Das Cyanographische Kabinett - Gunnar Kollin
Das Cyanographische Kabinett - Gunnar Kollin
Das Cyanographische Kabinett - Gunnar Kollin
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<strong>Gunnar</strong> <strong>Kollin</strong><br />
<strong>Das</strong> <strong>Cyanographische</strong> <strong>Kabinett</strong><br />
Edition Visionell
für regine.
Nature Morte, Cyanographie
Die gelben Streifen auf den Stufen taugen nicht für<br />
die Träume. Stattdessen schlagen die Amseln zwei<br />
Räder in den Himmel. Ich aber traue dem Himmel<br />
nicht. Die wahrhafte Farbe des Unbewussten ist<br />
Blau, entgegen der Annahme meiner bereits<br />
verstorbenen Freunde. Nur bei der Auswahl der<br />
Getränke tendiere ich zum bürgerlichen Rot. Der<br />
Regen dagegen scheint mir ein angemessenes Wetter,<br />
denn ich zähle zu jenen gewissen Personen, die zur<br />
Einsamkeit neigen.
Die wunderbare Einsamkeit, Cyanographie
<strong>Das</strong> zarte, nach jungen Mädchen schmeckende Morgenlicht tänzelt Pirouetten durch die noch<br />
müden Gassen. Herr K. (nachtrunken, etwas orientierungslos). Ein merkwürdiger Mann, sich<br />
ihm nähernd<br />
Der Mann: Guten Morgen, fremder Freund.<br />
Herr K.: (erschrickt)<br />
Der Mann: Die Krähen sind noch nicht wach. Die Turmuhren<br />
schlagen noch nicht. Sie können Ihren Träumen noch<br />
trauen.<br />
Herr K.: Sprechen Sie mit mir? Was kommt Ihnen in den Sinn?<br />
Der Mann: Ich spreche nur. Denn Bilder, mein Herr, haben keinen<br />
Sinn, sie sind der Sinn.<br />
Herr K.: Dann gehen Sie weiter. Ich bin zu erschöpft, um Ihnen die<br />
Zeit zu vertreiben.<br />
Der Mann: Sie Narr! Die Zeit vertreiben? Was wissen Sie schon<br />
davon?<br />
Herr K.: Mehr, mein Herr, als Sie glauben.<br />
Der Mann: Dann reden Sie nicht so leichtsinnig.<br />
Herr K.: Ich lerne rückwärts zu gehen. So habe ich die Zukunft<br />
immer im Rücken, die Vergangenheit dagegen entschwindet<br />
vor meinen Augen.<br />
Der Mann: Verblüffend. Sie sind dennoch ein Narr!<br />
Oder ein Melancholiker.<br />
Herr K.: Möglich. Und Sie?<br />
Der Mann: Wenn die Turmuhren zu schlagen beginnen, werden Sie es<br />
wissen.
Herr K.: Ja. Vielleicht.<br />
Der Mann: Man kann es aber auch anders betrachten.<br />
Herr K.: Ja. <strong>Das</strong> kann man.<br />
Der Mann: Vielleicht werden Sie verstehen, dass es gar keine Zukunft<br />
gibt. <strong>Das</strong>, was Sie im Rücken zu spüren vermeinen, ist<br />
wie das Zielen eines Bogenschützens in der Nacht. Alles<br />
ist reine Imagination, höchstens die Vorstellung vom<br />
Wahrscheinlichsten.<br />
Herr K.: Wie?<br />
Der Mann: Gleichsam täuschen Sie sich über das, was Sie Vergangenheit<br />
nennen. Es ist nur Ihre Erinnerung, die immer auch<br />
falsch ist. Und je ferner, desto trügerischer. Bis alles zu<br />
Nebel wird.<br />
Herr K.: Was wollen Sie eigentlich hier? Sind Sie einsam? Oder sind<br />
Sie auf der Suche nach jemandem, der Sie aus Ihrem Labyrinth<br />
holt? Ich schlafe selbst schlecht.<br />
Der Mann: <strong>Das</strong> kann man sehen, mein Herr.<br />
Herr K.: Was sagten Sie über die Krähen?<br />
Der Mann: Nichts. Vielleicht sollten Sie jetzt nach Hause gehen. Ich<br />
werde Sie begleiten. Nur schweigen Sie jetzt. <strong>Das</strong> Schlagen<br />
der Turmuhren wird bald beginnen.<br />
Herr K.: Wir haben keine Zeit mehr.<br />
Der Mann: Ja. Daher haben wir auch keine Eile.<br />
In der Ferne hört man das Schlagen der Turmuhren. Beide verlassen ohne Eile den Platz.<br />
Jeder geht in eine andere Richtung. Über den leeren Platz schreitet absichtslos eine Krähe.
König Ubu träumt, Cyanographie
Trotz des frühen Morgens war der Luft schon etwas Lauigkeit<br />
beigemischt. Es war eben schon Ende März. Herr K., etwas<br />
benommen von den Eindrücken der vergangenen Nacht, starrt<br />
in das Dunkle seines Zimmers. Nur kopfüber dringt etwas Licht<br />
hinein, dort, wo das kleine Fenster zum Himmel hinausführt.<br />
Herr K. glaubt in den schwarzen Ecken des Zimmers immer<br />
noch Fetzen des nächtlichen Traumes wahrzunehmen, obwohl<br />
sich das Zimmer jetzt mit jeder Minute, in der die laue Morgenluft<br />
weiter durch das Fenster dringt, mehr und mehr in das<br />
Herrn K. bekannte Zimmer verwandelt.<br />
Während sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnen, sucht<br />
Herr K. sein Zimmer weiter nach etwas Unbekanntem ab,<br />
etwas, das sich sonst nicht in diesem Zimmer befindet. Wenn er<br />
nur einen Gegenstand, sagen wir, ein Haarbüschel oder etwas<br />
Ähnliches, vielleicht auch ein Stück des geträumten Apfels oder<br />
gar ein liegen gelassenes Kleidungsstück hier vorfände, könnte<br />
er am Ende der Wahrscheinlichkeit des Traumes widersprechen.<br />
Doch so bleibt nur das hochfrequente Vibrieren im Körper<br />
Herrn K.s, der immer noch daliegt, den Rücken fest auf das<br />
Kanapee gedrückt.<br />
Atemnot beginnt sich bemerkbar zu machen, wie er ja auch<br />
in seiner früheren Zeit keine ganz vertrauenswürdige Lunge<br />
besessen hat.
Die Mühen des König Ubu, Cyanographie
<strong>Das</strong> Testament des König Ubu, Cyanographie
ich schleppe wie ein netz traurigkeit, nur das zähe blut all der<br />
trauben wärmt oder der leib einer viel zu weissen frau. ich<br />
vergesse die worte für das abendgebet. wenn die türen augen<br />
haben. heute musste ich mit erschrecken bemerken, dass der vater<br />
all die vielen bilder an den unwägbarkeiten und quellen geweisst<br />
hat. vielleicht bedeutet es ja etwas. alles bedeutet etwas. deshalb<br />
können gedanken auch auf aufgesprungenen lippen sterben.<br />
die weisse schachtel auf dem tisch wird geschlossen bleiben. die<br />
hoffnung auf den behaarten fisch oder die macht der dunkelheit<br />
- das allein ist es, was den freunden bleiben wird. was aber soll<br />
mir das wort „enteisent“ sagen? es ist der rost, der sich abgelegt<br />
hat auf meinem herz. oder braune trockene fasern auf der lunge.<br />
wieviel kostet ein kilo menschenleben? wann nur kommt auch<br />
dieser preis ins sonderangebot? auch dann, wenn ich nicht mehr<br />
müde werde. und ohne hunger bin. was bedeutet es schon, dass<br />
die cafes geheizt sind? sie sind bereits leer. die freunde haben<br />
sich in andere verliese zurückgezogen. alles wird eine bedeutung<br />
bekommen. auch jene zwei schritte ins nichts. vor mir erbaut sich
diese wattene dunkelheit. zwei schritte ins nichts. zwei schritte<br />
im rücken ist sie bereits vor anker gegangen. ewiges glucksen des<br />
brackwassers am hölzernen leib eines namenlosen schiffes. ich<br />
bin vom meer soweit entfernt wie von allen monden. die stille ist<br />
passé. und weiterhin (weiter hin?) schweigt die vor meinen lippen<br />
geschlossene schachtel. in ihr liegen drei blätter und ein messer.<br />
ich weiss es nicht. la mancha. eine unwirkliche landschaft, durch<br />
die don quichotte ruhelos reiste. und wenn gerade er jener vierte<br />
bruder ist? (judas war es nicht.) wer bist du? wie weit ist paris?<br />
zwei schritte. zwei schritte ins nichts. das netz ist voll von fängen.<br />
nächtliche fänge taugen nichts, glaubt don quichotte, nur behaarte<br />
fische. darum, lieber freund, darum! diese fische und die samtene<br />
dunkelheit, und der qualm, der durch die bäume zieht. (rufe nicht<br />
die feuerwehr!) wenn es wirklich brennen würde, liebste, dann<br />
wäre es mein herz. noch aber lässt mich der behaarte fisch hoffen.<br />
und manchmal (manch mal la mancha) zieht der fischer ein<br />
ganzes netz voll davon an land...
Steine trag ich auf dem Kopf, Cyanographie
L’idée fixe. [1]<br />
Eine Art Manifest, das kein Manifest sein will oder kann<br />
Am Anfang war das Wort, heißt es. Ich komme vom Wort. Ein Wort<br />
beschreibt, zeigt nicht selbst etwas. Daher gerieten meine letzten Worte<br />
zu Bildbeschreibungen. Und wurden so meine ersten Bilder. Bilder aber<br />
nun zeigen sich selbst. Und sie haben keinen Sinn, denn sie sind der<br />
Sinn.<br />
Daher müssen sie auch autark sein können.<br />
Obwohl oder weil sie einen Autoren haben.<br />
Die Bilder, dessen Autor ich bin oder war, sind narrativ. Dennoch erzählen<br />
sie keine Geschichten. Und geben keine Antworten, schon gar keine<br />
Weisheiten. Eher stellen sie Fragen. Fragen, auf die ich oft selbst keine<br />
Antwort habe oder haben möchte. Denn oft genug reichen mir die<br />
Fragen. Oder sie sind Erinnerungen. An was, weiß ich auch oft nicht.<br />
Meine Bilder stammen aus jenen Gegenden, die sich irgendwo zwischen<br />
dem Wachsein und dem Schlaf befinden. <strong>Das</strong> sonderbare langsame<br />
Gleiten zwischen Denken und Traum oder Traum und Denken. Dort<br />
wohnen die Rätsel, denen ich meine Melancholie verdanke.<br />
...
Wind: blasshäutig = zerrt opportun am Haar. Unvorteilhaft für Spiegel-<br />
bilder. Naja. Herr Kah is ja auch allein. Auf der Straße. Pflasterhügel<br />
dicht an dicht wie Schafrücken vorm Schlachthof (= Scharfrichter.<br />
Denken). Glänzend Zuckerguss. Naja.<br />
1. Wie wäre es ohne Menschen?<br />
Schön leer. Denkt Herr K., während er weiter durchgeht. Kopfsteingassendurch.<br />
Kopftief zwischen Mantel und Kragen: Wohin? Sterneorientieren.<br />
Nordost und die rostige Scheibe verkleidet als Mond. Ach,<br />
die Nächte, sind doch alle besoffen: jault die Tram am Häusereck,<br />
das die Wunden vom Krieg noch pockig präsentiert. Ach, die Nächte,<br />
denkt Herr K. und spricht es aus. Strohig das Licht der stummen<br />
stolzen Laternen aufm Gesicht. Auch der Regen wäschts nicht ab.<br />
Wohin? Sagt Herr K.<br />
2. Wohin schlägt die Erinnerung aus?<br />
[Traumbild:] Gedanken mäandern zum Vergissmeinnicht. Der Mord<br />
im Fischladen war eben nur ein Traumbild, wenn auch ein schönes.<br />
двух билетов, пожалуйста: für die Reise nach Nirgendwoland.
Am anderen Morgen: Warzen wachsen wächsern vom Wauch (richtich:<br />
B musses heißen, aber klingt besser so.) Der Blick in den Spiegel:<br />
Bleichkreidiges wächst auch dort im Gesicht. Die Tage sind gezählt<br />
tickt der Becker (für alle Pedanten: hier habt ihr’s B wieder zurück)<br />
tack tack wie Eisenbahnschwellengeräusch. Herr K. kann sich nicht<br />
erinnern. Er nimmt die Schlafbrille vors Gesicht, setzt die Dienstmütze<br />
auf und trägt Briefe aus, die fischig riechen.<br />
3. Ist Herr K. nun ein Briefträger? (natürlich nicht: wäre ja auch zu leicht.) Naja.<br />
Herr K.: steht schmalschultrig im Regen. Er muss erinnern: = Wortstücke<br />
und Gedankensalti zusammentragen aus Gestern. In moderfauliger<br />
Geschichtemateriebiografie tiefgraben. Obwohl Hand zittert,<br />
obgleich Stimme weg. Wohin sind die alten schuldigen Briefe ? In ihnen<br />
lesen wie Archäologie. Schichtarbeit. Flickschustern. Traumsplitter<br />
abholzen.<br />
4. Schwarz wie die Erinnerungswunde: Die Erinnerung ist nur ein Nebel,<br />
sagt Herr K. Naja.
<strong>Das</strong> Nichts aber ist nur ein kleiner Fleck, Cyanographie
Edition Visionell<br />
Edition № 5, Freising, 2008<br />
2. erweiterte Auflage<br />
Alle Rechte an den Texten und Abbildungen: <strong>Gunnar</strong> <strong>Kollin</strong><br />
www.kollin.net<br />
Druck: BAUER Satz.Druck.Werbetechnik GmbH, Schierling