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DIE WIEDERVEREINIGUNG EUROPAS - EPP Group

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60 D I E W I E D E R V E R E I N I G U N G E U R O P A S D I E W I E D E R V E R E I N I G U N G E U R O P A S 61<br />

als Gefangene über Tausende von Kilometern abtransportiert und unter primitiven<br />

Bedingungen als Zwangsarbeiter Hunger und Kälte ausgesetzt und ihrer grundlegenden<br />

Rechte beraubt. Die Männer wurden verhaftet und starben zumeist schon im ersten Winter<br />

im Gulag oder wurden erschossen. Weniger als die Hälfte der Deportierten, lediglich 4331<br />

Personen, konnten nach vielen Jahren in die Heimat zurückkehren. Unter den Deportierten<br />

des Jahres 1941 befanden sich auch etwa 10 % der jüdischen Gemeinde Estlands.<br />

Zu den schockierendsten erhalten gebliebenen Zeugnissen jener Zeit zählt das Tagebuch<br />

des damals zehnjährigen Rein Vare aus den Jahren 1941 - 1944. Mit der Ernsthaftigkeit<br />

eines Erwachsenen vermerkt er den Tod seiner Spielgefährten und zeichnet ihre Gräber.<br />

Er beschreibt den Beginn der Deportation, den Transport nach Sibirien und seine dortigen<br />

Erlebnisse. Ein großer Teil des Tagebuchs ist Reins geliebtem Vater, einem Lehrer aus dem<br />

nahe Tallinn gelegenen Sausti, gewidmet, der von seiner Familie getrennt worden war und<br />

im Winter 1941/42 verhungerte. Da die Familie nicht über sein Schicksal informiert wurde,<br />

lebte der Vater in der Vorstellung und im Tagebuch seines Sohnes fort. Nach Kriegsende<br />

durften Rein Vare und seine Schwester 1946 nach Estland zurückkehren und dort bei<br />

Verwandten leben. Ihre Mutter floh in dem verzweifelten Versuch, bei ihren Kindern zu<br />

sein, aus Sibirien, wurde jedoch, bevor sie Estland erreichen konnte in Leningrad gefasst<br />

und zu drei weiteren Jahren im Gulag verurteilt. Im Jahr 1951 wurde der zwanzigjährige<br />

Rein Vare, der inzwischen in Estland seine Schulausbildung abgeschlossen hatte,<br />

erneut verhaftet. Zunächst wurde er für einige Monate im Patarei-Gefängnis von Tallinn<br />

festgehalten, bevor er zurück ins Exil nach Sibirien geschickt wurde. Zwar konnten die<br />

verbleibenden Mitglieder der Familie Vare 1958 in ihr Heimatland zurückkehren, doch<br />

waren sie nicht mehr dieselben. Rein Vare war verbittert, hatte Schwierigkeiten, einen<br />

festen Arbeitsplatz zu behalten, und verfiel dem Alkohol. Er starb einsam als gebrochener<br />

Mann in einem Jahr, das durch George Orwell Berühmtheit erlangte: 1984. Sein Tagebuch<br />

wurde erst nach seinem Tod entdeckt und im unabhängigen Estland veröffentlicht. Rein<br />

Vares Tagebuch kann als estnische Version des Tagebuchs der Anne Frank betrachtet<br />

werden.<br />

Das erste Jahr der Herrschaft des Sowjetkommunismus hinterließ bei den Menschen in<br />

Estland tiefe Spuren. Die willkürliche Gewalt war in Ausmaß und Grausamkeit dermaßen<br />

schockierend und jeglicher normalen Logik zuwiderlaufend, dass die gesamte Nation<br />

instinktiv zu ein und demselben Schluss kam: Nichts hätte schlimmer sein können. Noch<br />

im Estland der dreißiger Jahre war Deutschland in der öffentlichen Meinung üblicherweise<br />

weniger beliebt gewesen als Russland. Nach dem 14. Juni 1941 galt Hitlerdeutschland nun<br />

als das kleinere von zwei sehr großen Übeln.<br />

IV. <strong>DIE</strong> OKKUPATION ESTLANDS DURCH<br />

<strong>DIE</strong> NAZIS 1941 - 1944<br />

Nachdem sie von den westlichen Demokratien vollständig abgeschnitten waren, bestand<br />

die letzte Hoffnung der Esten im Ausbrechen eines Krieges zwischen den beiden<br />

Aggressoren Stalin und Hitler. Nach Hitlers Invasion vom 22. Juni 1941 betrachtete das<br />

kommunistische Regime die einheimische Bevölkerung als potenziellen Feind. Während<br />

des Rückzugs der Roten Armee wurden spezielle Todesschwadronen gebildet, die im<br />

Land umherzogen, um mutmaßliche Agenten des Feindes ausfindig zu machen und zu<br />

töten und eine Taktik der verbrannten Erde zu verfolgen. Etwa 2400 Menschen wurden<br />

von den sowjetischen Todesschwadronen ermordet, die große Mehrzahl von ihnen ohne<br />

offizielles Gerichtsurteil. Die größten Massenhinrichtungen von Häftlingen ereigneten<br />

sich im Gefängnis von Tartu, in Tallinn und in Kuressaare (dem Verwaltungszentrum von<br />

Saaremaas).<br />

Im Verlauf der Zwangsmobilmachung für die Rote Armee wurden mindestens 33 000<br />

Männer nach Russland verbracht. Die meisten der 5600 estnischen Soldaten und<br />

Unteroffiziere des in Estland stationierten 22. Territorialkorps (die estnischen Offiziere<br />

dieser Einheit waren vorher bereits in Massen verhaftet worden) desertierten während der<br />

ersten Gefechte mit den Deutschen oder wurden gefangen genommen. Bis August 1941<br />

wurden die verbleibenden Soldaten zusammen mit Tausenden Einberufenen als „nicht<br />

vertrauenswürdige“ Personen in als Arbeitsbataillone geführte Lager im hohen Norden<br />

verbracht. Diese Lager unterschieden sich nicht wesentlich von den Gulags, und so<br />

starben mindestens 8000 Esten im darauffolgenden Winter in diesen Arbeitsbataillonen<br />

an Hunger und unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Angesichts der vorrückenden<br />

Deutschen unter Druck geraten, überlegte Stalin es sich später anders, und im September<br />

1942 wurde aus den überlebenden Einberufenen und in der Sowjetunion lebenden<br />

Esten das (aus 25 000 bis 30 000 Mann bestehende) estnische Schützenkorps gebildet.<br />

Das Korps kämpfte im Krieg an der Seite der Sowjetarmee und wurde 1946 aufgelöst.<br />

Um der neuen Terrorwelle und der Zwangsrekrutierung in die Rote Armee zu entkommen,<br />

flüchteten Tauende von Männer in die Wälder und begannen, Selbstverteidigungsgruppen<br />

zu bilden. Vielerorts verteidigten Partisaneneinheiten, die als „Waldbrüder“ bezeichnet<br />

wurden, ihre Heimatdörfer vor der Zerstörung und versuchten, vom NKWD verhaftete<br />

Landsleute zu retten. In mehreren Regionen übernahmen die Waldbrüder die Macht,<br />

hissten die Landesfahne und riefen die Republik Estland wieder aus. So wurde Tartu, die

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