br />

Arbeitsgerüst gehaltene<br />

Grobstruktur wurde ein<br />

Bauvlies gespannt, darüber<br />

ein Netz flexibler Armierungseisen,<br />

das als innere<br />

Armierung den ersten<br />

Spritzbeton aufnimmt (jeweils<br />

Schichten von 2 bis 3<br />

cm). Auf diese erste Hülle<br />

wurde eine zweite, äußere<br />

Armierung montiert, die<br />

wiederum mehrere Schichten<br />

Beton aufnimmt. Nach<br />

profil-genauem Abziehen<br />

wurde die nun etwa 15 cm<br />

dicke Schale fein abgerieben<br />

(taloschiert). Die Poren<br />

werden geschlossen und<br />

die Kapillarwirkung des<br />

Wassers von aussen nach<br />

innen ist deshalb gering. Um<br />

eine zu schnelle Trocknung<br />

mit Rissbildung zu ver-meiden,<br />

wurden die betreffenden<br />

Abschnitte unter einem<br />

Arbeitszelt ausreichend<br />

feuchtgehalten.<br />

Bei den Betonschalen der<br />

Kirche in Cazis handelt es<br />

sich um eine Neuheit. „Jede<br />

freie Form ist einmalig“ sagt<br />

der Schalenbaumeister.<br />

„Schalen mit solchen<br />

Fensterschlitzen haben wir<br />

noch nie gemacht.“ Die Fenster,<br />

die wie Schnitze aus<br />

einem Apfel herausgeschnitten<br />

sind waren eine Herausforderung<br />

für den Ingenieur.<br />

„Ein Fußball ist eine dünne,<br />

gespannte Haut, die auch<br />

den Druck eines Achtzig-<br />

Meter-Kicks aushält, solange<br />

man nicht mit dem Messer<br />

hineinschneidet.“ Die<br />

Lösung ist ihm beim Betrachten<br />

seiner Schuhe gekommen:<br />

Wie Schnürsenkel<br />

laufen in Cazis dünne<br />

Zickzack-Eisenstreben über<br />

die Fenster, halten die<br />

Schalenhälften zusammen<br />

und tragen die Kräfte von<br />

einem Ufer zum anderen.<br />

Noch ist der Bau unvollständig<br />

und so beispielsweise<br />

auch das ökologische<br />

Energiekonzept. Die Steinkörper<br />

werden von innen<br />

isoliert, um einen niederen k-<br />

Wert zu erreichen. Aktive<br />

und passive Energie aus der<br />

Sonne soll die Räume erwärmen.<br />

Der Glockenturm<br />

ist zugleich ein Luftkollektor.<br />

Die Luft im Turm zirkuliert<br />

unter den Sakralräumen<br />

hindurch. Sobald die Luft im<br />

Turm wärmer als der Speicher<br />

aus Gesteinsbrocken<br />

ist, beginnt sie zu zirkulieren.<br />

Die Gesteinsbrocken geben<br />

die Wärme an die Räume<br />

ab.<br />

Der zwischenzeitliche finanzielle<br />

Mangel, wegen gestiegener<br />

Baukosten und dem<br />

daraus resultierenden Provisorium,<br />

führte zu einer<br />

speziellen Ästhetik einer Kirche<br />

wie von woanders herkommend.


Spannbandbrücke Pùnt da Suransuns<br />

Viamala<br />

Punt da Suransuns<br />

Standort: Viamala-Schlucht<br />

Baujahr: 1997-1999<br />

Bauherr: Verein KulturRaum Viamala, Chur<br />

Ingenieur: Jürg Conzett, (Conzett, Bronzini, Gartmann AG)<br />

Literatur: 2G, Nr.14, 2000/II - Building in the Mountains,<br />

Schweizer Ingenieur und Architekt<br />

Nr.1 / 2 Jan. 2000<br />

Die Pùnt da Suransuns ist<br />

eine Spannbandbrücke von<br />

40 m Öffnung, die den Fußweg<br />

durch die Viamala über<br />

den Hinterrhein führt. Als Teil<br />

des „steinernen Wegs“ besteht<br />

ihr Gehweg aus Andeerer<br />

Granit-Platten, die<br />

über untenliegende Stahlbänder<br />

vorgespannt sind.<br />

Diese Vorspannung erhöht<br />

die Steifigkeit gegenüber einer<br />

konventionellen Konstruktion<br />

beträchtlich.<br />

Im Jahr 1996 wurde die Veia<br />

Traversina mit dem Traversiner<br />

Steg als erste Etappe<br />

des Wanderwegs durch die<br />

Viamala eröffnet. Für ihre<br />

Fortsetzung durch den südlichen<br />

Teil der Schlucht musste<br />

zwischen der Wildener<br />

Brücke und Rania ein neuer<br />

Weg angelegt werden, der<br />

nördlich der Viamalabrücke<br />

der Nationalstraße A13 den<br />

Hinterrhein überquert. Für<br />

die Projektierung dieses<br />

Flußübergangs veranstaltete<br />

der Verein KulturRaum<br />

Viamala im Herbst 1997 einen<br />

Ideenwettbewerb unter<br />

regionalen Ingenieurbüros.<br />

Situation<br />

Die Wahl des richtigen<br />

Standorts der Brücke erwies<br />

sich schwieriger, als auf den<br />

ersten Blick vermutet. Eine<br />

Brücke an der engsten Stelle<br />

des Flußlaufs erlaubt zwar<br />

eine kurze Konstruktion, der<br />

westliche Zugang müsste<br />

aber durch eine steil abfallende<br />

Felswand und eine<br />

daran anschließende Rüfe<br />

geführt werden. Zudem sollte<br />

die Wegführung von der<br />

darüberliegenden Aussichtskanzel<br />

der alten Viamala-Straße<br />

eingesehen<br />

werden können, um eine<br />

Gefährdung durch<br />

heruntergeworfene Gegenstände<br />

zu vermeiden. Eine<br />

Querung des Flusses im<br />

Norden führt zu ähnlichen<br />

Probleme auf der gegenüberliegenden<br />

rechten<br />

Flussseite; auch hier verhindern<br />

steile Felswände und<br />

rutschige Talflanken eine<br />

dauerhafte Weganlage. Somit<br />

erwies sich die Flussverbreiterung<br />

unterhalb Suransuns<br />

als bester Standort. Mit<br />

40 m Spannweite ist die<br />

Brücke zwar vergleichsweise<br />

lang, die Zugänge<br />

müssen dafür aber<br />

weder von Norden noch von<br />

Süden schwieriges Terrain<br />

durchqueren und der Respektabstand<br />

zu den<br />

obenliegenden Straßenbauten<br />

ist gewährleistet.<br />

Ein Spannband in Stein<br />

Das Tragwerk selbst entstand<br />

aus zwei Grundideen.<br />

Zum einen überzeugte das<br />

Spannbandsystem sowohl<br />

technisch als auch ästhetisch<br />

wegen der<br />

unterschiedlichen Höhen<br />

der beiden Ufer und der Forderung<br />

nach einem genügenden<br />

Durchflussprofil. Die<br />

zweite Idee war, den südlichen<br />

Abschnitt des Viamalawegs<br />

als steinernen Weg<br />

zu bauen. Der Gegensatz<br />

zur Veia Traversina mit ihren<br />

Holzbauten markiert damit<br />

die Kulturscheide zwischen<br />

Nord und Süd auch materiell,<br />

und die Wandernden er-<br />

115


Viamala<br />

Punt da Suransuns<br />

116<br />

halten einen Vorgeschmack<br />

auf die Plattenwege in Avers,<br />

im Bergell und Veltlin. Der<br />

scheinbare Gegensatz zwischen<br />

der Forderung nach<br />

einer leichten Konstruktion<br />

(wegen der Verankerung<br />

des Spannbands) und dem<br />

schweren Steinmaterial<br />

konnte durch die Vorstellung<br />

überwunden werden,<br />

ein dünner vorgespannter<br />

Steinbelag verhalte sich so,<br />

als wäre er eine einzige große<br />

monolithische Felsplatte.<br />

Dieses Prinzip ist eine Hommage<br />

an Heinz Hossdorf,<br />

der in den fünfziger Jahren<br />

für den Neubau der Teufelsbrücke<br />

eine vorgespannte<br />

Granitkonstruktion vorgeschlagen<br />

hatte.<br />

Materialien<br />

Als Stein wurde der in der<br />

Nähe gewonnene Andeerer<br />

Granit (korrekt: Andeerer<br />

Gneis) gewählt, weil er<br />

hervorragende physikalische<br />

Eigenschaften aufweist.<br />

Da die Brückenstelle<br />

von Salzsprühnebeln der<br />

obenliegenden Nationalstraße<br />

erreicht werden<br />

kann, wählte man für sämtliche<br />

Stahlteile V4A-<br />

Chromnickelstahl.<br />

Weil eine Vermörtelung der<br />

S t e i n f u g e n<br />

ausführungstechnisch nicht<br />

möglich war, sind die<br />

Stoßfugen der Steinplatten<br />

mit drei Millimeter dicken<br />

Aluminiumbändern gefüllt.<br />

Das kriechfähige Aluminium<br />

wird seit langem in der Glasbefestigung<br />

verwendet und<br />

dient hier als Mörtelersatz<br />

und Ausgleichsschicht.<br />

Tragwerk<br />

Das Spannband wirkt statisch<br />

ähnlich wie eine Hängebrücke,<br />

wenn man sich<br />

den Gehbelag gleichzeitig<br />

als Tragkabel und als Versteifungsträger<br />

vorstellt. Da<br />

der Versteifungsträger sehr<br />

schlank ist, kann die Berechnung<br />

in zwei Stufen<br />

durchgeführt werden. Zunächst,<br />

die Brücke als Ganzes<br />

betrachtet, wie ein biegeweiches<br />

Seil. Die Kräfte<br />

und Verformungen können<br />

am Seilpolygon bestimmt<br />

werden. Dabei muss der<br />

Horizontalzug (H) jeweils so<br />

angepasst werden, dass<br />

das elastisch verlängerte<br />

Polygon zwischen die festen<br />

Verankerungspunkte passt.<br />

Mit diesem Vorgehen ist der<br />

Einfluss zweiter Ordnung<br />

(unter Verformung) berücksichtigt<br />

und die iterative Bestimmung<br />

(iterativ = schrittweise<br />

in wiederholten Rechengängen<br />

der exakten<br />

Lösung annähernd) von H<br />

kann über ein Tabellenkalkulationsprogrammweitgehend<br />

vereinfacht werden.<br />

Das Verfahren ist im Gegensatz<br />

zur klassischen<br />

Formänderungstheorie der<br />

Hängebrücken anschaulich<br />

und übersichtlich.<br />

Der ‘Versteifungsträger“<br />

wirkt nur lokal, er glättet die<br />

Knicke der Biegelinie. Wenn<br />

diese Knickwinkel - vereinfachend<br />

- als gegebene,<br />

unveränderliche Werte betrachtet<br />

werden, bewirkt das<br />

Biegemoment im Versteifungsträger<br />

die Umwandlung<br />

dieser Knickwinkel in<br />

eine stetige Krümmung von<br />

einer gewissen Länge. Diese<br />

Länge ist von der Biegesteifigkeit<br />

des Trägers abhängig.<br />

Als statisches Modell<br />

dient ein unendlich langer<br />

Stab mit der Zugkraft H,<br />

auf den eine Einzellast wirkt.<br />

Wenn sich die Tangenten an<br />

den Biegelinien unter dem<br />

Knickwinkel des biegeweichen<br />

Seils schneiden, entspricht<br />

das Biegemoment<br />

einem oberen Grenzwert<br />

des wirklichen Trägers. In<br />

gleicher Weise können<br />

auch die Einspannmomente<br />

an den Verankerungsstellen<br />

berechnet werden.<br />

Dank der Vorspannung des<br />

Gehbelags dürfen für die<br />

Dehn- und Biegesteifigkeit<br />

des Spannbands ideelle<br />

Querschnittswerte eingesetzt<br />

werden, bei denen die<br />

Mitwirkung des Steins<br />

berücksichtigt ist. Die effek-


tive Biegesteifigkeit der aneinander<br />

gepressten Steinplatten<br />

wurde in einem Versuch<br />

mit fünf Steinplatten<br />

gemessen. Je nach Genauigkeit<br />

des Fugenschnitts ergaben<br />

sich daraus Abminderungen<br />

der Biegesteifigkeit<br />

auf weniger als die<br />

Hälfte des theoretischen<br />

Werts. Die Vorspannung erhöht<br />

auch die Steifigkeit gegen<br />

seitliche und drehende<br />

Einwirkungen. Die Frequenz<br />

der vertikalen Eigenschwingung<br />

ist deutlich<br />

niedriger als diejenige der<br />

ersten Torsionseigenform,<br />

so dass eine gefährliche<br />

Flatterschwingung ausgeschlossen<br />

werden kann.<br />

Aufgrund der einfachen<br />

Geometrie lässt sich der<br />

Horizontalzug bei 2kN/m<br />

ständiger Last sofort zu 400<br />

kN berechnen. Für die Bestimmung<br />

der Vorspannung<br />

wurde eine Nutzlast von<br />

ebenfalls 2 kN/m als ausreichend<br />

angesehen, so dass<br />

bei mittlerer Temperatur eine<br />

totale Kraft von 800 kN in die<br />

Zugbänder eingeleitet wurde.<br />

Für die Dimensionierung<br />

des Stahlquerschnitts ist die<br />

Ermüdung in den Einspannstellen<br />

bei den Auflagern<br />

maßgebend. Die entsprechenden<br />

Spannungen<br />

konnten durch „Blattfedern“<br />

im Auflagerbereich stark reduziert<br />

werden. Für die<br />

Spannungsberechnung<br />

wurden die Grenzfälle „homogener<br />

Querschnitt“ und<br />

„reibungsloser Querschnitt“<br />

untersucht und verglichen.<br />

Günstig ist dabei, dass der<br />

stählerne Hauptstrang mit<br />

seiner großen Zugkraft zwischen<br />

den obenliegenden<br />

Steinplatten und den zusätzlichen<br />

Stahllamellen gleichsam<br />

eingepackt ist und daher<br />

ziemlich genau in die<br />

neutrale Achse des Gesamtquerschnitts<br />

zu liegen<br />

kommt.<br />

Konstruktion<br />

Die Brücke ist in Trockenbauweise<br />

hergestellt, das<br />

heißt, nach dem Gießen der<br />

Viamala<br />

Punt da Suransuns<br />

Widerlager wird nur noch<br />

gestapelt, gespannt und geschraubt.<br />

Deshalb mussten<br />

die Widerlager mit hoher<br />

Präzision ausgeführt werden.<br />

Ein Geometer kontrollierte<br />

die Schalungen. Die<br />

vertikalen Schwerter, an denen<br />

die Zugbänder befestigt<br />

sind, wurden direkt in den<br />

Konstruktionsbeton eingegossen.<br />

Die Versorgung der<br />

Baustelle erfolgte per Helikopter,<br />

was wegen der kurzen<br />

Transportwege zur nahegelegenenKantonsstraße<br />

finanziell verantwortet<br />

werden konnte. Der Helikopter<br />

transportierte die relativ<br />

leichten Zugbänder als<br />

ganze Stücke in zwei Flügen<br />

an den Einbauort. Die Aufhängung<br />

bestand aus einer<br />

Seilharfe und einer quer liegenden<br />

provisorischen Verspannung.<br />

Nach dem Versetzen<br />

der Stahlbänder wurden<br />

die Granitplatten Stück<br />

für Stück vom unteren Widerlager<br />

her verlegt. Die<br />

Platten sind mit den Geländerpfosten<br />

an den Stahlbändern<br />

befestigt. Die<br />

untenliegenden Muttern zog<br />

man vorerst aber nur soweit<br />

an, dass sich die Steinplatten<br />

auf den Stahlbändern<br />

noch verschieben ließen.<br />

Der fertige Steinbelag wurde<br />

mit Stahlzwischenlagen<br />

gegen die Schwerter geschiftet,<br />

so dass sich die<br />

Platten beim Anspannen der<br />

Stahlbänder untereinander<br />

verkeilten und sich jetzt wie<br />

eine auf den Kopf gestellte<br />

Bogenbrücke verhalten.<br />

Nach dem Verkeilen der<br />

Stahl-Endblöcke wurden<br />

dann die Muttern der Geländerpfosten<br />

endgültig angezogen.<br />

Der Unternehmer<br />

schweißte darauf den Handlauf<br />

an Ort und Stelle auf die<br />

Geländerpfosten.<br />

Während der Projektierung<br />

wurde die Konstruktion an<br />

einem Modell im Maßstab<br />

1:20 überprüft. Drei Millimeter<br />

starke Granitplättchen<br />

bildeten dabei den Gehbelag<br />

nach. Die Ergebnisse<br />

der statischen Berechnungen<br />

ließen sich dabei zumindest<br />

qualitativ überprüfen,<br />

insbesondere fiel auch<br />

im Modell die große Torsionssteifigkeit<br />

auf. Die größte<br />

Unbekannte bildete die<br />

Voraussage des Schwin-<br />

117


Viamala<br />

Punt da Suransuns<br />

118<br />

gungsverhaltens, da für die<br />

Strukturdämpfung keine Erfahrungswerte<br />

vorlagen.<br />

Entsprechend vorsichtig<br />

wurden die maximalen<br />

Schwingungsamplituden für<br />

die Ermüdungsberechnung<br />

eingesetzt. Beim Überqueren<br />

der Brücke ist die vertikale<br />

Schwingung deutlich<br />

zu spüren, sie wird aber von<br />

den Passanten so kommentiert,<br />

dass die Brücke doch<br />

nicht so weich sei, wie sie<br />

aussehe. Damit betrachtete<br />

Jürg Conzett die Anforderung<br />

an die Gebrauchstauglichkeit<br />

als erfüllt.<br />

Ausblick<br />

Kurz vor Baubeginn an der<br />

Pùnt da Suransuns wurde<br />

der Traversiner Steg durch<br />

einen Felssturz zerstört.<br />

Gegenwärtig wird ein Wiederaufbau<br />

an einer etwa 70<br />

m rheinwärts gelegenen<br />

Stelle studiert. Aufgrund der<br />

Topografie ist eine stark geneigte<br />

Treppenbrücke sinnvoll,<br />

die wegen der deutlich<br />

unterschiedlich geneigten<br />

Talflanken eine Spannweite<br />

von etwa 50 m aufweisen<br />

wird.


Val Tschielbach-Brücke<br />

Donath<br />

Val Tschielbach-Brücke<br />

Standort: bei Donath<br />

Baujahr: 1925<br />

Bauherr: Kanton Graubünden<br />

Ingenieur: Robert Maillart<br />

Literatur: Bauwelt, Jg. 89, Nr. 15, 1998,<br />

Robert Maillart – Brückenschläge, Höhere<br />

Schule für Gestaltung Zürich Schriftenreihe, 1990,<br />

Robert Maillart, v. Max Bill<br />

Robert Maillart -<br />

Sein Leben und Wirken<br />

R. Maillart wurde 1872 in<br />

Bern geboren, wo er auch<br />

das Gymnasium besuchte.<br />

Von 1890 bis 1894 studierte<br />

er am Eidgenössischen<br />

Polytechnikum (der heutigen<br />

ETH) in Zürich. Nach<br />

Abschluss des Studiums<br />

kehrte er für drei Jahre nach<br />

Bern zurück und nahm<br />

dann 1897 eine Stelle beim<br />

Städtischen Tiefbauamt Zürich<br />

an. 1899 wechselte er<br />

zur Firma Froté & Westermann,<br />

wo er 1901 Gelegenheit<br />

hatte, beim Bau der Innbrücke<br />

Zuoz das von ihm<br />

entwickelte Brückenbausystem(Dreigelenk-Hohlkastengewölbe)<br />

erstmals auszuführen.<br />

Die Idee des hohlen<br />

Betonträgers wurde zu<br />

einer der Haupterneuerungen<br />

im Baubereich des 20.<br />

Jahrhunderts, und eine große<br />

Anzahl solcher Brücken<br />

wurde erbaut; es handelt<br />

sich dabei auch heute noch<br />

um eine der gebräuchlichsten<br />

Formen für Betonbrükken<br />

einer mittleren Spannweite.<br />

Maillarts erster Entwurf nach<br />

der Gründung seiner Firma<br />

Maillart und Co. am 1. Februar<br />

1902 war für ein Paar<br />

Wassertanks aus Beton, die<br />

als Gasometer für St.Gallen<br />

benützt wurden. Maillart entwickelte<br />

speziell dafür eine<br />

analytische Methode, die als<br />

erste korrekte Annäherung<br />

an die Problematik der<br />

dünnwandigen Schalen aus<br />

Beton gelten muss. Seine<br />

Methode wurde denn auch<br />

von Europas leitendem, frühen<br />

Förderer des Eisenbetons,<br />

Fritz von Emperger,<br />

anerkannt, der Maillarts Entwurf<br />

und Analyse in seinem<br />

Handbuch für Eisenbetonbau<br />

erwähnt. Für diese<br />

Tanks wurde weitaus weniger<br />

Material gebraucht, als<br />

dies in dem von der Stadt<br />

vorgeschlagenen Entwurf<br />

der Fall gewesen wäre. Es<br />

folgte die bedeutende Entwicklung<br />

der unterzugslosen<br />

Pilzdecke mit internationalen<br />

Patenten. Der erste<br />

ausgeführte Bau mit Pilzdecken<br />

war das Zürcher<br />

Lagerhaus Giesshübel, bei<br />

welchem die Stützen nahtlos<br />

in die Platten über den<br />

gebogenen Kapitellen übergehen.<br />

Ein Jahr später erhielt<br />

Robert Maillart einen<br />

Lehrauftrag am Polytechnikum.<br />

Vor allem dank diesem neuartigen<br />

Deckensystem gelang<br />

ihm der internationale<br />

Durchbruch. Sein Unternehmen<br />

erstellte ab 1912<br />

nun Bauwerke in Spanien,<br />

Russland, Frankreich, Italien,<br />

Finnland und Ägypten.<br />

Dazwischen baute Maillart<br />

Brücken in der Schweiz. Der<br />

Ausbruch des Ersten Weltkriegs<br />

überraschte ihn in<br />

Riga, wo er gerade am Bau<br />

einer großen Fabrik arbeitete.<br />

1918, nach der Revolution,<br />

kehrte er verwitwet und<br />

mittellos in die Schweiz zurück.<br />

Robert Maillart begann eine<br />

neue Laufbahn als projektierender<br />

Ingenieur. 1919 eröffnete<br />

er ein Bauingenieur-<br />

Büro in Genf, 1924 ein<br />

Zweigbüro in Bern und<br />

1929 ein weiteres in Zürich.<br />

Hier gelang ihm - neben<br />

Dreigelenk-Hohlkastengewölbe<br />

und Pilzdecke - seine<br />

dritte wichtige Erfindung:<br />

119


Donath<br />

Val Tschielbach-Brücke<br />

120<br />

das Brückenbausystem des<br />

versteiften Stabbogens.<br />

Maillarts Ziel bei dieser Art<br />

von Konstruktion war zunächst<br />

einmal die Herstellung<br />

eines Bogentragwerkes,<br />

das sehr dünn sein sollte,<br />

um dadurch die Baukosten<br />

niedrig zu halten, und<br />

zuletzt, eine Form zu schaffen,<br />

welche die reine strukturelle<br />

Eleganz zum Ausdruck<br />

bringen würde. Im<br />

Jahre 1933 entwickelte er<br />

dann mit der Schwandbach-<br />

Brücke seinen bekanntesten<br />

Entwurf dieses Typs.<br />

Sein eigentlicher Verdienst<br />

im Hochbau liegt in der Entwicklung<br />

der unterzugslosen<br />

Pilzdecke. Maillart gelangen<br />

neuartige und bahnbrechende<br />

Bauten, die ihn<br />

zum bedeutendsten schweizerischen<br />

Bauingenieur des<br />

beginnenden 20. Jahrhunderts<br />

machten. Maillart starb<br />

am 5. April 1940 in Genf.<br />

Gestalt<br />

Die Val Tschielbachbrücke,<br />

welche sich bei Donath in<br />

der südöstlichen Schweiz<br />

befindet, drückt sich beidseitig<br />

gegen den felsigen Untergrund<br />

um die kleine<br />

Schlucht zu überwinden.<br />

Sie wurde wie viele andere<br />

Brücken in den zwanziger<br />

Jahren in dieser Gegend der<br />

Schweiz gebaut, um die Infrastruktur<br />

dieses schlecht<br />

erschlossenen Gebietes zu<br />

verbessern. Viele kleine,<br />

schwierig zu erreichende<br />

Bergdörfer drohten durch<br />

Abwanderung zu veröden<br />

und um diese Kulturlandschaft<br />

zu retten, beschloss<br />

man, durch ein Straßennetz,<br />

welches viele Brücken beinhaltete,<br />

die An- und Abfuhr<br />

von Gütern zu erleichtern.<br />

Da sich das Projekt volkswirtschaftlich<br />

nicht rechnete,<br />

war man auf eine möglichst<br />

wirtschaftliche Ausführung<br />

des Straßen- und Brückenbaus<br />

bedacht.<br />

Die Straßenbrücke über das<br />

Val Tschiel ist der früheste<br />

versteifte Stabbogen Mail-<br />

larts, der in seiner ursprünglichen<br />

Form erhalten ist. Diese<br />

Brücke besteht aus einem<br />

biegungsfesten Versteifungsbalken,<br />

(der Fahrbahnplatte<br />

und den beiden<br />

Brüstungen), mit welchem<br />

der Stabbogen selbst durch<br />

Stützenscheiben, in Abständen<br />

von 3,14 m verbunden<br />

ist, woraus sich ein vollständig<br />

versteiftes Tragwerk ergibt.<br />

Diese Stabbogenbrücke<br />

spannt über 43,2 Meter. Die<br />

gleichmäßigen Lasten wie<br />

die Eigenlast und die<br />

Schneelast werden über<br />

den 20 bis 29 cm dicken<br />

Betonbogen abgetragen.<br />

Die Fahrbahn ist nur 16 cm<br />

dick, wird aber durch die<br />

Brüstungsträger mit einer<br />

Höhe von 1,02 m versteift.<br />

Maillart ging davon aus,<br />

dass die Fahrbahn die gesamten<br />

Biegemomente<br />

durch ungleiche Lasten aufnehmen<br />

werde.<br />

Maillart, der sich bei dieser<br />

Brücke wie auch bei seinen<br />

anderen Bauwerken damit<br />

beschäftigt hatte, eine möglichst<br />

kostengünstige Lösung<br />

zu finden, verwendete<br />

eine eingespannte Stabbogenbrücke<br />

mit versteifter<br />

Fahrbahn. Maillart passte<br />

die Brücke nicht der Kurve<br />

der Wegeführung an, sondern<br />

spannt die Brücke gerade<br />

über die Schlucht.<br />

Auch ist die Brücke waagerecht,<br />

um auf einfachere Annahmen<br />

zurückgreifen zu<br />

können. Die Widerlager,<br />

welche nicht wie der Rest<br />

des Bauwerkes in Eisenbeton,<br />

sondern steinern ausgeführt<br />

sind, nehmen diesen<br />

gekrümmten Straßenverlauf<br />

trichterförmig auf und leiten<br />

ihn dann auf die schmale,<br />

gerade Brücke. Das Wider-


lager hat einen romanisch<br />

anmutenden Ausschnitt,<br />

welcher das Widerlager<br />

leichter macht und zugleich<br />

strukturiert. Außerdem besitzt<br />

es eine massive Brüstung<br />

aus dem gleichen steinernen<br />

Material mit Schneelöchern,<br />

wie sie auch in der<br />

Eisenbetonkonstruktion des<br />

Trägers zu finden sind. Die<br />

Schneelöcher sind im Bereich<br />

des Bogens immer<br />

zwischen den Stützenscheiben<br />

angeordnet, die Fahrbahn<br />

und Bogen verbinden.<br />

Der Brückenträger ist vollständig<br />

aus Eisenbeton und<br />

lehnt sich nicht wie das Widerlager<br />

an traditionelle<br />

Bauweisen an. Auffällig ist<br />

die dicke Fahrbahn im Verhältnis<br />

zum schlanken Bogen.<br />

Die Fahrbahn bildet mit<br />

der massiven Brüstung einen<br />

trogförmigen Träger.<br />

Die Brüstung schließt mit<br />

einen dickeren Betonbalken<br />

ab, der nach außen hin etwa<br />

10 cm übersteht und damit<br />

eine Schattenkante bildet,<br />

welche die Brüstung alleine<br />

schlanker und strukturierter<br />

erscheinen lässt. Zudem<br />

rhythmisieren die Schneelöcher,<br />

in Form eines Halbkreises<br />

den Fahrbahnträger.<br />

Dazu ist in der Brüstung<br />

unter dem überstehenden<br />

Balken ein kleiner horizontaler<br />

Versatz in der Fläche.<br />

Dieser endet mit der letzen<br />

Querwand, die direkt am<br />

Widerlager sitzt. Der Bogen,<br />

der mit diesen dünnen<br />

Querwänden in regelmäßigen<br />

Abständen mit der<br />

Fahrbahn in Verbindung<br />

steht, verschmilzt im mittleren<br />

Bereich mit der Fahrbahn.<br />

In der Mitte geht der<br />

Bogen bis auf wenige Zentimeter<br />

in der Fahrbahn auf<br />

und das verstärkt den<br />

schlanken Eindruck der gesamten<br />

Konstruktion. Die<br />

dünnen Stützenscheiben<br />

sind mit Vouten ausgebildet,<br />

wo sie an die Fahrbahn stoßen,<br />

und treffen unten in ihrem<br />

normalen Querschnitt<br />

auf den Bogen. Der Bogen<br />

selbst ist von der Unterseite<br />

her gerundet und von der<br />

Oberseite polygonal ausgeführt.<br />

Mit der gerundeten<br />

Unterseite konnte Maillart<br />

sich nicht von der traditionellen<br />

Vorstellung der Brücke<br />

lösen und hat damit in die-<br />

Donath<br />

Val Tschielbach-Brücke<br />

sem Punkt nicht konsequent<br />

nach einer preiswerteren<br />

Lösung gesucht. Die<br />

Einspannung des Bogens<br />

wird optisch durch eine<br />

trichterförmige Aufweitung<br />

der Dicke zum Widerlager<br />

hin sichtbar. Letztlich kann<br />

man sagen, dass der Bogen<br />

dank des felsigen Untergrundes<br />

eine geringe Höhe<br />

hat und dadurch das Bauwerk<br />

dynamisch und spannungsvoll<br />

wirkt.<br />

Prof. Dr.-Ing. M. Ros beschreibt<br />

das Bauwerk folgendermaßen:<br />

„Die zwei<br />

Versteifungsträger, gleichzeitig<br />

als massive Brückenbrüstungen<br />

dienend, werden<br />

durch die 16 cm starke<br />

Fahrbahnplatte zu einem<br />

einheitlichen Trog, dem eigentlichenVersteifungsbalken<br />

verbunden, dessen<br />

Quersteifigkeit durch die<br />

vollwandigen Stützen, die<br />

als auf die ganze Brückenbreite<br />

durchgehende Querwände<br />

ausgebildet sind, gewährleistet<br />

wird. Der vollwandige<br />

Stabbogen und die<br />

Fahrbahnplatte bilden die<br />

waagerechten Verspannungen,<br />

die waagerechte Kräfte<br />

aufzunehmen und auf die<br />

Widerlager zu übertragen<br />

vermögen. Das Traggebilde<br />

für lotrechte Kräfte, Stabbogen<br />

und Versteifungsträger<br />

und die beiden waagerechten<br />

Verspannungen, durch<br />

die vorerwähnten Querwände<br />

verbunden, gewährleisten<br />

die räumliche Stabilität.“<br />

Der schlanke Betonbogen<br />

mit einer Dicke, die gerade<br />

genügt, um die Längskräfte<br />

aufzunehmen und den Aufbau<br />

sicherzustellen, wird auf<br />

ein Leergerüst aufgebaut,<br />

das schon an sich wesentlich<br />

günstiger zu errichten<br />

ist, als ein solches, das die<br />

ganze Brückenlast aufnehmen<br />

müsste. Die Biegemomente<br />

werden durch den<br />

aus der Fahrbahnplatte und<br />

den beiden Brüstungen gebildeten<br />

Versteifungsträger<br />

aufgenommen. Konstruktiv<br />

handelt es sich also um einen<br />

mit einem biegefesten<br />

Balken versteiften Stabbogen,<br />

zwischen dem in Abständen<br />

von einigen Metern<br />

Vollwandstützen, also Querwände,<br />

die Verbindung herstellen.<br />

121


Donath<br />

Val Tschielbach-Brücke<br />

122<br />

Die Bezeichnung „Stabbogen“<br />

erscheint bei den ersten<br />

Ausführungen noch<br />

zutreffend. Allerdings ist<br />

schon bei der Val Tschiel-<br />

Brücke die Bogenaufsicht<br />

als Polygon ausgebildet,<br />

währenddessen die Untersicht<br />

noch im Bogen geführt<br />

ist, um einer ästhetischen<br />

Tradition zu genügen. Der<br />

Landquart-Viadukt von Maillart<br />

ist jedoch vollständig<br />

polygonal ausgeführt, desgleichen<br />

die späteren „versteiften<br />

Stabbogen“, zu denen<br />

man richtigerweise eigentlich<br />

„versteifte Stabpolygone“<br />

sagen müsste.<br />

Bogenbrücke mit versteifter<br />

Fahrbahn<br />

Prof. Wilhelm Richter fand<br />

schon um 1890, dass der<br />

Bogen sehr dünn werden<br />

kann, wenn man dafür die<br />

Fahrbahntafel biegesteif<br />

macht, so dass sie die Biegemomente<br />

aus der ungleichen<br />

Verkehrslast aufnimmt.<br />

Als Maillart dies 1924<br />

in konkreten Entwürfen zur<br />

Anwendung brachte, gab es<br />

viele Skeptiker. Das Ingenieurwesen<br />

verstand sich<br />

seit Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

zunehmend als<br />

angewandte Wissenschaft.<br />

Hierzu gehörte die mathematische<br />

Analyse und Berechnung<br />

der Bauwerke.<br />

Versteifte Bogenbrücken<br />

waren damals nicht zu berechnen,<br />

so dass viele Ingenieure<br />

sie ablehnten. Eine<br />

Forschungsarbeit der American<br />

Society of Civil Engineers<br />

von 1935 befand die<br />

technische Analyse einer<br />

solchen Konstruktion als zu<br />

kompliziert und zu langwierig<br />

und betrachtete vielmehr<br />

den gegenteiligen Fall einer<br />

Unterbindung des versteifenden<br />

Effektes der Fahrbahnplatte.<br />

Für Maillart war das Verhalten<br />

einer Konstruktion unter<br />

Last so einfach und sinnfällig,<br />

dass die Probleme einer<br />

mathematisch Analyse da-<br />

bei praktisch verschwanden.<br />

Es war für ihn nicht<br />

notwendig, die Beziehung<br />

zwischen einfachen Formeln<br />

und einer generellen<br />

Theorie darzulegen, da das<br />

gebaute Resultat unmittelbar<br />

im Maßstab 1:1 geprüft<br />

werden konnte. Eine zweite<br />

Arbeit zum Thema Bogenbrücken<br />

wurde kurz nach<br />

Maillarts Tod von einem<br />

Schüler Max Richters, einem<br />

langen Widersacher<br />

Maillarts, publiziert. Diese<br />

Studie deckt auf, was Maillart<br />

fast zwanzig Jahre zuvor<br />

schon erfasst hatte, dass es<br />

in der Tat zwei verschiedene<br />

Theorien zu versteiften<br />

Stabbogenbrücken gibt. Bei<br />

der einen wird die Verbindung<br />

zwischen Bogen und<br />

Fahrbahn als vollständig angenommen,<br />

bei der anderen<br />

liegen die Verbindungspunkte<br />

so weit auseinander,<br />

dass sie als freistehende Unterstützungen<br />

aufzufassen<br />

sind. Die Entscheidung zwischen<br />

den beiden Theorien<br />

hängt von der vorausgegangenen<br />

Wahl der Brückenform<br />

ab und nicht vom Beweis<br />

der Angemessenheit<br />

dieser Wahl im Vergleich zu<br />

einer “richtigeren“ generellen<br />

Theorie für alle Formen.<br />

Eine weitere Bestätigung für<br />

Maillart gibt die Arbeit im<br />

Bezug auf das optimale Verhältnis<br />

von Steifigkeit der<br />

Fahrbahn [IF] zur Steifigkeit<br />

des Bogens [IB]. Die Spannungen<br />

im Bogen bei<br />

gleichmäßiger Belastung einer<br />

Brückenhälfte nehmen<br />

bis zum Verhältnis 2:1 [IF:IB]<br />

zu, um hier wieder abzufallen.<br />

So sollte man also einen<br />

dünnen Bogen mit einer<br />

stark versteiften Fahrbahn<br />

bauen, oder genau umgekehrt.<br />

Selbst wenn Maillart<br />

die mathematisch wissenschaftlichen,<br />

nach einer generellen<br />

Theorie suchenden<br />

Ingenieure immer ablehnte,<br />

wurden viele seiner Annahmen<br />

durch diese später bestätigt.<br />

Martin Söding, Jens Kroell


Traversiner Steg<br />

Viamala<br />

Traversiner Steg<br />

Standort: Viamala Schlucht<br />

Baujahr: 1996<br />

Bauherr: Verein KulturRaum Viamala, Chur<br />

Ingenieur: Jürg Conzett, (Conzett, Bronzini, Gartmann AG)<br />

Literatur: db-deutsche-bauzeitung, Jg. 132, Nr. 5, 1998,<br />

Detail, Jg. 39, Nr. 8, 1999,<br />

Hochparterre, Jg. 10, Nr. 12, 1997,<br />

mikado, Nr. 12, 1996,<br />

Neues Bauen in den Alpen, Architekturpreis 1999,<br />

Schweizer-Ingenieur-und-Architekt, Jg.115, Nr.1/2,<br />

1997,<br />

Topos, Nr. 36, 2001<br />

Obwohl die Brücke 1999<br />

durch einen Steinschlag zerstört<br />

und nicht mehr wiederhergestellt<br />

wurde, soll sie<br />

hier beschrieben werden.<br />

Historisch ist der Traversiner<br />

Steg auf die alten römischen<br />

Wegspuren im Traversina<br />

Tobel zurückzuführen. Idee<br />

war es, im Zuge eines Museumsprojektes<br />

„Kultur-<br />

Raum Viamala“ die alten römischen<br />

Pfade wiederherzustellen.<br />

Eine komplette<br />

Rekonstruktion dieser<br />

Wege wäre allerdings zu kostenintensiv<br />

gewesen. So<br />

entschloss man sich durch<br />

Fußgängerbrücken die<br />

Wegfragmente miteinander<br />

zu verbinden - eine davon<br />

war der Traversiner Steg des<br />

jungen Schweizer Ingenieurs<br />

Jürg Conzett.<br />

An einigen Stellen ist der<br />

Traversina Tobel bis zu<br />

sechshundert Meter tief und<br />

die Stelle, wo die Brücke errichtet<br />

wurde, ist für große<br />

Baumaschinen unzugänglich.<br />

Der Steg musste deshalb<br />

mit einem Hubschrauber<br />

eingeflogen werden,<br />

wodurch das Gewicht des<br />

47 m langen Trägers auf<br />

maximal 4,3 t beschränkt<br />

war; eine strenge Anforderung,<br />

die von Anfang an für<br />

die Projektierung maßgebend<br />

war und zu einem ungewöhnlichen<br />

leichten Drei-<br />

gurt-Fachwerk aus Holz<br />

und Stahl führte.<br />

Aufgrund dieser natürlichen<br />

Gegebenheiten schieden<br />

konventionelle Hängebrükken<br />

mit Rückverankerung<br />

ebenso aus wie Bogenoder<br />

Balkenbrücken.<br />

Situation<br />

Das südliche Widerlager der<br />

Brücke lag auf einem leicht<br />

ins Tobel vorspringenden<br />

Felskopf, unmittelbar neben<br />

den Spuren des historischen<br />

Pfades. Deutlich erkennbar<br />

führt der alte Weg<br />

von diesem Punkt aus etwa<br />

horizontal ins Traversiner<br />

Tobel hinein, die Wegspuren<br />

brechen aber nach wenigen<br />

Metern an einer senkrechten<br />

Felswand ab. Auf<br />

der Nordseite des Tobels<br />

verlaufen die Wegspuren<br />

mehrere Meter höher, hier<br />

war das Widerlager deshalb<br />

etwas niedriger platziert.<br />

Das nördliche Widerlager<br />

lag gut acht Meter über der<br />

Kante des darunterliegenden<br />

Felsabbruchs, womit<br />

trotz der talwärts fallenden<br />

Schieferung dieser Talflanke<br />

eine genügende Sicherheit<br />

gegen Abgleiten gewährleistet<br />

war. Über einige<br />

neu angelegte Trittstufen<br />

und eine Kehre gelangte<br />

man vom nördlichen<br />

Brückenende wieder auf<br />

den alten Weg.<br />

123


Viamala<br />

Traversiner Steg<br />

124<br />

Tragwerk<br />

Hauptmerkmal der Brücke<br />

ist eine hybride Tragwerkskonstruktion<br />

mit hoher Redundanz,<br />

die sich zum einen<br />

durch den „Schnitz“, einen<br />

unterspannten Parabelträger<br />

als Dreigurt-Fachwerkträger<br />

mit hölzernen Druckgurt,<br />

und zum anderen<br />

durch den optisch schweren<br />

Überbau aus Gehweg und<br />

vollwandigen Brüstungen<br />

darstellt. Der „Schnitz“, die<br />

eigentliche tragende Konstruktion,<br />

besteht aus einem<br />

Leimholzbinderdruckgurt<br />

mit Querschnitt 8 x 44,5 cm,<br />

zwei Edelstahlseilen ∅ 24<br />

mm und Pfosten aus 4 sägerauen<br />

Lärchenhölzern 30<br />

x 80 mm und Diagonalverbänden<br />

aus Edelstahlseilen<br />

∅ 8 mm.<br />

Zur Aussteifung gegen seitliche<br />

Windkräfte waren die<br />

Untergurtseile bis zu 4 m<br />

gespreizt worden. Die Spreizung<br />

ist notwendig, damit<br />

eine zunehmende Seitenwindeinwirkung<br />

kein Versagen<br />

des luvseitigen Seiles<br />

bewirkt, bei einem solchem<br />

Fall hebt die Konstruktion ab<br />

und kippt über das leeseitige<br />

Tragseil. Um dieser Situation<br />

entgegenzuwirken,<br />

hilft ausschließlich die Geometrie<br />

und das Verhältnis<br />

von Brückengewicht zu<br />

Windlast.<br />

So ist der Unterbau in sich<br />

steif und kann Biegemomente<br />

ableiten. Der nur auf<br />

zwei Punkten gelagerte<br />

Schnitz kann diese Kräfte<br />

nicht in die Auflager einleiten<br />

und würde schon bei<br />

geringen Windlasten zu<br />

pendeln beginnen. Die<br />

Einleitung der Torsionskräfte<br />

aus horizontalen<br />

Windlasten übernimmt<br />

beim Traversiner Steg die<br />

überlagerte Gehwegs- und<br />

Brüstungskonstruktion.<br />

Deshalb ist die Brüstung<br />

im Auflagerbereich gegen<br />

die Biegebeanspruchung<br />

mit aufgeleimten Gurthölzern<br />

in den äußeren drei<br />

Feldern verstärkt worden.<br />

Der überlagerte schwere<br />

Überbau aus Gehweg und<br />

vollwandigen Brüstungen<br />

mit einer Höhe von 1,2 m<br />

und einer Breite von ebenfalls<br />

1,2 m stützt sich über<br />

verlängerte Geländerpfosten<br />

auf den Diagonalstreben<br />

des Schnitzes ab. Der<br />

Überbau wurde nachträglich<br />

auf dem eingeflogenen<br />

Träger Feld für Feld von den<br />

Seiten nach Innen aufgebaut.<br />

Im Anschluss erfolgte die<br />

Montage der liegenden<br />

Brettschichtholzscheibe.<br />

Sie setzt sich aus insgesamt<br />

vier Teilen zusammen, die<br />

als zusätzliche Windscheibe<br />

zum Schnitz und als Witterungsschutz<br />

des Druckgurtes<br />

dient. Darüber wurde der<br />

Gehbelag aufgebracht, der<br />

sich aus Lagerhölzern und<br />

Nut- und Federbrettern zusammensetzt.<br />

Bei den dünnen Brüstungselementen<br />

wurden die Stöße<br />

jeweils in die Mitte zwischen<br />

zwei Geländerpfosten<br />

gelegt und anschliessend<br />

mit außen angebrachten<br />

Stoßlaschen verschraubt<br />

und verleimt.<br />

Durch die exakte Einpassung<br />

der Stoßlaschen zwischen<br />

die Geländerpfosten,<br />

wird die Brüstung als eine<br />

durchgehende Platte wahrgenommen.<br />

Bauausführung<br />

Im Frühjahr 1994 wurde das<br />

Bauprojekt den Mitgliedern<br />

des Vereins KulturRaum<br />

Viamala und der Öffentlichkeit<br />

vorgestellt. Über Sponsoring<br />

und öffentliche Beiträ-


ge konnte innerhalb von<br />

zwei Jahren die Finanzierung<br />

der Brücke gesichert<br />

werden. Im Februar 1996<br />

erfolgte der definitive Baubeschluss<br />

und im April begannen<br />

die Arbeiten an den Widerlagern.<br />

Gleichzeitig erfolgte<br />

der Zusammenbau<br />

der Unterkonstruktion, etwa<br />

500 m von der Einbaustelle<br />

entfernt. Besonders zu erwähnen<br />

bleibt die millimetergenaue<br />

Abbundarbeit der<br />

ausführenden Holzbaufirmen.<br />

Schon während des<br />

Abbunds wurde das Gewicht<br />

der Konstruktionsteile<br />

stichprobenweise überprüft.<br />

Nach Beendigung des Aufrichtens<br />

wurde der ganze<br />

Unterbau an jedem Auflager<br />

mit einer Federwaage angehoben.<br />

Die daraus resultierenden<br />

Werte stimmten innerhalb<br />

der Messtoleranzen<br />

mit den berechneten überein.<br />

Der Einflug erfolgte am<br />

18.Juni 1996, dabei hing die<br />

Brücke in 60 Meter Anhängedistanz<br />

vom Helikopter,<br />

wodurch die Abtriebskräfte<br />

des Rotors gering blieben.<br />

An der Einbaustelle wurde<br />

die Brücke gefasst und nach<br />

unten in ihre definitive Lage<br />

gezogen. Die weiteren Montagearbeiten<br />

erfolgten speditiv,<br />

so dass der Traversiner<br />

Steg Mitte Juli 1996 für<br />

Wanderer freigegeben<br />

wurde.<br />

System<br />

Dreigurt-Fachwerkträger<br />

in Holz- Stahl- Konstruktion<br />

mit gespreizten Untergurten<br />

und biegesteifen<br />

Brüstungen. Damit wird<br />

der Travesiner Steg zu einem<br />

überlagerten komplexen<br />

System von hoher<br />

Redundanz. Dies wirkt sich<br />

insbesondere auf die Auswechselbarkeit<br />

von Einzelteilen<br />

des Tragwerks aus.<br />

Technische Daten<br />

Spannweite<br />

47,00m<br />

Höhe über Grund<br />

38,00 m<br />

Gehwegbreite<br />

1,20m<br />

Geländerhöhe<br />

1,10 m<br />

Pfeilhöhe<br />

5,00 m<br />

Gewicht Unterbau<br />

4,13 t<br />

Gewicht Überbau 8,13 t<br />

Tragfähigkeit<br />

2,5 kN/m²<br />

Schneelast<br />

3,0kN/m²<br />

Baukosten<br />

390.000,- DM<br />

Viamala<br />

Traversiner Steg<br />

Materialien<br />

Druckriegel in Lärchen-<br />

Brettschichtholz 8 x 44,5<br />

cm, wetterfest verleimt, Festigkeitsklasse<br />

A<br />

Untergurtseile in Edelstahl,<br />

einlagiges Rundlitzenseil, 6<br />

x 36 + 1 SES, Werkstoff<br />

1.4401, Durchmesser<br />

24mm<br />

Pfosten und Querträger in<br />

Lärchen – Schnittholz, Festigkeitsklasse<br />

1, sägerau<br />

Gehweg- Unterkonstruktion<br />

(Windscheibe) in Lärchen-<br />

Brettschichtholz, 80mm,<br />

wetterfest verleimt Festigkeitsklasse<br />

B<br />

Gehbelag als Verschleißschicht<br />

in Lärchenschalung<br />

30 mm, Nut und Feder<br />

Brüstung aus Dreischichtplatten<br />

K1 – Multiplan in<br />

Douglasie 26 mm<br />

Ausfachungen mit<br />

Stahlstangen RODAN, verzinkt,<br />

Durchmesser 8 mm<br />

Holger Meyer, Manuel Kleen<br />

125


Viamala<br />

Traversiner Steg<br />

126<br />

Überlagerung<br />

Schnitz mit Aussteifungen<br />

Querschnitt Auflager


Engadiner Nusskuchen<br />

Für den Teig:<br />

300 g Mehl<br />

150 g Zucker<br />

1 Ei<br />

1 Prise Salz<br />

160g Butter<br />

Mehl zum Ausrollen<br />

Für die Füllung:<br />

20g Butter<br />

300g Zucker<br />

250g grobgeschnittene Walnüsse<br />

1/4 l Sahne<br />

Zum Bestreichen:<br />

1 Eigelb<br />

Zubereitungszeit: 30 Minuten.<br />

Kühlzeit: 30 Minuten.<br />

Backzeit: 30-40 Minuten.<br />

So wird’s gemacht:<br />

Das Mehl in eine Backschüssel<br />

geben. In die Mitte<br />

eine Mulde drücken. Den<br />

Zucker, das Ei und das Salz<br />

hineingeben. Die Butter in<br />

Flöckchen auf dem Mehlrand<br />

verteilen. Die Zutaten in<br />

der Mulde verrühren. Von<br />

außen nach innen einen<br />

Mürbeteig kneten. Den Teig<br />

zugedeckt 30 Minuten in<br />

den Kühlschrank stellen.<br />

Inzwischen für die Füllung<br />

die Butter in einem Topf zerlassen<br />

und nach und nach<br />

den Zucker hineingeben.<br />

Unter ständigem Rühren<br />

hellbraun werden lassen.<br />

Die zerkleinerten Walnüsse<br />

mit der Sahne zugeben und<br />

zweimal aufkochen lassen.<br />

Die Nussmasse fast kalt<br />

werden lassen.<br />

Engadin<br />

Nusskuchen<br />

Den Backofen vorheizen:<br />

Elektroherd auf 200°, Gasherd<br />

Stufe 3.<br />

Zwei Drittel des Teiges auf<br />

einer bemehlten Arbeitsfläche<br />

ausrollen.<br />

Eine ungefettete Springform<br />

damit auskleiden.<br />

Den überstehenden Teig am<br />

Rand abschneiden.<br />

Den restlichen Teig zu einer<br />

runden Platte ausrollen.<br />

Die Nussmasse in die Form<br />

auf den Teig füllen und glattstreichen.<br />

Das Eigelb verquirlen. Den<br />

Teigrand damit bestreichen.<br />

Die Teigplatte auflegen und<br />

am Rand fest andrücken.<br />

Die Platte mit dem restlichen<br />

Eigelb bestreichen.<br />

Mit einer Gabel Löcher hineinstechen.<br />

Die Form in den Ofen auf die<br />

mittlere Leiste stellen. Den<br />

Teig 30-40 Minuten backen.<br />

Die Form aus dem Ofen<br />

nehmen und den Kuchen<br />

auf dem Kuchengitter abkühlen<br />

lassen.<br />

Natürlich schmeckt der Engadiner<br />

Nusskuchen auch<br />

ohne - aber mit einer großen<br />

Portion Schlagsahne ist er<br />

noch besser.<br />

127


Impressum:<br />

Erscheinungsdatum: 17.5.2002<br />

Herausgeber: Institut für Tragwerksentwurf<br />

und Bauweisenforschung<br />

Schloßwender Str.1<br />

D 30159 Hannover<br />

Redaktion:<br />

Text: Thomas Schubert<br />

Layout: Heidi Drossel<br />

Die Beiträge von Studierenden wurden redaktionell<br />

überarbeitet. Die Verfasser sind in diesem Fall am<br />

Textende genannt.<br />

Impressum

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